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Minecraft Roman - Das Schiffswrack

hier erhältlich:

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Abenteuer in den Tiefen des Minecraft-Ozeans

Jake ist irgendwie immer der Neue in der Schule, so oft ist die Familie bereits umgezogen. Doch in Los Angeles scheinen sie endlich angekommen zu sein, und Jake lernt mit dem kräftigen Tank und der etwas sarkastischen Emily zwei Kinder aus der Nachbarschaft kennen. Eines Tages findet Jake einen seltsamen Minecraft-Server mit lauter Rätseln drauf. Um den Code zu knacken, benötigt er aber Hilfe. Zusammen mit Tank und Emily macht er sich auf die Suche nach der Lösung des Geheimnisses und lernt dabei zum ersten Mal echte Freundschaft kennen. Auf ihrem Weg müssen sich die drei auf eine Reise in die tiefsten Tiefen des Minecraft-Universums begeben – tief hinab in den Ozean, wo bedrohliche Kreaturen lauern und ungekannte Reichtümer schlummern.

Ein packendes Abenteuer inmitten der beliebten Minecraft-Welt!

Offizielles, von den Minecraft-Machern lizensiertes Buch!


  • Erscheinungstag: 24.08.2021
  • Aus der Serie: Minecraft Roman
  • Bandnummer: 6
  • Seitenanzahl: 384
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505144431

Leseprobe

Für alle, die je etwas Neues erschaffen wollten –
in sich selbst und auf der Welt.

KAPITEL 1
JAKE

„Da wären wir. Zu Hause!“

Jake steigt aus dem Laster und schließt die Tür. Der Straßenteer scheint unter seinen Füßen nachzugeben. Er ist ganz frisch, aufgeweicht von der heißen Sonne und bepinselt mit weiß schimmernden, brandneuen Spurmarkierungen.

Dad pfeift vor sich hin, während die Sonne ihm die hohe Stirn wärmt. Er stemmt die Hände in die Hüften und nickt anerkennend.

Jake folgt dem stolzen Blick seines Vaters zur anderen Straßenseite und betrachtet das graue Gebäude an der Ecke einer Allee. Ein breiter Grünstreifen trennt es vom Bürgersteig. Der Wohnblock kommt ihm genauso grau und öde vor wie die restlichen Gebäude in der Straße. Jedenfalls ist dieser Ort nicht das Strandparadies, von dem Dad während der langen Fahrt durch drei Bundesstaaten geschwärmt hat. Überhaupt scheint die Gegend ziemlich heruntergekommen zu sein: Wo man hinsieht, gibt es nichts als bunt zusammengewürfelte Wohngebäude, von denen die Farbe abblättert, vergilbte Wiesen und müllverseuchte Straßen. Jake seufzt und schüttelt den Kopf, als Dad sich breit lächelnd zu ihm umdreht.

„Das sind also die Häuser, die du renovieren sollst?“ Er lässt den Blick über die Bauten streifen.

„Jepp. Eins ist schon fertig – dort ziehen wir ein. Du wirst es lieben. Alles ist brandneu und perfekt.“

Hinter dem ersten Hochhaus ragen drei weitere auf. Eins davon sieht neu aus – strahlend weiß, schimmernde Fenster, in denen sich der Himmel spiegelt, so als versuche das Gebäude, mit ihm zu verschmelzen. Die anderen beiden bestehen aus demselben grauen Beton wie das erste, nur dass hier und dort Ziegelsteine hervorlugen, die dem Gesamtbild eine kunstvolle Note verpassen. Jake muss lächeln. Sie erinnern ihn an die Erzvorkommen in Minecraft. Er stellt sich vor, wie er den gesamten Komplex Block für Block abträgt und dabei Edelsteine, Kohle und verschiedene Steinarten sammelt. Das Haus würde nur zwei oder drei Materialien einbringen, die sich zum Bauen eignen. Irgendwie sehen sie robuster aus als die des neuen Gebäudes, aber das Glas gefällt ihm. Es wäre interessant, einen solchen Turm in Minecraft abzutragen – wenn auch nicht besonders schwer. Man fertigt einfach ein paar Leitern, klettert bis ganz oben und hackt drauflos.

So träumt Jake vor sich hin, während sein Vater immer noch von dem Projekt schwärmt.

„Das wird ordentlich dauern. Meine Firma kümmert sich nicht nur um diese Häuser, sondern noch um zwei weitere die Straße hinunter. Die sind für irgendein schickes Designerunternehmen. In Los Angeles gibt es eigentlich immer Arbeit. Freust du dich überhaupt? Wir haben die kalifornische Sonne und können zum Strand, wann immer wir wollen!“

„Klar, Dad.“ Eigentlich findet Jake, die Sonne fühlt sich wie überall an. Ist ja auch dieselbe. Hofft er jedenfalls.

Dad lächelt treuherzig, und Jake will ihm wirklich glauben, dass sie zusammen zum Strand gehen werden. Aber jeder Bundesstaat und jede neue Stadt, in die sie bisher gezogen sind, brachte immer nur leere Versprechungen mit sich: Wir besuchen den Jahrmarkt. Ich nehme dich zum Baseball mit. Wir gehen campen. Dad sagte immer, dass seine Firma noch im Aufbau ist und er sich erst einen guten Ruf aufbauen muss. Warum sollte das hier in L.A. anders sein?

Jake glaubt jedenfalls erst daran, wenn er es erlebt. Chicago, San Antonio, Seattle … Jeden dieser Orte hat Dad Zuhause genannt, doch am Ende waren sie nur Zwischenstationen.

„Ist es nicht schön geworden? Ich sage dir, die Architektin, die für die Renovierung verantwortlich ist, ist ein Genie.“ Dad schnappt sich eine Kiste vom Truck und seufzt verzückt, den träumerischen Blick immer noch auf die Gebäude gerichtet.

Jake grunzt unverständlich. In seinen Augen ist das Haus nur ein weiteres Postkartenmotiv mit denselben unbequemen Möbeln und ausdruckslosen Landschaftsbildern. Gegenüber steht ein fremder Umzugswagen, und einen kurzen Moment fragt sich Jake, wie es wohl ist, eigene gemütliche Möbel und persönlichen Krimskrams zu besitzen, den man quer durchs Land zu einem neuen Zuhause kutschiert.

Er und sein Dad haben schon seit Ewigkeiten keine Möbel mehr – seit sie ihr altes Haus in Maryland eingemottet und alles in ein mietbares Lager geschafft haben. Jake verdrängt die Erinnerungen an all die Fotoalben, die vergilbten Anwesenheitszertifikate seiner alten Schule, die Mom von der ersten bis zur dritten Klasse gesammelt hat, und an sein geliebtes verschlissenes Sofa. All diese Dinge stehen in irgendeinem mietbaren Lagerraum auf der anderen Seite des Landes und stauben ein.

Seitdem ist nämlich jede Wohnung, in die sie ziehen, voll ausgestattet – meistens mit wild durcheinandergewürfelten Überbleibseln aus Kataloghäusern, die sich nie stimmig anfühlen … und schon gar nicht heimisch. Jake nimmt den Rucksack und die Kiste mit seinem Zeug vom Laster und folgt seinem Vater über die Straße bis zur neuen Wohnung.

„Die Sachen, die ich bestellt habe, sind gestern angekommen, es sollte also alles so weit sein. Bereit?“

Jake zuckt die Achseln.

Sie laufen an einem lachenden Pärchen vorbei, das gerade dabei ist, eine verknautschte Couch die Treppe hinaufzuhieven. Das Möbelstück sieht gebraucht und einfach wundervoll aus. Jake wendet niedergeschlagen den Blick ab und stößt beinahe mit einem Jungen zusammen, der verträumt ein Spielzeugauto über den Bürgersteig schiebt und von dem Beinahe-Unglück nichts mitbekommt.

„Siehst du, es ziehen sogar schon Leute ein. Was habe ich dir gesagt? Die neuen Wohnungen sind super – ohne mich selbst loben zu wollen –, und wir sind hier genau im richtigen Moment angekommen. Die Preise in der Gegend werden bald so richtig nach oben schießen.“ Dad umklammert seine Kiste noch ein wenig fester und fängt an, eine fröhliche Melodie zu summen.

Jake kann Kalifornien nichts abgewinnen. Die Fahrt hat er fast vollständig verschlafen, und seit er wach ist, hat er weder Palmen noch Prominente, geschweige denn einen einzigen Pool gesehen. Bis jetzt sieht diese Gegend im Umland von Los Angeles wie jede andere Stadt aus – Einkaufszentren, Stoppschilder, Bürgersteige und Straßenlaternen sehen haargenau so aus wie überall. Jake hat schon so viele Städte gesehen, dass ihm all diese Dinge nichts mehr bedeuten.

