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Kingdom of Lies

Als Buch hier erhältlich:

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Riskiere alles für dein Königreich ... oder werde von ihm zerstört

Als ihr Land vor dem Abgrund stand, gingen die Menschen einen Deal mit den Göttern ein. Schutz vor denen, die sie einst auszulöschen drohten: die Fae. Im Gegenzug müssen sie einen Teil ihrer selbst opfern, ihre Magie. Tun sie das nicht, bezahlen sie mit dem Tod.

Als Prisca herausfindet, dass sie nicht die ist, für die sie sich einst hielt, ist sie gezwungen, ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Auf der Suche nach Antworten, trifft sie auf einen Fremden, der ihr vertrauter scheint als gedacht. Als dieser sie jedoch in der Wildnis dem Tod überlässt, schwört Prisca Rache. Dabei weiß sie noch nicht, dass nur er ihr helfen kann herauszufinden, wer sie wirklich ist...


  • Erscheinungstag: 22.10.2024
  • Aus der Serie: Kingdom Of Lies
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704587

Leseprobe

Liebe Leserinnen und Leser,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen der Geschichte.

Euer Team von reverie

Für Mum.
Danke, dass du an mich geglaubt hast.

KAPITEL 1

Prisca

Es gab nur wenige Dinge, die beunruhigender waren, als Abus aufrecht und mit aschfahlem Gesicht auf der hohen Plattform unseres Dorfplatzes stehen zu sehen und unmittelbar hinter ihm mehrere schwer bewaffnete Wachen des Königs.

»Zehn Kupfermünzen, dass er sich gleich übergibt.«

Ich stieß meinem Bruder den Ellenbogen zwischen die Rippen. »Halt die Klappe.«

Tibris schenkte mir ein seltenes Grinsen, und der Schraubstock um meine Brust lockerte sich ein wenig angesichts seines Versuchs, meine nervöse Aufmerksamkeit von den Wachen wegzulenken.

»Ich nehme die Wette an«, murmelte sein Freund Natan zu meiner Rechten. Ein schneidender Wind rüttelte am Geäst der Bäume über uns, und Natan zog die Schultern hoch und vergrub beide Hände in den Taschen seines Umhangs.

»Ihr seid furchtbar, alle beide«, bemerkte Asinia, aber ihre Lippen zuckten amüsiert.

Wir standen in der Mitte unseres kleinen Dorfs. Der frostbedeckte Boden glitzerte im dünnen Licht der Wintersonne, und unser Atem stieg als weiße Dunstwölkchen in die eiskalte Luft auf.

Abus hatte unlängst seinen fünfundzwanzigsten Winter erreicht, und heute würde er einen Anteil seiner Magie zurückerhalten.

Ich stand ganz hinten in der Menschenmenge – von hier aus konnte ich alles überblicken: die in Braun und Gold uniformierten Wachmänner des Königs, strategisch zwischen den wartenden Dorfbewohnern postiert. Die Priesterin in ihrem blauen Gewand, die erkennbar die allgemeine Aufmerksamkeit genoss. Den Assessor des Königs, schwarz gekleidet und mit der großen Silberbrosche an der Brust, dem Symbol seiner Macht.

Für sie verschwammen unsere Gesichter vermutlich zu einer konturlosen Masse aus armen, ungebildeten Bauern, die Kleider aus grobem, handgesponnenem Tuch trugen.

Abus war dünn und ruhig, und er rang sichtlich nervös die Hände. Da der Großteil unserer Magie schon wenige Tage nach unserer Geburt den Göttern geopfert wurde, würde der kleine Hauch von Macht, den er heute zurückerhielt, ihm dabei helfen, unser Dorf wirksam zu unterstützen.

Der königliche Wachmann, der in seiner vom Reisestaub bedeckten Uniform direkt hinter Abus stand, sah zutiefst gelangweilt aus. Ganz anders die drei Wachen, die Abus’ Familie umringten; hoch konzentriert und zum Einsatz bereit, hatten sie ihre Hände auf die Griffe ihrer Schwerter gestützt. Sollte sich herausstellen, dass Abus sich den Göttern irgendwie widersetzt hatte, würden sie seine Mutter, seinen Vater und seine Schwester auf der Stelle niedermetzeln. Und danach würde Abus in die Stadt gebracht werden und am Göttertag auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Ich fröstelte und wünschte, ich hätte einen dickeren Umhang angezogen.

Eine der Wachen warf einen Blick zu unserer Gruppe herüber, und mein Frösteln steigerte sich zu einem Ganzkörperschauder. Ich spürte, wie mein Herz beim nächsten Schlag stolperte, und mein Atem kam als flaches Keuchen.

»Na, so kalt ist es nun auch wieder nicht, Prisca.« Natan schaute mich mürrisch an, aber auch sein Gesicht hatte die Farbe verloren. Jeder, der nur einen Funken Verstand besaß, fürchtete die Wachen des Königs.

Tibris, zu meiner Linken, war still, sein Blick kummervoll. Wir sprachen nicht oft darüber, wie es sein würde, wenn ich in zwei Jahren von hier verschwinden musste. Doch es war Zeit, mir über meine Zukunft klar zu werden – und zwar so bald wie möglich.

Denn dieses Königreich bedeutete für mich den Tod.

Der Assessor des Königs trat nach vorn. Die dunklen Augen in seinem markanten Gesicht verengten sich zu schmalen Schlitzen. Mit seinen messerscharfen Wangenknochen, dem harten Mund und den breiten Schultern war er das Inbild eines strengen, autoritären Mannes, der seine Arbeit in jeder Hinsicht genoss.

Diese Arbeit bestand darin, zu überprüfen, ob Abus seine Magie all die Jahre über nicht vielleicht doch heimlich behalten und irgendwie verborgen hatte. Dass er die Fähigkeit besaß, derlei zu erkennen, machte den Assessor – und alle seinesgleichen – für König Sabium unschätzbar wertvoll.

Der Assessor musterte Abus eingehend. Um seine Mundwinkel zuckte ein träges Lächeln, während er die Hände hob und sie dicht vor Abus’ Gesicht hielt.

Nur wer völlig blind war, konnte die Enttäuschung in den Augen des Assessors übersehen, als er schließlich den Kopf schüttelte. Abus war tatsächlich frei von Magie – das Opfer, das er als Säugling gebracht hatte, war von den Göttern angenommen worden. In meiner Brust löste sich ein Knoten, und plötzlich fiel mir das Atmen wieder leichter. Noch nie hatte ein Assessor während einer Gabezeremonie in unserem Dorf einen der Verderbten aufgespürt. Die wurden für gewöhnlich bereits als Kinder entdeckt, sobald sie ihre Kräfte versehentlich zum ersten Mal benutzten. Oder sie wurden gefangen genommen, wenn sie versuchten, noch vorm Erreichen ihres fünfundzwanzigsten Winters zu fliehen.

Hinter Abus warteten drei weitere Dorfbewohner darauf, geprüft zu werden. Alle drei hatten vor Kurzem ihren fünfundzwanzigsten Winter gefeiert, und jeder von ihnen zeigte Anzeichen von Aufregung und Angst, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Jaelle schien kurz davor, in Ohnmacht zu fallen, während ihr Zwillingsbruder Wilkin eine stoische Miene zeigte. Lina konnte vor Ungeduld kaum stillstehen und schien vor lauter Vorfreude fast zu platzen. Sie nickte ihren Großeltern zu, die ganz vorne im Gedränge standen und stolz zu ihr hochlächelten.

Der Assessor des Königs trat einen Schritt zurück, als die Priesterin ihre rechte Hand erhob und wir uns alle verneigten.

»Als Säuglinge schenken wir den Göttern unsere Magie, auf dass sie erfreut sein mögen und unsere Gabe unter ihrer Obhut gedeihen lassen«, begann sie feierlich. »Heute ist der Tag, an dem Abus seine Belohnung erntet und sich die Götter für das Opfer, das er erbrachte, erkenntlich zeigen. Mögen die Götter für alle Zeit über uns wachen und uns vor denen beschützen, die unsere Lebensweise bedrohen.«

Die letzten Worte sprach sie regelrecht mit Abscheu aus, ihr Hass auf die Fae war fast greifbar. Das waren die Kreaturen, deretwegen ein solches Opfer überhaupt erst nötig war. Die Ungeheuer, die gnadenlos Jagd auf uns machen würden, hätte unser König nicht einen Weg gefunden, um das Königreich vor ihrer Grausamkeit zu bewahren.

