Widmung
Für Popa
– der mir gezeigt hat,
dass man jederzeit das Boot wechseln kann.
Prolog
PROLOG
Zwei Einhörner überquerten in mondloser Nacht eine Ebene, die von Schlachtspuren gezeichnet war.
Das erste Einhorn wurde von einem maskierten Reiter im Galopp vorangetrieben. Das zweite Einhorn trottete im Takt mit dem verrottenden Herz seiner Reiterin. Es war ein langsamer Schlag, ein stetiger Schlag, der Rhythmus eines Herzens, das Chaos gewohnt war.
Der maskierte Reiter erreichte den Treffpunkt als Erster, die Flammen in seinen Augen waren das einzige Licht in der endlosen Dunkelheit. Er sah die Weberin näher kommen, hörte die Hufe ihres verwesenden Einhorns dumpf im Staub aufschlagen wie eine Leichentrommel.
Die Augen des Reiters flackerten vor Angst, als das unsterbliche Geschöpf ihn umkreiste. Er fürchtete seine Reiterin. Und er fühlte sich durch diese Angst lebendig.
Die Weberin spürte seine Angst. Man würde sie immer fürchten. Doch sie fühlte dabei nichts.
»Es ist an der Zeit.«
Die Stimme der Weberin klang nicht ganz menschlich, ihre Worte schienen sich zu zersetzen wie die Flügel ihres Einhorns.
Der flammenäugige Spion verneigte sich knapp und ritt zurück nach Fourpoint.
Die Weberin blickte ihm nach, und ein erstickter Windhauch streifte ihr schwarzes Hemd. Sie dachte nicht an die Niederlage, die sie erlitten hatte. Auch nicht an den Sohn, der sie verraten hatte. Sie dachte nur an die Zukunft.
Wenn sie das Spiel nicht gewinnen konnte, würde sie es ändern.
Kenna: Ein Klopfen an der Tür
KENNA
EIN KLOPFEN AN DER TÜR
Am Abend der Sommersonnenwende saß Kenna Smith am Strand und sah zu, wie die Sonne im Meer versank. Während nach und nach die Lichter von Margate hinter ihr aufflammten, zog sie Skandars Brief aus der Tasche, musterte düster den Umschlag und steckte ihn dann wieder weg – ungeöffnet. Sie trug ihn schon seit drei Tagen mit sich herum. Sie wollte ihn ja lesen. Wirklich. Sie vermisste ihren Bruder so sehr, dass sie manchmal kurz vorm Einschlafen noch mal Luft holte, um ihm im Dunkeln etwas zuzuflüstern. Einen Witz. Eine Sorge. Ein Geheimnis. Und dann fiel ihr wieder ein, dass sein Bett leer war. Dass es schon seit fast einem Jahr leer war. Dass er in einem Baumhaus auf der Insel schlief und tagsüber mit seinem Einhorn Elementarmagie trainierte.
Genau das war das Problem an den Briefen. Sie erinnerten Kenna daran, dass sie niemals ein Einhorn bekommen würde. Vor zwei Jahren war sie durch die Einhornprüfung gefallen, die darüber entschied, wer ein Reiter wurde und wer nicht. Nun würde sie nie eine Bindung mit einem Einhorn eingehen und nie auf der Insel leben. Und seit Kenna Skandar vor einigen Wochen besucht und sein Einhorn Schlitzohr kennengelernt hatte, fiel es ihr immer schwerer, die Briefe ihres Bruders zu lesen.
Ständig sah sie vor sich, wie harmonisch Skandar und Schlitzohr zusammen waren, wie jeder die Bewegungen des anderen spiegelte, als wären sie aus ein und derselben Seele geschnitzt. Wie sich die Muskeln im Nacken des schwarzen Einhorns spannten und wie die Funken auf seinen Flügeln wie Sternenstaub glitzerten. Sie sah die tiefe Liebe in Skandars Augen, wenn er Schlitzohr betrachtete. Die beiden hatten ein Band, das stärker war als das Band zwischen Bruder und Schwester. Ein Band, das Magie entfachte.
Kenna klopfte sich den Sand von den Füßen und zog die Schuhe ihrer Schuluniform wieder an. Vorhin waren ihre Freunde hier gewesen – ihre neuen Freunde, die sich nichts aus Einhörnern machten. Als sie von Skandars Abschlussturnier zurückgekommen war, hatte sie es so sattgehabt, von allen wegen der Insel gelöchert zu werden, dass sie missmutig verkündet hatte, die Insel sei nur eine miese Version des Festlands und die Einhörner nichts anderes als überdimensionierte Pferde mit zerzausten Flügeln. Die meisten hatten ihr nicht geglaubt – aber diejenigen, die schon immer etwas gegen Einhörner gehabt hatten, hatten an ihren Lippen gehangen.
In der Pause hatten sie sich um Kenna geschart und sich kaputtgelacht, als sie ihnen erzählt hatte, dass die Reiter löchrige alte Jacken tragen und auf Bäumen leben mussten. Und Kenna hatte die leise Hoffnung verspürt, dass sie vielleicht doch hierher aufs Festland gehörte. Dass sie ein anderes Leben führen konnte. Dieses Jahr hatte sie sich sogar geweigert, mit ihrem Vater den Chaos-Pokal zu schauen, das weltberühmte Einhornrennen. Sie hatte sein enttäuschtes Gesicht absichtlich übersehen, als sie ihn allein vor dem Fernseher hatte sitzen lassen. Kenna hatte den Gedanken, wie enttäuscht ihre Mutter von ihr gewesen wäre, weit weggeschoben, und war mit ihren neuen Freunden durch das verlassene Stadtzentrum geschlendert.
An diesem Tag hatte Kenna verpasst, wie Nina Kazama Chaos-Kommodora geworden war – die erste Festländerin in der Geschichte, die den Chaos-Pokal gewann. Allen hatte Kenna vorgespielt, es wäre ihr egal. Abends jedoch hatte sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und sich hundertmal im Internet angesehen, wie Nina und ihr Einhorn Irrblitz durch den Zielbogen galoppierten. Und ihr war klar geworden, dass sie nicht wirklich zu ihren neuen Freunden gehörte. Sondern nur so tat, als ob.
Bei ihrem Wohnblock am Sonnenhang angekommen, gab Kenna den Code für den Haupteingang ein und musste dabei an die Baumhäuser auf der Insel denken. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als mit Skandar und seinen Freunden im Adlernest zu leben und unten im Stall ein Einhorn wie Schlitzohr zu haben. Selbst nach zwei Jahren wünschte sich Kenna immer noch mehr als alles andere auf der Welt ein Einhorn.
»Kenna?«
»Hi, Dad«, rief sie und zog die Tür von Wohnung 207 hinter sich zu.
Ihr Vater war bereits für seine Nachtschicht in der Tankstelle gekleidet. Kenna war erleichtert – an manchen Tagen musste sie ihn erst überreden, zur Arbeit zu gehen, und an anderen Tagen war es schier unmöglich. Aber heute war ein guter Tag – einer von denen, die Kenna in ihren Briefen an Skandar schilderte, und nicht einer der schlechten, die sie für sich behielt.
Sie quetschten sich im Flur aneinander vorbei – ein routinierter Ablauf. Kenna hängte ihre Jacke an den Haken hinter seinem Kopf, während er seine Schlüssel in die Vordertasche seines Hemds fallen ließ.
»Hast du in den Briefkasten geschaut?«, fragte Dad.
Eigentlich wollte er wissen, ob ein Brief von Skandar gekommen war.
»Ja, hab ich. War nichts da«, flunkerte Kenna.
»Hm. Na, dann kommt bestimmt bald was.« Dad gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Gute Nacht, mein Schatz. Wir sehen uns morgen früh.«
Skandars Brief brannte in ihrer Tasche, als sie sich in ihr Zimmer verdrückte. Kenna wusste, dass sie ihn Dad hätte zeigen sollen, aber sie schaffte es nicht – nicht heute. Nicht am Abend der Sommersonnenwende. Heute hatten Dreizehnjährige im ganzen Land ihre Einhornprüfung abgelegt und hofften darauf, dass es um Mitternacht fünfmal an ihre Tür klopfte – und sie als Einhornreiter auf die Insel berufen wurden. Wenn sie Dad von dem Brief erzählte, würde er ganz bestimmt nur davon reden, wie Skandar letztes Jahr um diese Zeit auf die Insel gerufen worden war.