Dad hat das Pärchen in eine Unterhaltung verwickelt, während er ihnen dabei hilft, das Sofa durch die große gläserne Eingangstür des ersten Hauses zu manövrieren. Aus der Nähe sieht es noch abweisender aus. Hinter dem staubigen Eingangsbereich befindet sich eine weitere Glastür, die anscheinend in einen Hof führt. Das neue Gebäude fällt auf wie ein bunter Hund – ein auf Hochglanz poliertes Ungetüm aus grauweißen Steinplatten und funkelndem Glas. Es wirkt beinahe bizarr neben seinen heruntergekommenen Nachbarn.

Jake schließt die Augen und holt tief Luft. Als er sie wieder öffnet, stellt er sich eine verwandelte Straße vor. Er betrachtet das Gebäude als eine Ressourcenquelle, die er nur anzapfen muss, um alles umzubauen, nach seinen eigenen Entwürfen neu aufzubauen und …

„Na komm, Kumpel, sehen wir es uns an!“ Die Stimme seines Vaters holt ihn aus dem Tagtraum in die altvertraute graue Realität zurück.

Jake folgt ihm die Treppe hinauf durch eine schwere Tür.

„Hey, ich weiß, du bist nicht gerade glücklich darüber, aber ich verspreche, das war der letzte Umzug. Wir bleiben in Los Angeles. Dieses Projekt ist langwierig, und ich habe schon neue Aufträge in Aussicht.“

„Stammen die Pläne für dieses Haus von dir?“

Dads Blick senkt sich für einen kurzen Moment, ehe er wieder Jake fixiert. „Nein, ich bin nur Projektmanager. Aber wir haben noch drei weitere Häuser vor uns. Das wird bestimmt Jahre dauern“, verspricht er mit einem kleinen Lächeln. „Du fängst jetzt mit der Highschool an, da dachte ich, es ist Zeit, mit dem Nomadendasein aufzuhören.“

Jake nickt schweigend. Er hat sich an das Umziehen gewöhnt – daran, immer der Neue zu sein. Es ist nicht leicht, auf diese Weise Freunde zu gewinnen, besonders weil er vorher nie weiß, wie lange er bleiben wird.

Der Eingangsbereich ist leer und dunkel. Das einzige Licht dringt durch die Doppeltüren, die den breiten Raum an gegenüberliegenden Seiten flankieren. Die enorme Größe verwundert Jake, doch dann erkennt er den Grund. Der Raum führt in einen noch größeren mit schäbigen, verstaubten Möbeln und Türen, die aussehen, als wären sie seit Jahrzehnten nicht geöffnet worden. Auf einem verblichenen Schild über einem riesigen Wandbild steht:

PACIFIC CREST
Gemeindezentrum und Wohnungen

Das Schild ist rissig und sieht aus, als könne es jeden Moment zu Staub zerfallen, aber das Bild ist hell und freundlich. Es zeigt Gebäude in einem schönen Aquamarinton und verschiedene Szenen lachender Menschen, die im Park spazieren, im Pool schwimmen oder in einem Raum voller Computer arbeiten. Die Mitte des Wandbilds wird von einer Cartoon-Sonne mit Sonnenbrille dominiert, die auf die Häuser hinabgrinst. Im Hintergrund glitzert das Meer. Der Rest der Wand ist mit blauen Ozeanwellen bedeckt, die dem Raum mit seinen langweilig übereinandergestapelten grauen Ziegeln und ein paar künstlichen Zimmerpflanzen, die vermutlich für Gemütlichkeit sorgen sollen, einen farbenfrohen Kontrast verleihen. Die „Pflanzen“ sind von einer dicken Staubschicht bedeckt, und es stehen leere Tische, Stühle und ein kaputter Billardtisch herum. An einer Wand hängt ein schwarzes Brett, an dem nur ein einsamer Zettel befestigt ist, auf dem Anmeldung Programme steht. Ansonsten ist er unbeschrieben.

„Ziemlich altbacken, ich weiß. Aber keine Sorge, all das hier wird komplett neu gemacht. Ich meine, ein ‚Technikraum‘?“ Dad schüttelt den Kopf. „Das kommt selbst mir antik vor. Da war bestimmt seit Ewigkeiten keiner mehr drin. Ist auch kein Wunder, schließlich gibt’s hier nichts.“

Auf einer Staffelei thront ein laminiertes Poster, das den fertigen Komplex darstellt: funkelndes Glas und Steinplatten. Auf dem Bild ragen die drei Gebäude aus einem manikürten Park empor, der mit eigenartigen Stahl- und Glasskulpturen dekoriert ist. Das Gemeindezentrum existiert auf dem Bild nicht mehr – an seiner Stelle stehen Cafés und schicke Boutiquen am Bürgersteig. „Das sieht schon besser aus! Ist es nicht toll?“, schwärmt Dad und zeigt auf das Poster.

„Klar, Dad“, sagt Jake und rückt den Rucksack zurecht.

Hinter der Lobby des verlassenen Gemeindezentrums und einer weiteren Doppeltür aus Glas stoßen die beiden auf einen wild wuchernden Garten aus Büschen, Bäumen und welken Blumen. Das Innere des Komplexes ist genauso langweilig und öde wie das Äußere. Keine Spur von dem üppigen Park, den Dad ihm versprochen hat, wo Jake angeblich Sport treiben und Freunde finden solle. Augenrollend betrachtet der Junge die Umgebung. Er wendet sich nach draußen und entscheidet sich dann doch dagegen. Wohin soll er auch gehen? Seufzend betrachtet er ein schmutziges Schild mit der Aufschrift Verwaltung neben einer Tür zu einer Einzimmerwohnung, die sich ans erste Haus anschmiegt.

Muss unangenehm sein, so nahe an der Straße zu wohnen und jeden zu hören, der vorbeigeht, denkt Jake. Wenigstens wohnen wir nicht dort.

„Gehen wir!“, ruft Dad und macht sich auf den Weg zum neuen Hochhaus.

Sie laufen an einem Schild mit der Aufschrift Pool vorbei, aber Jake sieht nur einen überwucherten Zaun und dahinter zwischen zerfransten Bäumen und Büschen eine Art Spielplatz.

„Unser Timing ist super. Du hast genug Zeit, Freunde zu finden, bevor die Schule wieder anfängt“, meint Dad fröhlich.

Seufzend mustert Jake den leeren Hof. Mhm. Der perfekte Ort, um Freunde zu finden.

Na ja, wenigstens gibt es hier WLAN.

Das neue Haus riecht nach Farbe und irgendwie beißend – vielleicht vom Metall der nackten Stützpfeiler. Jake und Dad nehmen den Aufzug in den zweiten Stock. Vom Hausflur aus hat Jake einen guten Blick auf den Hof. Versonnen fragt sich der Junge, ob es hier jemals laut wird.

„Dann mal los!“ Während Dad versucht, den Schlüssel aus der Tasche zu fischen, lässt er die Kiste mit der Aufschrift Küche beinahe fallen. Er klemmt sie zwischen Arm und Hüfte, und kurz darauf schwingt die Tür auf.

„Unsere neue Wohnung! Perfekt von meinem Team hergerichtet“, kommentiert Dad. „Ich hole die restlichen Sachen aus dem Auto. Brauchst du irgendetwas?“

„Nein“, sagt Jake und stellt die Kiste ab. „Internet?“

„Morgen kommt jemand vorbei“, antwortet Dad.

Toll.

Jakes neues Zimmer ist genauso öde wie alle, die er in den letzten Jahren bewohnt hat. An der Wand lehnt eine brandneue, in Plastik eingewickelte Matratze. Jake trägt Kiste und Rucksack ins Zimmer und verpasst seiner zukünftigen Schlafstatt einen Schubs. Sie fällt um und gibt den Blick auf das dazugehörige Bettgestell frei, das im Moment noch in seine Einzelteile zerlegt ist. Seufzend zieht Jake ein Laken aus der Kiste. Es ist nicht das richtige, aber das ist ihm jetzt egal. Er wirft es über die Matratze, schnappt sich seinen Laptop und setzt sich hin. Das Plastik knistert. Später ist noch genug Zeit, das Bett herzurichten – sobald er verarbeitet hat, dass er in Los Angeles ist und nicht am Strand oder in Disneyland oder irgendwo, wo es cooler ist als hier.

Kein Internet.

Jake seufzt schon wieder und sieht auf die Uhr. In Maryland ist bestimmt schon Abendbrotzeit. Andererseits hat sich Danny seit einer Weile nicht mehr in den Minecraft-Server eingeloggt, den sie gemeinsam betreiben. Früher als Nachbarn waren sie die besten Freunde, und als Jake nach Chicago gezogen war, hatten sie Kontakt gehalten. Aber das war vor drei Umzügen, und jetzt sehen sie sich kaum noch – nicht einmal in Minecraft. Hin und wieder baut Jake etwas Witziges für seinen Freund und umgekehrt, um sich gegenseitig zu überraschen. Aber die Tage, als sie gemeinsam epische Missionen geplant und Festungen erobert haben, sind lange vorbei.