Die Priesterin hob nun auch ihre andere Hand und präsentierte einen blauen Oceartus-Stein, der vor Macht glühte. Sie richtete ihren Blick auf Abus. »Dein Opfer hat uns allen Glück beschert. Jetzt geben dir die Götter zurück, was dir gehört und was sie gesegnet haben. Und sie werden dich fürderhin segnen, wenn du diese Welt verlässt.«

Der Stein begann heller zu leuchten. Und noch heller. Abus versteifte sich, seine Wangen erröteten. Und dann erlosch der Stein. Er war dunkel geworden. Leer.

Die Erleichterung entlockte mir ein zaghaftes Lächeln. Abus hatte seine Gabe zurückerhalten.

Die Priesterin berührte Abus’ rechte Schläfe, und kurz darauf prangte dort der blaue Kreis, der ihn als jemanden auswies, der das Alter von fünfundzwanzig Wintern erreicht und die Gabezeremonie vollendet hatte. Dieses blaue Mal bedeutete Freiheit. Aus der Menge stiegen vereinzelte Jubelschreie auf.

Als Nächstes waren die Zwillinge an der Reihe. Sie standen nebeneinander auf der Plattform und warteten darauf, geprüft zu werden. Unwillkürlich blickte ich zu den hölzernen Ausgucktürmen hoch, die zwischen den strohgedeckten Dächern aufragten, die den Dorfplatz umgaben. Sie waren eigens für die königlichen Wachen errichtet worden. Die Männer dort oben hatten ihre Armbrüste im Anschlag.

Wut peitschte in mir hoch, scharf und schnell.

Sie brodelte in meiner Brust, prickelte in meinen Fingern, schwelte auf meiner Haut. Normalerweise versuchte ich, sie tief in mir unter Verschluss zu halten, indem ich zähneknirschend unser Schicksal akzeptierte.

Heute jedoch umarmte ich meine Wut wie einen Geliebten.

Die Götter brauchten unsere Magie, um uns vor den Fae zu beschützen. Aber warum musste es so vonstatten gehen?

Warum musste das Opfer, das unser Königreich erbrachte, gleichzeitig Schrecken und Tod bedeuten?

Tibris stieß mich warnend mit dem Ellenbogen an. Ich holte tief Luft, richtete meine Aufmerksamkeit erneut auf die Zeremonie und bemühte mich, eine ausdruckslose Miene zur Schau zu stellen. Jedes ungewöhnlich anmutende Verhalten konnte einen spontanen Besuch des Assessors zur Folge haben. Und dann wären wir beide tot.

Wilkin und Jaelle stiegen von der Plattform herunter, ihr Hauch von Macht war wiederhergestellt. Beinahe tänzelnd ging Lina an ihnen vorbei, voll freudiger Erwartung und bereit, ihre eigene Gabe in Empfang zu nehmen. Die Wachmänner rückten von den Eltern der Zwillinge ab und gruppierten sich um Linas Großeltern.

Die Priesterin griff nach dem Oceartus-Stein, und der Assessor des Königs streckte seine Hand über Linas Kopf aus.

Und dann lächelte er.

Ich spürte, wie mir sämtliches Blut aus dem Gesicht wich. Tibris neben mir erstarrte und begann langsam, sein Gewicht zu verlagern, während er sich unauffällig umschaute. Mein Bruder suchte nach einem Fluchtweg, um den Dorfplatz zu verlassen, aber die Wachen oben auf den Holztürmen würden sofort jeden erspähen, der Anstalten machte, das Weite zu suchen.

»Die Magie des Glücks«, verkündete der Assessor schließlich laut. »Genau hier, wo sie nicht sein sollte.«

Lina runzelte die Stirn. »Ich habe nicht – ich bin nicht …«

»Ruhe!«

Entsetzt schloss ich die Augen. Glück war eine passive Kraft. Es war die Sorte von Magie, von der Lina vielleicht nicht einmal gewusst hatte, dass sie sie ausübte.

Ihre Großeltern begannen kläglich um Gnade zu winseln.

In dem Moment, als ich meine Augen wieder öffnete, rollten ihre Köpfe zu Boden – die königlichen Wachen hatten kurzen Prozess mit den beiden Alten gemacht. Hinter mir begann jemand zu würgen. Zu meiner Linken stieß eine Frau einen gellenden Schrei aus. Ich selbst hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, unfähig zu begreifen, was ich gerade gesehen hatte.

Lina taumelte. Dann begann sie zu schreien.

Das Geräusch zerschnitt die Stille. Und die Menge reagierte sofort darauf.

Jemand rempelte mich von rechts an. Jemand anderes stieß in meine linke Seite. Blanke Panik brach aus. Ein Kind sank auf die Knie nieder, laut nach seiner Mutter heulend, und Tibris hievte es an seinem Leibchen wieder hoch.

Die Wachen des Königs bewegten sich langsam auf Lina zu. Inzwischen war ihr Schreien verstummt, und sie wich, so weit sie nur konnte, auf der hölzernen Plattform zurück.

Einige Hühner waren aus den Käfigen am Rand des Platzes ausgebrochen und flatterten den Wachen direkt vor die Füße. Die Männer gerieten ins Stolpern und schlugen der Länge nach hin.

Die Gabe des Glücks.

Weiter vorn wandte der Dorfmetzger sich um, machte Anstalten zu fliehen. Der erste Pfeil bohrte sich zwischen seine Schulterblätter. Der zweite und dritte traf ihn ins Rückgrat, woraufhin er regungslos zu Boden sank.

»Keiner bewegt sich!«, brüllte einer der Wächter über unseren Köpfen.

Die ganze Menschenmenge schien zu erstarren. Rundherum sah ich nur aufgerissene Augen und entsetzte Gesichter. Ich richtete meinen Blick wieder auf die Plattform. Heiße Galle kroch mir die Kehle hinauf.

Der Assessor fuhr herum und schlug Lina mit dem Handrücken quer über das Gesicht. Sie stürzte auf ihre Knie, und er stieß seinen Fuß gegen ihren Rücken. Dann winkte er einen Wachmann heran; umgehend eilte der Mann die Stufen hinauf, zerrte Lina hoch und schloss ihr schwere Eisenfesseln um die Handgelenke.

Linas Kopf baumelte schlaff vor ihrer Brust. Sie war offensichtlich bewusstlos. Ihre einzigen Verwandten waren tot, und sie hatte keinen Ehemann, der für sie kämpfen konnte. Nicht ohne Grund betrug das gesetzlich festgelegte Heiratsalter fünfundzwanzig Winter.

Der Assessor wandte sich an die Menge. »Die Verderbten, die entweder von den Göttern abgewiesen wurden oder ihnen ihre Magie vorenthalten wollen – die also den Weg der Blasphemie statt den der Wahrheit wählen –, müssen für ihre Sünden im Feuer brennen. Unser König ist fest entschlossen, sein Reich mit allen Mitteln vor den Fae zu schützen, und hat deshalb jüngst ein Kopfgeld ausgelobt.«

Die Priesterin nickte zustimmend. »Hundert Goldmünzen für denjenigen, der uns einen der Verräter nennt.«

Einige Schritte von mir entfernt schnappte eine Frau hörbar nach Luft. Ich konnte es ihr nicht verdenken, hundert Goldmünzen auf die Hand, und sie müsste zeit ihres Lebens nie wieder einen Finger krumm machen.

Der Assessor ließ seinen vor Eifer glühenden Blick über die Menge schweifen, als könnte er auf diese Weise weitere Magie aufspüren, die dort schlummerte, wo sie nicht hingehörte.

Bestimmt konnte er das Pochen meines Herzens hören, den Angstschweiß riechen, der auf meiner Haut klebte. Die Welt um mich herum schrumpfte zusammen, bis ich nur noch sein Gesicht wahrnahm.

Er trat hinunter in die Menge, die sich vor ihm teilte. Es schien, als käme er direkt auf mich zu, als wüsste er Bescheid.

