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Träume einer Sommernacht

hier erhältlich:

SOMMER DER HERZEN: ALLES IST MÖGLICH

Ausgerechnet auf ihre Jugendliebe Steve, der sie hat abblitzen lassen, trifft Hallie bei ihrer Rückkehr. Aber sie ist nicht mehr der naive Teenager, was auch Steve auffällt - und plötzlich scheint in diesem Sommer alles möglich!

SOMMERWIND AUF DEINER HAUT

Tabithas Vater ist Schuld daran, dass ihre große Liebe Christien seinen Vater verlor. Verzweifelt flieht sie zurück nach England, um dort festzustellen, dass sie schwanger ist. Doch Christien will nichts mehr mit ihr zu tun haben.

SÜßER SOMMER DER VERSUCHUNG

Nur ein paar schöne Tage wollte Holly in Italien verbringen. Doch dann führt das Schicksal sie direkt in die Arme von Matteo Fallucci - und in dessen Villa. Für Holly beginnen Sommertage der Versuchung …


  • Erscheinungstag: 20.08.2015
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 452
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955764821
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Dorien Kelly, Lynne Graham, Lucy Gordon

Träume einer Sommernacht

Dorien Kelly

Sommer der Herzen: Alles ist möglich

Aus dem Amerikanischen von Alina Lantelme

image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieser Ausgabe © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Girl Least Likely To …

Copyright © 2003 by Dorien Kelly

erschienen bei: Harlequin Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-344-7

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Hallie Brewer wäre zu gern eine kultivierte Frau gewesen, die stets souverän und gelassen auftrat. Eine Frau, deren Sommersprossen auf ihrer Nase kaum zu sehen waren und deren Haare bei feuchtem Wetter nicht völlig durcheinander gerieten.

Ein Blick in den Rückspiegel überzeugte sie davon, dass das nur fromme Wünsche waren.

Die Klimaanlage hatte bereits in Nevada den Geist aufgegeben, und Hallie hatte schon kurz vor Chicago den Mut verloren. Unbehaglich rutschte sie auf dem Vinylsitz hin und her, denn ihre Beine fühlten sich wie festgeklebt an. Sie wusste nicht mehr genau, wer gesagt hatte, man könne nicht mehr nach Hause zurückkehren. Auch wenn der Trip in die Heimat nicht unbedingt bequem war, war sie der lebende Beweis für das Gegenteil.

Sie fuhr an einem Holzschild mit der Aufschrift „Willkommen in Sandy Be d“ vorbei. Das „n“ in Bend war zum ersten Mal verloren gegangen, als Hallie die sechste Klasse besucht hatte. Nach einigen Jahren hatte man es aufgegeben, den Buchstaben immer wieder zu ersetzen.

Hallie nahm an, dass es etwas Tröstliches haben sollte, dass sich einige Dinge nie änderten, aber gerade deshalb war sie die letzten sieben Jahre nie wieder hergekommen. Sosehr sie auch glauben wollte, dass sie sich verändert hatte, es stimmte vielleicht nicht. Wieder hier zu sein war für sie auch ein Test. Sie wollte herauszufinden, ob hinter ihrer neuen, glänzenden Fassade immer noch die alte Hallie Brewer steckte, die in Sandy Bend von allen Horror-Hallie genannt worden war.

Horror-Hallie, die versehentlich den Picknickplatz des Ortes in Brand gesetzt und es jeden Sommer geschafft hatte, mindestens einmal mit einem Segelboot unterzugehen und dabei ihr Bikinioberteil zu verlieren.

Horror-Hallie, die als unbeholfener Wildfang eine beliebte Zielscheibe für Hohn und Spott gewesen war.

Um sie von Kalifornien nach Michigan zurückholen zu können, hatte es schon dreier starker Männer bedurft. Und jetzt, wo sie hier war, hatte sie nicht vor, auch nur eine Sekunde länger zu bleiben als unbedingt nötig.

Das Städtchen Sandy Bend, das auf der einen Seite vom Michigansee und auf der anderen Seite vom breiten Flussbett des Crystal River eingeschlossen war, schien immer noch derselbe malerische und idyllische Ort zu sein, aus dem sie nach ihrem Schulabschluss geflüchtet war. Zum Glück waren die Straßen wie üblich Mitte Juni voller Touristen. Hallie parkte ihr Auto auf einem der wenigen freien Plätze an der Main Street. Nur um ihr Selbstbewusstsein zu stärken, brachte sie ihre Frisur in Ordnung und trug Lippenstift und Wimperntusche auf. Schon besser. Auch wenn sie nicht gerade wie ein taufrisches Model aussah, war sie zumindest nicht mehr das von allen verspottete Mädchen von damals.

Nachdem sie mühsam ihre Beine vom Sitz gelöst hatte, versuchte sie, im Strom der Passanten unterzutauchen. Je mehr Zeit ihr blieb, bis sie jemand erkennen würde, umso besser.

„Du bist nicht dieselbe Person“, versicherte sie sich auf dem Weg ins Zentrum.

Sie bemerkte, dass eine Boutique mit trendiger Mode das frühere Haushaltswarengeschäft ersetzt hatte, und ein Café, das italienische Kaffeespezialitäten anbot, in die ehemalige Apotheke gezogen war. Offensichtlich war selbst Sandy Bend nicht völlig immun gegen den Fortschritt.

„Hallie Brewer, bist du es wirklich?“

Hallie sah die ältere Frau in rasantem Tempo auf sich zukommen. Olivia Hawkins war schon vor sieben Jahren winzig gewesen, doch jetzt wirkte sie fast wie ein Spatz. Dennoch hatte sie „Hawkins Foodland“ immer mit eiserner Hand geleitet. Mit ihr legte man sich besser nicht an.

Also blieb Hallie höflich stehen. „Ich bin es wirklich, Mrs Hawkins.“

„Nun, das sollte wieder etwas Schwung ins Städtchen bringen.“ Sie lachte leise. „Ich werde nie vergessen, wie du vor einigen Jahren den Punsch für die Tanzveranstaltung zubereitet hast und …“

„Das war vor zwölf Jahren“, unterbrach sie Hallie. „Das ist wirklich sehr, sehr lange her.“

„… und die rote Limonade durch Wasser und Ketchup ersetzt hast.“

Sie war damals verzweifelt und durcheinander gewesen, weil sie entdeckt hatte, dass ihre Brüder die Limonade einfach getrunken hatten, die sie vor ihnen versteckt hatte.

„Den Leuten ist der Punsch wieder aus der Nase herausgelaufen.“

Es war Zeit, Mrs Hawkins Erinnerungen Einhalt zu gebieten. Wenn die Lady vorhatte, jeden Blödsinn, den Hallie jemals angestellt hatte, wieder hervorzukramen, würden sie hier bis weit nach Sonnenuntergang stehen. „Nun, es war schön, Sie wieder zu sehen, Mrs Hawkins. Bye-bye.“

„Und als du damals …“

Hallie winkte ihr noch einmal zu, beeilte sich, zum Polizeirevier zu kommen, und betrat schnell das Gebäude.

Mit den beiden Schreibtischen und der winzigen Zelle war die Bezeichnung „Polizeirevier“ eigentlich etwas übertrieben. Einer der Polizisten des Städtchens hielt in einem Bürostuhl aus den fünfziger Jahren ein Nickerchen. Er hatte die Füße auf den Tisch und eine alte Ausgabe des „Angler’s Paradise“ auf sein Gesicht gelegt. Man traute sich fast nicht, ihn in seiner Ruhe zu stören. Aber Hallie hatte schließlich nur deswegen halb Amerika durchquert.

„Erklär mir das“, forderte sie ihn auf und knallte ihm einen Zeitungsausschnitt auf den Tisch.

Die Anglerzeitschrift flog durch die Luft und landete neben dem Zeitungsausschnitt. Ihr Bruder Mitch rappelte sich hoch. „Hallie? Was machst du denn hier?“

Sie tippte mit dem Finger auf den Zeitungsartikel. „Erklär es.“

Mitch öffnete seinen Mund und schloss ihn wortlos wieder. Obwohl Hallie fürchterlich wütend auf ihren großen Bruder war, erinnerte er sie im Augenblick an den Barsch, der die Titelseite der Anglerzeitschrift schmückte. Aber auch das änderte nichts daran, dass er wie alle Männer des Brewer-Clans gut aussah.

„Hier“, bot sie ihm zuckersüß an, „lass mich dir helfen. Die Überschrift lautet ,Polizeichef Brewer auf dem Weg der Besserung‘.“

„Äh … ja“, stammelte er. „Es ist keine große Sache. Wirklich.“

„Und es war wahrscheinlich auch keine große Sache, dass ich durch einen mir anonym zugeschickten Ausschnitt aus dem ,County Herald‘ erfahren habe, dass Dad einen Herzanfall erlitten hat und operiert worden ist?“

Mitch raufte sich die Haare. „Dad wollte dich nicht beunruhigen. Er glaubte, dass es zu teuer für dich werden würde, nach Hause zu kommen und …“ Er hielt inne und blinzelte. „Bist du irgendwie größer geworden oder so?“

Es war das „oder so“, das seine Aufmerksamkeit erregte. Mitch hatte sie nie in Kalifornien besucht, und Hallie war die klassische Spätentwicklerin gewesen. Die Kurven, die sie immer herbeigesehnt hatte, hatten sich bei ihr erst auf dem College eingestellt.