Jake hofft inständig, dass der Internetzugang bald steht. Er kann zwar auch offline spielen, aber irgendwann möchte er an seinem neuesten Machwerk auf dem Server weiterarbeiten. Jake hat einfach zu viel Zeit damit verbracht, Quarz für den Nachbau des römischen Kolosseums zu sammeln, um jetzt aufzugeben.

Er legt sich auf den Bauch und startet das Spiel. Die vertraute Musik erklingt – ein willkommenes Geräusch, das in ihm Vorfreude auf spannende Abenteuer weckt. Jake klickt auf Einzelspieler und durchforstet seine alten Welten. Jede hat ihren eigenen Charme – in einer steht ein halb fertiger Eiffelturm, in der nächsten warten unzählige Zauberutensilien und die besten Waffen und Rüstungen, in einer dritten hat er ganze Kontinente samt Monumenten und Festungen auf Karten verzeichnet. Jede seiner Welten ist etwas Besonderes. Denn egal, wo er sich in der echten Welt aufhält – in welcher Stadt er auch ist oder welche Schule er besucht, wo immer er sich an neue Leute und Regeln gewöhnen muss –, Minecraft ist immer da.

Dort bleiben die Regeln gleich: Ein Holzklotz ergibt immer vier Bretter, aus vier Brettern baut man eine Werkbank, und man kann einfach alles in seine Einzelteile zerlegen. Hier hat Jake die Kontrolle. Er bestimmt, was bleibt und was wegmuss, wohin er geht und wie die Orte aussehen, an denen er die meiste Zeit verbringt.

Lächelnd klickt er auf Neue Welt erstellen. Endlich wieder zu Hause.

***

Er spawnt in einem Wald voller pixeliger Blumen und Bäume. Umgehend macht er sich ans Werk, um alles zu sammeln, was er braucht, um die erste Nacht zu überstehen. Er hat die Handgriffe schon so oft wiederholt, aber diese ersten Momente sind immer wieder spannend. Routiniert sammelt er, was er benötigt, und als die Nacht hereinbricht, hat er bereits eine Unterkunft errichtet, um sich vor den umhertorkelnden Zombies in Sicherheit zu bringen. Geduldig wartet er den Sonnenaufgang ab und setzt sich wieder in Bewegung.

Am liebsten würde Jake sofort mit dem Erkunden anfangen, um ein hübsches Plätzchen zu finden, an dem er seine Basis errichten kann, aber dafür ist es zu früh. Er muss mehr Ressourcen sammeln, um voranzukommen. In der Nähe eines Bergs mit Kohlevorkommen errichtet er einen provisorischen Unterschlupf, zu dem er jede Nacht mit den tagsüber gesammelten Materialien zurückkehrt. Nach und nach entsteht ein kleines Fort, obwohl er sich noch nicht entschieden hat, ob er hierbleiben will. Aber die kleine Weizenfarm vor dem Haus bietet zumindest genug Nahrung. Bald wird er Eisen und weitere Erze brauchen, wenn er sich eine Rüstung fertigen will, aber seine Ausflüge ins Berginnere bringen nicht viel ein.

Zufällig stößt er auf ein Höhlensystem.

Jake will gerade vor einem Creeper davonlaufen, als das Monster explodiert und ihn in den Tod reißt. Er stöhnt genervt. Die schöne Kohle … Er respawnt in seiner Basis und fertigt schnell ein paar Spitzhacken und Brote, bevor er sich auf den Rückweg macht, um seine Sachen wiederzuholen, ehe sie verschwinden.

Neuanfänge in Minecraft sind Jakes leichteste Übung; er weiß genau, was er braucht und wie er vorgehen muss. Angestrengt versucht er, sich daran zu erinnern, wo er dem Creeper begegnet ist, und wendet sich Richtung Osten. Hier und dort sieht er vertraute Landschaftsmerkmale – einen Berggipfel, der wie ein Wolfskopf aussieht, und einen Lavafall, der sich in einen See ergießt. Die umstehenden Bäume haben Feuer gefangen, und Jake macht vorsichtshalber einen Bogen um das Inferno. Gleich hinter der Lava erblickt er mehrere schwebende Baumkronen, die von seiner Holzernte übrig geblieben sind.

Der Krater vom Vortag ist im Morgenlicht leicht zu erkennen. Die Explosion hat ein größeres Loch ins Gestein gerissen, fällt Jake auf, als er seine Gegenstände aufsammelt.

„Ha, cool!“, murmelt er und beginnt sofort, die kleine Öffnung mit der Spitzhacke zu vergrößern. Er platziert ein paar Fackeln, die den Blick auf eine geräumige Höhle mit Nischen, Gängen und sogar Wasser freigeben. Im Handumdrehen hat er eine Truhe gefertigt, in der er den Großteil der gesammelten Kohle verstaut, falls er die bevorstehende Erkundungstour nicht überlebt. Dann macht er sich auf den Weg in die Tiefen der Höhle.

Hier im Dunkeln, wo Tag und Nacht sich gleichen, verliert Jake jegliches Zeitgefühl. Vage nimmt er wahr, dass ihm sein Vater zuruft, er müsse kurz zur Arbeit. Jake grunzt eine unverständliche Antwort und konzentriert sich wieder voll auf sein Spiel. Er findet Kohleadern und Eisen und wehrt sich erfolglos gegen einen Haufen Skelette. Nach dem neuerlichen Respawn im Unterschlupf fertigt er neue Waffen und Fackeln und einen Haufen Brote, um sich nach weiteren eventuellen Angriffen heilen zu können. Dann kehrt er in die Höhle zurück. Nach wenigen Tagen im Spiel hat er genug Eisen gesammelt, um den Unterschlupf zu einer richtigen Basis auszubauen, voll ausgestattet mit Nahrung und Eisenerz, das er später zu besseren Waffen und einer stabilen Rüstung verarbeiten will. Jake ist gerade damit beschäftigt, eine Mauer aufzustellen, als sein Magen knurrt.

Blinzelnd kehrt er in die Wirklichkeit zurück … kahle weiße Wände, leere Fußböden, die einsame Kiste und sein Rucksack. Draußen ist es dunkel geworden. Finstere Schatten malen seltsame Bilder an die Wände. Die einzigen Farbtupfer kommen vom Bildschirm des Laptops – sattgrüne Wiesen und Wälder und rote und gelbe Minecraft-Blumen.

Jake starrt noch eine Weile auf den Computer und beschließt, seinen echten Körper zu füttern, ehe er in die bunte Welt von Minecraft zurückkehrt. Geschwind stellt er seinen Charakter hinter die schützende Mauer seiner Basis und speichert das Spiel, ehe er es beendet. Er reckt sich genüsslich – genau wie sein Spiegelbild im Fenster: ein unscheinbarer Junge mit braunem Haar, blass und ein wenig kränklich. Jake schüttelt stirnrunzelnd den Kopf. Der starke, voll ausgerüstete Held im Spiel ist ihm definitiv lieber. Er tappt zum Fenster und öffnet es mit einiger Mühe. Irgendjemand ist offenbar beim Streichen des Rahmens ein wenig übers Ziel hinausgeschossen. Die trocknende Farbe hat Fensterbrett und Rahmen verklebt und auf diese Weise beinahe versiegelt.

Nachtluft weht ihm entgegen, frischer und kühler als die stickige Hitze, die sich im Zimmer angestaut hat. Jake atmet tief ein. Er wünschte sich, sie würden weiter oben wohnen – für den besseren Ausblick. Aber dieser hier ist auch nicht übel. In der Ferne sieht er Wolkenkratzer – wahrscheinlich das Stadtzentrum. Die Lichter funkeln wie die der Autos, ein stetiger Strom aus Weiß und Rot, unterwegs in die Stadt oder ins Umland.

Von hier aus erscheint der Innenhof noch mehr wie ein wuchernder Wald, der hier und dort behelfsmäßig beschnitten wurde, um ihn im Zaum zu halten. In der Mitte befindet sich Spielplatz mit Schaukel. Auf der Westseite befindet sich ein trauriger Betonpool, der statt Wasser nur Laub, Äste und Müll beherbergt. Jake schüttelt den Kopf.

Im Wohnzimmer stehen Kartons, die mit Schildern beklebt sind, auf denen Worte wie Elektronik, Jakes Schulsachen und Büro stehen. Auf einem älteren, etwas mitgenommenen Karton prangt in großen, geschwungenen Bruchstaben die Aufschrift Baseball. Jake lässt den Finger über die As fahren, die Mom geschrieben hat. Den Karton lässt er zu.

Die Wohnung ist wie eine leere Leinwand – moderne, langweilige Möbelstücke stehen in der trockenen Hitze herum. Dads Zeichentisch lehnt in seine Einzelteile zerlegt an der Flurwand vor dem zukünftigen Büro. Der Raum ist fast fertig eingerichtet; der Schreibtisch ist mit Bauplänen und Ordnern übersät, und auf der Ecke steht ein halb leerer Kaffeebecher.

