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SOL. Das Spiel der Zehn

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Rasant, atmosphärisch, divers: Ein moderner Fantasyauftakt, den Jugendliche lieben werden!

Vor tausenden von Jahren sind die Gottheiten auf die Erde gekommen, und noch heute leben ihre Nachfahren in Reino del Sol. Um die bösen Mächte zu vertreiben, hat sich Sol, die Sonnen-Gottheit, geopfert – und nun müssen alle zehn Jahre zehn junge Halbgötter in einem großen Wettbewerb gegeneinander antreten, um für die Ehre zu kämpfen, das Licht der Sonne zu tragen. Der siebzehnjährige Halbgott Teo wird überraschend als einer von ihnen ausgewählt, obwohl er zu den Jadenen gehört, die auf den Wettbewerb nicht vorbereitet werden. Gemeinsam mit seiner besten Freundin Niya und dem Außenseiter Xio will er beweisen, dass sie das Zeug zu Ruhm und Ehre haben. Und auch ihr Leben steht auf dem Spiel - denn der Verlierer des Wettbewerbs wird als Nächstes der Sonne geopfert.

Percy Jackson meets Encanto – eine originelle Fantasywelt voller Götter, inspiriert von der farbenfrohen Kultur Mexikos

Humorvoll, authentisch und spannend erzählt für Leserinnen und Leser ab 12 Jahren


  • Erscheinungstag: 23.05.2023
  • Aus der Serie: Sol
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 448
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748802426

Leseprobe

Für meine Freund*innen, meine Musen,

meine Retter*innen in der Not:

ALEX

ANDA

AUSTIN

BIRD

EZRAEL

KATIE

MAX

MIK

RAVIV

SAMANTHA

TEDDY

Prolog

Am Anfang gab es nur Sol inmitten eines Sternenmeers.

Mit den Händen klaubte sier* Sternenstaub auf und formte daraus die Welt.

Aus dem Staub zwischen siesen Fingern wuchsen Berge. Aus siesen Tränen der Einsamkeit wurden Ozeane und Flüsse. Das Wasser ließ üppige Bäume und Dschungel aus der kahlen Erde sprießen.

Und aus dieser neuen Erde entsprang Tierra und Sol war nicht länger allein.

Die Welt war wunderschön und aufregend, doch das Paar war allein im Universum und konnte sie mit niemandem teilen.

Sie beschlossen, göttliche Kinder zu erschaffen.

Zuerst holte Tierra Gold tief aus der Erde und Sol formte daraus die Golds.

Die Golds waren mächtig, aber auch eitel. Sie strebten einzig und allein danach, die Grenzen ihrer Macht auszutesten, und stürzten sich in die Arbeit, statt Zeit mit Sol und Tierra zu verbringen. Also versuchten die beiden es erneut.

Als Nächstes holte Tierra Jade aus den Höhlen an der Ozeanküste und Sol formte daraus die Jades.

Die Jades waren freundlich, aber so erpicht darauf, ihre Kräfte zu erforschen, dass sie keinen Gedanken an ihre Familie verschwendeten. Also versuchten Sol und Tierra es erneut.

Zuletzt holte Tierra Obsidian vom Rand der heißesten Flammen der Erde und Sol formte daraus die Obsidians.

Die Obsidians waren voller Leidenschaft, aber auch egoistisch. Statt ihre Heimat auszubauen, sehnten sie sich nur nach Zerstörung.

Schließlich hatten Sol und Tierra genug davon, Göttliche zu erschaffen. Sol zog sich in die Erde zurück und pflanzte sies Herz tief hinein, um siesem Geliebten näher zu sein. Sols Herzblut vermischte sich mit der Erde und daraus entstanden unverhofft die Menschen.

Die Sterblichen wurden willkommen geheißen und ihnen wurde in Reino del Sol ein Zuhause gegeben. Durch ihr kurzes Leben hatten die Menschen mehr Mitgefühl und Empathie, und sie liebten stärker, als es die Göttlichen während ihrer unendlichen Existenz vermochten.

Von all ihren Schöpfungen liebten Sol und Tierra die Menschen am meisten, also trugen sie den Göttlichen auf, sich um die schwächeren Wesen zu kümmern – sie zu versorgen, zu inspirieren und von ihnen zu lernen.

Die Golds, Jades und Obsidians stritten sich heftig darum, über welche Lebensbereiche der Sterblichen sie herrschen würden. Um ihren Disput beizulegen, erschuf Sol einen siebenzackigen Stern aus Ton und füllte ihn mit allen Kräften, die die Göttlichen besitzen könnten.

Die Göttlichen schlugen abwechselnd mit einem Stock auf den Stern ein, und unter dem Schlag Lunas, einer der Golds, zerbrach er schließlich. Sterne regneten aus dem zerbrochenen Ton herab.

Die Golds fingen die hellsten Sterne ein, die die verantwortungsvollsten Aufgaben enthielten. Die Jades suchten sich aus den kleineren Sternen jene heraus, die für sie am wertvollsten waren. Die Obsidians schnappten sich ihre Sterne aus dem Staub und verbargen sie tief in der Erde, wo sie sich unter der brodelnden Hitze und dem Einfluss ihrer eigenen Gier schwarz färbten und brüchig wurden.

Von da an wachte Agua über die Ozeane und alles Leben darin. Pan Dulce beschützte Heim und Herd und verlieh der süßen, weichen und bunten Lieblingssüßigkeit der Menschen ihren Namen.

Fauna schuf alle Tiere, Guerrero die großen Raubkatzen nach siesem Ebenbild und Quetzal die Vögel nach ihrem. Und sie wurden alle geliebt.

Dies erzürnte die Obsidians Venganza, Chupacabra und Caos. Sie neideten den Menschen die Liebe Sols. Statt die Menschheit gemeinsam mit den anderen Unsterblichen zu feiern, wollten sie, dass die Menschen ihnen dienten und sie anbeteten.

Caos sehnte sich danach, dass die Welt zu dem Zustand zurückkehrte, in dem sie sich vor der neuen, strengen Ordnung befunden hatte. Chupacabra dürstete es nach Blut. Und Venganza ersann einen Plan, um sich über alle anderen zu stellen.

Sie suchten Tierra auf, der Sols Herz im Zentrum der Erde bewachte. Chupacabra, der Clevere, trat humpelnd und wimmernd vor Tierra und lenkte ihn ab, sodass Venganza und Caos Sols Herz stehlen konnten.

Sobald die Erde nicht mehr von Sols Herz gewärmt wurde, verwandelten die Obsidians Sols und Tierras geliebte Menschen in stumpfsinnige Wesen, deren einziger Lebensinhalt darin bestand, die Göttlichen zu verehren.

Um die Menschheit zu retten, stieg Sol zur Spitze sieses Tempels hinauf und stieß sich auf einem Opferstein einen Dolch in die Brust. Nachdem auch der letzte Tropfen Blut aus Sols Körper gesickert war, erschien sier in Gestalt eines hell glühenden Sterns am Himmel. In dieser Sonnengestalt gelang es Sol, die verräterischen Göttlichen in den Himmel zu verbannen.

Sols auf der Erde zurückgebliebener Körper verwandelte sich in Lava und verbrannte auf dem Opferstein. Während Sol die Obsidians tagsüber in ihrem Gefängnis festhalten konnte, gab es nachts keinen Schutz vor ihnen.

Tierra nahm Sols geschmolzenen Körper in die Arme. Obwohl ihm die Haut von den Knochen gesengt wurde, formte Tierra aus siesem Schädel den Sol-Stein, der fortan an der Spitze des goldenen Tempels leuchtete. Aus Sols restlichem Körper schuf er viele kleinere Sonnensteine. Alle verbliebenen Göttlichen nahmen je einen Stein an sich und platzierten sie an den Spitzen ihrer Tempel, um die Obsidians davon abzuhalten, nach Reino del Sol zurückzukehren.

Sol stieg als Sonne auf, wachte über die Erde und hielt die Obsidians in ihrem Himmelsgefängnis zwischen den Gestirnen gefangen. Seither versuchen die verräterischen Göttlichen jede Nacht zu entkommen, doch die Sonnensteine halten sie auf Abstand, bis Sol jeden Morgen erneut aufgeht.

Solange die Sonne scheint und die Steine leuchten, können die verräterischen Göttlichen nicht zurückkehren.