Tibris schob sich zwischen mich und den Assessor. Er ließ die Bewegung ganz natürlich aussehen, so als würde er sich aufgeregt vordrängeln, um Abus als Erster zu gratulieren – und brachte mich dabei aus dem Gleichgewicht. Ich stolperte rückwärts, blieb mit dem Fuß im Saum meines Umhangs hängen und prallte gegen eine harte Männerbrust.

Ein Paar starker Arme fingen mich auf. Der Mann hielt mich einen Moment lang fest. Ohne uns zu rühren, starrten wir beide auf den Assessor.

Doch der war bereits durch die Menge hindurchgeschlendert, vermutlich, um nun gleich seine Reise zum nächsten Dorf fortzusetzen.

Als ich zu dem Mann hochschaute, der mich aufgefangen hatte, stockte mir der Atem.

Die Sonne fiel ihm in die Augen, in denen leichte Verärgerung aufblitzte. Der Rest seines Gesichts war hinter einem schwarzen Wollschal verborgen, und die hochgeschlagene Kapuze seines Umhangs verdeckte sein Haar. Ich vermochte weder zu erkennen, wie alt er war, noch ob er glatt rasierte Wangen hatte. Ich konnte rein gar nichts über ihn sagen.

Und trotzdem kannte ich ihn.

Mindestens einmal im Monat träumte ich von einem Mann mit grünen Augen. Nein, sie waren nicht einfach nur grün. Das Wort beschrieb sie nicht einmal annähernd. Diese Augen waren unvergesslich, von einem dunklen und doch lebendigen Grün, durchsetzt mit Silbersprenkeln, die das Licht anzuziehen schienen. In meinen Träumen blickte der Mann aus einiger Entfernung zu mir zurück, als würde er geduldig warten. An manchen Tagen ließ der Traum mich besorgt zurück. An anderen empfand ich eine tiefe Zufriedenheit und fühlte mich beinah … geborgen.

»Pass gefälligst auf, wo du hintrittst«, blaffte er und stellte mich wieder aufrecht hin.

»Wie reizend«, murmelte ich. »Also, danke für …«

Aber der Mann hatte sich schon wieder weggedreht und ging davon.

Ich starrte dem kalten, ungehobelten Grobian kurz hinterher und schüttelte dann meine Verblüffung ab. Natürlich kannte ich ihn nicht. Die Ereignisse des heutigen Morgens hatten mich völlig durcheinandergebracht. Ich drehte mich zu Tibris um, der mit angespanntem Blick beobachtete, wie die Wachen von den Holztürmen herunterkletterten.

»Pris? Alles in Ordnung?« Asinia drückte meine Schulter. Ihr Gesicht war blass, die Augen waren dunkel, die Lippen blutleer.

Wahrscheinlich sah ich kein bisschen weniger erschüttert aus. Obwohl grundsätzlich stets die Möglichkeit bestand, dass einer der Verderbten aufgespürt würde, hatte niemand mit dem gerechnet, was wir heute hier erlebt hatten.

»Wird schon wieder«, sagte ich. »Und du?«

Meine Freundin antwortete nur mit einem Nicken, und einen Moment lang starrten wir einander stumm an. Irgendwo hinter uns lachte jemand. Das Geräusch, so durch und durch unangebracht, schnitt durch die bedrückte Menge, und Asinia zuckte zusammen. Wir drehten uns gleichzeitig um.

Abus, dessen Gesicht vor Erleichterung glühte, schloss gerade seine Familie in die Arme. Seine Mutter lächelte, während sein Vater ihm anerkennend auf die Schulter klopfte. Nun konnte die Familie ihre fünf Silbermünzen entgegennehmen – ein großzügiges Geschenk unseres Königs, das sie sicher gut gebrauchen konnten. Es gehörte zur Tradition, dass das gesamte Dorf zu dem anschließenden Fest auf dem Dorfplatz eingeladen war, und jeder Bewohner steuerte so viel an Essen bei, wie er entbehren konnte. Abus’ Vater hatte es sogar geschafft, im Tausch ein Schwein zu ergattern, das seit dem frühen Morgen am Drehspieß über der Feuergrube garte. Der Duft des knusprigen Bratens wehte durch das Dorf, drang durch offene Fenster und unter geschlossenen Türen hindurch.

Bei dem Gedanken an Essen zog mein Magen sich vor Unbehagen zusammen.

Tibris schaute mich an und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Natan bahnte sich bereits einen Weg zu uns durch.

»Puh, das war … heftig. Wer bleibt noch für das Fest? Also, ich muss mir jetzt erst mal einen kräftigen Schluck genehmigen.«

Die Sonne war gerade erst aufgegangen, aber ich würde wetten, dass bis zum Mittag das halbe Dorf stockbetrunken sein würde.

Tibris blickte dem Richtung Wein strebenden Natan noch kurz hinterher, dann wandet er sich wieder zu mir um. »Du solltest nach unserer Mutter schauen«, bemerkte er bedächtig. »Ich werde hierbleiben.«

Ich verstand, was er damit sagen wollte. Ihm war nicht im Geringsten nach Feiern zumute. Wahrscheinlich wäre er jetzt am liebsten allein. Aber einer von uns musste dableiben und so tun, als würde er mitfeiern, oder unsere Familie würde unliebsame Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ehrlich gesagt war mir schleierhaft, wie man nur wenige Schritte von der Stelle entfernt, wo Linas Großeltern soeben erst ihr Leben gelassen hatten, fröhlich sitzen und Essen in sich hi­neinschaufeln konnte. Sowohl ihre Großmutter als auch ihr Großvater waren bei uns im Dorf äußerst beliebt gewesen, und doch hatte man ihre Leichen bereits weggeschafft, ihr Blut fortgespült, so als hätten die beiden nie existiert. Und schon bald würde sich dieser Platz mit lautem Lobgesang füllen, wenn unsere Nachbarn die Götter dafür priesen, dass einer der Verderbten entdeckt und aus unserer Mitte entfernt worden war.

Und das wollte mein Bruder mir ersparen. Dankbarkeit durchflutete mich. »Du hast recht. Ich sehe nach, ob sie wohlauf ist.«

Es war nicht so ohne Weiteres möglich, eine offizielle Befreiung von der Gabe- und Entnahmezeremonie zu bekommen. Meiner Mutter war nur eine erteilt worden, weil ihre spontan einsetzenden Visionen auf lästige Weise den öffentlichen Frieden stören konnten.

»Warte, ich begleite dich«, sagte Asinia. »Ich muss nur noch schnell meiner Mutter Bescheid geben.«

Sie eilte davon, und mein Blick traf auf den von Thol, der in der Nähe von Abus’ Familie stand, kernig gut aussehend wie immer. Er schenkte mir ein Lächeln, und trotz meines Magengrimmens wurden meine Wangen heiß. Normalerweise machte mich die Gegenwart eines Mannes nicht weiter verlegen, aber jedes Mal, wenn ich Thol erblickte, spürte ich ein Flattern wie von zarten Flügeln in meiner Brust. Als seine Schwester Chista sich zu ihm beugte, um ihm etwas zuzuflüstern, wandte ich mich rasch ab, um ihn nicht weiter anzustarren.

Nicht weit von uns entfernt unterhielt Kreilor sich mit einigen seiner Freunde, und so laut, wie er sprach, wollte er offenbar, dass das ganze Dorf das Gespräch mitbekam.

Tibris schüttelte nur den Kopf und ging davon, vermutlich, um sich ebenfalls einen Becher Wein zu holen. Er hatte Kreilor noch nie leiden können, was ich ihm nicht verdenken konnte. Von allen Männern unseres Dorfes wurde verlangt, dass sie Kämpfen lernten, um jederzeit bereit zu sein, gegen die Fae zu marschieren, falls unsere Grenzen fielen. Schon von klein auf wurden die Jungen gedrillt. Die einzige Möglichkeit, von dieser Ausbildung entbunden zu werden, war, sich in den Dienst der Götter zu stellen. Und genau das hatte Kreilor getan – er wurde Akolyth und ging nun unserer Dorfpriesterin als Lehrling zur Hand.

»Die Priesterin hat mir das Innere des Heiligtums gezeigt«, prahlte er jetzt, ein selbstgefälliges Grinsen im Gesicht.

Unwillkürlich hielt ich den Atem an.

Wenn Kreilor ins Innere des Heiligtum gelangen konnte, hatte er auch Zugang zu den leeren Oceartus-Steinen. Vielleicht konnte ich mich ihm ja heimlich an die Fersen heften und mir einen … leihen.