Dads Schlafzimmer ist noch nicht ganz so weit eingerichtet. Die Matratze steht an die Wand gelehnt neben dem nackten Bettgestell und einem leeren Koffer. Klamotten und Jacken liegen am Boden verstreut, so als hätte er es eilig gehabt. Vielleicht ein kurzfristiges Meeting oder so. Jake hat seinem Vater schon hundertmal gesagt, er solle seinen Glücksanzug getrennt vom Rest einpacken, damit er ihn im Notfall nicht suchen muss. Aber er vergisst es jedes Mal. Jake schnaubt leise, während er die Sachen einsammelt und in einem leeren Schrank verstaut.

Die harte graue Couch ist noch in Plastik gewickelt, und auf dem Esstisch liegen ein Zwanziger und ein Zettel.

Für Pizza. Wird spät heute.
Hab einen schönen ersten Abend!
Hab dich lieb
Dad

Jake steckt das Geld ein und öffnet den Kühlschrank. Leer. Seufzend überlegt er, ob es sich lohnt, einen Supermarkt zu suchen.

Schreie und Gelächter hallen durchs Küchenfenster. Mit Mühe bekommt Jake auch das auf und hofft, dass er später daran denkt, Dad von der schlampigen Arbeit der Maler zu berichten. Er zieht es ein paar Zentimeter auf und wird von einem frischen Luftstrom begrüßt.

Der Park ist von hier aus besser zu sehen, und die angenehmen Temperaturen der frühen Abendstunden haben viele Leute hergelockt. Autos hupen, Menschen plaudern, und irgendwo plärrt die kitschige Melodie einer Telenovela aus einem Fernseher. An der Schaukel stehen zwei Jungen, die er auf acht oder neun schätzt – also Babys. Jake ist schon vierzehn und fängt dieses Jahr mit der Highschool an. Eigentlich ist er viel zu alt, um sich mit Schaukeln zu vergnügen, aber irgendwie reizt es ihn trotzdem. Vielleicht sollte er einen Blick ins Gemeindezentrum werfen. Er beobachtet die beiden Jungen, die mit Schwung von den Schaukeln springen und dabei grinsend die Arme in die Luft werfen. Sie laufen zum Gerüst und feuern sich gegenseitig an, höher zu klettern. Es muss schön sein, einen besten Freund zu haben. Jemanden, der dich versteht und mit dem du immer Spaß haben kannst.

„Da ist Tank! Lauf!“ Die Schreie ziehen Jake zurück ans Fenster, von wo aus er die beiden vor einem Schatten fliehen sieht. Ein dritter Junge taucht auf. Er sieht älter als Jake aus … und irgendwie gefährlich. Sein dunkles Haar ist nach hinten gegelt, und er trägt trotz der Hitze eine Jeansjacke. Kopfschüttelnd sieht er den beiden Fliehenden hinterher und setzt sich auf eine Schaukel. „Ja, rennt nur“, grollt er missgelaunt und strafft den Rücken.

Hinter ihm erklingen Schritte. Ein Mädchen mit Zöpfen taucht auf, die dieselbe Stirn und dieselben großen Augen wie der Junge namens Tank hat. „Schubs mich an, Thanh-anh“, fordert sie ihn auf. Die angespannte Haltung des Jungen löst sich sofort, als er dem Mädchen ein verschwörerisches Lächeln zuschmuggelt. Vorsichtig gibt er ihr Schwung, und je höher sie schaukelt, desto ausgelassener lachen die beiden.

KAPITEL 2
TANK

Tank stellt die Kartons mit einem dumpfen Geräusch ab. Er reckt sich, schüttelt die Arme aus und keucht verstohlen. Grinsend wischt er sich den Schweiß von der Stirn.

„War das alles, Mr. Mishra?“

Der Angesprochene zählt das Wechselgeld für die vor ihm stehende Kundin ab, eine groß gewachsene Frau im Anzug. Sie nimmt die soeben erstandenen Kaugummis, ehe ihr Blick auf Tank fällt. Misstrauisch und ein wenig ängstlich macht sie einen Schritt nach hinten.

Tank schrumpft in sich zusammen und macht sich klein, um weniger einschüchternd auszusehen. Doch sein Spiegelbild in der Glastür des Kühlschranks, in dem Milch und Limos stehen, zeigt ihm schonungslos das, was die Frau sieht: einen turmhohen Jungen, dessen Schultern so breit sind, dass sein Spiegelbild zwei Kühlschranktüren braucht, um ihn vollständig abzubilden.

Er muss an die Schulversammlung denken, die für alle Siebtklässler Pflicht war. Er hat sie verschlafen, aber den Witzen seiner Schulkameraden konnte er entnehmen, dass die Lehrer wohl irgendetwas von körperlichen Veränderungen gesagt haben. Natürlich wusste er vorher schon, dass Kinder irgendwann groß werden und all das, aber keiner hat ihn vorgewarnt, wie schnell das vonstattengeht. Aus heiterem Himmel passten ihm seine Klamotten nicht mehr, sein Hals tat ständig weh, und die Leute sahen ihn anders an – so als hätten sie auf einmal Angst vor ihm.

Shark sagt immer, es ist gut, wenn ihn die Leute für einen harten Kerl halten – so wagt es nämlich niemand, sich mit ihm anzulegen, und das weiß Tank definitiv zu schätzen. Shark ist überhaupt ziemlich schlau. Ehe er ihm begegnete, aß Tank mittags immer allein und redete mit niemandem. Jetzt hat er Freunde, die sich um ihn sorgen und mit denen er abhängen kann.

Tank hat die siebte und den Großteil der achten Klasse mehr oder weniger allein verbracht – unsichtbar für alle anderen. Aber dann landete eines Tages kurz nach Ende der Ferien laut krachend ein Tablett direkt neben seinem auf dem Esstisch der Schulkantine. Er sah hoch und fand sich Auge in Auge mit Sharks Grinsen.

„Komm mit zu uns“, forderte er ihn auf, obwohl er noch nie zuvor mit ihm gesprochen hatte.

„Äh, okay?“ Tank hatte sich schon den ganzen Tag nervös umgesehen, weil er kaum in die Jeans und das Oberteil passte, die er sich am Morgen aus Bas Schrank stibitzt hat, weil ihm seine eigenen Klamotten nicht mehr passten.

„Warst du schon mal im Fortress Park?“

War er nicht. Viele seiner Schulkameraden hingen ständig dort ab und holten sich Limo oder Brezeln oder Hotdogs vom Snack Shack, wenn sie gerade kein Minigolf spielten oder sich gegenseitig im Gokart-Fahren herausforderten. Tank kannte den Park nur vom Nachhauseweg – eine Mauer mit aufgepinselten Ziegelsteinen und dahinter hohe bunte Türme, die über den Einkaufszentren am Freeway aufragten. Dorthin ging man nicht allein, sondern mit Freunden, und vor Shark hatte ihn nie jemand gefragt. Er sagte sich immer, dass er schon nichts verpasste. Der Park war bestimmt nichts Besonderes – nur ein Haufen blöder Spiele und massenweise Kinder von seiner Schule, die anzusprechen er ohnehin viel zu schüchtern war.

Bis ihn Shark an jenem Tag fragte. Also machten sie sich gemeinsam mit AJ und Gus gleich nach der Schule auf den Weg dorthin, und am Abend klopften ihm die anderen Jungs anerkennend auf die Schulter und verpassten ihm den Spitznamen Tank – das englische Wort für Panzer.

So fing es an.

Danach wurde er plötzlich von den anderen Kindern in der Schule erkannt – sie machten ihm Platz, wenn er vorbeiwollte, kauften ihm am Verkaufsautomaten Chips oder Limo oder spendierten ihm Karten für die Fahrgeschäfte und Spielgeräte im Fortress Park. Shark bekam auch ständig Geschenke, und da Tank jetzt mit Shark befreundet war, dehnte sich die Großzügigkeit der anderen auf ihn aus. Außerdem hat er nun endlich einen Namen, den wirklich jeder aussprechen kann – obendrein mit Respekt.

Tank kann nichts dafür, dass er so Furcht einflößend aussieht, und es wird jeden Tag schlimmer. Na ja, wenigstens macht ihm oder Viv jetzt keiner mehr Ärger.

Trotzdem schmerzt es manchmal, dass alle annehmen, er sei ein schlechter Kerl. Tank schüttelt das negative Gefühl ab. Die Kundin ist längst verschwunden, das Klack-Klack ihrer Absätze verhallt.