Denn eigentlich wollte Dad von nichts anderem als von Skandar und Schlitzohr sprechen. Kenna hatte das Gefühl, dass alles, was sie betraf – ihre Eins im Mathetest, ihre neuen Freunde, ihre bitteren Tränen vorm Einschlafen –, nicht der Rede wert war. Obwohl sie zugeben musste, dass es herrlich war, Dad so glücklich zu sehen. Die meiste Zeit ihrer Kindheit hatte er kaum gelächelt. Kenna war hin- und hergerissen zwischen ihren Gefühlen und seinen.
Aber sie verheimlichte ihrem Vater noch etwas anderes. Sie war überzeugt, dass hinter Skandars ungewöhnlicher Reise auf die Insel mehr steckte, als er eingestanden hatte. Sie hatte jedes Buch in der Bibliothek, jede Website und jedes Forum nach Belegen durchforstet, ob es so begabte Kinder gab, dass sie keine Einhornprüfung ablegen mussten.
Doch sie hatte nichts gefunden. Jedes Kind, das vor der Sommersonnenwende dreizehn Jahre alt wurde, musste die Einhornprüfung durchlaufen. So stand es im Abkommen zwischen Festland und Insel. So lautete das Gesetz. Aber aus irgendeinem Grund war bei Skandar eine Ausnahme gemacht worden. Kenna schämte sich für die missgünstigen Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen. Immer war sie die Stärkere, Schnellere, Klügere gewesen. Sie hatte Skandar quasi großgezogen – da hätte sie es ja wohl wissen müssen, wenn er außergewöhnlich war. Und so sehr sie ihn auch liebte – das war er nicht. Er hatte immer ihre Unterstützung gebraucht. Das alles konnte also nur bedeuten, dass Skandar ihr etwas verheimlichte.
Es war spät. Fast Mitternacht. Kenna kroch unter die Bettdecke und legte Skandars Brief behutsam auf den Nachttisch. Morgen würde sie ihn lesen. Vielleicht. Sie starrte an die Decke und nahm sich vor, schnell einzuschlafen und nicht bis Mitternacht wach zu bleiben. Es wäre das dritte Mal, dass sie den Tageswechsel der Sommersonnenwende ohne ein Klopfen an der Tür und ohne den Ruf der Insel erleben würde. Sie versuchte, sich nicht ihr eigenes Einhorn vorzustellen, wie sie es ihr Leben lang an diesem Tag getan hatte: die Farbe seines Fells und seiner Flügel und sein Element.
Klopf. Klopf.
Kenna setzte sich kerzengerade im Bett auf. Hatte Dad seinen Schlüssel vergessen? Nein, er hatte ihn in die Tasche gesteckt.
Klopf. Klopf.
Sie träumte nicht. Sie war eindeutig wach.
Auf Zehenspitzen schlich sie zur Wohnungstür. Dort zögerte sie. Wenn es noch einmal klopfte, würde sie aufmachen. Sonst würde sie vernünftig sein. Und wieder ins Bett gehen.
KLOPF.
Mit hämmerndem Herzen riss Kenna die Tür von Wohnung 207 auf und stand einem blassen, ganz in schwarz gekleideten Mann mit grünen Augen gegenüber.
Sein Blick huschte umher und richtete sich dann mit verstörender Intensität auf Kenna. Seine Wangenknochen wirkten im grellen Licht des Treppenhauses gefährlich scharf, und seine Zunge blitzte sonderbar silbrig, als er den Mund zum Sprechen öffnete.
»Dorian Manning.« Er streckte seine sehnige Hand aus.
Kenna ergriff sie nicht.
»Präsident der Brutkammer und Leiter des Silberzirkels.« Er räusperte sich gewichtig und rümpfte die Nase, als erwartete er, dass sie etwas sagte – mit dieser Miene erinnerte er Kenna an eine Kanalratte.
»Okay …« Beim Gedanken an die Brutkammer klopfte Kennas Herz wie wild, aber es gelang ihr, ruhig zu bleiben. Sie strich eine braune Haarsträhne hinter das Ohr. »Und warum sind Sie hier?«
»Ich bin gekommen, um dir einen Handel vorzuschlagen«, erklärte er großspurig.
Kenna begann die Tür vor seiner Nase zu schließen. Dieser Typ musste irgendein verrückter Einhorn-Fanatiker sein. Es war reiner Zufall, dass er genau um Mitternacht der Sommersonnenwende bei ihr geklopft hatte. Die Enttäuschung gesellte sich zu den vielen anderen Enttäuschungen, die sie erlebt hatte, und machte ihr Herz noch ein bisschen härter.
Aber die Tür ließ sich nicht schließen. Dorian Manning hatte die Spitze seines glänzenden schwarzen Stiefels in den Rahmen gestellt.
»Hast du kein Interesse daran, dein vorbestimmtes Einhorn zu finden, Kenna Smith?«
Erstes Kapitel: Ein blutiges Picknick
ERSTES KAPITEL
EIN BLUTIGES PICKNICK
Skandar Smith sah seinem schwarzen Einhorn Schlitzohr dabei zu, wie es sich das Blut von den Zähnen leckte. Es war ein herrlicher Tag für ein Picknick. Der Augusthimmel war blauer als Wassermagie, und der Tag war so sonnig und warm, dass die Kälte des Herbstes noch weit weg zu sein schien.
»Wo sind denn die ganzen Sandwiches?«, fragte Mitchell Henderson. Seine Brille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht, während er sich auf Knien über den Picknickkorb beugte.
»In meinem Bauch – wo denn sonst?«, erwiderte Bobby Bruna, ohne sich die Mühe zu machen, die Augen zu öffnen.
»Die waren für uns alle!«, rief Mitchell. »Ich hatte sie extra aufgeteilt!«
Bobby stützte sich auf die Ellbogen. »Ich dachte, das hier wäre ein Picknick. Ist Sandwiches essen nicht genau das, was man bei einem Picknick macht?«
»Hier, bitte, Mitchell.« Flo Shekoni krabbelte über die Decke, auf der sie saßen. »Du kannst eins von meinen haben – ich habe sie schon vorher aus der Tüte genommen.« Flo hasste Streit, und zwar so sehr, dass sie bereitwillig ihr Essen verschenkte, um den Frieden zu wahren.
»Hat Bobby das gemacht?« Mitchell knabberte misstrauisch eine Ecke des Sandwiches an.
Flo lachte. »Keine Ahnung, aber jetzt will ich es nicht mehr zurück! Gib es Brombeere, wenn du es nicht magst.«
Skandar lehnte sich an Schlitzohr, die gefiederte Spitze seines angelegten Flügels kitzelte ihn im Nacken. So sorglos hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er vor über einem Jahr auf die Insel gekommen war. Sorglos und – glücklich. Tatsächlich. Skandar gehörte endlich dazu. Er war mit einem Einhorn verbunden. Und er hatte Freunde – Bobby, Flo und Mitchell –, die mit ihm Picknicks machten. Die vier bildeten ein Quartett, was bedeutete, dass sie sich ein Baumhaus im Adlernest teilten, der Schule für angehende Einhornreiter. Sie alle hatten das Abschlussturnier am Ende ihres Kükenjahrs bestanden und waren kurz davor, ihr zweites Schuljahr als Nesthocker zu beginnen.
Bei der Erinnerung an das Abschlussturnier schlug Skandars Herz schneller, und Schlitzohr brummte leise, um ihn zu beruhigen. Nachdem Skandar das Rennen mit Ach und Krach geschafft hatte, hatten seine Freunde und er es mit der gefährlichen Weberin aufnehmen müssen – sie hatten gegen sie gekämpft, um ihre wilde Einhornarmee daran zu hindern, das Festland anzugreifen.
Skandar versuchte möglichst wenig an die Weberin zu denken, und erst recht nicht an die schreckliche Entdeckung, dass sie seine tot geglaubte Mutter war. Er wollte nicht mehr vor sich sehen, wie sie auf ihrem wilden, verwesenden Einhorn auf Schlitzohr und ihn zugeritten war. Ebenso wenig wollte er daran denken, dass er seiner großen Schwester Kenna verschwiegen hatte, dass ihre Mutter noch lebte. Er tastete in seiner Tasche nach dem Brief, den sie ihm kurz vor der Sommersonnenwende geschrieben hatte, holte ihn jedoch nicht heraus. Er fuhr nur mit dem Daumen am Rand des Kuverts entlang – als könnte er ihr dadurch näher sein und seine Geheimnisse wiedergutmachen.