„Man nennt sie Brüste, Mitch.“

Ihr Bruder lief rot an. „Ach, verdammt, Hallie. Du bist meine Schwester.“

„Ja. Und da wir gerade bei den familiären Beziehungen sind: Dad ist mein Vater. Aber keiner meiner beiden Brüder war anscheinend in der Lage, den Hörer in die Hand zu nehmen und zum Beispiel zu sagen ,Dad geht es nicht gut. Vielleicht wäre es besser, wenn du für eine Weile nach Hause kommst.‘ Oder mir zumindest einen Hinweis zu geben, als ich letzte Woche angerufen habe.“

Mitch, der völlig zu vergessen schien, dass er fünfzehn Zentimeter größer und zwanzig Kilo schwerer war als sie, ging vorsichtig einen Schritt zurück.

„Es war ja nur ein kleiner Herzanfall und kein großer Eingriff. Cousine Althea kümmert sich um ihn …“

Prima. Althea Brewer Bonkowski war die Cousine von Hallies Vater und eine wilde Hummel. Außerdem war sie eine sehr gescheite Frau. Zumindest ahnte Hallie jetzt, wer ihr den Zeitungsausschnitt geschickt hatte.

„Althea hat ihre Gemeinschaft verlassen?“

Mitch verzog belustigt die Mundwinkel. „Nun, sie hat sie zwar verlassen, bleibt ihr aber trotzdem ganz verbunden.“

Hallie lächelte wider Willen. „Ich hoffe, es ist nicht illegal.“

„Eher nicht von dieser Welt. Kristalle, Aromatherapie und irgendeinen Singsang. Sie treibt Cal und mich in den Wahnsinn.“

„Und besonders Dad, würde ich wetten. Das wird seinem Herzen ungeheuer helfen.“

Mitch zuckte die Achseln. „Sie kommen miteinander aus. Im Übrigen hält es ihn in Form, mit Althea zu streiten. Und du hättest nicht den ganzen Weg hierher machen müssen, um nach ihm zu sehen. Du hättest anrufen können und …“

Hallie schüttelte den Kopf. „Ich hätte mit den Typen reden sollen, die sich nicht einmal die Mühe gemacht hatten, es mir überhaupt zu sagen? Ich hätte dir nicht geglaubt, Bruderherz. Ich will Dad mit eigenen Augen sehen. Ich werde nicht nach Carmel zurückgehen, bis ich sicher bin, dass ihr beiden alles unter Kontrolle habt.“

„Du traust uns nicht? Ich bin tief getroffen, Hal.“

„Nenn mich nicht Hal. Du weißt, ich hasse das.“ Sie deutete auf die Tür. „Ich mache mich jetzt auf den Weg nach Hause. Und du wirst nach der Arbeit nachkommen, okay?“

„Sicher“, hörte sie Mitch sagen, als sie sich umdrehte, um zu gehen. Doch dann blieb sie noch einmal stehen, um sich den Gemeindekalender anzusehen, der rechts neben der Tür hing. Über den Kalenderblättern prangten die Fotos der Honoratioren von Sandy Bend.

„Ihr Jungs leidet nicht unter mangelndem Selbstbewusstsein, oder?“ Sie betrachtete amüsiert die Fotos, die ihren Dad, den Polizeichef, und ihre beiden Brüder, zwei der sechs hiesigen Polizisten, zeigten. Ihr Blick wanderte zum Bürgermeister und schließlich zu den Schulleitern.

Als Hallie das Foto des Rektors der Highschool sah, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Das war einfach nicht möglich. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber ihr Mund war wie ausgetrocknet.

Das Leben war nicht fair. Überhaupt nicht. Dem Mann hätten ja auch vorzeitig die Haare ausgehen können. Aber nein, er sah so großartig aus wie immer.

„Alles in Ordnung, Hal?“, erkundigte sich ihr Bruder. Sie fragte sich abwesend, wie lange sie schon dort gestanden haben musste.

„Hallie“, verbesserte sie ihn automatisch. Ohne den Blick von dem Foto zu wenden, holte sie tief Luft. „Mitch, du hast mir nie erzählt, dass Steve Whitman wieder hier ist.“

„Ich dachte nicht, dass es wichtig ist. Steve ist doch schon immer Cals Kumpel gewesen und nicht deiner.“

Hallie versuchte, den Schock abzuschütteln. „Richtig“, murmelte sie. „Natürlich.“

Tatsächlich hatte in Hallies Gedankenwelt Steve immer eher mit dem Beginn ihrer Leidensgeschichte mit Männern als mit der Bezeichnung Kumpel in Verbindung gestanden.

Doch jetzt, wo sie das Foto gesehen hatte, musste sie mehr erfahren. Und dieser Drang war ganz und gar nicht gut.

„Also, was macht Steve hier?“

Mitch lachte leise. „Das steht doch auf dem Kalender. Vor ungefähr einem Jahr kam er zurück und fing an zu unterrichten. Jetzt ist er Rektor der Highschool.“ Ihr Bruder machte eine Pause, bevor er fragte: „Bist du sicher, dass du keinen Jetlag hast oder etwas Ähnliches?“

Hallie strich sich die feuchten Haare aus der Stirn. Sie wünschte, sie würde wie vorhin einfach nur wegen der Hitze schwitzen und nicht aus Nervosität und einer fast krankhaften Aufregung, dass sie Steve wieder sehen würde. „Nein, ich bin mit dem Wagen gefahren. Für einen Flug war ich zu knapp bei Kasse.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ist er nicht noch etwas jung, um Rektor zu sein?“

Steve war wie ihr älterer Bruder Cal acht Jahre älter als Hallie. Er gehörte einer derjenigen reichen Familien an, die am Michigansee teure Ferienhäuser besaßen und jedes Jahr den Sommer dort verbrachten.

„Ja, aber nachdem der letzte Rektor in den Ruhestand gegangen ist, war sonst keiner verrückt genug, sich für diesen Posten zu bewerben.“ Mitch trat neben sie. „Nur gut, dass Steve keinen Job braucht, um seine Rechnungen zu bezahlen. In der Abschlussklasse des letzten Jahres waren nur noch dreißig Schüler. Die Highschool kämpft ums Überleben.“

Und Hallie kämpfte mit ihrer Fassung. Ihren ehemaligen Schulkameraden hier aus Selbstschutz weitgehend aus dem Weg gehen zu wollen war eine Sache. Aber zu wissen, dass Steve Whitman – sozusagen die leibhaftige Erinnerung an frühere Desaster – irgendwo draußen herumlief, eine ganz andere.

Mitch legte ihr die Hand auf die Schulter. „Du bist ein bisschen blass unter deinen Sommersprossen, Hal. Willst du, dass ich dich zur Farm fahre?“

Hallie schüttelte den Kopf. „Ich bin okay“, log sie. „Hast du eine Diät-Limo für mich?“

„Tut mir leid, ich habe nichts außer Cals zu starkem Kaffee. Du trinkst besser etwas im ,Corner Café‘.“ Er sah ihr besorgt in die Augen. „Ich werde dich hinbringen.“

Es war Jahre her, dass sie es zugelassen hatte, dass sich jemand um sie kümmerte. Impulsiv umarmte sie ihren Bruder.

„Ich habe dich vermisst“, sagte sie und bemerkte, wie gut ihr das Gefühl der Geborgenheit tat. Zweifellos hatten ihr die Umarmungen, die Neckereien und der Schutz eines großen Bruders gefehlt.

„Ich habe dich auch vermisst, Hal. Willkommen zu Hause.“

Nachdem sie ihn noch einmal fest gedrückt hatte, ließ sie ihn los. „Also, dann Partner, auf zu meiner Limo, und dann nichts wie nach Hause.“

Steve Whitman wusste, dass jemand, der das Leben in einer kleinen Stadt langweilig fand, noch nie in Sandy Bend gewesen sein konnte. Zum Beispiel war heute ein heißer Sommertag, den man mit einem kühlen Bier an jedem Ort am Michigansees wirklich genießen könnte. Aber nur in Sandy Bend konnte man einem Polizisten begegnen, der mit einer langbeinigen Brünetten im Arm auf einen zu schlenderte.

Und das in voller Uniform. Der Polizist natürlich.

Nicht die langbeinige Brünette. Sie hatte einen gut sitzenden und unverschämt kurzen gelben Rock und ein weißes T-Shirt an, das eigentlich nicht sexy sein sollte, es aber trotzdem irgendwie war.

In einer Großstadt könnte Mitch Brewer etwas erleben, wenn er während seiner Dienstzeit einen Bummel mit seiner neuen Flamme machen würde. Hier in Sandy Bend – wo die Polizei zugegebenermaßen auch nicht wahnsinnig viel zu tun hatte – würde ihn höchstens jeder anschauen und für einen Glückspilz halten. Und genau das Wort ging auch Steve durch den Kopf.

Er ging etwas schneller, um näher an die beiden heranzukommen und zu sehen, ob dieses Mädchen wirklich so bemerkenswert hübsch war, wie es ihm erschien, oder ob er nach einem Jahr ohne eine Verabredung mit einer Frau schon unter Wahnvorstellungen litt.

Die Brünette schaute Mitch an, als wäre er der Inbegriff von Kraft und Stärke. Und, ja, sie war eine heiße Frau mit ihrem langen, welligen Haar, das mit jedem ihrer Schritte in anderen Zimt- und Goldnuancen leuchtete. Und sie hatte Sommersprossen. Steve hatte schon immer eine Schwäche für Frauen mit Sommersprossen gehabt. Mitch Brewer war ein verdammter Glückspilz.

„Hallo, Mitch!“, rief Steve und überlegte, über welches Thema er nach der Begrüßung intelligent reden könnte. Aber alles, was ihm einfiel, war: Könntest du mich deiner Freundin vorstellen? Und würde es dich sehr stören, wenn ich sie erst zu einem romantischen Abendessen und anschließend zum Tanzen einladen würde?