„Danke, Thanh“, sagte Mr. Mishra. „Das hast du toll gemacht. Ich weiß das wirklich zu schätzen.“

„Kann ich noch etwas für Sie tun?“

Der Mann schüttelt den Kopf. „Danke für deine Hilfe. Tut mir leid, dass ich heute keine Arbeit mehr für dich habe.“

„Kann ich morgen wiederkommen?“

„Wie wäre es mit Donnerstag? Da kommen die Limo-Lieferungen, und mein Rücken ist nicht mehr das, was er einmal war.“

„Gern, Mr. Mishra.“

Freundlich lächelt der ältere Mann den Jungen an. Tank könnte wetten, dass er seinen eigenen Kindern genauso zulächelt – vielleicht sogar noch freundlicher. Er ist ein guter Vater, denkt Tank bei sich. Manchmal sieht er die Mishras in dem kleinen Park, der zum Wohnkomplex gehört – Mr. Mishra, der mit seiner Frau lächelnd die gemeinsamen Töchter beim Fangenspielen beobachtet. Manchmal wünscht sich Tank, dass Viv noch in ihrem Alter wäre. Früher war sie viel leichter zu unterhalten. Heute verliert sie sich oft in ihrer eigenen Welt, und es fällt ihr schwer, Freunde zu finden. Die Mishra-Zwillinge sind zu jung, um Vivs Interesse zu wecken, aber wenigstens gehören sie zu den Kindern, die nicht gleich wegrennen, wenn sie ihn sehen, und das weiß Tank wirklich zu schätzen.

„Dann sehen wir uns Donnerstag, Thanh.“ Mr. Mishra zählt etwas Bargeld aus der Kasse und drückt es Tank in die Hand.

Ohne einen zweiten Blick darauf zu werfen, stopft der Junge die Banknoten in die Tasche, nickt dem Ladenbesitzer noch einmal zu und verlässt schweren Herzens das Geschäft. Mr. Mishra hatte eigentlich angeboten, ihn richtig einzustellen, aber dafür bräuchte er eine Arbeitsgenehmigung und alle möglichen anderen Amtspapiere, die vorschreiben, dass man mindestens sechzehn sein muss. Tank hat keine Ahnung, wie er dem freundlichen Ladenbesitzer erklären soll, dass er erst vierzehn ist.

Der Weg nach Hause ist nicht weit – die Wohnungen des Pacific-Crest-Komplexes sind nur wenige Blocks entfernt, und Tank ist dankbar, dass er unterwegs weder Shark noch anderen bekannten Gesichtern begegnet. Er schlüpft durch ein Loch im Eisentor neben den Recyclingtonnen und kämpft sich durchs Gebüsch in den Hof.

Er klopft sich die Blätter von der Kleidung, nimmt die Abkürzung durch den Park und hält auf das graue Hochhaus zu. Er ist nervös, und das Geld in seiner Tasche fühlt sich mit jedem Schritt schwerer an. Er kommt am renovierten Haus vorbei und schüttelt den Kopf. Was für ein hässliches Ding. Die meisten Leute, die hier gewohnt haben, sind während der Bauarbeiten ausgezogen, weil sie der Lärm störte. Mr. Mishra war die ganze Zeit furchtbar genervt, weil man ihn und seine Familie aufgrund der Renovierung für ganze drei Monate in ein Hotel umquartiert hatte.

Tank weiß nicht, ob seine Eltern hierbleiben, wenn ihr Haus an der Reihe ist. Bestimmt wird die Baufirma ihnen dasselbe Angebot unterbreiten wie den Mishras – einen Rabatt fürs Hotel –, aber er hat überhaupt keine Lust, umzuziehen.

Er öffnet die Tür zum Westturm, lässt den uralten Fahrstuhl links liegen und wendet sich der Treppe zu. Zwei Stufen auf einmal nehmend rennt er hoch, bis er das richtige Stockwerk erreicht hat. So leise er kann, schleicht er zur Wohnungstür, damit seine Schritte nicht so hallen. Routiniert schließt er auf, schlüpft hinein und schließt mucksmäuschenstill die Tür hinter sich.

Er zählt das Geld und atmet auf. Viel ist es nicht, aber es wird helfen. Ma schläft noch. Bald beginnt ihre Nachtschicht, aber noch hat sie Zeit, sich auszuruhen. So leise er kann, tritt Tank zum Nachttisch, auf dem ihre Handtasche steht, und nimmt das schmale Portemonnaie heraus, um die Hälfte seines Verdienstes hineinzulegen, ehe er sich wieder hinausschleicht. In der Küche tastet er nach dem Umschlag, der hinter einer der Schubladen klebt, und verstaut die restlichen Scheine bis auf einen Zwanziger darin. Vielleicht bittet er Ma diese Woche, die neue Klimaanlage einzuschalten. Die Hitze ist in der Wohnung fast unerträglich.

Dann lässt er sich aufs Sofa fallen und schließt die Augen. Ruhig ist es nicht – von draußen dringen Geräusche wie das Brummen von Motoren, Schritte und Geplauder herein. Irgendwo kracht eine Tür ins Schloss.

Die Wohnungstür öffnet und schließt sich, gefolgt vom Scheppern eines Schlüsselbunds und dem dumpfen Aufprall von Schuhen auf dem Boden.

„Hey, Thanh, bist du gerade von der Arbeit zurück? Hast du Geld für Lebensmittel?“

Tank öffnet die Augen. Ba blickt zwar in seine Richtung, sieht ihn aber nicht wirklich an. Mit hängenden Schultern stiert er zu Boden und fährt sich mit den Fingern verlegen über einen Ölfleck auf dem Hemd.

Wehmütig seufzend denkt Tank an den Zwanziger in seiner Tasche. Er hatte gehofft, er könnte ihn sparen, um sich diesen Sommer neue Turnschuhe zu kaufen – Shark meint, er könne richtig coole für superwenig Geld kriegen –, aber selbst die Hälfte des Preises, den sie im Einkaufszentrum verlangen, ist zu viel für Tanks Geldbörse. Shark hat auch gesagt, die blütenweißen Sneaker würden ihm einen richtig coolen Look verpassen. Einen, der ihn unantastbar macht. So ein Look würde Tank gefallen – außerdem wären die Schuhe endlich etwas, das er nur für sich allein hätte.

„Wir hatten heute kaum Kunden, deshalb bin ich früher als sonst zurück“, erklärt Ba und tritt nervös von einem Fuß auf den anderen.

Na toll. Anstatt in der Werkstatt zu bleiben und richtigen, zahlenden Kunden zu helfen, will er sich also wieder einmal zu Hause „nützlich“ machen. Ma hasst das, weil er jedes Mal, um Geld zu sparen, an irgendetwas herumbastelt, was überhaupt nicht repariert werden muss, und es schlimmer macht, sodass sie Mrs. Jenkins rufen müssen, die ihnen daraufhin zum einen mitteilt, dass sie draufzahlen müssen, weil die Elektronik beschädigt ist, und zum anderen, dass es übrigens illegal ist, das WLAN der Nachbarn anzuzapfen.

„Tante Phuong hat gestern viel zu viel gekocht. Das sollte eine Weile reichen“, informiert ihn Tank.

Ba grinst, die Augen voller erfinderischem Enthusiasmus. „Okay, aber wir könnten etwas richtig Tolles machen … Was hältst du davon, wenn ich uns Essen mache? Und wenn Ma nach Hause kommt, essen wir zusammen. Wie eine glückliche Familie. Was meinst du?“

„Ma muss gleich arbeiten. Sie kommt doch erst um sechs nach Hause.“ Tank seufzt.

„Dann eben Frühstück.“

„Um sechs Uhr früh? Ba, morgen ist keine Schule, und ich stehe nicht um sechs auf.“

„Okay, dann essen eben nur wir drei, und Mas Portion stellen wir in den Kühlschrank.“ Ba runzelt die Stirn. „Wo ist Vivian?“

„In ihrem Zimmer. Sie lernt. Störe sie nicht.“

„Ich denke, morgen ist keine Schule.“

„Sie ist klug. Sie lernt schon im Voraus fürs nächste Jahr.“

Als Ba Anstalten macht, trotzdem zu Vivians Zimmer zu schlurfen, trifft Tank eine Entscheidung und greift in die Tasche. Er weiß jetzt schon, dass er es später bereuen wird, aber Viv hat sich ihre Ruhe verdient. Ba würde sie nur stören, wenn er sie bittet, sein Werkzeug zu halten, während er wieder an der Elektronik herumfummelt, oder ihr zum wiederholten Male erklärt, wie ein Ölwechsel geht, weil er ständig vergisst, was er seinen Kindern längst beigebracht hat. Viv ist geduldiger als Tank und würde ihren Vater gewähren lassen.

„Hier, hol ein paar Lebensmittel“, sagt Tank und hält ihm den Geldschein hin. Lieber Chaos in der Küche als in den Wänden. „Lass die Drähte in Ruhe. Wir haben schon genug Ärger, weil du letzte Woche an der Klimaanlage herumgewerkelt hast.“

Ba zuckt die Achseln. So ist er. Sorglos. Er bedenkt nicht, wie schnell Tank sich Arbeit suchen musste, um für die zusätzlichen Reparaturen zu bezahlen, oder dass Ma und Tante Phuong ihre Arbeit nicht einfach stehen und liegen lassen würden, weil ihnen gerade danach ist, oder dass Viv noch ein Kind ist und viel zu jung, um über all diese Dinge nachzudenken. Mit dem Geld in der Hand schlurft Ba aus der Wohnung.