»Könnt ihr euch vorstellen, dass schon in ein paar Wochen das Training wieder losgeht?«, fragte Flo bedrückt, während sie ihr Einhorn Silberklinge beobachtete, das ein paar Meter vor ihnen Wasser aus dem Fluss trank.
»Ich wünschte, wir könnten schon morgen anfangen!«, erwiderte Bobby. Die zarten Federn der Mutation an ihren Armen sträubten sich vor Eifer.
»Du willst doch bloß mit Elementarwaffen rumfeuern«, stöhnte Mitchell.
Bobby grinste. »Klar will ich das. Ich liebe Turniere! Wie wir Festländer immer sagen: Ich werde mehr Spaß haben als ein Floh auf dem Flohmarkt!«
Skandar kicherte über Bobbys erfundene Redewendung. Sie zwinkerte ihm zu.
»Ich würde lieber hierbleiben.« Mitchell lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Das ist einfacher.«
Da konnte Skandar ihm nur zustimmen. Als er letztes Jahr auf die Insel gekommen war, hatte er geglaubt, es gäbe nur vier Elemente: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Aber nachdem Schlitzohr geschlüpft war, hatte sich herausgestellt, dass Skandar und sein Einhorn mit einem illegalen fünften Element verbündet waren – dem Spiritelement, genau wie die gefürchtete Weberin. Nur dank der Hilfe seines Quartetts hatte Skandar es geschafft, den Großteil seines ersten Jahres im Adlernest so zu tun, als wäre er ein Wasserkämpfer. Doch schließlich war die Wahrheit ans Licht gekommen. Nur Kenna und Dad wussten noch immer nichts. Seit bekannt war, dass Skandar mit dem sogenannten Todeselement verbündet war, folgten ihm auf jeder Hängebrücke und jeder Kletterleiter Getuschel und ängstliche Blicke. Es würde wohl noch lange dauern, bis das Adlernest einem Spiritkämpfer wie ihm vertraute.
»Bevor das Training losgeht, bekommen wir erst mal unsere Sättel«, sagte Flo.
Skandar seufzte. »Ihr bekommt eure Sättel. Ich bin mir nicht sicher, ob irgendein Sattler mich nimmt.«
»Das sagst du ständig.« Flo runzelte die Stirn. »Aber Jamie hat es auch nicht gestört, dass du ein Spiritkämpfer bist. Wenn dein Schmied kein Problem damit hat, warum sollten die Sattler eins haben?«
»Jamie kennt mich. Das ist etwas anderes.«
»Jamie ist wirklich was Besonderes«, bestätigte Mitchell. »Übrigens findet er, dass meine Haare voll cool aussehen.« Die flammenden Strähnen in seinen dunklen Haaren leuchteten etwas heller, als wollten sie diese Aussage bekräftigen.
»Wo wir gerade von der Sattelzeremonie reden …«, Bobby setzte sich auf. »Ich habe gehört, dass die Sattlerei Shekoni nicht jedes Jahr einen Reiter auswählt. Sie ist so berühmt, dass sie nur Sättel für Reiter anfertigt, von denen sie sicher ist, dass sie es in den Chaos-Pokal schaffen.« Bobbys Augen glänzten vor Sehnsucht. »Flo, du als Shekoni weißt doch bestimmt was!«
Flo schüttelte den Kopf, und die Silbersträhnen in ihrem schwarzen Afro reflektierten das Sonnenlicht. »Dad will mir nichts sagen. Er meint, das wäre nicht fair, und ich finde, er hat recht.«
»Nicht fair, sprach der Bär. Du bist durch und durch Erdkämpfer«, brummelte Bobby und stand auf, um Wanderfalkes graues Bein vom Schlamm zu befreien. Das Einhorn beobachtete seine Reiterin genau, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich alles entfernte. »Was nützt es, mit der Tochter eines Sattlers befreundet zu sein, wenn sie keine Geheimnisse ausplaudert?«
Nicht nur Bobby hatte Flo in den letzten Wochen mit Fragen nach der Sattlerei gelöchert. Und weil Flo es nicht ertrug, ihre Mitschüler zu enttäuschen, hatte sie sich immer öfter ins Baumhaus zurückgezogen, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Skandar konnte den Nesthockern ihr Interesse nicht verdenken. Ein guter Sattel war der Schlüssel zum Erfolg, und natürlich wollten alle Reiter wissen, ob die Sattlerei Shekoni bei der Zeremonie dabei sein würde.
Olu Shekoni war der beste Sattler der Insel. Er fertigte auch die Sättel der neuen Chaos-Kommodora, Nina Kazama. Skandar konnte immer noch nicht glauben, dass jemand vom Festland, so wie er selbst, den Chaos-Pokal gewonnen hatte und jetzt Kommodora war – die wichtigste Person auf der ganzen Insel.
Schlitzohr stand auf, versetzte Skandar einen spielerischen Klaps mit dem Flügel und trottete mit Falke zu Brombeerrücken und Silberklinge an den Fluss. Die vier begannen ein Spiel, bei dem es darum zu gehen schien, welches Einhorn die meisten Fische fangen konnte. Skandar war sich nicht einmal sicher, ob die Einhörner die Fische überhaupt fraßen, aber Schlitzohr und Brombeere hatten einen Riesenspaß daran, sie mit ihren scharfen Zähnen aus dem Wasser zu reißen. Schlitzohr gelang es sogar, einen Fisch auf die Spitze seines schwarzen Horns zu spießen. Nach ein paar Runden ließ Falke jedoch heimlich einen Teil des Flusses mit einem Elementarstoß gefrieren, und Brombeere und Schlitzohr schlugen ihre Kiefer auf das harte Eis. Silberklinge schnaubte verächtlich über die Dummheit der beiden, während er mit wildem Blick die Fische beobachtete, die sicher unter der glasigen Oberfläche davonschwammen.
Skandar war froh, dass sie die Wasserzone für ihr Picknick ausgewählt hatten. Obwohl sie nicht einmal eine halbe Flugstunde vom Adlernest entfernt waren, sah die Landschaft hier ganz anders aus. Flüsse und Bäche zogen sich wie blaue Adern durch die flache Ebene, und an ihren Ufern wuchs üppiges Gras. Auf dem Weg hierher waren sie über riesige Weidenbäume geflogen, in deren Kronen die Bewohner dieser Zone ihre Baumhäuser hatten. Außerdem hatten sie hier und da Fischerboote gesehen, die unter den filigranen Kanalbrücken hindurchschipperten.
Etwa in der Mitte der Zone hatte Mitchell sie auf den berühmten schwimmenden Markt hingewiesen, auf dem Händler aus allen Teilen der Insel ihre Stände hatten. Die Kunden glitten auf hölzernen Seerosenblättern übers Wasser, um die Waren zu begutachten, während andere ihre Einkäufe nach Hause ruderten. In der Nähe von Flussbiegungen sammelte sich klares Wasser in Seen, wo die Inselbewohner baden und durstige Tiere trinken konnten – wenn sie nicht gerade von hungrigen Einhörnern verspeist wurden. Die Wasserzone hatte sogar einen anderen Geruch …
Skandar musste würgen.
»Hast du eins von Bobbys Sandwiches gegessen?«, fragte Mitchell mitfühlend. »Ich habe ihr gesagt, dass kein Mensch Marmelade, Käse und Marmite mag, aber sie hört ja nicht auf mich.«
»Riecht ihr das?«, fragte Skandar.
Im selben Moment stimmten die Einhörner unten am Wasser ein lautes Gekreisch an. Schlitzohr stolperte rückwärts das Ufer hinauf und schlug alarmiert mit seinen schwarzen Flügeln. Seine Angst verband sich mit Skandars.
Nicht hier, dachte Skandar. Bitte nicht. Das kann nicht sein.
Flo griff nach seinem Arm. »Skar, was ist los?«
Ein scharfer Windstoß fuhr durch die Luft. Flos Augen weiteten sich erschrocken, und Skandar wusste, dass er sich die Gefahr nicht nur eingebildet hatte. Flo roch es auch: den fauligen Gestank von verwesender Haut, von eiternden Wunden, von Tod. Und es gab nur eine Kreatur, von der er stammen konnte.
»Wir müssen hier weg. Wenn der Geruch so stark ist, muss es ganz nah sein!« Skandar eilte auf Schlitzohr zu, um sich auf seinen Rücken zu schwingen.