Kapitel 1

»Seid vorsichtig! Wir wollen doch nicht wieder erwischt werden«, flüsterte Teo, als sich zwei gedämpfte Stimmen in seinem Rucksack zu zanken begannen. Nun, da das Nachsitzen für heute endlich vorbei war, konnte er es kaum erwarten, den Plan in die Tat umzusetzen, den er seit zwei Tagen ausheckte.

Während er auf die andere Straßenseite eilte, wo sich das Ziel seines heutigen Streichs befand, wappnete er sich innerlich. Das Werbeplakat der Akademie, das an der Backsteinwand der Schule hing, war kaum zu übersehen. In großen goldenen Buchstaben stand darauf:

DIE SONNENSPIELE

Erleben Sie, wie sich die Besten der Akademie

miteinander messen

Hochgewachsene Gestalten posierten in Pfeilformation vor dem schwarzen Hintergrund des Plakats und strahlten in die Kamera. Teo erkannte die Frau in der Mitte. Brilla war bei den letzten Spielen zur Sonnenträgerin gekürt worden. Sie wurde von weiteren Ehemaligen flankiert, die an ihren goldenen Sonnenkronen zu erkennen waren.

Bei dem Anblick hätte Teo am liebsten gekotzt. Wenn er das Plakat schon jeden Tag sehen musste, dann konnte er es wenigstens ein bisschen aufpeppen.

Leider war es mindestens so groß wie er – stolze ein Meter achtundsiebzig – und befand sich damit außerhalb seiner Reichweite. Deshalb brauchte er Peris und Picos Hilfe. In der Stadt Quetzlan besaßen die meisten Leute Vögel, die mehr waren als bloße Haustiere. Sie waren ihre tierischen Begleiter. Zwischen Vogel und Mensch bestand eine lebenslange Verbindung. Doch nur Teo und seine Mom – Quetzal, die Gottheit der Vögel – konnten direkt mit ihnen kommunizieren.

Oder sich ab und zu mit ihnen verbünden, um das Schulgebäude ein wenig zu verunstalten, so wie in Teos Fall.

»Die Luft ist rein, kommt raus, ihr zwei.« Teo öffnete den Reißverschluss seines Rucksacks. Sofort steckten zwei Vögel die Köpfe heraus. »Ihr erinnert euch doch noch daran, wie die funktionieren, oder?« Er zog die zwei kleinsten Spraydosen heraus, die er im Laden hatte finden können.

Natürlich!, zirpte Peri.

Ich liebe diese Teile! Wie ein Profi öffnete Pico den Deckel mit seinem Schnabel.

Die beiden jungen Weißbauchpapageien waren Teos Verbündete und immer für einen Streich zu haben. Sie hatten ihm ihre Hilfe zugesichert, noch bevor er ihnen die getrockneten Mangostücke in seinem Rucksack angeboten hatte.

Wie lautet der Plan? Pico legte den Kopf in den Nacken, um zu Teo aufzusehen.

»Ich finde, ein bisschen mehr Demut würde ihnen ganz guttun.« Teo betrachtete die Golds. »Vielleicht ein paar Grimassen? Ich bin offen für eure künstlerischen Vorschläge.«

Tolle Idee!, zwitscherten die beiden und flogen los.

»Versucht euch zu beeilen!«, rief Teo ihnen mit einem Blick auf seine Handyuhr hinterher.

Du kannst dich auf uns verlassen!

Das Beste an diesem Streich war, dass Teo längst auf dem Weg zum Sol-Tempel wäre, wenn jemand sein neuestes Kunstwerk entdeckte.

Von allen Feiertagen war die Zeit der Sonnenspiele die wichtigste in Reino del Sol. Bei dem Wettbewerb traten die besten semidioses gegeneinander an, um das Licht der Sonne zu bewahren, damit die Welt weitere zehn Jahre in Sicherheit blieb. Die Spiele hatten vor Tausenden von Jahren als heiliges Ritual begonnen und waren heutzutage ein riesiges gesponsertes Ereignis, das in allen Städten im Fernsehen übertragen wurde. Und Teo und seine Mom mussten vor Ort teilnehmen.

Teo war ein einfacher Jade und wusste deshalb, dass er niemals von der allwissenden Gottheit Sol als Wettstreiter für die Spiele ausgewählt werden würde. Daran erinnerten ihn die Plakate ständig, die bereits seit Wochen an Hauswänden und Laternenpfählen hingen. Da sie außerdem überall in den sozialen Medien auftauchten, konnte Teo ihnen unmöglich entkommen.

Wie ihre Eltern waren auch die Kinder der Golds stärker und mächtiger als die der Jades. Manche konnten die Elemente heraufbeschwören und beherrschen und sogar Berge versetzen. Sie besuchten eine noble Akademie, trugen noble Uniformen und trainierten seit ihrem siebten Lebensjahr, um eines Tages von Sol als Heldenhafte erwählt zu werden. Immer wenn es einen Notfall oder ein Unglück gab, wurden die Golds gerufen.

Teo und die anderen Jades hingegen wurden als nicht mächtig genug angesehen, um die Akademie zu besuchen, weshalb sie gemeinsam mit den menschlichen Kindern auf eine öffentliche Schule gehen mussten. Quetzlan High stand kurz vor dem Verfall, und die einzige Uniform, die Teo je bekommen hatte, waren die grässlichen limettengrünen Sportshorts und ein graues T-Shirt, das ihm nicht einmal passte. Während die Golds durch Reino del Sol reisten und Leben retteten, bestand Teos interessanteste Aufgabe darin, in der Jury der alljährlichen Vogelschau von Quetzlan zu sitzen. Er hatte es so satt, dass ihm die Privilegien der Golds ständig unter die Nase gerieben wurden.

Pico und Peri klammerten sich mit den Krallen an das Plakat und machten sich mit den Spraydosen an die Arbeit.

Langsam habe ich den Bogen raus! Mit dem Schnabel schlug Pico immer wieder auf den Düsenknopf, um die strahlenden Gesichter der semidioses wahllos mit hellblauer Farbe zu besprühen.

Peri konzentrierte sich ganz auf Brilla. Nachdem Teo sie mehrfach gefragt hatte, was sie da malte, antwortete sie schließlich stolz: Du hast gesagt, dass wir ihnen Grimassen verpassen sollen. Nichts sieht komischer aus als eine Katze!

»Das ist sehr schlau, Peri«, sagte Teo.

Das Graffiti war schlampig ausgeführt, und es war eindeutig, dass es von zwei Vögeln stammte, doch es war verdammt befriedigend, dabei zuzusehen, wie die selbstgerechten Mienen der Golds nach und nach unter der Farbe verschwanden.

»Jetzt fehlt nur noch der letzte Schliff!« Während Pico und Peri zu ihm herabflogen und sich auf seinen Schultern niederließen, fischte Teo einen Zettel aus seiner Hosentasche und entfaltete ihn. Beim Nachsitzen hatte er darauf herumgekritzelt. »Könnt ihr das obendrüber schreiben?«

Oh, das ist großartig, Sohn von Quetzal! Pico kicherte, schnappte sich den Zettel und flatterte los.

Was steht da?, flüsterte Peri, die Pico mit ihrer Spraydose im Schlepptau folgte.

Keine Ahnung, ich kann nicht lesen!

Peri hielt den Zettel, während Pico sein Bestes tat, um die Worte nachzuahmen. Allerdings kam dabei nur Kauderwelsch heraus. Als Teo lachen musste, hielt er sich schnell eine Hand vor den Mund, um die Gefühle des Vogels nicht zu verletzen.

Das soll eine Schlaufe und kein Schnörkel sein!, sagte Peri.

Es ist doch eine Schlaufe!

Peri schnaubte. Kommst du zu uns hochgeflogen und zeigst ihm, wie es geht, Sohn von Quetzal?«, fragte sie an Teo gewandt.

Das kannst du ihn doch nicht fragen! Pico schnappte mit dem Schnabel nach Peri. Du weißt doch, wie empfindlich er ist, wenn es um seine Flügel geht!

Teo tat so, als hätte er sie nicht gehört, obwohl sich seine Flügel bereits regten und gegen den Binder unter seinem Shirt stießen. »Es muss nicht perfekt sein!«, sagte er. Sie mussten sich beeilen, wenn sie nicht erwischt werden wollten.