Tank gießt sich ein Glas Wasser ein und trinkt, ehe er es sich gegen die Stirn drückt, um sie ein wenig zu kühlen. Viv ist im anderen Schlafzimmer. Sie trägt Kopfhörer, und ihr Kopf schwingt im Takt der Musik. Sie sitzt mit dem Rücken zur Tür und hat ihren Bruder noch nicht bemerkt, während sie gedankenverloren durch ihre Minecraft-Welt läuft. Tank sieht ihr lächelnd zu. Sie steht in ihrer Basis, in einem der kunstvollen Gebäude, die sie gebaut hat, und ist gerade dabei, irgendeine Redstone-Konstruktion zusammenzusetzen, von der Tank nichts versteht. Nachdenklich steckt sie die Zunge zwischen die Zähne und lehnt sich zurück, um ihr neuestes Werk zu bewundern. Die beiden Monitore und der PC-Tower des Mädchens sehen trotz ihres Alters gut aus – sauber, gepflegt und funktionsfähig. Der Tower erstrahlt dank mehrerer LEDs in grellblauem Licht. Tank hat sie letzte Woche eingebaut – für den coolen Gamer-Effekt.

Er muss an die Kinderzimmer in TV-Serien denken, die kunterbunt und voller Krimskrams und Stofftiere sind. Dieses Zimmer hingegen sieht – abgesehen vom Computer – immer noch aus wie vor fünf oder zehn Jahren – wie vor Vivs Geburt. Damals wohnte hier Tank mit seinem Onkel Tho, ehe der heiratete und auszog. Jetzt teilt Viv es sich mit Tante Phuong. Die verblichene Bettwäsche auf ihrem Doppelbett passt zu Vivs. Ein wackliger Wandschirm teilt das Zimmer notdürftig in zwei Bereiche auf, und jeder Quadratzentimeter ist mit Dingen wie Kleidung oder irgendwelchen Sachen vollgestellt, die sie vielleicht später noch gebrauchen könnten.

„Kommst du rein, oder bist du angewachsen?“

Tank lacht und schiebt sich in die enge Gasse zwischen Tante Phuongs Kommode und Vivs Bett, um sich neben den Schreibtisch zu stellen, einen stabilen Falttisch, den Tank am Straßenrand aufgelesen hat. Er betrachtet den Bildschirm. Vivs Spielfigur steht in einem Steintunnel, in dessen Nischen mehrere Truhen und eine Redstone-Spur, Verstärker und andere Gerätschaften zu sehen sind, von denen Tank nichts versteht.

„Sieht cool aus. Ist das eine U-Bahn-Station? Ich dachte, damit wärst du fertig.“

„Nein“, stöhnt Viv. „Der Tunnel hat ewig gedauert, aber den habe ich gestern fertiggestellt. Ich sitze schon den ganzen Tag am Loren-Werfer, aber er funktioniert nicht. Ich glaube, es liegt an meinem integrierten Fahrkartensystem. Ohne das läuft es nämlich.“

Sie entfernt Kabel und Verstärker und sammelt die Sachen ein, ehe sie Steine platziert, wo eben noch der Redstone war. „Hier, sieh dir das an.“

Vivs Avatar nähert sich hopsend dem Gleis, und Tank beugt sich über ihre Schulter, um besser sehen zu können. Sie tritt auf eine Druckplatte, woraufhin ein Trichter über ihr eine Lore auswirft. Viv lässt ihren glänzenden Avatar einsteigen und setzt das Gefährt in Bewegung. Los geht die Fahrt durch den mühevoll in den Stein gehauenen Tunnel. Tank ist ziemlich beeindruckt, besonders von der ausgedehnten Glaswand, die in einem offenen Tunnelabschnitt den Blick auf eine Höhle mit mehreren Lavafällen freigibt.

„Der Tunnel sieht super aus, Viv.“

„Ich habe ein paar Fenster eingefügt, um all die coolen Orte zu zeigen, die ich beim Ausheben gefunden habe“, erklärt Viv stolz.

Die Lore hält an, und plötzlich steht Viv auf nacktem Stein.

„Wo ist sie hin?“, fragt Tank verblüfft.

„Der Kaktus hier hat sie abgebaut. Auf diese Weise steigt man automatisch aus. Cool, oder?“

„Total. Das war letzte Woche noch nicht da, oder?“

„Nein. Wir dachten uns, ein U-Bahn-Netz zwischen der Hauptbasis und der neuen hier kann nie effizient genug sein.“ Viv betritt einen „Wasserfahrstuhl“, der sie im Handumdrehen nach oben befördert. Die blubbernde Säule führt zu einem steinernen Platz mit einem fröhlich sprudelnden Brunnen in der Mitte. „Hmpf, ich weiß nicht, was ich falsch mache. Ich sitze schon den ganzen Tag daran. Mina und Rocky haben auch keinen Schimmer. Rocky hat vorgeschlagen, dass wir einfach immer Loren dabeihaben, aber ich will, dass alles automatisiert ist.“

„Du findest es bestimmt noch heraus. Ohne Fahrkartensystem lief es ja auch. Jedenfalls ist der automatische Loren-Auswurf ziemlich cool.“

„Willst du mitspielen?“

„Mh.“ Tank zuckt die Schultern. Er spielt gern mit seiner Schwester Minecraft, aber meist kommt er bei all den verrückten Sachen, die sie und ihre Freunde auf dem Server veranstalten, nicht mit. Das Konto hat er damals vor allem erstellt, um persönlich sicherzustellen, dass alle nett zu ihr sind, aber je länger sie spielten, desto weiter fiel er zurück. Tanks simples Bauernhaus mit dem hübschen Blumengarten steht zwar immer noch an der Basis, die sich die beiden anfangs teilten, aber es sieht noch genauso aus wie vor einem Jahr, als sie den Server gegründet haben. Viv und die anderen Spieler haben dort wundervolle Wohn- und Gewächshäuser gebaut, aber auch aufwendig dekorierte Villen, ausgestattet mit mehreren Stockwerken, Geheimräumen und langen Fluren. Sie haben die Welt in alle Richtungen erkundet, woanders weitere Gebäude errichtet, die sich nahtlos in die Landschaft fügen, und irgendwann angefangen, all diese Orte miteinander zu vernetzen.

Die meiste Zeit versteht Tank nicht wirklich, wovon die drei reden. Mina lebt an der Ostküste der USA und Rocky in Japan. Die Namen der restlichen Spieler hat Tank vergessen. Als der Server die Tore für neue Leute öffnete, wurde das interne Bezahlsystem mit all den Läden und immer neuen Regeln furchtbar kompliziert. Außerdem denkt sich Rocky ständig neue Spiele aus, die Tank eher an ein RPG als an Minecraft erinnern. All das verwirrt ihn, aber er freut sich, dass sich die anderen mit Vivian verstehen. Er gönnt ihr den Spaß von Herzen.

Er ist müde, aber draußen ist es noch hell; vielleicht sollte er ein Nickerchen machen. Andererseits wacht er wahrscheinlich sowieso gleich wieder auf – entweder wenn Ma aufsteht, Tante Phuong nach Hause kommt oder wenn Ba vom Einkaufen zurückkehrt. Tanks quietschendes, viel zu kleines Doppelbett steht nämlich direkt neben der Tür, und obwohl Ma ihm ein Laken aufgehängt hat, um ihm wenigstens etwas Privatsphäre zu verschaffen, hört er jedes noch so kleine Geräusch und spürt sogar die Erschütterung, wenn die Tür ins Schloss fällt. Tank überlegt gerade, ob aus dem Schlaf gerissen zu werden besser wäre, als überhaupt nicht zu schlafen, als ihm Viv den Ellbogen in die Seite stößt.

„Was denn?“ Er gähnt.

„Ich sagte, ich kann auch aufhören. Dann können wir in der Welt spielen, die ich letzte Woche erstellt habe“, erklärt Vivian.

„Nein, du bist doch mit deinen Freunden zusammen. Ich kann auch etwas anderes …“

„Ist schon okay, wir sind nur dabei, ein paar Gebäude umzugestalten. Rocky hat einen Weg gefunden, das Netherportal automatisch zu aktivieren und zu deaktivieren, und nun wollen sie es direkt vor die Stadt stellen, aber Cogs gefällt die Idee nicht, und obendrein ist noch eine Diskussion um die Wassergräben ausgebrochen. Ehrlich gesagt habe ich gerade gar keine Lust auf all das Drama.“ Viv trennt die Verbindung zum Server und wirbelt in ihrem Drehstuhl jubelnd um die eigene Achse. In solchen Momenten fühlt sich Tank wehmütig daran erinnert, wie jung sie noch ist, selbst wenn sie die meiste Zeit so klingt, als hätte sie ein Programmierlehrbuch gefrühstückt.