Der Hals seines Einhorns war schweißnass. Es brüllte, starrte auf etwas im Wasser, und seine Augen wechselten von Schwarz zu Rot. Skandar folgte seinem Blick. Die anderen stürzten an seine Seite.
Das Blut rauschte in Skandars Ohren. Wie aus weiter Ferne hörte er Flo schreien, Mitchell fluchen und Bobby japsen.
Im Wasser war ein wildes Einhorn.
Und es war tot.
Skandars Gedanken überschlugen sich. Das war unmöglich.
»Das verstehe ich nicht«, krächzte Mitchell. Unter anderen Umständen hätte er das nie zugegeben.
Das unsterbliche Blut des wilden Einhorns bildete Wirbel im fließenden Wasser. Teile der glatten Felsen und des nahe gelegenen Schilfs waren damit bedeckt, und Fliegen schwirrten um eine große Wunde in der Brust des Einhorns. Der Kadaver musste von der Strömung flussabwärts getrieben worden sein, bevor er in dieser Flussbiegung hängen geblieben war.
»Ist es wirklich tot?«, flüsterte Flo.
Mitchell verschränkte die Arme. »Also ich werde es bestimmt nicht überprüfen.«
Skandar und Bobby kletterten vom Ufer in den Fluss und wateten durch das flache Wasser. Der Gestank nach Verwesung war so überwältigend, dass Skandars Augen tränten. Schlitzohr quiekte besorgt und klang dabei so, als wäre er gerade erst geschlüpft. Skandar versuchte ihn durch ihr gemeinsames Band zu beruhigen, obwohl jeder Nerv seines Körpers alarmiert war, bereit, ihn bei der kleinsten Regung des wilden Einhorns das Ufer hinaufzujagen. Bobbys Mund bildete eine scharfe, entschlossene Linie, als sie sich neben das durchsichtige Horn des fuchsroten Einhorns kniete.
Sie schüttelte den Kopf. Skandar beugte sich ebenfalls vor. Seine Hose wurde von blutigem Wasser getränkt. Seitlich am Kopf des wilden Einhorns war ein Auge zu sehen. Es starrte ins Leere. Skandar streckte die Hand aus und schloss sanft das faltige Augenlid. Etwas an den dichten Wimpern, die denen seines eigenen Einhorns so ähnelten, machte ihn unendlich traurig. Von Schlitzohr am Ufer ertönte ein tröstendes Winseln.
»Ich glaube, es war noch jung«, murmelte Bobby. »Es ist nicht so gruselig wie die anderen wilden Einhörner, die wir aus der Wildnis kennen.«
»Skandar!« Mitchells Stimme übertönte das sanfte Plätschern des Wassers. »Du musst schleunigst von hier verschwinden. Du bist ein Spiritkämpfer! Du darfst auf keinen Fall in der Nähe eines toten Einhorns gesehen werden.«
Skandar blickte blinzelnd zu ihm und Brombeere am Ufer hinauf. »Spiritkämpfer können keine wilden Einhörner töten.«
»Niemand kann wilde Einhörner töten. Angeblich sind sie unsterblich und unbesiegbar. Trotzdem ist es tot.« Mitchell raufte sich seine flammenden Haare.
»Komm, Skar, lass uns gehen.« Flo schwang sich bereits auf Silberklinges Rücken. »Mir fallen da ein paar Leute ein, die dir das nur zu gerne in die Schuhe schieben würden.«
Dorian Mannings Gesicht blitzte in Skandars Kopf auf. Am Ende des letzten Schuljahrs war das Oberhaupt des Silberzirkels strikt dagegen gewesen, dass Skandar als Spiritkämpfer im Adlernest bleiben durfte.
Als Skandar auf Schlitzohr saß, warf er einen letzten Blick auf den leblosen Körper im Fluss, und in seinem Nacken kribbelte die Angst. Wilde Einhörner starben nicht. Sie lebten ewig, sie waren unbesiegbar. Wenn sie doch getötet werden konnten, wenn es doch einen Weg gab … Welche dunkle Macht vermochte das Leben einer unsterblichen Kreatur zu nehmen, das ewig leben – und ewig sterben – sollte?
Seine Mum? Skandar wollte die naheliegendste Antwort schnell wieder verdrängen. Die Vorstellung, dass seine Mutter schon wieder genug Kraft erlangt hatte, um ein unsterbliches Wesen zu töten, war entsetzlich. Er hätte so gerne geglaubt, dass sie nicht dafür verantwortlich war, dass es jemand Mächtigeren, jemand Verdorbeneren gebraucht hätte, um diesen unmöglichen Mord zu begehen.
Aber Skandar konnte sich niemanden vorstellen, der verdorbener war als die Weberin.
Zweites Kapitel: Ein Wahrsang sorgt für Ärger
ZWEITES KAPITEL
EIN WAHRSANG SORGT FÜR ÄRGER
In den nächsten Tagen wurde im Adlernest viel über den Tod des wilden Einhorns spekuliert. Der Kadaver war von einer patrouillierenden Silberwache gefunden worden, nur wenige Stunden, nachdem Skandars Quartett die Wasserzone verlassen hatte. Die Lehrmeister hatten allen jungen Reitern eingeschärft, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen und die Ergebnisse von Kommodora Kazamas Untersuchungen abzuwarten. Aber natürlich machten schnell Gerüchte über die Weberin die Runde, zumal alle Reiter – mit Ausnahme der neuen Küken – noch Sommerferien hatten. So gab es nichts, was sie von dem wilden Einhorn oder der Weberin ablenkte, und Skandar merkte, dass das Getuschel um ihn herum noch viel mehr wurde.
Alle wussten, dass Skandar am Ende seines Kükenjahres in der Wildnis gegen die Weberin gekämpft hatte, auch wenn kaum jemand die Einzelheiten kannte. Seit dem Mord an dem wilden Einhorn hatte er in der Futterkrippe – so hieß der Speisesaal der Schule – schon mehrere Gespräche über das Thema aufgeschnappt. Die meisten drehten sich darum, ob er etwas mit dem Vorfall zu tun hatte und ob seine Verbindung mit dem Spiritelement bedeutete, dass er etwas über die Pläne der Weberin wusste. Es war schon vorher schwierig gewesen, der einzige Spiritkämpfer im Adlernest zu sein, und der rätselhafte Tod des wilden Einhorns machte es nicht besser. Dabei interessierte es wohl niemanden, dass das Spiritelement nur gebundene Einhörner töten konnte, keine wilden.
»Ignorier sie einfach«, riet Flo Skandar wenige Tage, nachdem sie das tote Einhorn gefunden hatten. »Bald haben sie es vergessen.«
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, widersprach Mitchell. Flo warf ihm einen strafenden Blick zu.
»Was denn?« Mitchell schob sich die Brille auf dem Nasenrücken hoch. »Du musst doch zugeben, dass es faszinierend ist! Wie tötet man ein Ungeheuer, das man nicht töten kann?«
»Es ist nicht faszinierend, es ist grauenhaft! Und es verstößt gegen das Gesetz der Insel – die wilden Einhörner gehören genauso zur Insel wie die Reiter und dürfen nicht gejagt werden. Sie sind sogar noch länger hier als wir! Auch wenn sie nicht … na ja … nicht besonders nett sind.«
Bobby schnaubte. »Außer dir würde niemand auf die Idee kommen, wilde Einhörner ›nicht besonders nett‹ zu nennen, Flo.« Sie drehte sich zu Skandar und kippelte bedenklich mit ihrem Stuhl. »Warum ist deine Mutter immer so dramatisch, wenn es darum geht, Dinge zu tun, die vor ihr niemand getan hat?« Bobby zählte an ihren Fingern ab: »Erst stiehlt sie das mächtigste Einhorn beim Chaos-Pokal, dann baut sie eine wilde Einhornarmee auf und jetzt muss sie auch noch ein …«
Mitchell packte Bobbys Stuhl und drückte ihn nach vorne, bis seine Beine wieder sicher auf dem Boden standen. »Wir haben keine Beweise dafür, dass die Weberin dahintersteckt. Jedenfalls noch nicht.«
»Wer soll es denn sonst sein?«, fragte Skandar kläglich.