Die Gesänge der Priesterin kannte ich alle auswendig. Vielleicht wäre es ja möglich, mir die Steine zunutze zu machen? Mein Puls klopfte schneller, meine Gedanken schwärmten in hundert verschiedene Richtungen aus.

Einer seiner Freunde schnaubte höhnisch. »Du durftest einen so heiligen Ort betreten?«

Kreilor blähte die Brust auf. »Natürlich durfte ich das. Immerhin werde ich in den nächsten drei Jahren Zeremonien abhalten.«

Bei dem Gedanken erschauderte ich. Schon in unserer Kindheit war Kreilor ein Tyrann gewesen. Bettler verhöhnte er, und er hatte das einzige Amt gewählt, das ihn davor bewahrte, die Ausbildung zusammen mit denen zu durchlaufen, die er als seiner nicht ebenbürtig ansah. Dabei nutzte er skrupellos das Vermögen und die Reputation seiner Familie aus, um zu bekommen, was er wollte.

Thol schlenderte an der Gruppe vorbei und zog sofort Kreilors Aufmerksamkeit auf sich.

Die beiden hassten einander. Ihre Väter waren enge Freunde, wodurch ihnen, als sie aufwuchsen, alle Privilegien in unserem Dorf zuteilgeworden waren. Aber während Thol das Herz am rechten Fleck hatte, war Kreilor von dem Drang besessen, sich ständig zu beweisen.

Asinia kam zurück und hakte sich bei mir unter. »Ziemlich peinlich«, kommentierte sie leise, als Thol Kreilor demonstrativ die kalte Schulter zeigte. »Komm, lass uns zu deiner Mutter gehen.« Sie zog mich sanft mit, und wir gingen in Richtung meines Zuhauses. Meine Stiefel schlurften über das Kopfsteinpflaster, aber alles, was ich wahrnahm, war das (ausgewaschene) Blut von Linas Großeltern, das sich in den Ritzen zwischen den Steinen sammelte.

Falls ich es nicht schaffen sollte, unserem Dorf zu entfliehen, würde eines Tages ich diejenige sein, die da oben auf der Plattform stand und mitansehen musste, wie man Tibris und meine Mutter niedermetzelte und ihre Leichen wie Abfall abtransportierte. Wie würde Asinia wohl reagieren, wenn sie das wüsste?

Wenn sie mein Geheimnis für sich behielte und der Assessor dies herausbekäme, würde sie ebenfalls sterben.

Wir legten den größten Teil des Weges schweigend zurück. Schließlich holte Asinia tief Luft.

»Das hat vorhin zwischen Thol und dir ja ziemlich geknistert«, sagte sie.

Offenbar wollte sie mich aufmuntern, und ich beschloss, mich darauf einzulassen, um ihr eine Freude zu machen. »Ach, das war doch nur ein Lächeln. Irgendwie kommt mir in seiner Nähe jedes Mal die Fähigkeit zu sprechen abhanden.«

»Gut möglich, dass du kein Händchen fürs Flirten hast, aber ich bin darin Expertin. Und deshalb erkenne ich auf einen Blick, wenn ein Mann interessiert ist.«

»Hör schon auf, mir die Sache schönzureden. Das ist nur noch deprimierender.«

Sie drückte meinen Arm. »Das tue ich nicht. Du wirst schon noch sehen.«

Wir nahmen unsere übliche Route zu mir nach Hause, vorbei an den stattlichen, geräumigen, warmen Häusern hinter massiven Eisentoren, die sie vom Rest des Dorfes abschotteten. Wie es wohl war, in einem dieser Häuser zu wohnen? Nicht jede Münze dreimal umdrehen oder im Winter neben der Feuerstelle kauern zu müssen, weil die Scheibe im Schlafzimmer zerbrochen war?

»Prisca?«

»Tut mir leid. Ich träume vor mich hin. Was machst du nach dem Fest?«

»Ich werde meiner Mutter ein bisschen zur Hand gehen.«

Asinias Mutter war Schneiderin, und auch ihrer Tochter war die entsprechende Begabung in die Wiege gelegt worden.

Ich schielte zu Asinia hinüber. Wir beide hatten sehr unterschiedliche Träume. Während ich nichts sehnlicher wollte, als hierbleiben zu können, sehnte meine Freundin sich nach einem Leben in der Stadt. Unabhängig davon, wie viel Magie sie in zwei Wintern, wenn sie alt genug wäre, zurückbekam, hoffte sie, dass sich ihr Nähtalent herumsprechen und jemand aus der Stadt sie zu sich holen und einstellen würde.

Eine nicht unberechtigte Hoffnung, denn niemand verstand sich so aufs Nähen und Entwerfen wie Asinia.

Doch ganz egal, wohin es mich am Ende verschlagen würde, ich würde einen Weg finden, um Asinia wissen zu lassen, dass ich in Sicherheit war. Vielleicht könnten wir sogar beginnen, einander Briefe zu schicken, sobald sie mir erst einmal verziehen hätte. Der Gedanke, Asinia nicht mehr jeden Tag zu sehen, versetzte mir einen Stich in die Brust. Könnte sie mir jemals eine solche Unaufrichtigkeit vergeben?

»Wie wäre es, wenn du morgen Abend zu uns zum Essen kommst?«, fragte sie.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht unbehaglich das Gesicht zu verziehen. Asinia und ihre Mutter waren zwar nicht ganz so knapp bei Kasse wie wir, aber sie hatten auch kein Essen zu verschenken. Trotzdem versuchten sie immer, mich satt zu kriegen.

»Asinia.«

»Meine Mutter liebt dich, Prisca. Sie weiß, wie die Dinge bei euch stehen, seit dein Vater tot ist.«

»Ich überleg’s mir.«

Asinia zog eine Augenbraue hoch, so wie sie es immer tat, wenn sie genau wusste, was ich dachte. »Deine Mutter würde für mich das Gleiche tun.«

Sie winkte mir noch einmal kurz zum Abschied, dann bog sie wieder Richtung Dorfplatz ab. Das letzte Stück des staubigen Pfades legte ich allein zurück und schloss die Tür zu unserem Haus auf.

»Mama?«

Unser Haus war still.

Unnatürlich still. Unheimlich still.

Ich stürmte in das Zimmer meiner Mutter und sank neben ihr auf die Knie. Ihre Augen rollten in die Höhlen zurück, und sie schnappte nach Luft.

Meine Mutter war mitten in einer Vision.

KAPITEL 2

Lorian

»Fühlt sich an wie eine Falle«, murmelte Rythos und verlagerte sein Gewicht im Sattel, während die Sonne über seine dunkle Haut tanzte. Er duckte sich, um einem besonders tief hängenden Ast auszuweichen. Links von uns erhoben sich mächtige Berge, deren zerklüftete, schneebedeckte Gipfel scharf in den Himmel ragten, als wollten sie ihn durchstoßen.

»Das ist definitiv eine Falle«, bestätigte Marth finster. Er zog den Umhang fester um sich, sein wachsames Auge fest auf die Ruinen der Stadt vor uns gerichtet.

Die Verfluchte Stadt war einst die Hauptstadt von Eprotha ge­wesen. Vor Hunderten von Jahren, als die Menschen in das Gebiet eindrangen, das heute als der Verödete Kontinent bekannt war, ahnten sie nichts von der Vergeltung, die sie dafür würden erleiden ­müssen.

Nun war Lesdryn, auf der anderen Seite des Königreichs, die Hauptstadt. Nach so vielen Tagen im Sattel würde uns allen ein anständiger Kampf eigentlich gut gelegen kommen, aber wir durften keine Zeit vergeuden. Um rechtzeitig zu unserem Treffen zu kommen, war höchste Eile geboten, und wir hatten bereits einen anstrengenden Ritt aus einem der kleineren Dörfer im Osten hinter uns.

Mir war unwohl in meiner Haut. Das hier war mit größter, absoluter Sicherheit eine Falle.

Cavis sagte nichts, wie üblich. Seine Frau hatte erst vor Kurzem ihr erstes Kind bekommen, und er verzehrte sich vor Sehnsucht nach seiner Familie. Trotzdem hatte er sich noch mit keinem Wort beklagt. Er wusste – wir alle wussten –, wie entscheidend die nächsten Wochen sein würden.