Aber er musste sich gar keine Gedanken über derart idiotische Angebote machen. Aus irgendeinem Grund war die Brünette wie angewurzelt stehen geblieben, um sich dann hinter Mitch zu verstecken. Steve sah ihr kurz in die Augen und fragte sich, warum sie plötzlich so total erschrocken wirkte und ob ihre Augen wirklich so blau waren, wie sie ihm schienen.

Während Steve versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, wechselte der Gesichtsausdruck der Frau von Angst zu Ärger. Und all diese Gefühle schienen ihm zu gelten. Während sie Mitch wie einen Schild vor sich herschob, wich sie rückwärts in eine enge Gasse zwischen „Truro’s Tavern“ und der „Shady Sands Art Gallery“ aus.

Steve wusste, dass das Gässchen schon seit Jahren für den Durchgangsverkehr gesperrt war und nur noch als Abstellplatz für den mobilen Verkaufsstand des Hotdog-Händlers diente. Er hatte keine Ahnung, was sich die brünette Maus dabei dachte, sich gerade dieses Plätzchen auszusuchen.

Er sollte die beiden einfach allein lassen, was auch immer sie taten. Oder genauer gesagt, was die Frau tat. Aber das gelang ihm nicht. Sicherlich war er etwas neugierig, doch das gehörte in einer Kleinstadt ja fast zum guten Ton. Außerdem hatte es ihn total verblüfft, dass sie ihn angesehen hatte, als wäre er der leibhaftige Albtraum.

Steves Meinung nach war sein größtes Problem nämlich, von seiner Mutter dazu erzogen worden zu sein, zu nett und höflich zu sein. Und ein Whitman und dazu noch Rektor der Highschool zu sein bedeutete ohnehin, dass aller Augen – wenn auch freundlich – auf ihn gerichtet waren.

Er mochte es ganz und gar nicht, von einer Fremden so feindselig angestarrt zu werden. Besonders wenn sie sehr, sehr hübsch war. Nein, er musste diese Gelegenheit nutzen.

Hallie saß in der sprichwörtlichen Falle. Steve Whitman stand fast vor ihr, und es gab keinen Ausweg. Sie hätte sich am liebsten selbst in den Hintern getreten, dass sie vergessen hatte, dass diese Gasse schon lange eine Sackgasse war.

Es musste an der Luft in Sandy Bend liegen. Sie hatte in Kalifornien sieben Jahre lang nichts getan, was sie in größere Verlegenheit gebracht hatte. Und nach knapp einer halben Stunde zurück in der Heimat machte sie ihrem Spitznamen Horror-Hallie wieder alle Ehre.

Sie war von Mauern umgeben, und vor dem Ausgang ins Freie schlich groß, muskulös und gebräunt die entnervende Kombination aus schlimmstem Albtraum und Schwarm ihrer Jugend herum. Doch mittlerweile war sie erwachsen und würde jetzt einfach herauskommen und Steve mit einem Witz auf den Lippen begrüßen. Aber ihr war nicht nach Witzen zumute. Sie fühlte sich schmutzig, klebrig und müde. Und sie war zu stur, um zuzugeben, dass sie sich in eine unmögliche Situation gebracht hatte. Sie würde einfach da bleiben, wo sie war, bis die Welt unterging oder Steve verschwand.

Doch das war einfacher gesagt als getan. Sie versuchte, sich mit ihren Fingernägeln in den harten Baumwollstoff von Mitchs Uniform zu krallen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, so viel Geld für die Verlängerung ihrer Nägel auszugeben? Mit diesen Acryldingern bekam sie den Stoff kaum zu fassen.

„Was soll das denn? Lässt du mich jetzt los?“, fragte ihr Bruder eher verwirrt als verärgert. „Pst. Er kommt!“, zischte sie. „Gib mir Deckung.“

„Um Himmels willen, Hal.“

Als Mitch versuchte, auf Abstand zu gehen, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und schlang von hinten ihre Arme um seinen Hals. „Hallo, Mitch, was gibt es Neues?“

Beim Klang von Steves unvergesslicher Stimme – tief und leicht rau, was sündhaft sexy wirkte, lehnte Hallie ihren Kopf an die breite Schulter ihres Bruders. Sieben Jahre hätten eigentlich ausreichen sollen, um dieses alberne Herzklopfen hinter sich zu lassen. Das war aber nicht der Fall.

„Äh, eigentlich nicht viel, Steve“, stammelte Mitch. Die dann einsetzende Stille hielt Hallie schließlich nicht mehr aus. Sie stupste Mitch mit ihrer Stirn an, und er schaffte es, etwas zu sagen. „Werdet du und Cal mit dem Boot deines Vaters am diesjährigen Rennen von Chicago nach Mickinac teilnehmen?“

„Ja, wie jedes Jahr, seit wir sechzehn sind.“

Steve klang amüsiert. Hallie war fast versucht, um ihren Bruder herum einen Blick auf ihn zu werfen.

„Toll. Wird bestimmt viel Spaß machen.“

Sie konnte Steves Schritte auf dem Pflaster hören, als er näherkam. „Also, wer versteckt sich hinter dir?“

„Hinter mir?“

„Ja, es sei denn, es wäre der letzte Schrei, die Arme einer Frau um den Hals zu tragen.“

Hallie nahm all ihren Mut zusammen. Sie wusste ohnehin, dass sie sich nicht die ganze Zeit hinter Mitch würde verstecken können. Sie holte tief Luft, um ihre Panik zu unterdrücken, und trat dann neben ihren Bruder.

Sie hatte Mühe, nicht einfach wegzurennen, als Steve Whitman sie bewundernd von unten bis oben musterte. Schließlich sahen sie sich in die Augen. In diesem Moment merkte sie, dass ihr erster Eindruck wirklich gestimmt hatte.

Er hatte tatsächlich keine Ahnung, wer sie war.

2. KAPITEL

Natürlich war es irrational, beleidigt zu sein, weil der Mann, der sie vor sieben Jahren gedemütigt hatte, sie nicht sofort erkannte. Eigentlich sollte sie deshalb eher einen Freudentanz aufführen.

„Das ist … stammelte Mitch, als ihn Hallie ganz gelassen unterbrach.

„Amanda Creswell … Doktor Amanda Creswell. Ich bin eine alte Freundin von Mitch.“ Sie wusste nicht, welcher Teufel sie geritten hatte, auch noch den Doktortitel anzuhängen. Doch jetzt war er nicht mehr zurückzunehmen.

Steve verzog den Mund zu seinem schiefen Lächeln, das Hallie früher immer hatte dahinschmelzen lassen. Jetzt war sie nicht mehr so leicht zu erweichen.

Sie ignorierte, dass er in den vergangenen Jahren noch attraktiver geworden und seine Augen immer noch in einem unglaublich hellem Kaffeebraun leuchteten. All das ignorierte sie einfach und war sehr stolz auf den Versuch.

„Nun, Doktor Creswell, willkommen in Sandy Bend.“

Hallie nickte ihm sehr würdevoll zu.

Nun sah Steve sie genauer an und runzelte leicht die Stirn. „Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor …“

Betont beiläufig zuckte sie die Achseln. „Ich habe ein Allerweltsgesicht. Mitch und ich sollten uns jetzt wirklich beeilen.“ Sie zog Mitch vorwärts, aber Steve stellte sich ihnen in den Weg.

„Woher kommen Sie, Doc?“

„Aus Arkansas“, hörte Hallie sich zu ihrem eigenen Entsetzen antworten. Warum hatte sie kein Bundesland nehmen können, über das sie etwas wusste?

„Ach ja? Darf man fragen, auf welches Gebiet Sie sich spezialisiert haben?“

„Ich bin Neurochirurgin.“ Das war zumindest eine gute und einschüchternde Wahl, die keinen Raum für Small Talk ließ. „Wirklich?“

Er wirkte so skeptisch, dass sie die Sache nicht auf sich beruhen lassen konnte. „Denken Sie etwa, dass es in Arkansas keine Neurochirurginnen gibt?“

„Oh, ich bin sicher, dass es die auch in Arkansas gibt. Ich habe mich nur gerade gefragt …“

„Was?“ Ihre hohe Stimmlage klang überhaupt nicht mehr gelassen. Hallie versetzte ihrem Bruder, der sich verdächtig danach anhörte, als würde er sich nur mühsam das Lachen verkneifen, mit dem Ellbogen einen leichten Stoß in die Rippen.

„Ihre Fingernägel“, sagte Steve.

Hallie schaute auf ihre karminrot lackierten, verlängerten Nägel und versteckte dann schnell die Hände hinter dem Rücken.

Steve lächelte wieder. „Sind Ihnen die langen Fingernägel bei Operationen nicht im Weg? Ich nehme doch an, dass der Begriff Neurochirurgin beinhaltet, dass Sie auch operieren?“

Hallie suchte krampfhaft nach einer plausiblen Erklärung. „Ich arbeite an Forschungsprojekten mit Robotern. Vaskuläre Mikrochirurgie, genauer gesagt. Es geht darum, die Blutgefäße in der unteren cerebralen Cortex zu rekonstruieren.“ Nicht schlecht. Die vielen Krankenhausserien, die ich mir im Fernsehen angesehen hatte, haben sich ausgezahlt, dachte sie.

Steves Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen. „Sehr beeindruckend. Und wenn man bedenkt, dass Cal mir erzählte, dass du die Kunstakademie besucht hast, musst du wirklich sehr beschäftigt gewesen sein, Hallie.“ Er hob mit dem Finger ihr Kinn hoch. „Schön, dich wieder zusehen … Doc.“

Er hatte sie unter das Kinn gefasst … als wenn sie ein frühreifes, dreijähriges Kind wäre, das gerade gelernt hatte, sich die Schnürsenkel zu binden!