Die vier Freunde saßen einen Moment lang schweigend da. Dann wechselte Flo das Thema und erzählte ihnen, welche Sorgen ihr das erste Treffen mit dem Silberzirkel bereitete. Mit seinem Fell, das wie poliertes Silber glänzte, sah ihr Einhorn Silberklinge nicht nur beeindruckend aus – es war auch beeindruckend. Silberhörner waren etwas Besonderes, sie waren die seltensten und von Natur aus mächtigsten Einhörner, und das brachte eine große Verantwortung mit sich … und eine große Gefahr. Jetzt, da Flo das Abschlussturnier des letzten Jahres bestanden hatte und eine Nesthockerin war, war Klinge noch stärker, und es war Zeit, dass sie an den Treffen der anderen Silberreiter teilnahm – dem sogenannten Silberzirkel. Dort sollte sie mehr über die Geschichte der Silberhörner erfahren und noch viel wichtiger: Techniken erlernen, mit denen sie die Magie ihres Einhorns bändigen konnte.
»Ich will sie nicht enttäuschen. Schließlich bin ich die erste Silberreiterin seit Jahren! Was, wenn ich alles falsch mache? Wenn ich nicht lerne, Silberklinge zu kontrollieren? Oder wenn sie mich nicht mögen?«
»Sei nicht albern, Flo« Bobby verdrehte die Augen. »Alle mögen dich. Du bist der netteste Mensch der Welt. Was schrecklich anstrengend ist.«
»Wirklich?«, fragte Flo leise.
»Wirklich!«, bestätigten Bobby, Skandar und Mitchell einstimmig.
»Ihr meint also, dass alles gut gehen wird? Wenn ich mit den anderen Silberreitern trainiere?«
Skandar wusste, dass diese Frage hauptsächlich an ihn gerichtet war. Silberreiter und Spiritkämpfer hatten eine lange Geschichte der Rivalität – vor allem, weil Silberhörner die einzigen gebundenen Einhörner waren, die zu mächtig waren, um von Spiritkämpfern wie Skandar getötet zu werden.
Skandar versuchte Flo beruhigend zuzulächeln. »Du wirst das ganz großartig machen.«
»Aber vielleicht solltest du nicht allzu oft erwähnen, dass Skandar und du befreundet seid«, fügte Mitchell hinzu.
Flo erklärte ihnen, was sie sich von ihrem ersten Treffen mit dem Silberzirkel erhoffte, und Skandar war dankbar, dass sie das Gespräch von der Weberin abgelenkt hatte.
Der letzte Augusttag war schnell gekommen. Den Abend vor der Sattelzeremonie verbrachten Skandar, Bobby und Mitchell in ihrem Baumhaus und waren in erster Linie damit beschäftigt, sich verrückt zu machen.
Mitchell saß auf dem roten Sitzsack neben dem Bücherregal, blätterte wild in einem Wälzer mit dem Titel Das große Sattelbuch und warf mit Fakten um sich, als gäbe es etwas zu gewinnen: »Das Adlernest bezahlt übrigens die Sättel … Und wusstet ihr, dass es 1982 einen großen Sattler-Streik gab?« Bobby murmelte Taktiken für das Rennen vor sich hin, das sie am nächsten Morgen vor den Sattlern austragen würden, während sie sich eins ihrer berühmten Notfall-Sandwiches mit Käse, Marmite und Marmelade schmierte. Und Skandar saß neben dem Ofen und machte sich Gedanken über die Weberin und die Zeremonie, während er den letzten Brief las, den er von Kenna bekommen hatte. Den, den sie kurz vor der Sommersonnenwende geschickt hatte:
Hallo Skar,
danke, dass du dich nach mir erkundigst, aber ehrlich gesagt gibt es gar nicht viel zu erzählen. Mir geht’s gut. In der Schule läuft es gut. Mit meinen Freunden läuft es gut. Mit Dad läuft es gut. Sogar mit dem Geld läuft es gut – dank Dads Job und deinem Reitergeld. Du hast in deinem letzten Brief geschrieben, du hoffst, dass ich glücklich bin, aber ich glaube, du kennst die Wahrheit. Ich muss immer wieder daran denken, wie es war, auf Schlitzohr zu reiten. Ich bin traurig, dass ich nicht für ein Einhorn bestimmt bin, Skar, und ich glaube, ich werde es immer sein. Ich bin traurig, dass du nicht mehr bei mir bist – ich vermisse dich so sehr, und dich einmal im Jahr zu sehen, ist einfach zu wenig. Und ich bin traurig, weil wir früher nie Geheimnisse voreinander hatten. Ich weiß, dass du mir jetzt Dinge verschweigen musst, du hast bestimmt deine Gründe, aber … Tja, ich werde wohl einfach abwarten müssen, bis ich irgendwann wieder glücklich bin. Es wird schon werden, aber es dauert länger, als ich dachte. Wie läuft’s im Adlernest?
Wie geht es Schlitzohr?
Hab dich lieb,
Kenn x
Skandar hatte Kennas aufrichtige Worte in den letzten Wochen wieder und wieder gelesen, und sie bereiteten ihm immer noch Bauchschmerzen. Sie war unglücklich. So unglücklich, dass sie nicht einmal mehr so tat, als ginge es ihr gut, wie sie es früher immer getan hatte. Jetzt hatte sie nicht mehr die Kraft, ein tapferes Gesicht aufzusetzen. Und sie hatte gemerkt, dass er ihr etwas verheimlichte. Als Kenna im Juni auf die Insel gekommen war, hatte sie zu ihm gesagt: Es muss ein Geheimnis geben, es muss mehr dahinterstecken. Wie gerne hätte er ihr da vom Spiritelement erzählt und von seinem Verdacht, dass auch sie eine Spiritkämpferin sein könnte und deshalb zu Unrecht von der Brutkammertür ferngehalten worden war. Wie gerne hätte er ihr gesagt, dass ihre Mutter noch lebte. Aber … er hatte es nicht getan. Er hatte Angst gehabt, es würde für sie alles nur schlimmer machen. Jetzt fragte er sich, ob er die falsche Entscheidung getroffen hatte. Er hatte ihr sofort auf ihren niederschmetternden Brief geantwortet und sie aufzumuntern versucht, aber Kenna hatte ihm seit fast zwei Monaten keine Antwort mehr geschickt. Es dauerte zwar immer eine Weile, bis die Briefe vom Reiterverbindungsamt weitergeleitet wurden, aber so lange noch nie.
PENG!
Flo kam regelrecht durch die Baumhaustür gestürzt und grinste von einem Ohr zum anderen. Sie hatte vier große Eimer bei sich, die sie halb abstellte, halb auf den Boden fallen ließ.
»Überraschung!«
Bobby musterte die Eimer skeptisch. »Überraschung … du hast uns tausend Liter Joghurt mitgebracht?«
Mitchell blickte von seinem Buch auf. »Florence, wir haben morgen einen wichtigen Tag vor uns.«
Flo marschierte zu ihm hinüber und klappte sein Buch zu. Mitchell blickte beleidigter drein, als wenn sie ihn geschlagen hätte.
»Hört mal«, sagte Flo und schaute in die Runde. »Die letzte Zeit war ganz schön stressig, mit dem toten Einhorn und der Zeremonie morgen und so weiter. Ich finde, wir sollten heute Abend ein bisschen Spaß haben.« Sie zeigte auf die Eimer. »Das habe ich schon seit Ewigkeiten geplant«, fügte sie hinzu und klang dabei ein bisschen verlegen.
»Gute Idee«, sagte Skandar.
Bobby legte ihr Sandwich weg. Mitchell schob sein Buch ins Regal, und alle vier starrten in die Eimer. Eine glibberige Flüssigkeit befand sich darin, in jedem Eimer eine andere Elementarfarbe: rot, gelb, grün und blau.
»Ist das Farbe?«, fragte Bobby.
Flo nickte eifrig. »Und nicht irgendeine Farbe. Meine Mum hat sie für uns gemacht, und da sie eine Einhornheilerin ist, hat sie Elementarkräuter hineingemischt, die haben magische Eigenschaften. Ich habe extra bei den Lehrmeistern nachgefragt, und sie haben gesagt, dass es nicht gegen die Regeln verstößt, also habe ich mir gedacht, wir könnten vielleicht die Wände in unserem Baumhaus damit streichen?« Flo sprach so hastig, dass Skandar einen Moment brauchte, um hinterherzukommen.
Bobby war schneller. »Wir können die Wände streichen, wie wir wollen?«
»Ja!«, sagte Flo atemlos. »Ich dachte, wir könnten jeder eine Wand in unserer Elementarfarbe bemalen.«
»Das klingt ja super!«, rief Bobby.