Die Spraydose zischte und überzog Picos weißes Brustgefieder mit klebriger blauer Farbe. Teo zuckte zusammen. »Nicht so laut!«

Meine Federn!, kreischte Pico und flatterte entsetzt mit den Flügeln.

»Teo?«

Wir wurden erwischt!

Mission abbrechen, Mission abbrechen!

Die Spraydosen fielen scheppernd zu Boden, als Pico und Peri zeternd davonflogen.

Schritte näherten sich, und Teo beeilte sich, die Dosen aufzusammeln und zurück in seinen Rucksack zu stopfen.

Dann drehte er sich mit einem mulmigen Gefühl zu der Stimme um. Glücklicherweise war es bloß Yolanda, die Postbotin, auf deren Schulter eine Rotstirnamazone saß. Der Papagei brachte den Leuten ihre Post durch die geöffneten Fenster.

Hallo, Sohn von Quetzal!, sang er, begleitet von einem respektvollen Kopfnicken.

»Was hast du denn noch bei der Schule verloren?«, fragte Yolanda.

»Ich bin gerade auf dem Weg zu Huemac!«, antwortete Teo. Eilig schloss er den Reißverschluss seines Rucksacks und lief ihr entgegen.

Yolanda sah ihn mit wissend geschürzten Lippen an. »Nein, bist du nicht.«

Teo schenkte ihr ein breites, kein bisschen unschuldiges Grinsen. »Na ja, jetzt bin ich auf dem Weg.«

Yolanda lachte und winkte zum Abschied. »Ab mit dir und zeig dich bei den Spielen lieber von deiner besten Seite. Huemac ist nicht mehr der Jüngste.«

Huemac und die anderen Leute, die in Quetzlan lebten, hatten Teo großgezogen. Sein menschlicher Vater war gestorben, als Teo noch ein Baby gewesen war, und seine Mutter hatte mit ihren göttlichen Pflichten alle Hände voll zu tun. So war die Stadt zu Teos Familie geworden. Obwohl er bereits siebzehn war, kümmerten sie sich noch immer um ihn. Manchmal ein bisschen zu sehr.

»Ich zeige mich immer von meiner besten Seite!«, rief Teo über die Schulter, während er im Laufschritt die Straße überquerte.

»Das würde nur ein wahrer Schlawiner von sich behaupten!«, rief Yolanda ihm hinterher.

Jede Stadt in Reino del Sol war einer Gottheit geweiht. Die im Zentrum waren größer, schöner und unterstanden den mächtigeren Golds wie Agua und Tierra. Kleinere Städte, die sich weiter von der Landesmitte entfernt befanden, huldigten wiederum den schwächeren Jades wie Quetzal.

Teo lief zwischen Dschungelbäumen entlang, die vereinzelt zwischen den mit Kletterpflanzen bewucherten Gebäuden aufragten. Von außen wirkte Quetzlan wie eine Stadt, die den Kampf gegen die Natur verloren hatte und von dichtem Gestrüpp überwuchert worden war. Doch obwohl Quetzlan ein wenig heruntergekommen aussah, war sie eine stolze Stadt, die von den hier lebenden Leuten liebevoll gehegt und gepflegt wurde.

Was die Stadt zusätzlich besonders machte, waren die Unmengen an tropischen Vögeln, die die Bäume wie bunte Früchte schmückten. Sie waren an jeder Ecke zu finden und führten ein glückliches Leben an der Seite ihrer Menschen. An diesem Ort waren Mensch und Natur eng und untrennbar miteinander verbunden.

Teo bahnte sich einen Weg durch die Menge und überquerte eine Brücke, die über einen der vielen Kanäle führte, auf denen Kaufleute ihre Waren aus Booten und Kanus heraus verkauften. Als Teo am Waschsalon vorbeikam, hielt er sich den Rucksack über den Kopf, um sich vor den juwelenfarbenen Kolibris zu schützen, die im Sturzflug auf alle Leute herabstießen, die ihrer Straßenlaterne zu nahe kamen.

Da die Sonnenspiele an diesem Abend offiziell begannen, war auf den Straßen noch mehr los als sonst. In den Fenstern der Bars und Restaurants hingen Plakate mit der Aufschrift Hier gibt es die Sonnenspiele live zu sehen! sowie Bilder von Desserts und Getränken, die von Sol inspiriert waren. Eine große Gruppe hatte sich vor dem Elektrogeschäft eingefunden. Auf den Bildschirmen im Schaufenster liefen Clips der heldenhaften Golds.

Teo versuchte, sich unbemerkt an ihnen vorbeizuschleichen, doch eine Hand packte ihn augenblicklich an seinem Rucksack.

»Teo!« Ein Mann mit rundem Gesicht zog ihn grinsend zu der Gruppe schaulustiger Personen. »Wer wird deiner Meinung nach ausgewählt werden?« Mr. Serrano deutete auf einen der Fernseher.

Ein paar Golds posierten und grinsten in ihren makellosen Uniformen, während sie in anderen Clips Leute aus den verschiedensten Katastrophensituationen retteten. Ihre jeweiligen Statistiken wurden am unteren rechten Bildschirmrand angezeigt.

»Die Besten der Besten, nehme ich an.« Trotz der in ihm aufsteigenden Abneigung versuchte Teo, höflich zu klingen. Glücklicherweise waren die Leute um ihn herum viel zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Theorien aufzustellen, als dass es ihnen aufgefallen wäre.

»Mit Sicherheit Guerreros Kind.« Ms. Morales kraulte der Blaukappenamazone auf ihrer Schulter den Hals.

»Aguas Junge ist viel beeindruckender!«

»Ocelo würde ihn mit einem Schlag zermalmen!«

»Sol geht es nicht bloß um Muskelkraft!«

Teo verdrehte die Augen und nutzte die Ablenkung, um sich davonzustehlen. Er konnte ihnen einfach nicht entkommen. Selbst in der Schule tauschten die anderen Sammelkarten der Heldenhaften und schlossen Wetten darüber ab, wer für die Sonnenspiele ausgewählt werden würde. Sie bombardierten Teo mit Fragen, um sich sein Insiderwissen zunutze zu machen, dabei interessierten ihn die Golds herzlich wenig.

Als die Ampel grün wurde, überquerte Teo die Straße und wich einem Mann mit einem Durito-Karren und einer Frau aus, die einen Stapel Kisten schleppte. An der Ecke befand sich eine Bodega, flankiert von einem Vogelfuttergeschäft und einem Gewürzladen. Es war ein kleines Gebäude, so orangefarben wie eine Clementine, dessen Fenster mit Flyern und Werbeplakaten vollgeklebt waren. Über dem Eingang stand in schwarzen Buchstaben El Pájaro neben einer fein gezeichneten Wandmalerei eines Quetzals.

Vor der Tür mühte sich ein Mann damit ab, Kisten aus einem kleinen Transporter zu laden.

»Moment, lass mich dir helfen!« Teo sprintete los, um ihm mit einer Hand alle vier Kisten abzunehmen. Ein weiterer nutzloser Vorteil seiner Jade-Wurzeln: Er konnte mühelos mehr Kisten als ein gewöhnlicher Mann mittleren Alters tragen.

Überrascht beugte sich der Mann zurück. »Vorsicht!«

Als Teo ihm die Kisten abnahm, erkannte der Mann ihn. Augenblicklich breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.

»Pajarito!«, begrüßte er ihn herzlich und breitete die Arme aus.

»Hallo, Chavo.« Teo grinste. »Brauchst du Hilfe?«

Chavo lachte. »Mein Rücken ist nicht mehr so fit wie früher mal.« Der Mann im kobaltblauen Hemd und einer dazu passenden Kette aus kleinen blauen Federn schlug Teo auf die Schulter. »Wie läuft’s bei dir, Mann?« Bevor Teo antworten konnte, verzog Chavo verwirrt das Gesicht. »Solltest du nicht auf dem Weg zum Sol-Tempel sein?«

Mit der freien Hand nahm sich Teo einen weiteren Kistenstapel. »Ich wollte nur vorher noch meine Bestellung abholen.«

»Komm, komm, ich hab sie hier!« Chavo führte ihn in Richtung Bodega. »Huemac wird das aber nicht gefallen«, sagte er mit amüsierter Miene.