Als Steve Whitman sich auf den Weg machte und dabei leise eine fröhliche Melodie pfiff, und ihr Bruder in lautes Gelächter ausbrach, wünschte sich Hallie verzweifelt zurück nach Carmel. Oder zumindest zurück vor das Ortsschild von Sandy Bend.

Die Sommersprossen waren der erste Hinweis gewesen. Hallie Brewer hatte schon immer die unglaublichsten Sommersprossen gehabt. Aber hundertprozentig sicher war Steve sich erst gewesen, als sie die Hände hinter ihrem Rücken versteckt hatte.

Er hatte diese für Hallie typische Geste schon unzählige Male gesehen. In seinem Kopf liefen die Erinnerungen wie ein Film ab. Die fünfjährige Hallie, die die Hände hinter dem Rücken versteckte, nachdem sie den Hund mit Mehl bestäubt hatte, um den armen Köter für eine Halloween-Party vorzubereiten. Die vierzehnjährige Hallie, die die Hände hinter dem Rücken versteckte, nachdem sie am Strand ein Insekt von seiner Schulter gefegt hatte und rot angelaufen war. Die achtzehnjährige Hallie, die die Hände hinter dem Rücken versteckte, nachdem sie gänzlich unverhüllt …

Steve verlangsamte seinen Schritt. Daran wollte er nicht weiter denken. Er hatte verdammt lange gebraucht, um diese Erinnerung zu verdrängen. Sie jetzt wieder lebendig werden zu lassen würde die Dinge nur komplizieren.

Hallie Brewer war die Schwester seines besten Kumpels. Er kannte sie schon, seit sie in den Windeln gelegen hatte. Und auch wenn sie inzwischen besser aussah und mehr Charme hatte, als eigentlich erlaubt sein sollte, wusste er doch, dass sie im Grunde immer noch die alte Horror-Hallie war. Und er war sicher, dass sie auf die eine oder andere Weise sein Leben immer noch auf den Kopf stellen konnte.

Hallie, die nach der Fahrt noch verschwitzter war, betrat die Veranda des von Eichen umgebenen Farmhauses, das bereits seit über hundert Jahren im Besitz der Familie Brewer war, und wurde dort von einem dicken Kater mit einem Schnurren begrüßt. Hallie lächelte. „Hallo, Murphy.“

Sie war sich nicht sicher, ob es sich bei der Katze um Murphy VII. oder Murphy VIII. handelte, aber auf jeden Fall hieß sie Murphy. Denn die Brewers befolgten Sandy Bends ungeschriebenes Gesetz der Unveränderlichkeit und nannten alle ihre Katzen so.

Dann sah sie nach Muldoon um, dem Hund der Familie. Muldoon III. natürlich, den sie jedoch nirgends entdecken konnte. Sie war ein bisschen enttäuscht. Zumindest der Hund hätte sie im Gegensatz zu Steve Whitman doch sofort erkennen sollen.

Hallie ignorierte, dass sie beim Gedanken an Steve innerlich zusammenzuckte, und machte die Tür zu ihrem Elternhaus auf.

„Dad, ich bin …“, rief sie, wurde aber sofort unterbrochen.

„Endlich bist du hier“, sagte Cousine Althea. „Ich habe auf dich gewartet.“

Die vollgestopfte Reisetasche zu Altheas Füßen bestätigte ihre Worte.

Hallie ging um die Tasche herum und nahm Althea in die Arme. Ihre Cousine duftete wie immer nach Nelken und Weihrauch, und ihre Armreife klimperten wie ein Windspiel. Hallie lächelte über die Vertrautheit, die sich sofort einstellte. „Komisch, dass du gewartet hast. Ich habe doch gar nicht angerufen, um Bescheid zu sagen.“

„Manche von uns sind hellsichtiger als andere. Ich konnte deine Aura wahrnehmen, sobald du Sandy Bend betreten hast.“

Nun zuckte Hallie auch körperlich zusammen. „Trübe Rottöne der Peinlichkeit, nehme ich an?“

„Das kann ich nicht leugnen, aber ich würde die Rottöne eher als flirrend denn als trübe bezeichnen.“

Althea hatte ja keine Ahnung. Sie war ja auch nie von einem Mann, den sie ein halbes Leben lang versucht hatte zu beeindrucken, wie ein Baby behandelt worden oder hatte sich wie eine Verrückte aufgeführt. Aber trotzdem erwiderte Hallie nichts. Es hatte keinen Sinn, mit Althea streiten zu wollen.

„Und was hast du mit der Reisetasche vor?“, fragte sie stattdessen.

„Ich fahre wieder zu meiner Kommune in Wisconsin“, sagte Althea entschieden. „Die Geister haben mir befohlen …“

Hallie hätte sich ihr am liebsten einfach in den Weg gestellt. Sie war geködert worden und prompt in die Falle gegangen.

„Die Geister, so, so. Hast du das im Teesatz gelesen? Nein, warte jetzt weiß ich es! Die Geister haben dich wohl auch dazu gebracht, mir diesen kleinen Zeitungsausschnitt in die Post zu stecken, richtig?“

„Es kann nie schaden, den Geistern etwas auf die Sprünge zu helfen.“ Althea verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. „Und auch dir nicht.“

„Und du hättest nicht einfach anrufen können?“

„Ich habe deinem Vater versprochen, das nicht zu tun. Es war keine große Sache, einen Freund zu bitten, dir diesen Ausschnitt zu schicken. Ich habe gefühlt, dass du nach Hause kommen wolltest.“

Richtig. Hallie war darauf genauso sehr erpicht gewesen, wie sich die Nase piercen zu lassen. „Ich werde nicht hier bleiben.“

„Wie du meinst“, sagte Althea in jenem humorigen Ton, der Hallie den letzten Nerv raubte. „Du findest deinen Vater am Teich, wo er bereits die ganze Woche denselben armen Fisch zu fangen versucht. Geh und sag ihm Hallo.“

„Versprich mir, dass du hier stehen bleibst, bis ich zurück bin“, sagte Hallie, bevor sie aus der Hintertür ging.

„Wenn die Geister es wollen“, rief ihr Althea nach.

Das war zwar kein Versprechen, aber mehr konnte sie von den Geistern und von ihrer Cousine wohl nicht erwarten.

„Hallo, Dad“, begrüßte sie ihren Vater, als sie beinahe am Teich angekommen war.

Sie beobachtete, wie ihr Vater die Angelrute in eine Einbuchtung stellte, die er sich schon vor Jahren in die Armlehne seines Klappstuhls geschnitzt hatte.

Er stand auf und drehte sich zu ihr um.

„Wie geht es meiner Lieblingskünstlerin? Es wurde auch Zeit, dass du kommst.“ Er schloss sie kurz in seine Arme, denn er tat sich schon immer schwer mit väterlichen Zärtlichkeiten. Natürlich versuchte er sein Bestes, stellte sich aber immer etwas unbeholfen an. Dennoch konnte sie sich nicht daran erinnern, in letzter Zeit an einem Tag so oft umarmt worden zu sein. Das glich fast wieder die Episode mit Steve Whitman aus.

Ihr Vater ging einen Schritt zurück, um sie sich genau anzusehen. Und Hallie tat es ihm nach. Sein Anblick erschreckte sie. Seitdem sie ihn vor einigen Monaten das letzte Mal gesehen hatte, war er sehr gealtert. Hallie hatte die meiste Zeit ihres Lebens keine Mutter um sich gehabt, aber ihr Vater war immer für sie da gewesen. Selbst als sie weit weg nach Kalifornien gezogen war, hatte er sie angerufen und besucht. Und er hatte sie immer bedingungslos geliebt.

Sie lächelte und versuchte, sich ihre Betroffenheit nicht anmerken zu lassen. „Dann wusstest du also, dass ich komme? Hast du auch meine Aura wahrgenommen?“

Ihr Vater lachte. „Nein. Ich kann das ebenso wenig wie Althea – obwohl ich mich nicht mit ihr darüber streiten werde. Mitch hat uns vorhin angerufen. Er meinte, dass dich Kalifornien geistig verwirrt haben müsste und hat etwas über Steve Whitman und einen Doktor erzählt.“

Hallie wechselte schnell das Thema. „Ich habe Murphy auf der Veranda gesehen.“

Ihr Vater setzte sich wieder hin. „Murphy? Ach, du meinst Terminator.“

Sie blinzelte erstaunt. Konnte dieser Mann der stets vorhersehbare Bud Brewer sein? „Du hast dem Kater Terminator genannt? Wie bist du denn darauf gekommen?“

Bud zuckte die Achseln. „Ich wollte einfach eine Veränderung, nehme ich an.“ Er klopfte auf den Stuhl neben seinem. „Setz dich und erzähl mir, was du so machst, mein Mädchen.“

Nachdem sie sich gesetzt hatte, versuchte sie, den Saum ihres kurzen Rocks damenhaft bis über die Knie zu ziehen. Es war ein impulsiver Kauf im Anschluss an den Abstecher ins Nagelstudio gewesen. Doch ihr Vater schien ihre extravagante Aufmachung gar nicht zu bemerken. Aber er hatte ja auch nicht mit der Wimper gezuckt, als sie sich in der zehnten Klasse die Haare blau gefärbt hatte.