Flo reichte ihr Gelb – die Farbe des Luftelements. Als Skandar genauer hinsah, schien sie vor Elektrizität zu glitzern.
»Faszinierend.« Mitchell griff nach dem roten Eimer. Die Farbe blubberte wie flüssige Lava und strömte leichten Rauch aus.
Bobby entschied sich für die Wand gegenüber der Tür, Mitchell für die hinterm Ofen.
»Skar«, sagte Flo entschuldigend, als sie ihm den blauen Eimer reichte. »Es tut mir wirklich leid, dass ich dir keine Spiritfarbe besorgen konnte. Mum war nicht sicher, wie man sie herstellt, und wahrscheinlich ist es nicht wirklich erlaubt …«
»Mach dir keinen Kopf.« Skandar bemühte sich, fröhlich zu klingen. »Eine weiße Wand wäre sowieso langweilig.«
Flo sah erleichtert aus. »Möchtest du die Wand hinter dem Bücherregal streichen?«
Skandar lächelte. »Klar.«
Obwohl er gern malte, hatte Skandar noch nie eine Wand gestrichen – in ihrer Wohnung am Sonnenhang durften sie das nicht. Nervös tauchte er den Pinsel in die blaue Elementarfarbe. Sie plätscherte wie Wasser und roch ein bisschen salzig. Das brachte Skandar auf eine Idee. Er begann, ein Meer mit wogenden Wellen zu malen. Die Farbe funkelte so blau wie der sonnenbeschienene Ozean, und manche Pinselstriche schimmerten sogar wie saphirblaue Fischschuppen. Wenn Skandar sich vorbeugte, konnte er das Rauschen der Wellen an einem fernen Strand hören, als hielte er eine Muschel an sein Ohr.
Als er zurücktrat, um das fertige Ergebnis in Augenschein zu nehmen, wurde ihm plötzlich bewusst, dass er das Meer, so wie es am Strand von Margate aussah, gemalt hatte. Kenna und er hatten Stunden dort verbracht und sich nach einer anderen Zukunft gesehnt. Sich nach Einhörnern gesehnt. Er vermisste sie schrecklich. Aber wenn er dieses gemalte Meer betrachtete, konnte er fast so tun, als wäre sie beim ihm.
Die anderen waren auch fertig. Bobbys gelbe Wand war ein funkensprühendes Gewirr aus ungestümen Elementarspiralen, gezackten Blitzen und wilden Tornadowirbeln. Alles war in Bewegung, und als Skandar davorstand, konnte er beinahe spüren, wie der Wind durch sein Haar peitschte. Mitchells Werk war ruhiger. Er hatte die Wand mit kunstvollen Flammen bedeckt, die rote Farbe knisterte und rauchte und schien das echte Feuer im Holzofen darunter nachzuahmen. Und Flos Wand an der Vorderseite des Baumhauses war ein Dschungel aus Schlingpflanzen, Bäumen und Blumen, die über- und untereinander wuchsen, und die Farbe roch nach frischer Erde und war rau und strukturiert wie Blätter.
Das Quartett schleppte die vier Sitzsäcke in die Mitte des Raums, und alle setzten sich, um ihr Werk zu bewundern. »Das war eine richtig gute Idee.« Skandar seufzte mit einem seligen Grinsen im Gesicht.
»Jep.« Mitchell gähnte. »Für eine Weile hatte ich völlig vergessen, dass wir morgen unsere …«
»… Sättel kriegen!«, krähte Bobby und wandte sich an Flo. »Womit wir wieder beim Thema wären. Du musst doch wissen, ob Shekoni jemanden ausstattet. Die Zeremonie ist morgen!«
»Ich weiß gar nichts«, sagte Flo mürrisch. »Ich weiß nur, dass Dad, wenn er jemanden ausstattet, nicht mich wählt – das wäre nicht fair. Und wir wollten uns doch entspannen, schon vergessen?«
»Roberta«, begann Mitchell, »selbst wenn Shekoni kommt, heißt das noch lange nicht, dass Flos Dad dich nimmt!«
Bobby machte ein beleidigtes Gesicht. »Er muss mich nehmen! Schließlich habe ich das Abschlussturnier gewonnen!«
Skandars Mundwinkel zuckten, als er Mitchells Blick bemerkte. »Die Bescheidenheit in Person, was?«
»Wenn es dieses Jahr einen Shekoni-Sattel gibt, dann steht mein Name drauf! Ich bin eine Luftkämpferin und eine Festländerin, genau wie Nina, und ich werde das Rennen bei der Zeremonie gewinnen, weil ich die Beste bin.« Bobby strich die grauen Federn an ihrem Handgelenk glatt. »Ist doch logisch.«
»Die Größe deines Egos ist wirklich beeindruckend.« Mitchell war ehrlich erstaunt.
»Danke!« Bobby stand auf und steuerte auf Skandars blaue Wand zu. Er folgte ihr und verspürte den seltsamen Drang, sein Werk zu beschützen. »Was machst du da?«
Bobby hatte ein Stück weißer Kreide aus ihrer Tasche gefischt. Sie brach es entzwei und gab Skandar eine Hälfte. Dann musterte sie die Wellen und hielt inne, um etwas zu malen – ungefähr dort, wo eine weiße Schaumkrone hätte sein können. Skandar ärgerte sich, bis er begriff, was sie tat.
Bobby hatte vier ineinander verschlungene weiße Kreise gezeichnet: das Symbol des Spiritelements.
»Du bist schließlich nicht wirklich ein Wasserkämpfer, oder?« Sie zwinkerte ihm zu.
Skandars Herz wurde warm. Mit seinem Kreidestück zeichnete er ein weiteres Symbol dorthin, wo der Wellenschaum hätte sein sollen. Mitchell und Flo kamen dazu, Bobby gab ihnen Kreide, und bald trugen alle Wellen Schaumkronen aus weißen Spriritsymbolen.
Als sie fertig waren, holte Skandar tief Luft. »Danke! Danke, dass ihr mein Quartett seid und …«
»Okay, okay, keine Gefühlsduseleien!«, fiel Bobby ihm ins Wort und griff nach ihrem Pinsel.
»Was wird das jetzt wieder?«, fragte Mitchell. »Wir sind doch fertig, oder …«
Sie schnippte ihm einen Spritzer gelbe Farbe ins Gesicht. »Das hast du davon, dass du mich vorhin ›Roberta‹ genannt hast!«
»He!« Mitchell schnappte sich seinen eigenen Pinsel und bespritzte sie mit Feuerfarbe.
»Hört auf! Aufhören!«, rief Flo, aber sie lachte dabei. Skandar grinste und griff nach seinem Farbeimer, um Flo mit blauer Farbe zu bespritzen.
»Achtung!« Sie konterte mit Grün, und bald versuchten alle nur noch, den umherfliegenden Farbtropfen auszuweichen und rannten um den Stamm in der Mitte des Baumhauses.
Nach zehn Minuten waren nicht nur sie selbst, sondern auch der Stamm mit bunten Elementarfarbspritzern bedeckt. Skandar konnte das Zischen der Luft spüren, die Kühle der Erde riechen, das Knistern des Feuers hören und das Salz des Wassers schmecken. Kichernd ließen sie sich auf die Sitzsäcke fallen und betrachteten ihre gesprenkelte Haut und den Baumstamm.
Schließlich fragte Flo: »Meint ihr, wir sollten das abwaschen?«
Skandar stand auf und verteilte weiße Kreide zwischen die bunten Farbkleckse auf dem Stamm. »Nein«, sagte er und grinste. »Ich finde, wir sollten es genau so lassen!«
Am Morgen der Sattelzeremonie war der Wald um das Adlernest in helles Morgenlicht getaucht, und die Luft war erfüllt vom würzig-frischen Kiefernduft. Die Hängebrücken schaukelten sanft hin und her, und die Baumhäuser der Reiter lagen friedlich unter dem Blätterdach. Sonnenstrahlen fielen auf die gepanzerten Bäume. Das ganze Schulgelände schimmerte so festlich, dass Skandar eigentlich in Hochstimmung hätte sein müssen. Doch er frühstückte nur kurz und verließ rasch die Futterkrippe, um zu Schlitzohr zu gehen. Die aufgeregten Gespräche der anderen konnte er nicht mehr ertragen.