»Was meinst du, Cavis?«, fragte ich. »Glaubst du, dass die Steinhexen sich ausnahmsweise ehrenhaft verhalten werden?«

Er lächelte schmallippig. »Selbst Männer wie wir sollten sich vor der Verfluchten Stadt in Acht nehmen. Und vor den Kreaturen, die dort herumlungern.«

Nur wenige wussten, dass die Verfluchte Stadt inzwischen bewohnt war. Und noch weniger Leute setzten je einen Fuß in diesen Teil des Königreichs. Und doch waren wir nun hier und standen vor den einstigen Toren der zerstörten Stadt.

»Kommt raus, ihr Hexen«, befahl ich.

»Kommt herein«, erwiderte eine knarzende Stimme.

Entschieden schüttelte ich den Kopf. Wir würden gewiss keine in Trümmern liegende Stadt betreten, wenn die Steinhexen dem Schutt befehlen konnten, uns lebendig zu begraben. »Wir haben eine Abmachung. Missachtet sie, und ihr werdet die Konsequenzen schmerzhaft zu spüren bekommen.«

Ich ließ einen Hauch meiner Macht frei. Vor allem deshalb, weil ein Hauch alles war, was ich zur Verfügung hatte. Zähneknirschend hob ich eine Hand, meine Magie glitzerte im Sonnenlicht. Bald, bald schon würde ich meine Macht in vollem Umfang zurückerlangen.

»Du wagst es, uns zu drohen?«

Rythos’ Pferd wurde unruhig und begann auf der Stelle zu tänzeln. Er sprang ab und zog sein Schwert. »Zwingt uns nicht, reinzukommen.«

»Sie wollen, dass wir reingehen«, grummelte Marth. »Genau darum geht es ja.«

Wir hatten keine Zeit für solche Spielchen. Ich ließ meine Macht in den nächstgelegenen Trümmerhaufen einschlagen, der allem Anschein nach früher einmal ein Wachturm gewesen war. Dem grellen Schrei zufolge, der daraufhin ertönte, hatte sich eine der Steinhexen darin versteckt, um uns auszuspionieren. Ich lächelte. Hoffentlich würde das die Zeit verkürzen, die wir an diesem Ort verbrachten.

Aus dem Trümmerberg tauchten mehrere Hexen auf. Ihre Bewegungen waren langsam und schwerfällig, ihre graue Haut von Falten durchzogen und trocken. Die Alte in der Mitte trug eine Krone aus Turmalin auf dem Haupt.

Ich schwang mich aus dem Sattel und wartete geduldig, dass sie näher kamen. In der Ruhe lag die Kraft, das wusste ich schon seit Langem. Rythos schwang träge sein Schwert in der Hand. Ich warf ihm einen mahnenden Blick zu, woraufhin sein Mund sich zu einem hämischen Grinsen verzog. Trotz all der Jahre, die ich ihn nun schon kannte, wusste ich immer noch nicht, warum er die Hexen so verabscheute.

»Die Bedingungen unserer Abmachung haben sich geändert«, zischte die Königin. »Wir verlangen mehr Gold.«

Neben mir sprang Galon von seinem Pferd, die Entrüstung stand ihm ins Gesicht geschrieben. In unserer Welt waren einmal getroffene Vereinbarungen unumstößlich. Unverzüglich gaben Marth und Cavis uns Rückendeckung, aber ich kannte beide Männer gut genug, um zu ahnen, dass sie klammheimlich noch immer auf einen Kampf hofften.

»Und ihr glaubt, dass wir uns euren Forderungen einfach so beugen werden?«

Die Königin lächelte – eine groteske Zurschaustellung bröckliger Steinzähne. »Vor allem glaube ich, dass ich weiß, wozu ihr diese hübsche kleine Zutat hier braucht.« Triumphierend hielt sie eine Glasphiole in die Höhe, die das von uns so dringend benötigte spezielle Moos enthielt. »Und wenn ich nicht irre, ist Geheimhaltung absolut unabdingbar. Denn wenn der König von euren Plänen erfährt, werdet ihr alle lichterloh brennen

Ich starrte die Hexenkönigin so lange an, bis sie den Blick senkte. Sofort darauf hob sie ihn wieder, doch zu spät: Wir wussten beide, wer hier die Oberhand hatte.

Ich lächelte kühl. »Glaubt ihr ernsthaft, in diesem verfluchten Land, das einst eine Stadt war, seid ihr sicher? Denkt ihr, Sabium wird seine Wachen nicht hierherschicken, mit all der ihnen zur Verfügung stehenden Magie, um diese Steine in Staub zu verwandeln?«

Sie musterte mein Gesicht, und eine ihrer Schwestern flüsterte ihr hastig etwas zu. So heftig die Nervosität auch in meinem Kreuzbein pochte, ich bewahrte eine ausdruckslose Miene. Das war der wackligste Teil unseres Plans. Ohne die Kooperation der Hexen und das Moos in der Hand der Königin würde ich meine Rache nie erlangen.

»Wir werden der ursprünglichen Abmachung zustimmen«, knarzte die Königin schließlich.

»Warum also erst unsere Zeit verschwenden?«, murrte Rythos. Die Hexe ignorierte ihn. Er stieg aus dem Sattel und näherte sich ihr, das Schwert weiterhin gezückt.

Marth ging mit ihm mit. Rythos streckte eine Hand nach dem Moos aus, Marth bot die Münzen dar. Wir alle harrten in angespannter Stille aus. Eine falsche Bewegung, und der Boden wäre mit Leichen übersät. Wobei ich überhaupt nichts dagegen hätte, der Steinhexe das kleine Fläschchen aus den kalten, toten Fingern zu reißen. Insgeheim sehnte ich mich sogar nach diesem Kampf. Ohne den Blick von mir zu wenden, gab die Königin ihrer Untergebenen ein Zeichen. Die Phiole mit dem Moos landete auf Rythos’ Handteller, die Münzen wurden Marth aus der Hand gerissen, und der Handel war erledigt.

Höhnisch grinsend zogen sich die Hexen in ihre Steinstadt zurück. Der erste Teil unseres Plans war geglückt. In mir brodelte eine grimmige Entschlossenheit. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich noch in dieser Sekunde in den Krieg gezogen. Doch der nächste Schritt unseres Vorhabens würde sogar noch mehr Zeit erfordern.

Ein Falke segelte über unsere Köpfe hinweg. Mein Bruder hatte darauf bestanden, den freiheitsliebenden Vogel darauf abzurichten, Botschaften zu überbringen. Hoffentlich enthielt das winzige Stück Pergament, das an sein Bein gebunden war, gute Nachrichten, damit wir die zweite Phase unseres Plans in Angriff nehmen konnten.

Der Vogel landete auf Marths Schulter, in dessen blondem Haar sich die scharfen Krallen verfingen. Grimassierend löste Marth die Schnur, mit der das Pergament befestigt war.

»Unser Kontakt sagt, dass wir ihn an der gromalianischen Grenze treffen sollen.«

Das war das Gegenteil von guten Nachrichten. Alle meine Muskeln spannten sich an. »Das ist genau die entgegengesetzte Richtung. Das bedeutet, dass wir an der Stadt vorbeimüssen.«

Marth seufzte tief. »Ich weiß. Laut deinem Bruder sagt sein Kontaktmann, dass er es momentan nicht riskieren kann, nach Eprotha zu reisen. Die Sicherheitsmaßnahmen sind zu streng.«

»Das wird uns mindestens zwei Reisetage kosten.« Wenn wir zu lange unterwegs wären, würde uns später weniger Zeit in der Stadt selbst bleiben – und damit weniger Zeit für die Suche nach dem, was sie uns weggenommen hatten. Und diese Suche musste mit Sorgfalt und methodisch erfolgen. Doch ohne die andere Phiole würden wir nicht einmal in die Nähe des Schlosses gelangen.

Wir mussten das Risiko eingehen.

Ich zwang mich dazu, tief durchzuatmen. Meine Rache war zum Greifen nah, alle meine Pläne entfalteten sich hoffnungsgemäß. Wenn dies das größte Übel war, das die kommenden Wochen für uns bereithielten, würde ich es mit Kusshand akzeptieren.