„Bereit?“

Tank fährt ihr lächelnd durchs Haar, tritt zum Schrank, wo er seine Sachen aufbewahrt, und holt seinen Laptop hervor. Es ist ein altes Modell, aber Viv verdient den besseren Rechner. Sie ist schließlich diejenige, die das Zeug hat, sich irgendwann aus diesem Loch zu befreien.

Sie lädt die Welt auf ihrem Computer, und schon tauchen die grellbunten Blumen in dem Garten auf, den Tank angelegt hat. Leise vor sich hin summend durchquert Viv das Haupthaus, einen hübschen Bau mit gläsernen Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichen und vor denen Bambus wächst. Das war Tanks Idee; das satte Grün der schnell wachsenden Pflanze gibt ihm ein Gefühl der Sicherheit in dieser Welt, die er und seine Schwester gemeinsam erschaffen haben.

„Ich bau uns eine automatische Weizenfarm.“

„Äh …“

„Keine Sorge, ich halte mich vom Haus fern, damit sie nicht die Ästhetik deiner Felder und Gärten zerstört“, kommt Viv dem Protest ihres Bruders zuvor und streckt ihm die Zunge heraus.

Tank schnaubt und schüttelt den Kopf. „Danke.“

Sie ist schon verschwunden, ehe sein Laptop hochgefahren ist, und als er sich endlich mit der Welt verbindet, sieht er ihren Avatar in weiter Ferne neben einem klobigen Monstrum aus Glas, welches eine Plattform aus Erde umschließt, die mit Weizenpflanzen bedeckt ist.

Eine Weile sieht Tank seiner Schwester stolz beim Bauen zu. Es ist schön zu sehen, wie gut sie sich auf Redstone versteht, ob es nun um den Bau von automatischen Farmen oder U-Bahnen mit richtigen Fahrkarten, ferngesteuerten Alarmsystemen oder Geheimpassagen geht. Sie ist ein richtiger kleiner Nerd, aber für ihn ist das kein Schimpfwort. Im Gegenteil. Außerdem ist sie sein Nerd, und obwohl er es nicht laut aussprechen würde, findet er seine kleine Schwester mächtig cool.

Tank betritt das Feld, auf dem er Kürbisse, Rote Bete und Karotten züchtet. Er findet es entspannend, über die Felder zu laufen und das Gemüse zu ernten. Er weiß natürlich, dass eine automatische Farm viel effizienter wäre, aber er nimmt sich gern die zusätzliche Zeit. Ihm gefällt, dass die manuelle Ernte immer dieselben Handgriffe erfordert, und außerdem sehen die bunten Felder mit den blauen Wasserstellen hübsch aus.

Tank erinnert sich, dass er als Nächstes Zuckerrohr braucht. Er leert seinen mitgebrachten Eimer in einen zuvor ausgehobenen Graben aus, an dessen Rand das Gewächs später wachsen soll, und beobachtet das fließende Wasser. Damit sollten alle Pflanzen auf seinem Feld genügend Wasser haben.

Tank verstaut die Ernte und trägt sie ins Bauernhaus. Er ist stolz auf das Bauwerk mit den hübschen roten Wandteppichen und großen Fenstern. Öfen, Werkbänke, ein Bett – hier hat er alles, was er braucht. An der gegenüberliegenden Wand stehen reihenweise sorgfältig sortierte und beschriftete Truhen. Tank nimmt seine Bestände in Augenschein und schüttelt den Kopf, als er zwischen dem Saatgut ein paar Granitblöcke und Blumen entdeckt, die dort nicht hingehören. Vivian muss hier gewesen sein. Tank sieht sie förmlich vor sich, wie sie ihr überflüssiges Zeug in die nächstbeste Truhe stopft, ohne auf Beschriftungen zu achten. Das tut sie andauernd.

Er bringt alles in Ordnung und macht einen Rundgang. Vielleicht sollte er die Südseite umgestalten, überlegt er und lehnt sich zurück, um die kunterbunt blühenden Blumenbüsche zu bewundern.

Die Gartenarbeit hat etwas Beruhigendes, und er werkelt entspannt vor sich hin, bis Vivian auf die Idee kommt, gemeinsam auf Erkundungstour zu gehen und Monster zu jagen. Er begleitet sie, bis er irgendwann stirbt und in der Basis respawnt. Er verspürt keine große Lust, den ganzen Weg zurückzulaufen, also widmet er sich der Planung eines Irrgartens und der Umsortierung seiner Blumensammlung. Hin und wieder wirft er einen Blick auf Vivs Bildschirm, um ihr beim Erkunden zuzusehen. Einträchtig spielen sie vor sich hin, und Tank macht es sich auf seinem Stuhl gemütlich, während er im Spiel nach den Tieren sieht.

„Du bist so eine Spaßbremse“, nörgelt Viv. „Ständig hängst du auf deinen Feldern herum oder verschönerst das Haus. Außerdem sieht diese Farm haargenau so aus wie deine letzte. Willst du nicht einmal etwas Neues ausprobieren?“

Tank zuckt die Schultern. Er mag eben fein säuberliche Reihen aus Nutzpflanzen und Blumen, und er kümmert sich gern um seine Bäume.

„Du weißt schon, wie viel es zu erkunden gibt, oder?“

„Das kannst du doch machen. Die Monster sind mir egal“, antwortet Tank.

„Willst du eine neue Welt herunterladen und sie mit mir erkunden? Sieh nur, die vielen tollen Mods, die wir benutzen könnten. Letztens habe ich eine gefunden, die aus Tintenfischen Riesentintenfische macht. Stell dir vor …“

„Meinetwegen. Was immer du willst.“

„Aber was willst du?“

Tank gestikuliert in Richtung der Truhen. Die Blumen sind jetzt nach Farben sortiert, also wäre es ein Leichtes, einen neuen Garten zu gestalten. Allerdings gehen ihm langsam die Farben für den Irrgarten aus. „Ich könnte noch ein paar Pflanzen gebrauchen. Ich glaube, ich habe im Wald Pfingstrosen gesehen – hinter dem Sumpf, in dem wir gestern waren.“

„Noch mehr Blumen?“ Viv seufzt und wirft ihm einen leidgeplagten Blick zu.

Tank schnaubt. „Hey, du kannst tun, was immer du willst. Bau doch etwas im Kreativmodus.“

„Könnte ich wohl“, meint Viv. „Ich will jedenfalls nicht den ganzen Sommer mit Blumenpflücken verbringen.“

„Hey, pass auf, was du sagst“, gibt Tank zurück, aber er meint es nicht böse. „Niemand hat dich gebeten, Blumen mit mir zu pflücken. Das kann ich ganz allein.“

„Ist schon okay, ich war schon eine Weile nicht mehr in der Gegend. Da fällt mir ein, ich glaube, ich habe hier ein paar Orchideen gesehen. Kommst du zu mir?“

„Okay.“

„Warte, lass mich dir noch schnell eine Rüstung machen. Hast du Federn für Pfeile?“

Es läuft also wieder auf eine Monsterjagd hinaus. Tank schüttelt den Kopf. „Okay, ich komme mit dir Monster jagen. Sag mir einfach, wo du bist.“

Am Ende bekommt sie immer ihren Willen. Kleiner Quälgeist. Viv grinst, schickt ihm die Koordinaten, und Tank macht sich auf den Weg.

KAPITEL 3
JAKE

Jakes neue Minecraft-Welt macht sich langsam. Er hat eine sichere Heimbasis errichtet, trägt eine Eisenrüstung, hat die Höhle von Monstern befreit und eine Mine gegraben, die bis hinunter zum Grundgestein führt, um nach Diamanten zu suchen. Er überlegt, die Basis zu erweitern und etwas Cooles zu bauen, aber das geht erst, wenn er die passenden Materialien und gutes Werkzeug hat. Trotzdem hat es Spaß gemacht, in einer Welt mal wieder von vorn zu beginnen.

Danny 8:32 Uhr
Hey! Sorry, dass es so lange gedauert hat. Wurde beim Fußballtraining aufgehalten, haha! Aber ich hab dir auf dem Server eine Statue gebaut. Ein Riesenschaf. Guck’s dir an :)

Jake schreibt eine lange Antwort, in der er Danny erzählt, wie langweilig die neue Wohnung ist, ihn mit Fragen dazu bombardiert, wie sein Sommer so läuft, und dass er es kaum erwarten kann, sich auf die Suche nach dem Riesenschaf zu machen. Dann seufzt er und löscht alles wieder. All das Geschwafel ließe ihn nur verzweifelt erscheinen. Pah.

Jake 8:39 Uhr
Haha, danke! Ich guck’s mir an, sobald wir Internet haben.
Wie läuft dein Sommer?

Jake stopft das Telefon in die Tasche, um nicht in Versuchung zu geraten, ständig auf den Bildschirm zu sehen.