„Erzähl mir doch erst einmal, was bei dir los ist.“

„Nichts Ungewöhnliches. Zu viel Eiscreme und zu wenig gesunde Nahrungsmittel meinte der Arzt. Wenn sie nur eine Sorte von diesem Ökofutter herstellen könnten, dass so gut wie Eiscreme schmeckt.“ Bud seufzte. „Jedenfalls musste ich anfangen, einige Veränderungen vorzunehmen.“

Hallie wusste es besser. „Wahrscheinlich, nachdem du fünf Packungen deiner Lieblingseissorte gegessen hast, richtig?“

„Mehr als zehn davon. Alle Leute, die mich nach der Entlassung aus dem Krankenhaus besucht haben, haben mir diese Eiscreme mitgebracht.“ Er klang sehr nachdenklich.

„Ich denke, dieses Sahneeis hält zumindest die Ärzte beschäftigt“, versuchte Hallie, ihn aufzuheitern.

„Ich würde sagen, mir hat auch einfach mein Alter einen Streich gespielt. Und das geht so unmerklich vor sich. An einem Tag könntest du noch Bäume ausreißen und am nächsten schaffst du es gerade noch ins Bett, um dich auszuruhen.“

Ihr wurde das Herz schwer. „Du bist doch immer noch ziemlich jung, Dad.“

„Weißt du eigentlich, dass ich hier seit meinem einundzwanzigsten Lebensjahr immer das Gleiche tue?“

„Ja.“ Hallie hatte das ungute Gefühl, auf unbekanntes Territorium zu geraten. Dass ihr Vater schon immer im selben Haus wohnte, schien ihn nie gestört zu haben.

„Ich war nie in Tibet oder in Paris. Und solange ich mich erinnern kann, habe ich jeden Abend das gleiche verdammte Eis mit Schokoladensoße gegessen. Denkt eigentlich niemand, dass ich noch etwas anderes möchte, bevor ich sterbe?“, fragte er ärgerlich.

Sie lächelte nervös. Dieser Mann vor ihr war nicht mehr der alte Bud Brewer. Und sie wollte sofort ihren Vater zurück. Und sie wollte auch genau wissen, was hier eigentlich vorgegangen war. Sie stand frustriert auf. „Ich werde jetzt erst mal meine Sachen in mein Zimmer bringen und auspacken.“

Sie war schon fast am Haus angekommen, als die Stimme ihres Vaters sie stoppte.

„Bist du sicher, dass du mir nicht erzählen willst, was vorhin mit Steve Whitman passiert ist? Du weißt doch, dass ich es ohnehin von der halben Stadt erfahren werde.“

Hallie ging weiter.

Bis sie Samstagabend wieder zurück nach Kalifornien fahren würde, würden ihr sechs Tage bleiben, um ihren Vater wieder aufzumuntern.

Und sechs Tage, um herauszufinden, wie sie das Wunder des Jahrhunderts schaffen sollte – Sandy Bend dieses Mal ohne gebrochenes Herz und verwundeten Stolz zu verlassen.

3. KAPITEL

Der Tag war schon fast zu Ende, als Steve ein kühles Bier in der Hand hielt. Er trank einen Schluck, lehnte sich entspannt in seinem alten Liegestuhl zurück und verbummelte einfach die Zeit. Nach der Sitzung, von der er gerade kam, hatte er sich das verdient.

Zu versuchen, die Highschool zu retten, war ein aussichtsloser Kampf, aber er musste ihn trotzdem bis zum Schluss führen. Und dabei spielte nicht einfach nur eine Rolle, dass er seinen Arbeitsplatz verlieren würde, sondern vielmehr, dass Sandy Bend ohne Highschool wirklich Gefahr lief, zu einem bloßen Ferienort zu werden.

Steve wollte nicht, dass die Stadt nur noch in den Sommermonaten wirklich mit Leben erfüllt sein würde, sondern das ganze Jahr über, wie früher, als er lediglich ein Wochenendbesucher gewesen war.

Als er nach Sandy Bend gezogen war, hatte er die Stadt zu seiner Heimat gemacht und war zum Einheimischen geworden. Er hatte das alte Sommerhaus seiner Eltern gemietet, die sich ein neues gekauft hatten, das ganz modern mit viel Glas und Stahl ausgestattet war und bei dessen Anblick er eine Gänsehaut bekam.

Aber auch er wusste, dass er den Wechsel der Zeiten – oder die steigenden Grundstückspreise, die die Einheimischen sich gar nicht mehr leisten konnten, nicht aufhalten konnte.

Er liebte es, hier vor seinem Haus in den Dünen zu sitzen, über den Michigansee zu sehen und dem Wind zu lauschen.

Steve nahm noch einen Schluck Bier und bemerkte die grauen Wolken, die am Horizont aufzogen. Hier draußen braute sich etwas zusammen. Und auch in seinem Inneren standen die Zeichen auf Sturm. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich einsam. Das war keine Einsamkeit, die er durch eine Partie Billard und ein Bier mit Cal wieder verscheuchen könnte. Es war das Gefühl, dass ihm irgendetwas wirklich fehlte, und das mochte er kein bisschen.

Er würde einfach aufhören, daran zu denken. Ja, das war es. Diese ganze Innenschau tat einem Mann nicht gut. Er würde einfach aufhören, daran zu denken, um wie viel schöner der Abend wäre, wenn sich jemand an ihn schmiegen würde. Jemand mit Sommersprossen und wahnsinnig langen Beinen und …

Bei diesem Gedanken schoss Steve fast erschrocken aus seinem Sessel hoch.

„Stechen die Mücken?“, erklang eine amüsierte Stimme. Steve drehte sich um und sah Cal Brewer mit einer Flasche Bier in der Hand auf der Terrasse hinter dem Haus stehen.

Steve ging zu ihm. „Du hast dir mein letztes Bier geschnappt.“

„Wenn du in der Nähe deines Telefons gewesen wärst, wäre ich zu Hause und würde dort mein Bier trinken.“ Cal zögerte und trat fast peinlich berührt von einem Bein aufs andere. „Cousine Althea will, dass du zum Abendessen kommst.“

Oje, dachte Steve. Gemeinsam mit Horror-Hallie zu essen war keine gute Überlebensstrategie. „Sag, dass du mich nicht finden konntest.“

„Dad möchte dich auch sehen“, unterbrach ihn Cal.

Hallie hin oder her, wenn es um Bud Brewer ging, konnte Steve nicht widersprechen. Bud war lange Jahre fast so etwas wie ein Vater für ihn gewesen, da Steves eigener Vater sich nur wenig um ihn gekümmert hatte. Sein Job in Chicago ließ ihm einfach zu wenig Zeit für seinen Sohn. Und in letzter Zeit hatte sich Steve um Bud Sorgen gemacht.

„Schon gut.“

„Althea traut dir nicht und hat mich beauftragt, dich persönlich abzuliefern.“ Cal lächelte. „Außerdem haben wir so die Gelegenheit, anschließend ins ‚Truro’s‘ zu fahren, um eine Partie Billard zu spielen.

„Das ist ein guter Plan“, sagte Steve. Wenn auch nicht ganz so gut, wie schleunigst die Flucht zu ergreifen und nicht wieder zu kommen, bis Hallie der Stadt den Rücken gekehrt hatte.

Altheas Geister machten, was sie wollten. Hallies Cousine schaffte es nämlich nicht, die Farm der Brewers zu verlassen. Thor, ihr Mann, hatte sich beim Einladen des Gepäcks einen Hexenschuss geholt. Er tat Hallie leid. Aber sie war froh, dass Althea ihr weiterhin zur Seite stehen würde.

Im Moment runzelte ihre Cousine allerdings die Stirn über den von Hallie perfekt gedeckten Tisch für das Abendessen. „Wir brauchen noch ein Gedeck.“

Hallie zählte im Geist noch einmal alle Familienmitglieder durch. Zusätzlich fiel ihr nur Altheas Mann ein, den sie im Bett wähnte. „Geht es Thor wieder besser?“

„Nein, wenn er es einmal im Rücken hat, liegt er tagelang flach.“

„Okay, wer leistet uns denn dann Gesellschaft?“, fragte Hallie, während sie einen zusätzlichen Teller aus dem Schrank holte.

„Steve Whitman.“ Althea war ihr in die Küche gefolgt.

Hallie umklammerte das weiße Porzellan. Wut stieg in ihr auf. Gab es in Sandy Bend keinen Ort, wo man sich verstecken konnte?

„Er kann meinen Platz haben“, sagte sie, bevor sie die Küche in Richtung Esszimmer verließ.

„Wann hast du dich denn in einen Angsthasen verwandelt?“, rief Althea hinter ihr her.

Hallie blieb sofort stehen, drehte sich mit dem Teller in der Hand wieder um und kam zurück. „Ich halte das für eine Frage der Besonnenheit. Ich weiß, wann ich in Form bin und wann nicht.“

Althea hob die Augenbrauen. „Besonnenheit, ja?“

„Ich brauche einfach ein oder zwei Tage, um mit mir ins Reine zu kommen.“

„Dafür hattest du fünfundzwanzig Jahre Zeit, Hallie, und du scheinst doch gut klarzukommen. Du kannst doch von deiner Arbeit leben, oder?“

„Ja.“

„Und du hast neben deiner Arbeit noch andere Interessen?“ Hallie hatte ihre Aquarellmalerei und hoffte, eines Tages wirklich von ihrem kostspieligen Hobby leben zu können. „Sicher.“

„Freunde?“

„Natürlich.“ Alle ihre Freunde waren in Kalifornien. Die drei Mädchen, denen sie in Sandy Bend näher gestanden hatte, hatten ebenfalls nach der Highschool das Städtchen verlassen. Nur eine von ihnen, Emily, lebte noch im Bundesstaat Michigan, und zwar in der Nähe von Grand Rapids.