Teo schnaubte. »Das ist ja nichts Neues.« Er war bereits so spät dran, dass es nicht mehr auf ein paar Minuten ankam. Er würde sowieso eine Standpauke über sich ergehen lassen müssen.

Eine Glocke läutete, als Chavo die Tür aufdrückte.

Keine Katzen erlaubt!, zwitscherte eine wütende Stimme.

»Hey, Macho.« Teo stellte die Kisten ab. Macho, ein winziger Sperlingspapagei, kam herangeflogen und ließ sich auf dem Verkaufstresen nieder.

Oh, du bist es nur, Sohn von Quetzal, sagte er und drehte zerstreut das Köpfchen, um zur Tür zu schauen.

»Warum ist er denn so aufgebracht?«, fragte Teo, während Chavo um den Tresen herumging.

»Ach, ignorier Macho einfach«, antwortete Chavo. »Die streunende Katze ist wiederaufgetaucht.«

Schleicht sich immer in den Laden und versucht, etwas zu stehlen! Macho plusterte sein blaues Gefieder auf und hüpfte wütend über die Tabakwarenauslage. KEINE KATZEN ERLAUBT!

Chavo zog eine große Papiertüte hervor, die so voll war, dass er sie hatte zutackern müssen. »Für dich!«

»Und du hast auch nicht die Chupa Chups vergessen?«

»Natürlich nicht!« Chavo gab die Bestellung in seine uralte Kasse ein. »Die würde ich niemals vergessen!«

Teo grinste. »Perfekt.«

»Du hast es wirklich ernst damit gemeint, dir einen Vorrat anzulegen.« Chavo grinste.

»Den werde ich brauchen.« Teo holte seinen Geldbeutel aus dem Rucksack. »Dios Maize erlaubt keinen ›Kristallzucker und keinen industriell verarbeiteten Müll‹ im Sol-Tempel.«

»Mann, was würde ich dafür geben, um einmal den Sol-Tempel betreten zu dürfen.« Chavo strich sich wehmütig seufzend über seinen Spitzbart. »Ich habe noch nie einen Gold-diose in echt gesehen.«

Teo konnte Chavo seine Faszination für die Golds nicht verübeln. Sie waren selten anzutreffen, vor allem in den Städten der Jades. Sie waren noch prominenter als ihre Kinder, die semidioses. Berühmt und unerreichbar. Der Sol-Tempel war der Regierungssitz aller Göttlichen, und es war nur den semidioses und Geistlichen erlaubt, die Reise zu der Insel im Zentrum von Reino del Sol anzutreten.

»Ich würde gern Dios Tormentoso treffen, um ihm und Lluvia zu danken«, sagte Chavo mit einem Blick über die Schulter.

Hinter ihm standen zwei Altarschränke. Der größere nicho war türkis und jadegrün gestrichen und zur Ehre von Teos Mutter mit Vogelzeichnungen verziert. Darin lagen Vogelfedern in allen Farben. Der kleinere, neuere nicho war mit hellblauen und grauen Wirbeln bemalt und mit weißen Regentropfen und gelben Blitzen verziert. Ins Innere hatte Chavo einen Zeitungsausschnitt geklebt. Auf dem Schwarzweißbild war Lluvia, die älteste Tochter der Wettergottheit Dios Tormentoso zu sehen, die strahlend die Hände in die Hüften stemmte.

Vor drei Jahren war die Westküste von Reino del Sol von einem Hurrikan heimgesucht worden. Obwohl Wirbelstürme im September nichts Ungewöhnliches waren, war dieser so verheerend durch die westlichen Jade-Städte gepflügt, dass die Halbgöttlichen von Tormentoso herbeigerufen werden mussten. Lluvia war nach Quetzlan gekommen und hatte den wütenden Sturm gerade lange genug zähmen können, um die Leute aus den gefluteten Straßen zu retten – darunter Chavo und seine Frau.

»Ich werde ihnen einen schönen Gruß ausrichten, falls sie mir über den Weg laufen«, log Teo, als er Chavo seine Bankkarte reichte.

»Bist du nervös?«, fragte Chavo mit zusammengezogenen Brauen.

Teo runzelte verwirrt die Stirn. »Weswegen?«

»Na weil du ausgewählt werden könntest.«

»Oh, deshalb? Kein bisschen.« Schnaubend nahm Teo seine Karte und den Kassenzettel entgegen und steckte sich beides in die Jeanstasche. »Meine Anwesenheit dort ist bloß eine Formalität.«

Zur Zeit der letzten Spiele war Teo erst sieben Jahre alt gewesen, weshalb er sich nicht gut daran erinnerte. Er wusste allerdings, dass die Jade-semidioses so gut wie nie ausgewählt wurden. Das letzte Kind eines Jades war vor hundertdreißig Jahren gewählt worden und hatte die Spiele nicht überlebt.

»Ich werde einfach die Städte der Golds erkunden, so viel essen, wie ich kann, und all mein Geld für Souvenirs ausgeben.« Er grinste, als sein Herz aufgrund dieser Aussichten zu rasen begann. Doch als er aufblickte, schaute Chavo nach wie vor besorgt drein. »Hey, nur die mächtigsten und ehrenhaftesten semidioses werden ausgewählt, schon vergessen?« Teo stieß mit der Faust gegen Chavos Schulter, um ihn zu beruhigen. »Ich bin bloß ein Jade.«

Das brachte Chavos Apfelwangenlächeln zurück. »Hey, völlig egal, ob du ein Gold bist oder nicht. Du bist trotzdem unser Held, patrón

Teo schnappte sich die Tüte und verstaute sie in seinem bereits überfüllten Rucksack. »Okay, ist ja schon gut, ich mache mich mal lieber auf den Weg, bevor ich noch kotzen muss.«

Chavo lachte, als Teo ein letztes Mal in seine hochgereckte Handfläche einschlug. »Du solltest noch bei der panadería vorbeischauen!«, rief er Teo hinterher, als dieser zum Ausgang eilte. »Veronica hat extra grüne Conchas für Diosa Quetzal gemacht.«

»Oh Mann, du weißt ganz genau, dass ich an denen nicht vorbeikomme«, sagte Teo grinsend.

»Wir sehen uns in ein paar Wochen!«, rief Chavo.

»Ich werde die Tage zählen!« Teo schlüpfte zur Tür hinaus. Die Glocke läutete hinter ihm.

KEINE KATZEN ERLAUBT!, ertönte Machos Stimme.

Teo roch sein nächstes Ziel bereits, bevor er um die Ecke bog.

Die überfüllte Straße war voller Restaurants, Imbissstände und Taco-Trucks. Der Duft nach al pastor hing schwer in der Luft, kitzelte seine Nase und verband sich mit dem süßen Geruch von elote und dem würzigen chamoy. Teo wurde so sehr von seinem grummelnden Magen abgelenkt, dass ihm nicht einmal auffiel, dass etwas nicht stimmte, bis die Menge auf der Straße in Bewegung geriet – Köpfe drehten sich, Stimmen wurden lauter.

Die Härchen an Teos Nacken stellten sich auf und einen Moment später raste ein Vogelschwarm über die Straße. Ihr Gekreische erfüllte die Luft, sodass alle stehen blieben und nach oben blickten, während die bunten Tiere über den Himmel flitzten. Teo versuchte zu verstehen, was sie sagten, doch sie schrien alle panisch durcheinander.

Leute rannten in ihn hinein, warfen ihn beinahe um. Da stieg Teo plötzlich der scharfe Geruch nach Rauch in die Nase.

Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Dicke schwarze Schwaden drangen aus dem Gebäude der panadería. Auf einmal verstand er die Vögel.

FEUER! FEUER!

Menschenrufe vermischten sich mit den Vogelschreien. Die Menge bewegte sich wie eine Welle, alle versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Teo musste sich an einem Laternenpfahl festklammern, um nicht fortgespült zu werden.

»Wo ist María?«, jammerte ein Mädchen.

Teo sah sich um und fand die Kleine weinend mitten auf der Straße. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge zu ihr und kniete sich vor sie.

»Wer ist María?«, fragte er so gefasst, wie es ihm mit all dem Adrenalin, das durch seinen Körper jagte, gelang. »Deine Schwester?«

»Meine Puppe!«

Bei Sol!