Marth reichte mir ein zweites Stück Pergament, das der Falke ebenfalls mitgebracht hatte.

Ich faltete es auseinander und überflog die Zeilen.

Lieber L,

ich wurde von meinen Quellen informiert, dass du gezwungen bist, zur Grenze zurückzureisen, um das Päckchen in Empfang zu nehmen. Ich kann förmlich hören, wie du mit den Zähnen knirschst, aber es geht nicht anders. Wenn du dich beeilst, wirst du es noch rechtzeitig zu eurem Treffen schaffen.

Riniana hat nach dir gefragt. Soll ich ihr ausrichten, dass du an sie denkst?

Dein großer, äußerst geduldiger Bruder,

C

Kopfschüttelnd nahm ich den Federkiel, den Marth mir hinhielt, und kritzelte meine Antwort.

Lieber C,

ich vermute, du findest die Situation mit Riniana höchst amüsant. Doch wir können nicht alle glücklich verheiratet und krankhaft verliebt sein. Die meisten von uns würden das auch gar nicht wollen. Wir machen uns nun auf den Weg zu dem Päckchen. Ich schlage allerdings vor, dass du beim nächsten Mal, wenn du ein solches Treffen arrangierst, in deine Überlegungen miteinbeziehst, mit wem wir es zu tun haben.

Dein jüngerer, weitaus attraktiverer Bruder

L

»Wir brechen sofort auf«, sagte ich. »Nichts darf uns jetzt aufhalten.«

Um die Zeit wettzumachen, die uns nun verloren ging, würden wir die ganze Nacht ohne Pause durchreiten müssen, und zwar in dieselbe Richtung, aus der wir gerade gekommen waren. Bei dem Gedanken an die vergeudeten Stunden biss ich verärgert die Zähne aufeinander.

Marth nickte. Rythos musterte mit zusammengekniffenen Augen die Steintrümmer hinter uns. »Also wenn ihr mich fragt, reite ich lieber durch den Wald, als mich irgendwo in der Nähe dieses Ortes aufzuhalten.«

***

Prisca

Mit zitternden Händen griff ich nach einem Kissen und schob es meiner Mutter unter den Kopf. Außer darauf zu achten, dass sie sich nicht verletzte, gab es nichts, was wir tun konnten, wenn ihre Visionen von ihr Besitz ergriffen.

Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. »Es tut mir so leid«, flüsterte ich. »Wir hätten dich nicht allein lassen dürfen.«

Nach einer langen Weile ließ die Anspannung in den Gliedern meiner Mutter nach. Ich strich ihr das graue Haar aus dem Gesicht, so wie sie es immer bei mir getan hatte, wenn ich krank oder betrübt war.

»Prisca?« Ihre Stimme klang matt, ihre Bewegungen waren träge, fast wie im Halbschlaf. Für einen kurzen Moment schloss ich erleichtert die Lider. Bei jedem dieser Anfälle fragte ich mich bang, ob nun der Tag gekommen war, an dem sie sich unwiederbringlich in einer Vision verloren hatte, und dieser Funke des Wiedererkennens nie wieder aufglimmen würde.

»Ich bin hier, Mama. Soll ich dir in dein Bett helfen?«

»Ein paar Stunden Schlaf. Nur ein paar.«

»Ist gut«, murmelte ich besänftigend.

Nur die Götter allein wussten, warum sie meiner Mutter Visionen auferlegten, die aus heiterem Himmel über sie hereinbrachen und zumeist von Menschen handelten, die sie nicht einmal kannte. Einmal erzählte sie mir, dass ihre Kraft in jüngeren Jahren durchaus nützlich gewesen war, denn sie hatte die reichsten Leute des Königsreichs angezogen, die Rat für ihre Eheverträge und Geschäfte suchten. Aber dann waren die nützlichen Visionen nach und nach verschwunden. Jetzt endeten diese Anwandlungen meist darin, dass meine Mutter zitternd auf dem Boden lag, ausgelaugt von einer Vision, die sie nicht verstehen konnte – oder wollte.

Kaum berührte der Kopf meiner Mutter die Matratze, fielen ihr die Augen zu, und ich verbrachte den Rest des Nachmittags damit, am Fenster zu sitzen und mir vorzustellen, wie Lina allein und verängstigt hinten auf einem vergitterten Wagen saß. Nie würde ich dieses aufgeregte, hoffnungsvolle Grinsen vergessen, das ihr Gesicht auf dem Weg zur Prüfung erhellt hatte. In meinen Augen brannten Tränen, die ich nicht mehr zurückhalten konnte.

Lina hatte nicht einmal gewusst, dass sie ihre Macht noch besaß. Darum war ihr auch nicht klar gewesen, dass sie rechtzeitig hätte das Weite suchen müssen. Ich wischte mir übers Gesicht.

»Prisca?«

Meine Mutter war aufgewacht. Zum Glück war wieder etwas Farbe in ihr Gesicht zurückgekehrt.

»Hilf mir, mich aufzusetzen, Schatz.«

Ich gehorchte. Dabei stellte ich fest, dass meine Mutter einiges an Gewicht verloren hatte. Ich musste heute Abend darauf achten, dass sie genügend aß.

»Das war eine von den schlimmen«, sagte ich leise.

Ihr verwaschener Blick wurde klar, und sie nickte. Dann legte sie mir eine Hand auf die Wange.

»Ich liebe dich so sehr. Und alles, was ich getan habe, habe ich nur getan, um dich zu beschützen.«

Mir stockte das Herz, als ich sah, wie sie mich anschaute. Als ob sie bereits um mich trauerte.

»Ich weiß, Mama. Glaub mir, das weiß ich. Aber jetzt wollen wir dich erst mal ein bisschen herrichten, bevor Tibris nach Hause kommt und ein Riesentheater macht.«

Ein Lächeln erhellte ihre Züge. »Er macht immer ein Riesentheater. Es gefällt ihm.«

Ich tupfte ihr den Schweiß vom Gesicht, setzte sie mit einer Tasse Tee an den Tisch und wärmte etwas von der Suppe auf, die sie gestern gekocht hatte.

»Ich hab dich sehr lieb«, murmelte meine Mutter. »Ich möchte, dass du das weißt.«

Was immer sie in dieser Vision gesehen hatte, musste sie sehr erschüttert haben. Es sah ihr gar nicht ähnlich, so emotional zu sein. »Ich hab dich auch lieb. Hey, was soll das? Alles wird gut.«

Eine einsame Träne lief ihr über die Wange. Als ich sie fortwischen wollte, hielt sie meine Finger fest.

»Du weißt, dass du nicht hierbleiben kannst, Prisca.«

Meine Brust fühlte sich hohl an. Dass sie es so offen ansprach … Ich musste in ihrer Vision aufgetaucht sein.

»Was hast du gesehen, Mama?«

Schweigen.

Ich holte tief Luft. »Ich weiß ja, es war immer geplant, dass ich fortgehe, aber ich habe eine Idee.«

Meine Mutter schüttelte nur den Kopf. »Was dir auch immer vorschwebt, es wird nicht funktionieren.«

Die Entschiedenheit, mit der sie das sagte, versetzte mich in Wut.

Ich konnte nicht einfach aufgeben und fliehen. Wenn ich weglief, würde ich für den Rest meines Lebens auf der Flucht sein. Wie sollte ich mich mit solch einem Schicksal je abfinden können?

Das konnte ich nicht.

Das wollte ich nicht.

Ich würde nach jeder Hoffnung greifen, die ich fand, egal, wie klein der Schnipsel auch sein mochte.

Kreilor hatte Zugang zu den Oceartus-Steinen. Ich könnte ihm folgen und auskundschaften, wo sich der Eingang befand, herausfinden, wie man hineinkam und dann einen Stein entwenden.

Ich atmete tief ein und stieß die Worte in einem Schwall hervor. »Was, wenn ich meine Magie vorübergehend in einem der Steine einlagern könnte? Nur bis zur Gabezeremonie? Der Assessor würde feststellen, dass ich keine Magie besitze, und ich könnte …«

»So funktioniert deine Magie nicht.«

Ich erstarrte. Meine Magie funktionierte überhaupt nicht. Außer in den denkbar ungünstigsten Momenten. Aber diesmal wäre es anders. Es musste einfach anders sein.