Althea schaute sie mit ihren grauen Augen ganz ruhig an. „Also, worüber genau bist du dir denn nicht im Klaren?“

Über die Geschichte mit Steve, wollte Hallie antworten, tat es aber nicht. Das einzugestehen würde sie zu angreifbar machen. Sie hielt sich vor Augen, dass die Sache lange zurücklag. Sicher, als Teenie hatte sie unzählige Nächte damit verbracht, von ihm zu träumen. Und es hatte eine Begegnung gegeben, die ihr immer noch zu schaffen machte. Aber all das war wirklich Schnee von gestern.

Nun war sie eine andere geworden. Eine attraktive, moderne Frau, die wusste, wie man sich in der großen, weiten Welt zu bewegen hatte. Sie straffte die Schultern und stellte Steves Teller auf den langen Esstisch.

„Ich bin mit mir im Reinen“, versicherte sie. „Völlig.“

Steve war kaum bei den Brewers angekommen, als er bereits wusste, dass es ein Fehler gewesen war. Die Stimmung beim Abendessen war miserabel.

Bud thronte am Kopf des Tisches und meckerte fortwährend über das gegarte Gemüse, das Althea ihm aufgetragen hatte. Und irgendwo im ersten Stock hörte man immer wieder ihren Mann ungehalten nach seiner Frau rufen.

Cal und Mitch waren kurzfristig zu einem Polizeieinsatz gerufen worden, sodass er nun ohne seine Kumpel hier saß.

Aber was ihn wirklich fast die Flucht ergreifen ließ, war Hallie, die ihm gegenübersaß. Sie hatte sich frisch gemacht und sah sehr hübsch aus, aber sie funkelte ihn so wütend an, als würde sie ihn am liebsten zum Ringkampf auffordern.

Mit Hallie Brewer in den Ring zu steigen war jedoch das Letzte, was er brauchte.

Er bedachte sie mit einem Lächeln, das er extra für nervige kleine Schwestern im Repertoire hatte. „Nun, Doc, bleiben Sie länger hier, oder ist das nur eine kurze Unterbrechung von Ihrer Roboter-Neurochirurgie?“

Hallie ließ die Gabel auf ihren Teller fallen, sodass es laut klirrte, und sah Steve verärgert an. „Ich werde Samstag wieder fahren, mach dir also keine Sorgen, dass ich hier zu viel Schaden anrichten könnte“, versetzte sie bissig.

Er zuckte die Achseln, um sich nicht anmerken zu lassen, welches Chaos ihre Sommersprossen bereits bei ihm ausgelöst hatten. Und er könnte wetten, dass ihre Haut nach Zimt und Zucker schmeckte.

„Außerdem mag ich keine Neurochirurgin sein“, sagte sie in einem Ton, der deutlich machte, dass er sich besser nicht mit ihr anlegen sollte, „aber ich habe einen Job. Zwei sogar, um genau zu sein.“ Sie lehnte sich herausfordernd nach vorn. „Ich habe meine Aquarelle bereits in Ausstellungen zeigen können“, fuhr sie denn auch hitzig fort. „Und ich bin Hausmanagerin bei Anna Bethune.“

Steve blinzelte. „Anna Bethune, die Schauspielerin?“

Hallie verdrehte die Augen. „Nein. Anna Bethune, die Hundefängerin. Natürlich die Schauspielerin.“

Anna Bethune und ihr Mann, Matt Colton, waren beide Hollywoodstars. Hallies Job war sicher toller, als ein beinahe arbeitsloser Schuldirektor zu sein. Aber obwohl Bud ihm wortlos zu verstehen gab, mit diesem Unsinn aufzuhören, fragte Steve schon: „Du hast also Anna Bethune getroffen?“ Sie zögerte. „Nicht direkt.“

Steve grinste. „Wie kannst du jemandem indirekt treffen?“

Ihre blauen Augen blitzten. „Ich wohne im Pförtnerhaus bei ihrem Ferienhaus in Carmel und sorge dafür, dass alles in Ordnung ist, wenn sie und ihr Mann dort wohnen wollen.“

Steve wusste, dass er das Thema fallen lassen sollte, aber er wollte Hallie explodieren sehen wie früher, wenn sie sich über ihn geärgert hatte.

„Dann arbeitest du eigentlich für Annas Haus“, sagte er. „Und nicht für Anna.“

„Ich arbeite für Anna“, meinte sie so ruhig, dass er ihr es fast abgekauft hätte, wenn nicht ihre Unterlippe heftig zucken würde.

Steve hatte Hallie gleich da, wo er sie haben wollte. Er wusste, dass sie in ein paar Momenten wieder zum aufbrausenden, aufsässigen Kind von früher werden würde.

Er starrte demonstrativ auf ihre leuchtend roten, verlängerten Fingernägel. „Weißt du, ich dachte, dass du mit deiner neuen, erwachsenen Aufmachung aus dem Stadium heraus bist, in dem man Märchen erzählt. Weißt du noch, wie du mir in der fünften Klasse erzählt hast, dass du die Rolling Stones dazu bekommen hast, bei eurem Schulpicknick aufzutreten?“

„Ich habe versucht, deine Aufmerksamkeit zu gewinnen, obwohl ich heute beim besten Willen nicht mehr weiß, was mich dazu getrieben hat“, erwiderte sie in deutlich gelangweilten Ton. „Ich dachte wahrscheinlich, dass sogar ein Dinosaurier wie du von den Rolling Stones gehört haben müsste. Schließlich bist du im gleichen Alter wie Mick Jagger, nicht wahr?“

Bud schlug unvermittelt mit der Handfläche auf den Tisch, und sowohl Steve als auch Hallie fuhren zusammen. Althea schien schließlich Thors Rufe doch noch zu hören und floh nach oben.

„Das reicht“, bellte Bud. „Mick Jagger ist alt genug, um Steves Vater zu sein, wie du ganz genau weißt, Hallie. Und Steve, ich bin sicher, dass du clever genug bist, um dir ausmalen zu können, dass ein Haus nicht Hallies Gehaltsscheck unterschreiben kann. Und jetzt, da ihr euch genügend gestritten habt, könnt ihr mir bitte die verdammte Butter herübergeben?“

„Nein!“, antworten Hallie und Steve alarmiert wie aus einem Mund.

Bud schob seinen Stuhl zurück, nahm seine Serviette ab und warf sie mitten auf den Brokkoli. „Ihr habt mir den Appetit verdorben – nicht, dass ich noch mehr Grünzeug hätte essen wollen, damit das klar ist. Ich gehe nach oben, um mit Thor eine Partie Poker zu spielen. Und um vielleicht auch eine Zigarre zu rauchen.“

„Dad, du rauchst keine Zigarren.“

Er stand auf und warf Hallie einen entschlossenen Blick zu. „Dann ist es Zeit, damit anzufangen. Und bevor du dein kultiviertes, neues Selbst wieder zurück nach Westen transportierst, geh hinaus zur Scheune und sieh dir den Festwagen für die Parade an. Die Parade findet am kommenden Samstag statt, und ich fühle mich nicht danach, daran zu arbeiten. Kümmere du dich darum.“

Bud stolzierte hinaus, und es kehrte Stille ein.

Steve machte den Mund auf, um sich dafür zu entschuldigen, dass er die Stimmung verdorben und Bud aufgeregt hatte, aber dann ergriff auch Hallie die Flucht.

„Eine großartige Mahlzeit“, sagte Steve schuldbewusst zum leeren Tisch. „Und es ist so viel übrig.“ Er nahm sich noch etwas Kartoffelbrei und aß weiter.

Für Hallie hatte die Scheune mit dem Heuduft schon immer ein nostalgisches Flair gehabt. Sie schlüpfte durch eine schmale Seitentür hinein und fühlte sich sofort beruhigt. Durch die Dachluke fiel nur wenig Licht herein, und so schaltete sie das Licht an.

Es war Jahre her, dass die Scheune tatsächlich für die Farmarbeit benutzt worden war. Nun stand dort die alte Corvette ihres Dads. Das sorgfältig mit einer Plane abgedeckte Auto kam noch einmal im Jahr jeweils zur Sommerspaß-Parade zum Einsatz. Daneben stand der Festwagen, den die Brewers, seit Hallie denken konnten, jährlich für die Parade herrichteten.

Die Sommerspaß-Parade war einst von den Einheimischen ins Leben gerufen worden, um Touristen anzulocken. Aber inzwischen war es ein riesiges Fest, das immer Ende April stattfand. Neben der Parade gab es eine ganze Woche lang Angel- und Baseballturniere, Feuerwerke und ein großes Picknick im Park, das von der Stadtverwaltung veranstaltet wurde.

Zu dieser Feier kehrten alle, die in Sandy Bend aufgewachsen waren, zurück in die Heimat. Alle außer Hallie. Dass sie weit weg in Kalifornien wohnte, war dafür stets eine gute Entschuldigung gewesen.

Hallie ging zu dem niedrigen Anhänger, der außen mit blauen Wellen aus bemalten Spannplatten verziert war, auf denen ein altes Ruderboot schaukelte. Sie rümpfte die Nase. Anscheinend hatte ihr Vater wieder ein Angelmotiv im Sinn, wofür sie ganz und gar nichts übrig hatte.

Froh darüber, dass sie nach dem Duschen in eine Jeans geschlüpft war, stieg sie auf den Anhänger. Da sie ohnehin nicht gern still saß, hatte sie kein Problem damit, den Festwagen zu gestalten. Dann hatte sie etwas zu tun, was ihr Spaß machte, während sie herausfinden würde, was mit ihrem Vater los war.