»Du musst jetzt etwas sehr Mutiges tun, okay?« Er drückte ihre kleinen Schultern, damit sie ihm zuhörte. »Du musst dich in Sicherheit bringen und eine Person finden, die du kennst. Ich suche María für dich, okay? Schaffst du das?«

Stein zersplitterte lautstark. Die großen Fenster der Lagerhalle neben der panadería zerbarsten in tausend Stücke.

Teo drückte sich das Mädchen an die Brust und schützte es mit seinem Körper. Winzige Glassplitter regneten auf sie herab.

Danach brauchte die Kleine keine weitere Ermutigung und verschwand eilig.

Teo starrte zu dem brennenden Gebäude hoch. Das Herz schlug ihm wie wild in der Brust und sein Atem ging schnell und zittrig. Die meisten der umstehenden Imbissstände hatten Gasöfen. Sollte das Feuer in der panadería außer Kontrolle geraten, wäre die Straße voller potenzieller Bomben. Wie schnell konnte der gesamte Block abfackeln? Hatte bereits jemand Hilfe gerufen?

Ein qualvoller Schrei zerriss die Luft.

Durch den dichten Rauch entdeckte Teo zwei verzweifelt winkende Arme.

Seine zuvor wild umherwirbelnden Gedanken waren mit einem Mal ganz klar. Es blieb nur ein einziger übrig: Jemand brauchte Hilfe.

Während alle anderen vor den immer höher schlagenden Flammen flohen, rannte Teo darauf zu.

Kapitel 2

Teo sprintete zum Eingang der panadería. Dichter schwarzer Rauch quoll heraus und verdunkelte die Sonne, während in der zweiten Etage die Flammen an den nun leeren Fensterrahmen züngelten.

Irgendetwas stürzte von oben herab und krachte Teo an den Kopf.

Sie ist noch da drin! Sie ist noch da drin! Eine Weißnackenbekarde sauste hin und her und schlug hektisch mit den Flügeln. Sie hatte Rußspuren im silbrigen Gefieder.

»Wer ist da drin?!«, fragte Teo, aber der Vogel war untröstlich.

Ich habe sie zurückgelassen! Ich glaub es nicht, dass ich sie zurückgelassen habe!

Teo verlor die Geduld und packte den Vogel mit beiden Händen. »Wen?«

Meinen Menschen! Ich habe meinen Menschen zurückgelassen! Teo spürte, wie sehr das Herz des armen Tieres raste. Veronica!

Teo wurde flau im Magen. »Wo ist sie?«

Im ersten Stock!

»Zeig es mir!«

Teo ließ den Vogel los und der flog zu einem kaputten Fenster im ersten Stock. Hier, sie ist hier! Bitte hilf ihr, bitte!, flehte die Weißnackenbekarde.

Alles in Teo schrie, er solle da hineingehen. Eine Feuerleiter führte direkt zum Fenster, aber er wusste überhaupt nicht, was er da tat. Teo wusste rein gar nichts von Feuern. Brandkunde gehörte ja nicht gerade zu den Wahlfächern an der Quetzlan High.

Aber das hier war seine Stadt, seine panadería, die grünen Conchas warteten auf seine Mutter. Wenn einer seiner Leute in Gefahr war, würde er ganz sicher nicht tatenlos zusehen. Wenn er nichts unternahm, könnte Veronica sterben.

Ohne einen Plan oder einen einzigen zusammenhängenden Gedanken rannte Teo zur Feuerleiter.

»Shit, Shit, Shit«, zischte er vor sich hin, während er die wackeligen Sprossen hochkletterte.

Teo kletterte durchs Fenster und sofort raubte ihm dichter, beißender Rauch den Atem. Teo hustete, und seine Augen brannten, als er in die Hocke ging und sich bemühte, unterhalb des Qualms zu bleiben.

Er versuchte, nach Veronica zu rufen, aber noch mehr brennender Rauch drang in seine Lunge.

Teo sah sich verzweifelt im Raum um. Reine Glückssache, dass er hinter einem Tresen einen Scheitel entdeckte. Er eilte hinüber und fand Veronica auf der Seite liegend. Sie war bewusstlos, lebte aber noch.

Ein lauter Knall, und der Boden unter Teos Füßen bebte, bevor ein Teil der Decke einbrach. Schwelende Dachbalken stürzten herab, sodass Funken durch die Luft wirbelten, und versperrten das Fenster, durch das er gerade hereingekommen war. Feuerstränge fraßen sich ins Holz und krochen über den Boden. Die Farbe an den Wänden brodelte, während die Temperatur im Zimmer schnell immer mehr anstieg.

Teo wusste, dass man jemanden, der bewusstlos war, nicht bewegen sollte, aber jetzt schien ein guter Zeitpunkt zu sein, eine Ausnahme zu machen.

Teo hob Veronica mühelos in seine Arme, doch als er versuchte, sich an den heruntergefallenen Dachsparren vorbei zum Fenster zu zwängen, streifte sein Arm die kokelnde Glut. Er wich ruckartig zurück, während auf seiner versengten Haut jadefarbenes Blut erblühte. Es war ja nicht so, dass er das Feuer löschen oder einfach eine Wand einschlagen konnte, um einen neuen Ausgang zu schaffen. Das Beste wäre, eine Stelle weit weg vom Feuer zu finden, aber es gab nicht viele Möglichkeiten.

Schnell dachte Teo nach und zog Veronica dann in den offenen Kühlraum, nur Sekunden bevor ein Dachbalken genau dort einschlug, wo sie eben noch gelegen hatte. Im Inneren des Kühlraums begannen schon die Aufbewahrungsbehälter aus Kunststoff zu schmelzen, aber es würde ihnen zumindest etwas Zeit verschaffen.

»Hier ist Marino!«, rief jemand vor dem Haus.

Wenn Marino hier war, bedeutete das, dass die Golds gekommen waren. In Teos Bauch breitete sich Erleichterung und gleichzeitig Entsetzen aus. Das bedeutete, dass auch Aurelio und Auristela hier waren.

Ein weiteres Fenster zerbarst und Wasser strömte hinein. Brühheiße Schwaden wogten auf. Teo versuchte zu schreien, aber seine Kehle war so rau, dass er nur husten konnte, und selbst dieses Geräusch wurde von Marinos Wasserstrahl ertränkt.

Er musste sich und Veronica vor dem Dunst schützen. Teo griff nach der Edelstahltür und zog sie zu, damit die sie wie ein Schild schützte. Er zog Veronica so tief wie möglich ins Innere des Kühlraums, aber das Feuer kam schnell näher. Er hörte den zischenden Dampf und die Wasserstrahlen, doch die Flammen leckten bereits unter der Tür hervor und griffen nach ihnen.

»Hilfe!«, gelang es Teo schließlich zu rufen.

Plötzlich verschwanden die Flammen unter der Tür, als ob sie weggesaugt worden wären. Im Lagerraum ertönten Stimmen, die jedoch von der Stahltür gedämpft wurden.

»Wir sind hier drin!«, rief Teo angestrengt.

»Oh Shit!«, hörte er Marino, Aguas Sohn, sagen. »Ich glaube, da sind Leute drin!«

Schritte kamen auf sie zu. Die Tür wurde aus den Angeln gerissen. Teo sackte in sich zusammen. Aus dem Dunstschleier traten drei Gestalten hervor.

»Dios, ist alles in Ordnung?«, fragte ein kräftig gebauter Junge, der rasch ins Kühlhaus trat. Auf Marinos kühler umbrabrauner Haut war nicht ein Tropfen Schweiß zu erkennen.

Teo konnte nur nicken, während sich seine Brust gegen den Binder hob und er verzweifelt versuchte, saubere Luft einzuatmen.

Ein Mädchen drängte an Marino vorbei. Ihr glutroter Blick flog zu Veronica, bevor sie Teo ansah und die Augen zusammenkniff. »Ist sie am Leben?«, fragte Auristela, Tochter von Lumbre, als hätte Teo die bewusstlose Bäckerin absichtlich gefangen gehalten oder so.

Teo nickte erneut.

Auristela kam herein, hob Veronica auf eine Trage und begab sich sofort mit ihr zum Ausgang.