Der Blick, mit dem meine Mutter mich bedachte, ließ erkennen, dass in ihrer Brust Belustigung und Verdruss miteinander rangen. »Du hast die Sturheit deines Vaters geerbt. Sie wird dir nützen – wenn sie dir das Leben nicht schwerer macht, als es sein müsste.«

Vor Kummer wurde mir die Kehle eng. Immer noch wachte ich morgens manchmal auf und glaubte, Papas Stimme zu hören. »Alles wird gut werden. Du wirst sehen.«

Sie nickte nur. Aber ihre Miene war immer noch bedrückt.

Als Tibris eintraf, war meine Mutter gerade dabei, die erwärmte Suppe zu schlürfen.

»Wie war das Fest?«, erkundigte ich mich.

Er lächelte matt. »Gut. Natan hat darauf bestanden, dass wir ›Netz des Königs‹ spielen.«

Ich verdrehte die Augen. Wie hätte es auch anders sein sollen.

Das Spiel basierte auf einem Mythos. Den alten Legenden zufolge war der Ururgroßvater des Königs so gerissen, so gewieft gewesen, dass er seine künftigen Spione noch im Kindesalter bei fremden Höfen eingeschleust hatte. Diese Kinder waren zuvor ohne ihr Wissen mit einem Bann belegt worden, man bezeichnete sie als »schlafende Spinnen«. Waren sie einmal geweckt, wurden sie damit beauftragt, Informationen zu liefern oder die alten Feinde des Königs zu ermorden. Ich musste zwar noch etwas üben, um eine möglichst stoische Miene zu bewahren, aber bei unserer letzten Partie »Netz des Königs« hatte ich beinahe gewonnen.

Tibris drückte meiner Mutter einen Kuss auf die Stirn und setzte sich zu ihr an den Tisch. Die Falte zwischen seinen Augenbrauen verriet mir, dass er verärgert war. Und das Papier in seiner Hand verriet mir den Grund.

Seit sein Freund Vicer die Prüfung durch den Assessor bestanden und ausreichend Magie erhalten hatte, um aus unserem Dorf in die Stadt entsandt zu werden, damit er sich dort Arbeit suchte, war mein Bruder noch stiller als sonst.

Die Briefe, die zwischen Vicer und ihm hin- und hergingen, waren in derselben Geheimsprache verfasst, die wir einst als Kinder erfunden hatten. Damals hatten Vicer und Tibris mich noch in alle ihre Pläne eingeweiht und an jeder geheimen Botschaft und jedem geflüsterten Wort teilhaben lassen. Wie ein Hündchen war ich ihnen überallhin nachgelaufen – oft zusammen mit Asinia –, und Tibris hatte uns, begleitet von den für große Brüder so typischen genervten Seufzern, großmütig geduldet.

Doch diese Briefe hier waren anders. Aus Gründen, die er nicht nennen wollte, erlaubte Tibris mir nicht, sie zu lesen. Und je geheimnisvoller er tat, desto neugieriger wurde ich natürlich. Wenn Vicer in Schwierigkeiten steckte, wollte ich helfen.

Stirnrunzelnd starrte Tibris auf das Schreiben. Nun würde er vermutlich wieder tagelang in Grübelei versinken. »Ich nehme ein Bad«, verkündete er und ging aus dem Zimmer.

Ein letztes Mal versuchte ich, meiner Mutter Antworten zu ent­locken. »Mama … gibt es irgendetwas, was ich wissen sollte?«

Nebenan war lautes Rauschen zu hören. Tibris füllte den Bade­zuber mit kaltem Wasser.

Meine Mutter würde es mir sagen, wenn der Assessor des Königs Anstalten machte, nach mir zu suchen. Aber was sonst hatte sie in ihrer Vision gesehen? Warum war sie dermaßen erschüttert?

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber sie schüttelte nur stumm den Kopf.

Für Seher galten gewisse Regeln. Denn jemandem die Zukunft vorauszusagen, konnte unter Umständen ein Schicksal heraufbeschwören, das noch viel Schlimmeres bereithielt. Bitteres Grauen breitete sich in meinem Magen aus.

»Ich bin müde«, sagte Mama leise.

»Lass mich dir ins Bett helfen.«

»Ich schaff das schon allein. Gute Nacht, Schätzchen.«

Ich ging zurück in den Hauptraum, der gleichzeitig Tibris’ Schlafzimmer war. Dem Plätschern aus der Badekammer nach zu urteilen, war er immer noch beschäftigt. Aber er hatte den Brief von Vicer auf dem kleinen klapprigen Tisch neben seinem Bett liegen lassen.

Ich sollte das nicht tun. Wir waren keine kleinen Kinder mehr. Tibris hatte ein Anrecht auf seine Privatsphäre. Und doch … offenbar lag etwas gehörig im Argen. Als seine Schwester war es meine Pflicht, ihm zu helfen – selbst wenn er diese Hilfe nicht unbedingt wollte.

Abgesehen davon hatte mein Bruder nie ein Problem damit, sich seinerseits in mein Leben einzumischen, wenn er es für nötig befand. Er versuchte immer, mich zu beschützen, aber vielleicht konnte diesmal ausnahmsweise ich ihm helfen.

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, schielte ich auf den Brief hinunter. Aber es war lange her, seit ich das letzte Mal unsere Geheimschrift gelesen hatte, daher würde es eine Weile dauern, den Inhalt zu entschlüsseln.

Ein Wort erkannte ich jedoch sofort.

»Prisca.« Tibris nahm den Brief vom Tisch und funkelte mich erbost an.

Erschrocken fuhr ich zusammen. Wenn mein Bruder wollte, konnte er sich so lautlos wie eine Katze bewegen.

»Warum schreibt dir Vicer etwas über Crawyth?«

Tibris’ Gesicht wurde bleich vor Zorn. »Halt dich verdammt noch mal aus meinen Angelegenheiten heraus.«

Bestürzt wich ich zurück. Noch nie hatte Tibris so mit mir gesprochen.

»Kinder?«, rief Mama aus ihrem Zimmer.

Ich starrte meinen Bruder an. »Ich komme, Mama.«

Tibris fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Es tut mir leid.«

»Vergiss es.«

»Pris…«

»Ist schon gut.« Es stimmte ja, ich hatte seine Privatsphäre verletzt. Er sollte seine Geheimnisse für sich behalten können.

Er ergriff meinen Arm. »Hast du morgen Zeit zum Trainieren, wenn du in der Bäckerei fertig bist?«

Ich rang mir ein Lächeln ab. Seit Tibris mit seiner Ausbildung begonnen hatte, war er eifrig darum bemüht, mir alles beizubringen, was er beim Training lernte. Inzwischen hatte ich mehr Stunden, als ich zählen konnte, damit verbracht, mit seinen Freunden zu kämpfen und zu lernen, wie man sich das Überraschungsmoment zunutze machte.

»Sicher.«

Der Rest des Abends verlief ruhig. Tibris und meine Mutter schliefen früher ein als sonst, während ich wach lag und mir die ganze Zeit vorstellte, dass jeden Moment der Assessor des Königs an unsere Tür klopfte.

Als ich endlich doch Schlaf fand, waren meine Träume wenig überraschend.

Der Mann hatte leuchtend grüne Augen und volle Lippen, die sich zu einem wilden Grinsen verzogen. Er starrte mich an, eine Braue herausfordernd hochgezogen. Doch jedes Mal, wenn ich die Hand nach ihm ausstreckte, rückte er ein Stück weiter von mir weg. Und als er schließlich meinem Blickfeld gänzlich entschwunden war, fühlte es sich an, als würde mein Herz in Stücke brechen.

Ich wachte zusammen mit der Sonne auf, unruhig und … traurig.

Mühsam hievte ich mich aus dem Bett, zog mich an, aß ein karges Frühstück und starrte mit brennenden, trockenen Augen aus dem Fenster.

Tibris war bereits in der Küche zugange. In ein paar Stunden würde er draußen unterwegs sein, um Leute zu heilen, es sei denn, jemand käme mit einem Notfall zu ihm.

Mein Bruder hatte seine Prüfung vor zwei Wintern bestanden, und dank seiner Fähigkeit, kleine Wunden und harmlose Krankheiten zu heilen – und meines Arbeitslohns aus der Bäckerei –, hatten wir unsere Schulden bei den Gläubigern fast abbezahlt. Sobald alles beglichen wäre, könnten wir beginnen, für unsere Zukunft zu sparen, und unsere Familie wäre in der Lage, das Dorf zu verlassen. Bei dem Gedanken wurde mir ganz eng um die Brust.