Sie beschloss, den Festwagen zu einem richtigen Kunstwerk zu machen. Ihr Vater gab ihr damit die Möglichkeit, Sandy Bend zu zeigen, was sie alles gelernt hatte. Und während sie daran arbeitete, würde sie ihre Ruhe haben.

„Hallo, Doc.“

Zu früh gefreut! Hallie erwiderte den Gruß nicht. Sie musste weiterhin böse auf Steve sein. Die Alternative war nicht akzeptabel. „Ich störe dich doch nicht, oder?“

„Nein“, sagte sie, erstaunt darüber, wie leicht ihr die Lüge über die Lippen ging. Alles an Steve störte sie. Das war schon immer so gewesen und würde immer so sein.

Er deutete auf den Anhänger. „Tut mir leid, dass wir noch nicht mehr getan haben.“

Hallies Herz setzte einen Schlag aus. „Wir?“

Steve stieg ebenfalls auf den Anhänger und setzte sich neben sie. Fernes Donnergrollen verriet, dass ein Gewitter aufzog. „Ich habe versucht, Bud zu helfen. Aber in letzter Zeit ging es bei mir drunter und drüber. Es wurde darüber diskutiert, die Highschool dichtzumachen.“

„Ich habe davon gehört“, sagte Hallie. Sie wollte nicht mit ihm mitfühlen. Tatsächlich fände sie es klasse, wenn sie überhaupt nichts für ihn empfinden würde – auch nicht dieses Kribbeln bei dem Gedanken, dass sie nah genug neben ihm saß, um ihn zu berühren. Sie bräuchte nur die Finger auszustrecken und würde über seinen muskulösen Oberschenkel streichen können.

Sie rückte ein Stückchen von ihm weg. „Mach dir um den Festwagen keine Sorgen. Ich werde das jetzt übernehmen.“

Steve zögerte. „Nun, das ist das Problem. Ich habe den Wagen als eine Art Ausrede benutzt, um nach Bud zu schauen. Er mag es nicht besonders, wenn man sich zu sehr um ihn kümmert.“

Dass Steve sich um ihren Vater sorgte, ließ ihr Herz nur noch lauter klopfen. Hallie überlegte, ob es nicht besser wäre, vom Anhänger herunterzusteigen.

„Es ist nett von dir, nach Dad sehen zu wollen, aber es ist alles unter Kontrolle“, versicherte sie.

„Ist es das wirklich?“

Die Frage klang so freundlich, dass sie sich nicht über seine Einmischung ärgern konnte. Sie betrachtete sein Profil und bemerkte seine geschwungenen Wimpern. Die hatte sie vergessen.

„Lass uns Waffenstillstand schließen, Doc“, sagte er. „Lass uns eine Woche lang einfach die Vergangenheit vergessen und gemeinsame Sache machen, bitte. Bud war immer wie ein Vater für mich.“

Regen prasselte jetzt aufs Dach, und Hallie erschauerte. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie sich wieder unsterblich in den Mann verlieben.

„Wenn du dich benehmen kannst, kann ich es auch“, erwiderte sie betont munter. „Und es ist ja nicht so, dass wir zusammen daran arbeiten müssen. Ich werde die Tagesschicht übernehmen, und du kannst die Abendschicht haben. Auf diese Art können wir uns aus dem Weg gehen.“

Er runzelte kurz die Brauen, aber dann lächelte er. „Wie du willst. Ich bin ohnehin tagsüber mit der Highschool beschäftigt.“

„Sicher“, erwiderte sie und hoffte, dass der Donner den Anflug von Enttäuschung in ihrer Stimme übertönte. Sie hatte ja gar nicht gewollt, dass er darauf bestanden hätte, gemeinsam zu arbeiten. Nicht wirklich jedenfalls.

„Gut.“ Er sah erst hinauf zum Dach und dann zu ihr. „Ich glaube nicht, dass das in absehbarer Zeit aufhören wird.“

Hallie starrte ihn fassungslos an und fragte sich, wie er sie so leicht durchschauen konnte. Dann wurde ihr klar, dass er vom Regen geredet hatte, und sie erhob sich ebenfalls.

„Wahrscheinlich sollten wir zusehen, dass wir schnell zurück ins Haus kommen“, meinte sie.

Steve sprang vom Wagen herunter und streckte ihr die Hand entgegen. Sie nahm sein Hilfsangebot an. Als sie dann festen Boden unter den Füßen hatte, hielt er sie weiter fest. Und Hallie musste zugeben, dass auch sie sich nicht übermäßig bemühte, ihm ihre Hand zu entziehen.

Schon wieder spürte sie dieses eigenartige Prickeln.

In seinen Augen blitzte Humor auf, als er mit dem Daumen über ihre verlängerten Fingernägel fuhr. „Ich würde sagen, bevor du an die Arbeit gehst, sollten wir mal in Buds Werkzeugausrüstung kramen. Vielleicht hat er einen Bolzenschneider, mit dem man den Dingern zu Leibe rücken kann.“

Hallie entzog ihm ihre Hand, bevor sie in Versuchung geriet, die Berührung auszudehnen. „Wer zuerst im Haus ist!“, rief sie und rannte los.

Als sie durch den Regen flitzte, ging ihr das Wort „verrückt“ durch den Kopf. Die gefürchtete Vergangenheit war ihr auf den Fersen. Und sie wollte nichts anderes, als sich umzudrehen und Hals über Kopf in sie hineinzurennen.

4. KAPITEL

Als Steve im Haus ankam, war Cal wieder von seinem Einsatz zurück.

„Wollen wir jetzt los auf ein Bier?“, fragte Cal.

Steve fuhr sich durch die nassen Haare und hielt nach Hallie Ausschau, die aber nirgends zu sehen war. „Ich denke, ich passe heute Abend“, sagte er.

„Bist du okay?“

„Ja, mir geht es gut.“ Tatsächlich fühlte er sich wegen Hallie ziemlich unbehaglich. Als er bei ihr vor sieben Jahren vom Podest des Lieblingshelden gestürzt war, war er so gut wie möglich damit umgegangen. Wenn er jetzt an das ganze furchtbare Durcheinander dachte, wand er sich innerlich. Er hätte damals eine Menge anders machen können und hatte deshalb Gewissensbisse.

Cal wedelte mit der Hand vor Steves Gesicht herum. „Jemand zu Hause?“

„Ja, sicher.“ Steve sah auf die Treppe und fragte sich, ob Hallie in ihrem alten Zimmer war. Und dann fragte er sich, warum er sich das fragte.

Cal schnaubte. „Wenn du das ,gut‘ gehen nennst, setze ich dich wirklich besser zu Hause ab. Als Zombie-Imitation verschreckst du im ,Truro‘ nur die Frauen.“

„Die meisten Frauen im ,Truro’s‘ verschrecken mich“, sagte Steve.

„Okay, sie mögen es mit ihrem Make-up ein wenig übertreiben, aber hier gibt es nun mal sonst nicht viele Möglichkeiten, sich ein bisschen in Szene zu setzen.“ Cal klimperte mit den Schlüsseln. „Lass uns fahren, bevor ich erneut zu einem Einsatz gerufen werde.“

Eine Viertelstunde später setzte Cal Steve an der Straße ab, die zu seinem Haus führte. Die Ahorn- und Walnussbäume, welche die Straße säumten, verströmten nach dem Sommergewitter einen erdigen Duft.

Steve atmete tief ein und dachte, um wie viel lieber er hier ganz ohne Autoabgase wohnte als in seiner Wohnung mitten in Chicago, aus der er vor zwei Jahren ausgezogen war. Das Leben in der Stadt und der subtile, aber konstante Druck seines Vaters hatten ihn verrückt gemacht.

Als er um die letzte Kurve zur Einfahrt des Hauses bog, blieb er wie angewurzelt stehen. „Verdammt.“

Finster betrachtete er den roten Toyota, der neben seinem Jeep parkte. Offensichtlich stattete ihm jemand aus Chicago einen Besuch ab. Als er die Stufen zum Eingang des großen, alten Holzhauses hinaufging, tröstete er sich mit dem Gedanken, dass zumindest nur eine Schwester – und nicht alle fünf – gekommen war, um ihn zu peinigen.

Die Haustür stand weit offen. Steve ging hinein und ließ die Tür mit einem lauten Knall zufallen.

Seine jüngste Schwester Kira wirkte keineswegs alarmiert.

„Was tust du hier?“, fragte er Kira, die es sich auf seinem Sofa bequem gemacht hatte.

„Ich bin wegen der Sommerspaß-Tage hier, aber in meinem Zimmer in unserem Haus arbeiten die Maler.“ Sie rümpfte die Nase. „Es riecht furchtbar nach Farbe. Deshalb werde ich heute Nacht dein Gast sein.“

„Und du dachtest nicht daran, vorher zu fragen?“

Die Frage war eher rhetorisch. Seine Schwestern hatten schon immer schamlos ausgenutzt, dass sie in der Überzahl waren, und sich bei ihm bedient, wenn sie etwas brauchten.

„Warum sollte ich das? Es ist ja nicht so, dass du jemand anderen hier hättest. Wir wissen alle, dass du fast wie ein Eremit lebst.“

Zombie. Eremit. Und sein ehemals größter Fan, Hallie Brewer, hielt ebenfalls geflissentlich Abstand. Dieser Abend war wirklich niederschmetternd für sein Ego.

„Wo bist du eigentlich gewesen?“, fragte Kira.

„Ich war zum Abendessen bei den Brewers. Hallie ist hergekommen.“ Er merkte, dass sich seine Mundwinkel zu einem dämlichen Lächeln verzogen, obwohl er es zu verhindern suchte.