Veronica würde wieder in Ordnung kommen. Vor Erleichterung begann Teo zu zittern. Seine Augen brannten vom Rauch so heftig, dass er durch die Tränen und angesengten Wimpern kaum etwas erkennen konnte.

»Alles gut«, sagte Marino und kniete sich neben Teo. Er legte die Hände aneinander und ließ Wasser aus seinen Handflächen sprudeln, damit sich Teo behelfsmäßig die Augen ausspülen konnte. »Das war entweder ein sehr schlauer Move oder ein sehr dummer, Bird Boy.«

»Stets zu Diensten«, antwortete Teo, seine Stimme wenig mehr als ein Röcheln, während er sich vorbeugte, um sich die Augen auszuwaschen. Das kalte Wasser brannte und beruhigte gleichzeitig.

»Geht’s ihm gut?«, fragte eine dritte Stimme. Eine, die dafür sorgte, dass sich Teos Herz schmerzhaft zusammenzog.

»Er kommt wieder auf die Beine«, sagte Marino und klopfte Teo etwas zu fest auf den Rücken.

Er setzte sich auf und wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Starke Hände zogen ihn auf die Füße. Teo blinzelte die restlichen Tröpfchen aus den Augenwinkeln und schaute in kupferbraune Pupillen, die ihn anstarrten. Aurelio, Sohn von Lumbre, runzelte die Stirn.

Auch wenn Auristelas Gesichtszüge sanfter waren und Aurelios Nase breiter schien, waren die beiden unverkennbar Zwillinge. Sie trugen die gleiche Frisur – ein Undercut mit am Hinterkopf zusammengebundenem Haar –, und sogar ihre figurbetonten Croptop-Uniformen waren identisch, nur dass Aurelio goldene Bänder um den Unterarm trug und Handschuhe, die an Daumen und Zeigefinger durch Stein verstärkt waren.

»Bist du okay?«, fragte er.

»Mir geht’s gut«, blaffte Teo, aber er war ziemlich wacklig auf den Beinen und seine Arme zitterten unter Aurelios warmem Griff. Teo versuchte sich zu befreien, doch Aurelio hielt ihn weiter fest.

Aurelio war der Letzte, den er momentan sehen wollte, vor allem wenn es ihm so schlecht ging. Jahrelang hatte Teo nicht mit ihm gesprochen und auch kein Interesse, jetzt wieder damit anzufangen.

»Du zitterst ja«, meinte Aurelio, die Stimme so kühl und sachlich wie immer. »Möglich, dass du einen Schock hast.«

Teo versuchte, sarkastisch zu lachen. »Übertreib doch nicht!«

»Kannst du laufen?«

»Natürlich.« Teo machte einen Schritt, aber seine Knie gaben sofort nach.

Aurelio fing ihn auf. Er legte sich Teos Arm um die Schulter und den eigenen um Teos Taille. Die plötzliche Nähe jagte eine Schockwelle durch Teos Körper, ihm stockte der Atem, was ihn nur noch mehr verärgerte.

»Ich brauche deine Hilfe nicht«, schnauzte Teo, während Aurelio ihn aus dem Kühlraum schleppte.

»Doch, tust du«, sagte Aurelio.

Teo wäre es lieber gewesen, Aurelio hätte sarkastisch, verärgert oder sogar wütend reagiert statt derart ruhig. Es war schon schlimm genug, dass die Golds hatten auftauchen müssen, aber noch schlimmer war es, zuzugeben, dass Aurelio recht hatte: Er brauchte ihre Hilfe.

Als sie um die schwelenden Trümmer herumgingen, landete Teos Fuß plötzlich auf etwas Weichem. Unter seinem Schuh befand sich eine Stoffpuppe mit geflochtenem Haar, einer handgewebten Bluse und einem bunten Rock.

»Moment …« Teo blieb wie angewurzelt stehen, sodass auch Aurelio stoppte.

Der runzelte die Stirn. »Was ist?«

Teo beachtete ihn nicht und bückte sich, um die Puppe aufzuheben. Sie war ein wenig durchnässt und musste gründlich gewaschen werden, aber sie war noch heil.

Aurelio blickte Teo missbilligend an.

Der wurde rot. »Ich habe einem kleinen Mädchen versprochen, sie für sie zu holen.«

Aurelio schüttelte den Kopf, als würde er das nicht verstehen. »Das ist eine Puppe. Unwichtig.«

Vielleicht hatte er recht, aber Teo würde ihm die Genugtuung bestimmt nicht verschaffen.

»Für dich vielleicht, aber für das Mädchen nicht«, gab er zurück.

»Das ist nur ein Spielzeug …«

Teo lachte scharf auf. »Ich erwarte nicht, dass du das verstehst.«

Teo war bereit zu streiten – wollte es sogar –, aber Aurelio blickte ihn bloß einen Moment an, bevor er wieder den Kopf schüttelte und dann wegschaute. Er trug Teo praktisch die Feuerleiter hinunter und zurück zur Straße, wo sich Feuerwehrwagen und Kamerateams versammelt hatten.

Na toll. Jetzt gab es sicher ein Beweisfoto davon, dass er von Aurelio gerettet werden musste. Teo wünschte, er wäre von den Flammen verschluckt worden.

Veronica wurde in den Krankenwagen gerollt, während ihr Weißnackenbekarde-Begleiter ängstlich zwischen ihren Beinen hin und her stakste. Aurelio ließ Teo nicht los, bis die Sanitäter ihn übernahmen. Als er ging, nahm er seine siedende Körperwärme mit sich und ließ Teo bibbernd zurück, während sich die Sanitäter um ihn kümmerten. Glücklicherweise heilten semidioses dank ihres göttlichen Blutes schnell.

Eine Gruppe besorgter Bürgerinnen und Bürger drängte sich um Teo und den Sanitäter.

»Sol sei Dank, dass es dir gut geht, Teo«, meinte jemand.

»Deine Mutter wird sich solche Sorgen machen!«

»Das war gefährlich, du hättest auf die Heldenhaften warten sollen!«

Teo hatte nicht die Kraft, etwas zu entgegnen. Stattdessen beobachtete er verstohlen, wie sich Aurelio wieder zu Auristela und Marino gesellte. Die beiden lächelten gerade für die Kameras und die Berichterstattenden, die sie wie Bienen umschwirrten, aber Aurelio hielt sich zurück und massierte sich mit dem Daumen vorsichtig die Handfläche.

Eine seltsame Mischung aus Wut, Gehässigkeit und etwas Spannungsgeladenerem, das er nicht recht benennen konnte, strömte durch Teos ganzen Körper. Als Aurelio in seine Richtung blickte, wandte Teo sich schnell ab und biss die Zähne zusammen, während das Gefühl noch auf seiner Haut tanzte.

Teo sah sich in der Menschenmenge um und entdeckte das kleine Mädchen. Sie hatte ihr Gesicht beinahe vollständig im Rock ihrer Mutter vergraben, die versuchte, ihre Tochter zu beruhigen. Teo ging zu den beiden und kniete sich vor das Mädchen.

»Ist das María?«, fragte er sanft und mit einem müden Grinsen im Gesicht.

Das Mädchen blickte auf und nahm ihm zögerlich die Puppe ab. Im Nu erhellte ein breites Lächeln ihr verweintes Gesicht.

»Du hast sie gerettet!« Das Mädchen schlang die Arme um Teos Hals.

Ein erstauntes Lachen drang aus Teos Brustkorb.

»Unser Heldenhafter!«, sagte die Mutter und seufzte erleichtert.

Der verbitterte Zug um Teos Mund wurde von den Locken des Mädchens verdeckt. Heldenhafter. Ja, genau.

Nachdem er die medizinischen Hilfskräfte und alle anderen davon überzeugt hatte, dass es ihm gut ging, machte sich Teo auf den Heimweg. Mittlerweile rechnete er mit einem Vortrag von Huemac, der alle vorherigen in den Schatten stellte.

Alle Tempel in Reino del Sol waren u-förmig angelegt und besaßen eine große Außentreppe, die zu einem Observatorium hinaufführte, auf dem der Hauptaltar stand. Je nach Gottheit und Stadt unterschieden sie sich, doch jeder beherbergte einen Sonnenstein – ein Stück von Sol, das Licht und Schutz vor den Gefahren bot, die zwischen den Sternen lauerten. Nachts konnte man die Strahlen der Sonnensteine noch viele Kilometer entfernt sehen.