Normalerweise aß er gern an den Tischen, die auf Plattformen hoch in den Bäumen standen, zumal es immer reichlich Mayonnaise gab – Skandar liebte Mayonnaise. Heute aber hatten ihn die erneuten Mutmaßungen über die Weberin völlig fertiggemacht. Steckte sie hinter dem Mord an dem wilden Einhorn? Wie hatte sie es getan? Und warum? Was hatte sie als Nächstes vor?
Was hatte sie als Nächstes vor? Diese Frage quälte Skandar mehr als alle anderen.
Aber heute durfte er nicht darüber nachdenken. Er musste sich auf das Rennen für die Sattler konzentrieren, anstatt sich Gedanken darüber zu machen, ob seine Mutter wilde Einhörner tötete. Das Rennen war die letzte Gelegenheit für Reiter und Einhörner, die Sattler zu beeindrucken, bevor sie ihre endgültige Entscheidung trafen.
Skandar jaulte auf. Schlitzohr hatte ihm einen Elementarstoß versetzt, weil er mitten im Striegeln innegehalten hatte. »Musste das sein?« Er sah sein Einhorn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sein Arm zwiebelte ganz schön.
Schlitzohrs Zähnefletschen erinnerte an ein unbeholfenes Grinsen. Die meisten Menschen wären vor den Zähnen eines blutrünstigen Einhorns davongerannt, aber Skandar erkannte auf den ersten Blick den Unterschied zwischen Schlitzohrs »Gleich-beiß-ich-dich«-Miene und seinem »Ich-mach-doch-nur Spaß«-Gesicht.
Wie ein Lachen hallte die Freude durch das Band zwischen ihren Herzen. Es war diese Verbindung zwischen Reiter und Einhorn, die Schlitzohr von dem wilden Einhorn unterschied, das im Fluss angespült worden war. Es verband ihre Leben miteinander – nach dem Tod seines Reiters konnte ein gebundenes Einhorn nicht weiterleben. Und es verband auch ihre Gefühle: Je enger ihre Beziehung war, desto besser konnten sich ihre Empfindungen durch das Band bewegen. Schlitzohr spürte immer, wenn Skandar traurig war, und er tat dann sein Bestes, um ihn aufzumuntern.
»Willst du einen Sattel, oder willst du dich den ganzen Tag hier verkriechen?« Bobby und Wanderfalke steckten ihre Köpfe durch Schlitzohrs Stalltür.
»Mich den ganzen Tag hier verkriechen«, murmelte Skandar und zupfte an seinem gelben Jackenärmel, den jetzt ein zweites Flügelpaar zierte, um zu zeigen, dass er ein Schüler im zweiten Jahr war. Er war aufgeregt und nervös. Dies würde das allererste Rennen sein, bei dem er sein eigenes Element offen einsetzen konnte.
»Los, komm schon, Spiritjunge«, drängte Bobby.
Als sie nebeneinander auf das Nesthockerplateau zusteuerten, bemerkte Skandar erst, dass Falkes hellgraue Mähne zu einer Reihe winziger runder Zöpfe geflochten war, die gerade so unter ihrem Halspanzer hervorlugten.
»Bobby, wie lange …«
»Frag nicht! Ich musste um sechs Uhr aufstehen, um die zu flechten.« Bobby war wahrscheinlich die Letzte, von der man erwartet hätte, dass sie früh aufstand, um ihr blutrünstiges Einhorn hübsch zu machen, aber Wanderfalke legte nun mal großen Wert auf ihr Äußeres – so großen, dass sie besser kämpfte, wenn sie sich schön fühlte. Wie Bobby zu sagen pflegte: Wer kämmt, gewinnt.
Jamie – der Schmied, der Schlitzohrs Rüstung gefertigt hatte – eilte auf Skandar zu, sobald sie das Plateau erreichten. Er redete ununterbrochen auf ihn ein, während sie Bobby in das Getümmel aus Einhörnern, Reitern und Zuschauern folgten.
»Skandar, hör zu, vergiss nicht, dass der Grund, warum ihr heute alle antretet, die unentschlossenen Sattler sind.«
Skandar sah Jamie durch die Gucklöcher seines Helms stirnrunzelnd an. »Unentschlossen?«
»Ja«, sagte Jamie ungeduldig. »Manche Sattler haben schon beim Abschlussturnier entschieden, welchen Reiter sie haben wollen, andere dagegen haben eine Liste mit drei oder mehr Kandidaten. Die haben im Voraus mehrere Sättel angefertigt. Einigen Reitern werden sogar mehrere Sättel angeboten, und sie müssen dann entscheiden, welchen sie nehmen. Das kann ein ganz schön harter Wettbewerb sein.«
»Ich glaube kaum, dass ich dieses Problem haben werde«, murmelte Skandar, als sie das Trainingsgelände erreichten. Die Sattler unterhielten sich fröhlich, während sie Kisten ausluden und spitze Zeltgestelle aufbauten, über die sie flatternde, bunte Planen spannten. Die Farben der Zelte – von Himbeerrosa bis Nachtblau – passten zu den Schärpen der Sattler, auf denen in leuchtenden Buchstaben die Namen ihrer Sattlereien prangten: HENNING-DOVE, MARTINA, REEVE, NIMROE, TAITING, BHADRESHA, GOMEZ, HOLDER. Viele Sattler hielten inne, starrten ihnen nach, als Schlitzohr vorbeitrabte, und tuschelten hinter vorgehaltener Hand.
Jamie achtete nicht darauf und gab Skandar weiter gute Ratschläge. »Ein Shekoni-Sattel wäre natürlich am besten, aber wegen der ganzen Spiritkämpfer-Geschichte könnte ich mir vorstellen, dass sie sich zurückhalten. Ich persönlich mag ja Martina. Ein Reeve-Sattel wäre auch nicht schlecht, oder ein Bhadresha …«
»Jamie, ich …«
»Obwohl es vor ein paar Jahren einen Riesenskandal gab, weil ihr Leder entflammbar ist, als Feuerkämpfer sollte man ihre Sättel also lieber meiden, aber du bist ja kein …«
»JAMIE!« Skandar brüllte fast.
Sein Schmied blieb stehen und sah zu ihm auf Schlitzohrs Rücken hinauf.
»Was passiert, wenn kein Sattler mich nimmt?«
»Dazu wird es nicht kommen. Ich glaube nicht, dass das überhaupt jemals der Fall war.«
»Und wenn doch?«
»Na ja, ich glaube nicht, dass irgendetwas passieren würde«, überlegte Jamie. »Es würde nur alles viel schwieriger für dich machen, schätze ich. Du würdest auffallen – okay, du fällst ja auch so schon auf, mit deiner Skelettmutation und deinem Einhorn mit Spiritblesse auf der Stirn …«
»Besten Dank«, sagte Skandar sarkastisch.
»Skandar, du wirst dieses Jahr das Turnierkämpfen lernen! Was im Grunde bedeutet, dass du übst, Reiter mit Elementarwaffen von ihren Einhörnern zu werfen. Ein Sattel würde dir dabei wirklich helfen, auf dem Pferd zu bleiben. Ich weiß nicht, ob du das Turnier am Ende des Jahres ohne Sattel überhaupt überstehen kannst.«
»Welches Turnier …«, versuchte Skandar einzuhaken, doch Jamie redete schon weiter.
»Und selbst wenn – ein Sattler ist für den Reiter ein Verbündeter in der Welt außerhalb des Adlernests. Sattler haben Verbindungen zu Heilern, Futterlieferanten, Sponsoren – einige der besten Sattler sitzen sogar im Komitee, das die Qualifikation für den Chaos-Pokal überwacht.«
»Das heißt also, dass ich ohne Sattler aufgeschmissen bin?«
Jamie sah ihn ernst an. »Ich weiß, dass du dir Sorgen wegen deines Rufs machst, Skandar, aber Sattler sind in erster Linie wettbewerbsorientiert. Ihnen ist wichtig, dass ihre Reiter gut sind. Und nicht, ob sie etwas damit zu tun haben, dass ein unsterbliches Monster getötet wurde.«
»Oh Gott, bitte sag, dass das nicht alle behaupten!«
Jamie hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Schlitzohr schnupperte daran, wobei sich kleine Rauchkringel aus seinen Nüstern kräuselten. »Das spielt überhaupt keine Rolle, wenn du heute Erster wirst, okay? Du bist ein guter Flieger, und jetzt, wo du das Spiritelement endlich einsetzen kannst, hast du vielleicht wirklich eine Chance, das Rennen zu gewinnen. Und dann …« Jamie zog vielsagend eine Augenbraue hoch.
