Lesen Sie hier das Interview, das wir mit dem Autor geführt haben.
Interview mit Matthew Quick
David Granger ist eine Figur, die provoziert und nicht einfach zu greifen ist. Welche Beziehung haben Sie zu David Granger?
Ein komplizierte. David brachte mich zum Lachen, aber er bereitete mir auch Schmerzen. Wie alle, die die ehrbare, aber sehr unbeliebte Aufgabe übernehmen, die Wahrheit zu sagen, macht er das so gut, wie er kann. Dabei weiß er aber genau, dass das Urteil über ihn streng ausfallen wird, weshalb er auch bis zu seinem Lebensende damit wartet. Man kann viel an ihm bewundern. Natürlich hat er auch, wie alle Menschen, Dinge getan, die weniger bewundernswert sind. Am meisten schätze ich an David, dass er wirklich das Richtige tun möchte, indem er sein Geschichte erzählt. Und er ist mutig.
Was hat Sie dazu bewogen, ANSTAND zu schreiben?
Mein Großvater kämpfte im Zweiten Weltkrieg. Mein Onkel im Vietnamkrieg. Diese beiden Männer prägten mich, als ich in einer konservativ-christlichen Familie aufwuchs. Pop Pop und Onkel Pete haben mich aber sogar noch beeinflusst, als ich schon zuhause ausgezogen war und politisch irgendwo weiter nach links als sie gerückt war. Fast alle meine Freunde und Bekannte, auch die im Job, sind liberal. Aber allzu oft höre ich ablehnende Kommentare über Leute wie meinen Großvater und meinen Onkel, denen ich aber eine Menge Dankbarkeit schulde, ganz persönlich und als Bürger der Vereinigten Staaten, weil sie beide in Kriegszeiten dienten. Für die USA haben sie beide viel Schmerz ertragen müssen in diesen Kriegen und sie wurden diese Leiden auch in ihrem gesamten restlichen Leben nicht los.
Wenn Sie David in drei Sätzen fassen müssten, wie würden Sie David beschreiben und vielleicht auch den Kern des Romans?
David ist das Ergebnis eines Krieges oder vielleicht auch ein Nebenprodukt. Die Grausamkeiten von Vietnam, dieser Horror, haben ihn zugleich zu einem besseren Menschen gemacht und pervertiert. David ist ein wandelnder Widerspruch, und das heißt natürlich auch, dass er einfach menschlich ist.
Was hat Sie am meisten überrascht beim Schreiben des Romans?
Ich wurde von Männern erzogen, die dachten, handelten und/oder sprachen wie David Granger, und trotzdem wurde ich eher wie Davids Sohn, Henri. Während des Schreibens überraschte mich, dass ich eher Davids Standpunkte teilte und immer frustrierter mit Henri wurde. Das hat natürlich auch damit zu tun, dass ich Seite um Seite diesem unzuverlässigen Erzähler und dessen Vorurteilen zuhören musste. Aber ich hatte trotzdem nicht damit gerechnet. Dazu kommt auch noch, dass David eine sehr schnodderige Figur ist, während er gleichzeitig regelrecht verzweifelt unsere Sympathie braucht und, ich würde sogar sagen, auch verdient.
Sie schreiben oft über vielschichtige Figuren, die mit herausfordernden Lebenssituationen konfrontiert sind. Gibt es, wenn Sie das sagen können, einen gemeinsamen Nenner Ihrer Heldinnen und Helden; oder vielleicht besser formuliert: Was interessiert Sie an Ihren Charakteren am meisten?
Ich bevorzuge, in der ersten Person Singular zu schreiben, weil jeder Mensch gegen seine/ihre selbst fabrizierten Lügen ankämpft. Diese Lügen sind unverfälscht und direkt in dieser Erzählperspektive; wir können sie so hören, wie sie sind, ohne dass sie, wie in der dritten Person, von einer quasi gottgleichen Stimme redigiert wären. Unser Kampf, unbedingt an diesen Unwahrheiten festzuhalten, der macht uns erst zu Menschen. Wie weit eine Heldin oder ein Held geht, um zu vermeiden, sich mit den persönlichen Wahrheiten auseinanderzusetzen, fasziniert mich. Aber Wahrheit ist hartnäckig. In vielerlei Hinsicht ist die Wahrheit die unbesiegte Gegnerin jeder Geschichte. David Granger hat sein ganzes Leben lang die Wahrheit bekämpft, die über seine Erfahrung in Vietnam, die über seine Frau, seinen Sohn, seine Weltsicht und sein Ego und das hat ihn müde gemacht. Die Wahrheit ist natürlich immer noch da, erbarmungslos unbeeindruckt.
Inwiefern würden Sie ANSTAND als einen zeitgemäßen Roman beschreiben, wenn Sie sich die Vereinigten Staaten dieser Tage anschauen?
Die extrem unzuverlässigen Prognosen vor der letzten Präsidentschaftswahl scheinen mir zu zeigen, dass Amerikaner nicht mit Landsleuten anderer politischer Standpunkte reden. Wir bewegen uns in Blasen. Und darüber hinaus sind politische Differenzen viel zu oft mit Anprangern, Bloßstellen und drohendem Ausschluss auf beiden Seiten des politischen Spektrums verbunden. David Granger hingegen ist bereit, mit allen ins Gespräch zu kommen, das mag ich so an ihm. Wegen seiner Bereitschaft, seine Wahrheit mitzuteilen, egal, welche Folge das hat, werden überraschende Allianzen geschmiedet. Und wir brauchen diese überraschenden Allianzen, jetzt vielleicht mehr als je zuvor.