Tibris zerzauste mir im Vorbeigehen das Haar und quittierte meinen tadelnden Blick mit einem Lächeln.

Ich beugte mich vor und schlüpfte in meine Pantoffeln – leichtes, bequemes Schuhwerk, wie ich es beim Putzen am liebsten trug.

»Du ziehst nicht deine Winterstiefel an?«, fragte Tibris.

»Ich gehe doch nur von hier zur Bäckerei und zurück. Kümmere dich ein bisschen um Mama, ja? Diese Vision hat sie ganz schön mitgenommen.«

Er nickte. »Sie wird schon wieder, Prisca. Dafür werden wir sorgen.«

In diesem Moment klopfte es laut an der Tür, und ich fuhr erschrocken zusammen. Tibris und ich tauschten einen Blick. Dann öffnete er die Tür, und prompt machte mein Herz einen Satz.

Thol stand grinsend auf der Schwelle. Sein hellbraunes Haar war windzerzaust, und er sah so umwerfend aus, dass ich am liebsten laut geseufzt hätte.

»Hallo, Prisca«, sagte er.

Ich schaffte es, zurückzulächeln. Ein leicht dümmliches, aber immerhin erkennbares Lächeln. Langsam wurde ich besser darin.

Thols Grinsen wurde breiter, dann schaute er zu meinem Bruder. »Hallo, Tibris.«

»Hallo.« Tibris mochte Thol, trotzdem funkelte er ihn jetzt warnend an, ganz der fürsorgliche große Bruder. Ich verpasste ihm einen leichten Ellenbogenstüber, woraufhin er sich grinsend die Seite rieb und im Zimmer unserer Mutter verschwand.

Rasch schlüpfte ich aus dem Haus und zog die Tür hinter mir zu.

Und schon stieg mir wieder diese lästige Hitze in die Wangen.

Thol lächelte auf mich herunter, als ob er etwas unglaublich Niedliches vor sich entdeckt hätte.

Wie peinlich. Ich war kein unschuldiges, unerfahrenes junges Ding, das noch nie mit einem Mann geredet hatte. Ich hatte im Laufe der Jahre schon mehr als einen Liebhaber gehabt. Aber irgendetwas an Thol verwandelte mich in eine stammelnde Idiotin.

Er trat näher und griff nach meiner Hand. Seine Hand war groß und warm und genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte. »Prisca. Hättest du Lust, morgen früh einen Spaziergang mit mir zu machen?«

Ich lächelte. Nach all der Zeit, in der ich mir über Thol das Hirn zermartert hatte, war zumindest dieser Teil ein Kinderspiel. »Ja, das hört sich gut an.«

»Ich werde auf dem Dorfplatz auf dich warten.« Mit einem letzten Grinsen ließ er mich los und schlenderte davon, die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben.

Verträumt blickte ich ihm hinterher. Mein Körper schien plötzlich leichter als Luft.

Doch schon im nächsten Moment schlug ich wieder auf dem harten Boden der Realität auf.

Thols Vater war der oberste Ratsherr unseres Dorfes.

Er war schon oft in die Stadt gereist, und es wurde gemunkelt, dass er sogar den König persönlich getroffen hatte.

Denselben König, der mich am Göttertag triumphierend dem Feuer übergeben würde.

Thol gehörte zu einer besonderen Art von Mann. Nie ging er an einem Bettler vorbei, ohne eine Münze fallen zu lassen, immer teilte er seine Jagdbeute mit den Ärmsten unseres Dorfes, und noch kein einziges Mal hatte er die Stellung seines Vaters ausgenutzt, um sich das eigene Leben zu erleichtern.

Ich konnte mich in Tagträumen verlieren, in denen ich mir ausmalte, wie es wäre, hier im Dorf zu bleiben und Thol zu heiraten. Wir wussten beide, wie man hart arbeitete. Gemeinsam würden wir anpacken, bis wir es uns leisten könnten, in einem der stattlichen Häuser zu wohnen. Dann würden wir Kinder haben und gemeinsam alt werden. Ein ruhiges, beschauliches Leben.

Nur wird es dieses Leben nie geben. Denn wenn du in diesem Dorf bleibst, wirst du sterben. Auf grausame Weise. Und deine Familie auch.

Seufzend ließ ich die Schultern sinken. Meine Mutter hatte recht. Es war töricht, Zeit mit Thol zu verbringen. Umso schwerer wäre es letzten Endes, wenn ich fortginge.

Das Dorf erwachte gerade, als ich in Richtung Hericas Bäckerei spazierte. Die Dorfbewohner kehrten ihre Treppen, unterhielten sich mit Nachbarn und riefen ihre Kinder zum Frühstück herbei.

Ich versuchte, Thol aus meinen Gedanken zu verbannen, und konzentrierte mich stattdessen auf Tibris. Meine Nase in seine Angelegenheiten zu stecken, war die ideale Ablenkung. Was verheimlichte mir mein Bruder bezüglich der in Geheimschrift verfassten Briefe? Warum hatte Vicer Crawyth erwähnt?

Die Ruinen der Stadt lagen unmittelbar hinter unserer Südgrenze, unweit des Fae-Landes. Noch vor wenigen Jahrzehnten war Crawyth als Stätte der Gelehrsamkeit bekannt gewesen – ein Ort, an dem Menschen aus allen Königreichen zusammentrafen, um zu studieren, zu leben und sich zu entfalten.

Dann kamen die Fae. Niemand wusste, warum sie die Stadt in einen Schutthaufen verwandelt hatten. Mir waren schon allerhand Theorien zu Ohren gekommen, aber die am weitesten verbreitete war, dass der verrückte Fae-König die Stadt für sich selbst hatte haben wollen. Und als unser König ihm dies verweigerte, verbrannte der bösartige Bruder des Fae-Königs Crawyth zu Asche.

Auf halbem Weg zur Bäckerei begann ich zu frösteln, ich hatte meinen Umhang vergessen. Als die Bäckerei in Sicht kam, trieb ich meine Beine zur Eile an. Das gedrungene Holzgebäude war im Laufe der Jahre bereits mehrfach an diversen Stellen geflickt worden, aber für mich stellte es mein zweites Zuhause dar.

Herica, die immer schon lange vor dem Morgengrauen in der Backstube stand, dürfte um diese Zeit bereits fort sein. Ich selbst würde die Ärmel hochkrempeln und mich daranmachen, die Böden und Oberflächen zu schrubben, während Thols jüngere Schwester Chista sich um den Verkauf der Brote kümmerte.

Die Tür zur Bäckerei war angelehnt, und ich stieß sie auf. Kreilor stand zwar mit dem Rücken zu mir, aber diesen Stiernacken würde ich überall wiedererkennen.

Dumpfe Panik breitete sich in meinem Bauch aus. »Was machst du hier?«

Er blickte über seine Schulter und griente selbstgefällig. Jemand bewegte sich hinter ihm, ich trat einen Schritt vor und reckte den Hals. Chista. Kreilors Finger umklammerten ihr Handgelenk, und ihr Gesicht war tränennass.

Brennende Wut peitschte durch mich hindurch. Rasch schnappte ich mir den Besen von der Stelle, wo ich ihn gestern gegen die Wand gelehnt hatte.

»Chista, geh«, rief ich.

Kreilor lachte nur. Das hier war nichts anderes als ein weiterer Versuch von ihm, Thol eins auszuwischen. Kreilor war zu feige, um ihn direkt herauszufordern, stattdessen nahm er sich Thols kleine Schwester vor.

Für ihn war das alles nur ein Spiel.

Er fixierte mich mit seinem raubtierhaften Blick.

Ich atmete tief durch. »Überleg dir das gut, Kreilor. Ich habe keine Angst vor dir.«

Sein Blick fiel auf meinen Hals, wo die pochende Schlagader meine Worte Lügen strafte.

»Ach, Prisca. Wir wissen doch beide, dass das nicht stimmt.«

Kreilor kam näher, er schleifte Chista einfach mit sich. Ich pflanzte meinen Besen auf, bereit, ihn wie eine Lanze zu benutzen.

...

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