»… dann will mich ein Sattler vielleicht trotzdem haben, obwohl ich ein Spiritkämpfer bin?«
»Ganz genau … He, passt doch auf!« Eine Menschengruppe drängte sich an ihnen vorbei zu einem Holzpodest neben der Startschranke. Im Gegensatz zu den Reitern – die Jacken im Gelb der Luftsaison trugen – war diese Gruppe in verschiedenen Farben gekleidet. Schlitzohr schnaubte Funken und beobachtete, wie sie einen Halbkreis auf dem Podest bildeten, als wollten sie auftreten. Die Plattform befand sich inmitten eines Nests aus grünen Ranken, die in die Höhe wuchsen und einen blumigen Baldachin bildeten. Ein Mann und eine Frau winkten Jamie zu. Er verzog das Gesicht.
»Wer ist das?«, fragte Skandar.
»Meine Eltern«, erwiderte Jamie und blickte unbehaglich drein. Jamie und seine Eltern hatten nicht das beste Verhältnis, seit Jamie beschlossen hatte, Schmied zu werden und nicht Sänger, wie der Rest seiner Familie. Sie versuchten noch immer bei jeder Gelegenheit, ihn umzustimmen.
»Fangen die Sänger jetzt an?«, fragte Mitchell auf Brombeeres Rücken. Flo und Klinge sowie Bobby und Falke standen rechts und links von ihm.
»Hm-hm«, machte Jamie.
»Stimmt es, dass sie jedes Jahr ein neues Lied für die Sattelzeremonie komponieren?«, fragte Flo begeistert.
»Hm-hm«, wiederholte Jamie und klang dabei so, als wollte er am liebsten im Erdboden versinken.
Bobby interessierte sich nicht im Geringsten für die Sänger. Sie hielt ihren Blick fest auf die Zelte der Sattler gerichtet.
»Ich glaube nicht, dass mein Dad da ist«, sagte Flo zu Bobby. Einhörner und Menschen versammelten sich vor der Bühne, darunter Nesthocker, Sattler, Lehrmeister und Zuschauer. »Ich kann sein orangenes Zelt nirgends sehen.«
»Vielleicht ist er nur spät dran«, knurrte Bobby.
»Wenn Shekoni nicht hier ist, ist die beste Sattlerei wahrscheinlich …«
Mitchell wurde vom lautstarken Einsetzen der Musik unterbrochen. Eine regelrechte Klangwelle überflutete die Menge, und selbst die Einhörner verstummten und lauschten den ineinandergreifenden Tönen. Die Melodie plätscherte dahin, tauchte ab und stieg wieder auf, verwob sich und löste sich wieder. Es war die schönste Musik, die Skandar je gehört hatte. Irgendwie gab das Steigen und Fallen der Klänge genau das wieder, was er fühlte, wenn Schlitzohr und er zusammen flogen – den Nervenkitzel, den Spaß und die unbändige Freude. Die Sänger wiegten sich im Takt, lehnten sich in ihre Harmonien, und ihre Gesichter zeigten die gleiche Glückseligkeit, die sich in den Gesichtern der Menge spiegelte. Die Töne wurden lauter, schwangen sich in die höchsten Höhen, bis plötzlich …
Die Musik aussetzte.
Irgendetwas geschah auf der Bühne. Töne stiegen auf und zerplatzten wie Luftballons. Nur einzelne Sänger sangen noch, die anderen waren verstummt. Ein alter Mann kam mühsam in die Mitte der Bühne. Skandars Augen wurden groß, als er sah, dass Dampf aus seinen Ohren stieg, flammende Kringel über seinem Kopf flackerten, die Luft um ihn herum von Blitzen durchzuckt wurde und die Bühne unter seinen Füßen bebte.
»Was ist da los?«, flüsterten Bobby und Skandar gleichzeitig.
»Das ist ein Wahrsang.« Jamies Blick war fest auf den alten Sänger gerichtet.
»Oh, wirklich? Wirklich?« Flo klang aufgeregt. »Ich habe noch nie einen gehört!«
»Was ist ein Wahrsang?«, fragte Skandar.
»Pssst!« Die umstehenden Zuschauer brachten sie zum Schweigen.
Mittlerweile waren alle anderen Sänger verstummt. Die Menge hielt den Atem an und beobachtete den alten Mann, der gebeugt am Bühnenrand stand. Während die Elemente um ihn herumzischten, richtete er sich auf und begann zu singen:
Diese Insel gehört den Unsterblichen
So ist es seit dem Ursprung der Zeit
Die Unsterblichen gehören der Insel
Sonst droht unermessliches Leid:
Wer die ewig Sterbenden tötet
Wird von der Rache der Insel gestraft
Wer das Blut vergießt der Verbündeten
Von allen Elementen dahingerafft.
Für uns Sterbliche bleibt nur ein Ausweg
Um zu enden die große Not
Nur die Gabe des Ersten Reiters
und der Letzten Königin sühnt diesen Tod.
Nur dann verstummen die Blitze
Und legt sich der Erde Wut
Nur dann kühlt des Feuers Hitze
Und versiegt des Wassers Flut.
Doch wächst noch eine Macht auf der Insel
Die heftige Stürme wird bringen
Der wahre Spross von Spirits dunkler Seite
Wird alles, was ist, niederringen.
Diese Insel gehört den Unsterblichen
Seit des Adlernests erster Zeit
Die Unsterblichen gehören der Insel
Drum lasst sie leben in Ewigkeit.
Der Sänger beendete sein Lied, rang keuchend nach Atem und brach erschöpft zusammen. Vereinzelt ertönte Applaus, doch die meisten Zuhörer begannen besorgt zu tuscheln. Manche hatten sich den Text des Liedes notiert und zeigten ihn ihren Freunden.
»Rache?«, fragte jemand. »Wie kann die Insel Rache nehmen?«
»›Nur ein Ausweg‹, hat er gesagt. Aber der Erste Reiter ist doch schon lange tot, oder nicht?«
»Habt ihr das mit dem Feuer gehört? Und der Flut?«
»Hat er nicht auch was über das Spiritelement gesungen?«
»Warum starren eigentlich alle Skandar an und nicht den alten Typen, der gerade ein Feuerwerk um seinen Kopf abgefackelt hat?«, fragte Bobby.
»Was ist ein Wahrsang?«, fragte Skandar wieder, obwohl er sich diesmal vor der Antwort fürchtete.
Mitchell schnaubte. »Wahrsänge sind flammender Einhornmist und sonst nichts.«
»Mitchell, sei nicht unhöflich«, mahnte Flo leise. Sie wandte sich an Skandar. »Sänger singen alle möglichen Lieder, aber nur ein einziges Lied in ihrem Leben ist ein Wahrsang.«
»Versteh ich nicht«, sagte Bobby.
Diesmal antwortete Jamie. Er klang besorgt. »Ein Wahrsang sagt uns etwas über die Vergangenheit, die Gegenwart oder die Zukunft, das wahr ist – vollkommen wahr.«
»Darüber lässt sich streiten«, murmelte Mitchell.
Bobby rümpfte die Nase. »Also ist das so was wie ein Lied von einem Wahrsager?«
»War ja klar, dass es auch auf dem Festland Leute gibt, die diesen Schwachsinn glauben«, bemerkte Mitchell. Jamie warf ihm einen scharfen Blick zu, woraufhin Mitchells Haare schuldbewusst aufloderten.
Skandar schluckte, als er die Blicke der Menge spürte. Es war offensichtlich, dass sie dem Lied glaubten, aber wie genau hatte es gelautet? Er konnte sich nur an Bruchstücke erinnern. Er fragte: »Es ging irgendwie um das Spiritelement, oder? Und um Rache?«
»Darüber kannst du später noch nachdenken«, erwiderte Jamie schnell, doch Skandar entging nicht, dass er einen beunruhigten Blick mit Flo wechselte. »Du musst zur Startschranke und dich auf das Rennen konzentrieren.« Bobby und Falke hatten sich bereits auf den Weg zu den anderen Nesthockern gemacht.
»Die Inselbewohner nehmen diesen Unfug viel zu ernst«, spottete Mitchell.
Aber Skandar geriet langsam in Panik. »Bobby, hast du das Lied verstanden? Ich weiß nicht, was …«
»Skandar, ganz schlec...