„Dad? Wurde das WLAN inzwischen eingerichtet?“

Sein Vater will gerade hinausgehen und hält an, ein Bagel hängt ihm halb aus dem Mund. Er nimmt einen Bissen und versucht angestrengt, Baupläne und Aktenkoffer zu balancieren. „Ich dachte, die waren gestern hier.“

„Nein, hier war niemand.“ Jake ist sich absolut sicher. Er war den ganzen Tag allein in seiner Offline-Welt, und auf dem Wohnkomplex war es auffallend ruhig gewesen. Er hätte mit mehr Kindern gerechnet, die draußen spielen. Hin und wieder drangen Geräusche durchs Fenster, aber das waren nur Schatten, Schritte und verhallende Gespräche. Jake hat den Eindruck, die Leute gehen entweder morgens zur Arbeit oder bleiben die ganze Zeit in ihren Wohnungen. Er macht ihnen keinen Vorwurf. Es ist nicht so, als wäre der überwucherte Park mit dem leeren, ekelhaften Pool und dem verfallenen Klettergerüst besonders verlockend.

„Ich rufe noch mal bei denen an und sage ihnen, dass sie vorbeikommen sollen. Den Router hast du aber angeschlossen, oder?“

Jake wirft seinem Vater einen genervten Blick zu. „Der beste Router nützt nichts ohne Strom.“

Dad lacht grunzend. „Da hast du recht, Kumpel. Wir sehen uns heute Abend. Ich koche uns etwas. Der Kühlschrank ist voll.“

Jake öffnet den Kühlschrank und betrachtet wohlwollend den Inhalt. Cool. Mozzarella-Sticks, Joghurt, Käse und Aufschnitt. Auf der Anrichte liegen sogar Brot und zwei Packungen mit Jakes Lieblingsfrühstücksflocken. Er holt Milch hervor, die zur Abwechslung nicht abgelaufen ist, und öffnet sie. „Danke, Dad“, sagt er und spürt leise Hoffnung in sich aufkeimen. So hat es bisher jedes Mal angefangen – neuer Ort, neue Motivation. Vielleicht schafft Dad es ja diesmal, die guten Vorsätze durchzuhalten. Jake durchsucht raschelnd einen der Kartons und findet seine Müslischale.

„Du solltest dir Freunde suchen. Hier im Haus wohnen mehrere Familien mit Kindern.“ Dad strahlt seinen Sohn an – ein breites, sonniges Lächeln, das in Jake exakt so viel Zuversicht weckt wie die staubigen Plastikpflanzen im Eingangsbereich.

Jake murmelt ein Mhm, öffnet die Packung mit den Frühstücksflocken und schüttet eine gute Portion davon in die Schale.

„Vielleicht möchtest du im Gemeindezentrum vorbeischauen. Dort gibt es bestimmt Spiele und so. Der Kram wird demnächst für die Renovierung abgerissen, also nutze die Gelegenheit, solange es noch geht. Ich habe jetzt ein Meeting mit der Architektin. Sie hat einiges mit dem Haus vor!“

„Mhm“, wiederholt Jake und schüttet Milch ins Müsli.

„Geh heute ruhig mal nach draußen“, ergänzt Dad, während er seine Last von einem Arm auf den anderen befördert und den Bagel auf dem Papierstapel ablegt. „Reich mir mal den Kaffee und halt mir die Tür auf.“

Jake rührt sein Müsli um und schnappt sich Dads Reisebecher. Sorgfältig befestigt er den Deckel, bevor er ihm den Kaffee in die Hand drückt und die Tür öffnet. Greller Sonnenschein strömt in die spärlich beleuchtete Wohnung. Jake blinzelt verdrossen.

„Also, der kalifornische Sonnenschein ist schon etwas Tolles! Wenn wir in Seattle wären, würdest du mich jetzt anflehen, nach draußen zum Spielen zu dürfen. Du solltest so einen schönen Tag wirklich nicht verschwenden.“ Dad lacht leise.

Jake lugt erneut ins grelle Licht und bereut es sofort. Die Reflektionen von all den weißen Wänden und schimmernden Oberflächen sind einfach zu viel für seine Augen. Er kneift sie zusammen und ignoriert Dads Sticheleien.

„Musst du nicht los?“

„Ja, ich geh ja schon. Oh, sieh nur, da sind ein paar Kinder in deinem Alter im Park. Vielleicht gehen sie auf deine Schule. Du könntest zu ihnen gehen.“

Jake zuckt die Schultern und winkt Dad hinterher, bevor er die Tür schließt und zurück in die angenehm dunkle Wohnung geht. Er isst sein Müsli und überlegt, ob er eine weitere neue Welt beginnen soll. Andererseits könnte er an der letzten weiterbauen und seine Ausrüstung verbessern. Am liebsten würde er natürlich nachsehen, was Danny für ihn gebaut hat, und weiter an den Gebäuden auf ihrem Server arbeiten. Neuanfänge sind immer so anstrengend – vor allem, weil er genau weiß, dass er woanders schon viel weiter ist. Erzabbau macht ohne Diamantwerkzeug einfach nicht so viel Spaß.

Aus dem Hof hallt Lachen an sein Ohr.

Jake lugt durch die Rollläden und entdeckt die beiden Jungs von gestern, die kreischend auf dem Klettergerüst herumalbern.

Jake wäscht die Müslischale ab und reckt sich, während er an die Worte seines Vaters denkt, der diesen Sommer zum Sommer der Möglichkeiten erklärt hat. Als wäre dieser Sommer anders als alle anderen. Dad hat die fixe Idee im Kopf, dass jeder Tag als Teenager voller magischer, bedeutungsvoller Abenteuer ist.

Da draußen wartet die ganze weite Welt auf dich. Du kannst tun, was immer du willst, sagt er immer. Nur landen er und Jake nie an irgendwelchen interessanten Orten und haben nicht genug Geld, um wirklich etwas zu erleben. Außerdem ist der „Du kannst tun, was immer du willst“-Gedanke so schwindelerregend, dass er Jake Angst macht.

Es ist nicht so, als würde er nicht immer sein Bestes versuchen – so hat er schon dreimal unbeschadet die Phase als „der Neue“ überstanden. Ohne diesen ersten Schritt hätte er nie neue Freunde gewonnen, aber bisher hat er hier außer den beiden Jungs noch niemanden in seinem Alter gesehen.

Jake sieht aus dem Fenster. Die Fangen spielenden Kinder sind vom Spielplatz verschwunden, und er weiß auch, warum. Am grauen Gestein der Hofmauer lehnen drei Jungen. Sie sehen älter als er aus und obendrein stärker und gemeiner, und irgendetwas sagt ihm, dass er lieber drinnen bleiben sollte. Dass er die drei lieber in Frieden lässt.

Der größte Junge lacht, holt eine goldfarbene Flasche aus der Tasche und schüttet den Inhalt über ein paar Lumpen aus. Die anderen beiden kichern, während sie anfangen, das Gerüst einzuschmieren. Voll Schrecken erkennt Jake, dass es sich anscheinend um Bratöl handelt.

Das Telefon vibriert. Bestimmt Dad. Außer Danny und ein paar Pizzalieferdiensten aus anderen Städten steht nämlich niemand in Jakes Adressbuch.

Dad 9:23 Uhr
Hab einen schönen Tag!

Dad 9:24 Uhr
Halt die Augen nach der Telefonfirma offen. Die Summer funktionieren noch nicht, also kommen sie vielleicht nicht rein.

Seufzend trägt Jake seinen Laptop ins Wohnzimmer, damit er das Fenster im Auge behalten kann. Er entscheidet sich, in der Welt von gestern weiterzuspielen, und beginnt mit der Befestigung seiner Basis, während er wehmütig an seine anderen Projekte denkt. Danny hat bisher nicht geantwortet, aber Jake hat es auch nicht erwartet. Er ist bestimmt noch mit seinen Freunden vom Fußball unterwegs.

Eine Bewegung im Augenwinkel lässt ihn zusammenzucken. Draußen steht ein Mann im Polohemd mit einer wichtig aussehenden Mütze, der ein Klemmbrett in der Hand hält und etwas verloren durch das Tor hinterm Gebäude lugt.

Die Telefonfirma! Endlich WLAN!

Jake springt vom Stuhl und rennt aus der Wohnung und über den Hof, während er versucht, sich zu erinnern, wo er den Mann gesehen hat – links? Nein, rechts. Jake läuft um eine Ecke und stolpert beinahe über seine offenen Schnürsenkel.

FLOMP.

Er ist mit irgendetwas zusammengestoßen. Rückwärtstaumelnd spürt er etwas Weiches an seinem Körper abprallen. Erschrocken blinzelnd sieht er sich um, und sein erster Gedanke ist … Schafe.

„Hey!“

Es ist der Junge von gestern – Tank. Aus der Nähe sieht er noch größer und einschüchternder aus – ein breitschultriger asiatischer Junge mit zurückgegeltem Haar und Lederjacke. Er sieht aus wie ein Türsteher, dessen enormer Körper den gesamten Gassenbereich zwischen den beiden Hochhäusern blockiert.

Tank knurrt und bückt sich nach den weichen Objekten. Jetzt erkennt Jake auch, worum es sich dabei handelt: Küchenrollen, keine Schafe.

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