Im Moment waren sie eine eindringliche Mahnung, dass die Sonnenspiele in wenigen Stunden begannen und Teo sehr spät dran war.

Der Quetzal-Tempel befand sich in der Mitte der Stadt und war von fast überall aus zu sehen. Er war in einem leuchtenden warmen Gelb gestrichen und besaß viele Torbögen, damit die Vögel hinein- und hinausfliegen konnten, wie sie wollten. Normalerweise liebte er es, die übergroßen Mosaike der tropischen Vögel zu betrachten, die aus farbenfrohen Fliesen gefertigt waren. Heute schienen sich die Abbildungen jedoch über ihm zusammenzubrauen, als er in den Innenhof eilte.

Das Flattern der Flügel hallte wider, die Vögel zwitscherten und hießen Teo willkommen, während sie zwischen den Baumkronen hin und her flogen. In nur wenigen Augenblicken umgab ihn ein ganzer Schwarm. Kolibris in den Farben bunter Edelsteine schwirrten an seinen Ohren vorbei, während ein paar Tukane fröhlich zu seinen Füßen hüpften und ihren Gruß sangen.

»Es ist auch schön, euch zu sehen.« Teo kicherte und versuchte, nicht zusammenzuzucken und versehentlich die Gefühle des pfirsichfarbenen Papageis zu verletzen, der fröhlich von Teos Schulter krächzte. »Autsch!«, zischte er und duckte sich, als ein Rosenbauchfink seine Zuneigung ausdrückte, indem er an einer kleinen Strähne von Teos dunklem Haar zupfte.

»Husch, husch, lasst ihn in Ruhe!«, ertönte Claudias Stimme.

In einem Wust von Federn zerstreuten sich seine Freunde. »Die tun gerade so, als wäre ich tagelang weg gewesen. Danke, dass du mich gerettet hast«, sagte er amüsiert grinsend zu der Frau in der türkisfarbenen Robe der Quetzlan-Geistlichen.

»Danke nicht mir«, schnaubte Claudia mit strengem Blick, der durch einen straffen Haarknoten noch verstärkt wurde. »Du siehst furchtbar aus und Huemac hat dich schon gesucht! Du bist sehr spät dran – lass deine Mutter nicht länger warten!« Claudia gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

»Ich geh ja schon, ich geh ja schon!« Teo grinste und versuchte nicht einmal, keine Miene zu verziehen, während er aus Claudias Reichweite tänzelte. Er raste los, und seine schmutzigen Turnschuhe hinterließen schwarze Spuren auf dem nassen Boden, weil ein Geistlicher gerade die alten Fliesen wischte.

»Ach Teo!«, klagte er.

»Sorry!«, rief Teo mit schuldbewusst gesenktem Kopf und wich nur knapp einem anderen Geistlichen aus, der mit einem großen Teller voller Früchte, Körner und Käfer seinen Weg kreuzte. Ein Quetzal hockte geduldig auf der Schulter des Geistlichen, und ein Tukan hatte es sich auf einem Berg Passionsfrüchte gemütlich gemacht, während weiter oben die Kolibris lautstark stritten.

Teo kam an winzigen Wasserfällen vorbei, die sich über Vulkangestein in kristallklare Teiche voller Seerosen ergossen. Vögel planschten und Wassertropfen funkelten im Sonnenlicht auf ihrem bunten Gefieder.

Teo bog um eine Ecke und sah Huemac, der mit verschränkten Armen auf ihn wartete. Er stand auf der großen Steintreppe, die zum Observatorium führte, umgeben von einer Gruppe Geistlicher. Sein Quetzal Cielo hockte auf seiner Schulter.

»Huemac!«, grüßte Teo mit ausgebreiteten Armen und einem noch breiteren Lächeln. »Seit ich ganz klein war, hast du mich nicht mehr persönlich zu Hause begrüßt! Hast du nichts Wichtigeres zu tun?«, fragte er mit so viel Unschuld in der Stimme, wie er aufbringen konnte.

»Doch, habe ich«, stimmte Huemac mit einem vernichtenden Blick zu, die dünnen Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst.

Huemac war groß und knochig, hatte sonnengegerbte Haut und einen stets verärgerten Gesichtsausdruck, der sich zu verstärken schien, sobald Teo auftauchte. Huemac trug ein smaragdgrünes Gewand, das ihn als Geistlichen von Quetzlan auswies. Er hatte ein Jadestab-Piercing in der Nase und eine von Cielos Schwanzfedern hing von einem Jadestecker in seinem linken Ohr bis zur Schulter.

»Hast du dich in Sachen Sterne auf den neuesten Stand gebracht?«, fragte Teo. Der Geweihte war eigentlich immer über sein Teleskop gebeugt.

»Planeten«, korrigierte Huemac und rückte den Jadebrocken mit der eingravierten Quetzal-Glyphe darauf zurecht, der an einem Band um seinen Hals hing.

»Und was wollen uns die Planeten heute sagen?«

»Dass du zu spät bist.«

»Brauchst du dafür ein Teleskop? Die meisten Leute benutzen eine Uhr.«

»Und dass du dich fast umgebracht hättest«, fügte er hinzu und musterte Teo von oben bis unten.

»Die Planeten wussten von dem Feuer?«, fragte Teo beeindruckt.

»Du bist mit Ruß bedeckt«, fügte Huemac hinzu.

Teo schnalzte mit der Zunge und richtete Fingerpistolen auf den verärgerten Geistlichen. »Erwischt!«

»Das ist nicht lustig, Teo«, sagte Huemac mit plötzlich spitzer Stimme.

Teos Grinsen verblasste. »Ja, ich weiß.«

Zwischen den Augenbrauen des älteren Mannes bildete sich eine tiefe Falte. »Du hättest dich verletzen oder – schlimmer noch – das Leben anderer in Gefahr bringen können.«

Teo witzelte: »Was hätte ich denn tun sollen? Zusehen, wie …?«

Huemac unterbrach ihn. »Du bist kein Heldenhafter, Teo.«

Teo klappte den Mund zu.

Das stimmte, er war kein Heldenhafter. Aber schließlich hatte man ihm auch nie die Chance gegeben, einer zu werden. Wie einem besseren Geistlichen war ihm ein langweiliges Leben als Diener seiner Mutter vorbestimmt. Allein der Gedanke reichte, seinen Puls in die Höhe schnellen zu lassen. Er wollte nicht für den Rest seines Lebens in Quetzlan eingesperrt sein und nie die Gelegenheit bekommen, die übrige Welt zu sehen oder etwas zu finden, worin er wirklich gut war.

Huemac schloss die Augen und kniff sich in den Nasenrücken, bevor er einen tiefen und langen Atemzug tat. »Es ist die Aufgabe der Heldenhaften, das Volk von Reino del Sol zu beschützen«, erklärte er. »Und es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen, du Unruhestifter.«

Eine Verantwortung, die Huemac zweifelsohne verabscheute.

»Geh hinauf, begrüß deine Mutter, und lass sie nicht länger warten, als sie das ohnehin schon musste«, sagte Huemac ermüdet. »Wir sehen uns dort, mit dir in deinem Ornat.« Mit diesen Worten ging er zurück in den Tempel und ließ Teo wie ein ausgeschimpftes Kind stehen.

Teo holte tief Luft, bevor er den Rucksack höher auf die Schulter schob und den langen Aufstieg zum Observatorium begann. Teo hatte versucht, Huemac zu überreden, eine Rolltreppe einzubauen, aber der Geweihte hatte nur entrüstet geschnaubt und sich auf die Tradition und die Heiligkeit des alten Tempels berufen. Bla, bla, bla.

Als Teo endlich oben ankam und das goldgerahmte Glasobservatorium betrat, war weit unter ihm ganz Quetzlan zu sehen. Dort, wo das Feuer gewesen war, erkannte man eine graue Rauchwolke in der Luft. Das Observatorium beherbergte Huemacs geliebte Quetzale, den ganzen Stolz Quetzlans. Die grell grün-blauen Vögel hockten auf alten astronomischen Instrumenten wie den angelaufenen Armillarsphären und Sonnenuhren aus Jade. Auf den Oberseiten der Teleskope hockend, putzten sie ihre rubinroten Brustfedern und fraßen mit ihren kurzen gelben Schnäbeln aus goldenen Schalen.

Der Hauptaltar befand sich in der Mitte des Observatoriums. Er war umgeben von Kerzen in verschiedenen Formen und Größen, die in hohen goldenen Haltern steckten. Die Glyphe seiner Mutter stand genau in der Mitte. Die drei Quadratmeter große quadratische Platte aus makelloser Jade war so geschliffen, dass sie einem Quetzal im Flug ähnelte – mit ausgebreiteten Flügeln und langen eingerollten Schwanzfedern, während sein kleiner spitzer Schnabel in den Himmel ragte.

Über der Glyphe schwebte der Sonnenstein, der sich langsam in der Luft drehte. Er strahlte so hell, dass man ihn nicht direkt ansehen konnte, aber bevor Teo sich die Netzhaut verbrannte, erhaschte er noch einen Blick auf die glatte Oberfläche, die sich im Licht zu wellen schien und flackerte. Der Stein strahlte hell in den Himmel und das Licht verschwand irgendwo hinter den Wolken.

Teo ging an einem kleinen Jungen vorbei, der ein Segensgeschenk von Teos Mutter erhalten hatte – eine scharlachrote Ara-Feder, die er fest in der Hand hielt. Die Jade-Göttlichen waren die Einzigen, die ihre Segnungen persönlich erteilten. Die Gold-Göttlichen waren zu beschäftigt und überließen den Umgang mit den Sterblichen ihren Geistlichen.

Verlegen hielt sich Teo am Rand, um nicht zu stören, während seine Mutter einer älteren Frau eine lange, grün schimmernde Feder überreichte. Quetzal legte die Hand an die Wange der Dame und sprach leise, während diese mit tränenfeuchten Augen zu ihr hinauflächelte.

Als eine Geistliche die Dame hinausbegleitete, drehte sich Quetzal um. Sie sah ihren Sohn und ein strahlendes Lächeln erschien auf ihrem leuchtenden Gesicht. »Da bist du ja!«, sagte sie in ihrem typischen Singsang erleichtert.

»Hey, Mom«, meinte Teo, und das schlechte Gewissen lastete schwer auf ihm.

Quetzal war traumhaft schön, lebhaft wie die Vögel, die sie umgaben. Statt Haaren umrahmten lange Federn ihr ovales Gesicht. Die leuchtenden Blau- und Grüntöne auf ihrem Scheitel gingen in ein sattes Braun der Federn über, die ihren Rücken bedeckten. Der Halsschmuck aus vergoldeten Federn reichte ihr vom Kinn bis zum Schlüsselbein. An ihren Ohren hingen Ringe mit winzigen magentafarbenen, violetten und rubinroten Kolibri-Federn.

»Du bist spät dran«, sagte sie, nahm ihren Sohn in die Arme und drückte ihn fest an sich, wobei sie ihn ein ganzes Stück überragte. Die Göttlichen waren alle über zwei Meter groß und seine Mutter war keine Ausnahme.

»Sorry«, sagte Teo und erwiderte die Umarmung, allerdings kitzelten ihn ihre Federn an der Nase. »Ich wurde aufgehalten.«

Das Mieder von Quetzals Kleid war mit scharlachroten Ara-Federn geschmückt, der Rest bestand aus grellgrünem, cyanfarbenem und saphirblauem Gefieder. Der tiefe Rückenausschnitt ließ ihre Flügel voll zur Geltung kommen. Während Teos Flügel sperrig waren und gegen alles Mögliche stießen, wenn sie nicht festgebunden waren, schmiegten sich ihre hübsch an den Rücken und waren nie im Weg.

»Man hat mir erzählt, dass es gebrannt hat«, sagte die diosa und machte einen Schritt zurück, um Teo zu betrachten. »Dein Arm!«, keuchte sie und strich sanft über die Verbrennung an seinem Ellbogen.

Teo versuchte, den Ärmel darüberzuziehen. »Keine große Sache – fängt schon an zu heilen.«

Quetzal seufzte, lächelte aber. »Nun, Sol sei Dank.« Sie besaß einen warmen braunen Teint, genau wie Teo, und er hatte ebenfalls ihre großen dunklen Augen geerbt. »Huemac und ich haben uns sehr große Sorgen gemacht.«

Teo bezweifelte, dass das für Ersteren wirklich galt. »Sorry.«

Quetzal schob Teo liebevoll die wilden Strähnen aus dem Gesicht. »Ich bin nur froh, dass du jetzt in Sicherheit bist«, sagte sie und lächelte. »Zum Glück sind Marino, Auristela und dein Freund Aurelio ja noch rechtzeitig gekommen.«

»Er ist nicht mein Freund«, sagte Teo, schärfer, als er es beabsichtigt hatte, aber er konnte die Wut, die er bei der bloßen Erwähnung von Aurelio empfand, nicht unterdrücken.

Seine Mutter schaute ihn enttäuscht an, aber glücklicherweise trafen Huemac und die anderen Geistlichen genau zur rechten Zeit ein.

»Zieh dich aus«, sagte Huemac. »Damit wir dich umkleiden können.« Ein Wirbel von Bewegungen brach los. Quetzal trat zur Seite, als ein Standspiegel und ein Kleiderständer hereingebracht wurden.

»Immer gleich zur Sache, was?«, murmelte Teo. Ein jüngerer Geistlicher nutzte die Gelegenheit und nahm ihm den Rucksack von den Schultern. »Vorsichtig, da sind wichtige Sachen drin!«

Huemac hob eine Augenbraue.

Teo räusperte sich. »Du weißt schon, Hausaufgaben und so. Kann ich wenigstens vorher duschen?«, wollte er wissen, bevor ihn Huemac weiter ausfragen konnte.

Als Antwort wurden ihm eine große silberne Schüssel mit Wasser und ein Waschlappen gebracht.

Teo schaute finster drein. »Das ist alles?«

»Wenn du pünktlich gewesen wärst, hättest du noch duschen können«, sagte Huemac, während er ruhig die Hände faltete und an Quetzals Seite wartete.

Teo tauchte den Waschlappen in die Schüssel und sofort entfuhr ihm ein Zischen. »Das Wasser ist ja eiskalt

»Wenn du pünktlich gewesen wärst …«

»Jaja, verstehe schon. Ich kann das schon allein, danke!«, entgegnete er und fuchtelte mit der Hand, als ein Geistlicher versuchte, ihm beim Waschen zu helfen. »Könnte ich vielleicht ein bisschen Privatsphäre haben?«, fragte er die Umstehenden, während er den Gürtel öffnete.

Wie aufs Stichwort brachte eine Geistliche einen Paravent, hinter dem sich Teo umziehen konnte. Schnell schrubbte er sich den Ruß von Wangen und Armen.

Normalerweise trug er zu den verschiedenen Feiertagen und Festen ein schönes Hemd und eine Stoffhose. Aber da die Sonnenspiele das wichtigste Zeremoniell waren und nur einmal alle zehn Jahre stattfanden, waren die Dinge diesmal etwas aufwendiger.

»Ich verstehe nicht, warum ich mich verkleiden muss«, murrte Teo, als er eine leuchtend blaugrüne Charro-Hose mit goldenen Federstickereien an den Außennähten anzog.

»Weil du ein semidiós bist und die Diosa Quetzal und ganz Quetzlan repräsentierst«, sagte Huemac schroff.

Teo grummelte.

»Du kannst eineinhalb Wochen mit Niya verbringen!«, rief seine Mutter.

Abgesehen von den Städten, die er besuchen würde, war das der einzige Vorteil. Aber Niya war eine Gold, und zwar eine sehr starke, sodass die Wahrscheinlichkeit hoch war, dass sie für die Prüfungen ausgewählt wurde. Und dann könnte er keine Zeit mit ihr verbringen. Für die Prüfungen ausgewählt zu werden, war natürlich eine große Ehre, aber es war auch unglaublich gefährlich.

Und verlief immer tödlich.

Teo gab sein Bestes, um das flaue Gefühl im Magen nicht zu beachten, das sich bei dem Gedanken an die Teilnahme seiner besten Freundin bemerkbar machte. Er kämpfte sich aus seinem Hemd und versuchte, seinen Binder wieder zurechtzurücken, bevor er hinter dem Paravent hervortrat.

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