Kira verdrehte die Augen. „Wen interessiert das schon.“

Steve war über ihre Reaktion nicht besonders überrascht. Obwohl sie als Kinder eng befreundet gewesen waren, hatten sich die beiden später in unterschiedlichen Kreisen bewegt. Steve nahm an, dass es damit zusammenhing, dass Hallie Kira einmal einen Punkschnitt mit grünen Strähnen verpasst hatte. Ein Missgeschick, da würde er jede Wette eingehen.

„Ja, es ist die Woche der Heimkehrer. Auch Susan ist hier“, verkündete Kira. „Sie hat ihren Verlobten mitgebracht, um ihn überall vorzuzeigen.“

Die Nachricht traf Steve wie ein Schlag. Auch Susans Eltern gehörte in Sandy Bend ein Haus, und sie hatten am See viel Zeit miteinander verbracht und waren sich nähergekommen. Während sie aufs College gegangen waren und auch noch einige Zeit danach hatten sie dann eine Beziehung auf Distanz geführt. Vor drei Jahren schließlich, als Susan als Juniorpartnerin in einer Anwaltskanzlei eingestiegen war, hatten sie sich verlobt. Ein Jahr später hatte Susan die Verlobung wieder gelöst.

Er hatte nicht gewusst, dass Susan sich wieder verlobt hatte.

„Ich hoffe, dass der Mann Sandy Bend nicht zu sehr mögen wird“, sagte er betont beiläufig. „Dann wird er nicht so oft wieder kommen.“

„Er ist auch Anwalt“, meinte Kira. „Ich bezweifle, dass die beiden viel Zeit für Besuche hier haben werden.“

Zumindest das schien eine gute Nachricht zu sein. Es war nicht so, dass er Susan dafür hasste, ihn verlassen zu haben, aber er wollte sie auch nicht öfter als nötig sehen. Und er brauchte Zeit, um sich darüber klar zu werden, was ihre Ankunft für ihn bedeutete.

„Ich werde noch einmal am Strand durch die frische Luft gehen“, sagte er zu seiner Schwester.

Steve lief hinunter bis zur Brandung. Abendrot erleuchtete den Himmel. In einiger Entfernung konnte er die Silhouette eines Händchen haltenden Pärchens erkennen. Er fühlte sich einsam.

Er hatte immer geglaubt, dass er, wenn er die dreißig überschritten hätte, ebenfalls fest liiert sein und dann Susans Hand halten würde.

Als ihm plötzlich Hallies derzeitige rote Krallen in den Sinn kamen, lachte er leise. Es würde wahrscheinlich nicht ganz einfach sein, mit ihr Händchen zu halten. Mit Susan zusammen zu sein war immer ganz natürlich gewesen. Es war ihm so selbstverständlich vorgekommen, wie jeden Morgen sein Gesicht im Spiegel zu sehen. Er hatte diese Beständigkeit sehr gemocht. Bis er weiter von ihren Zielen abgewichen war, als sie akzeptieren konnte.

Sie hatte toleriert, dass er Lehrer geworden war, anstatt in die Geschäfte seiner Familie, Fabriken und Beteiligungen an Immobilien, einzusteigen. Sein Vater war immer wieder mit neuen Jobangeboten bei ihm aufgetaucht, die Steve insgeheim alle für uninteressant gehalten hatte, weil sie keine Herausforderung dargestellt hatten und sich höchstens positiv auf sein ohnehin unanständig hohes Bankkonto ausgewirkt hätten.

Trotzdem war das große Vermögen der Familie natürlich weiterhin ein Anreiz für Susan gewesen. Und als er seine Ausbildung zum Lehrer abgeschlossen und erwogen hatte, sich in Sandy Bend ein Leben aufzubauen, das nicht nur aus Wohltätigkeitsbällen und Golfpartien bestehen sollte, war sie zunächst auch einverstanden gewesen.

Sie hatte geglaubt, dass es Spaß machen könnte, sich in einer Kleinstadt eine Anwaltskanzlei einzurichten. Doch die eisigen Winter in einem fast verlassenen Ort hatten sie abgeschreckt. Und sie hatte gemerkt, dass es Steve Ernst damit war, nicht vom Vermögen seiner Familie zu leben. Als sie ihm den Umzug nach Sandy Bend nicht ausreden konnte, hatte sie die Verlobung gelöst.

Es hatte ihm weit mehr zu schaffen gemacht, dass seine Pläne damit über den Haufen geworden waren, als er zugegeben hatte. Seine Familie war ihm auf ihre zurückhaltende Art eine Stütze gewesen, aber trotzdem hatte er das Gefühl, sie enttäuscht zu haben. Wenn er schon den Beruf des Lehrers und ein Leben in Sandy Bend gewählt hatte, hätte er in den Augen seiner Eltern zumindest eine passende Frau aus seinen Kreisen heiraten können.

Viele Monate lang hatte Steve fast nur funktioniert. Erst in letzter Zeit hatte er das Gefühl gehabt, wirklich über Susan hinweg zu sein und irgendwann wieder glücklich sein zu können.

Aber im Sommer in Sandy Bend unglücklich zu sein war auch kaum möglich. Er konnte sogar etwas Gutes darin sehen, dass Hallie Brewer wieder in seinem Leben aufgetaucht war. Vielleicht konnte er die Dinge zwischen ihnen ja schließlich doch noch klären und ihr Verhältnis zum Guten wenden. Steve vertrieb seine melancholische Stimmung und machte sich auf den Rückweg. Er brauchte seinen Schlaf, um es mit der Hallie aufnehmen zu können.

Am nächsten Morgen wachte Hallie spät auf. Sie sah sich in ihrem ehemaligen Zimmer um und kam zu dem Schluss, dass sie pinkfarbene Vorhänge immer noch nicht leiden konnte. Dann versuchte sie eine Viertelstunde lang, ihre Fingernägel zu stutzen.

Nachdem sie erfolglos sämtliche Nagelscheren ausprobiert hatte, suchte sie schließlich im örtlichen Telefonbuch nach professioneller Hilfe und machte für den folgenden Tag einen Termin beim einzigen Salon der Stadt, der Maniküre anbot.

Hallie war kein Snob, aber das Leben in Kalifornien hatte sie schon weltläufiger gemacht. Ein Salon, der „The Hair Dungeon“ hieß und damit Assoziationen an ein Verlies weckte, machte sie nervös. Sie würde sich dort wirklich nur die Nägel machen lassen und die Prozedur sorgsam beobachten.

„Noch fünf Tage, dann bin ich zurück in der Zivilisation“, sagte sie sich. Es würden wohl die fünf längsten Tage ihres Lebens werden.

Nachdem sie das erste Problem angegangen hatte, stählte sich Hallie für die noch kommenden. Auf dem Weg nach unten traf sie auf Cousine Althea.

„Wir müssen miteinander reden.“

„Wenn ich Thor den Imbiss gebracht habe, komme ich zu dir.“

In der Küche saß ihr Vater mit einem Stapel Bücher vor sich. Als sie ihm einen guten Morgen wünschte, runzelte er nur die Stirn. Sie versuchte, ein unverfängliches Gesprächsthema zu finden. „Warst du heute Morgen in der Bücherei?“

„Ja, das war ich. Und ich habe im Polizeirevier nach den Jungs gesehen. Und ich habe bei alten Freunden einen Kaffee getrunken. Und all das, während du dich oben eingeigelt hattest. Du musst nach draußen gehen und etwas Pep in dein Leben bringen. Denn es ist kurz, Hallie-Mädchen.“

„Und die Fahrt von Kalifornien war lang. Ich habe den Schlaf gebraucht.“ Und ich habe versucht, mir eine Überlebensstrategie für die nächsten Tage zurechtzulegen, fügte sie im Stillen hinzu.

Nachdem sie sich einen Becher Kaffee eingeschenkt hatte, sah sie den Bücherstapel durch. Anstelle der üblichen Spionagethriller schien ihr Vater eine Vorliebe für Sachbücher entdeckt zu haben. Oder um genauer zu sein, zu Sachbüchern über exotische Themen. Die Titel lauteten zum Beispiel „Aliens sind unter uns“ oder „Kornkreise – Signaturen der Außerirdischen“.

„Ein neues Hobby, Dad?“

Ihr Vater deutete auf den Alien-Wälzer. „Tatsächlich versuche ich zu beweisen, dass Althea nicht von dieser Welt ist.“

„Ich habe das gehört!“, rief Althea vom Flur aus.

„Das würde ich dir genauso gut ins Gesicht sagen.“

Hallie entschied, dass es klüger wäre, die beiden Kampfhähne zu trennen. Sie nahm sich einen Apfel aus der Obstschale. „Begleite mich hinaus zur Scheune“, sagte sie zu Althea. Sobald ihr Vater sie nicht mehr hören konnte, fragte sie: „Wie lange ist er schon so?“

Althea verlangsamte ihren Schritt. „Sein ganzes Leben lang. Und ich bin sicher, dass er der Alien ist und nicht ich.“

„Nein. Ich meine diese merkwürdigen Verhaltensweisen – Zigarren zu rauchen, diese Bücher zu lesen und nicht am Festwagen zu arbeiten.“

Ihre Cousine blieb stehen. „Bud fühlt sich ein wenig verloren, das solltest du verstehen. Es ist nicht einfach, immer als die Person gesehen zu werden, die man einmal war, egal, wie sehr man sich im Inneren verändert hat.“

Da musste Hallie ihrer Cousine recht geben. „Meinst du, dass er wirklich in Ordnung ist?“

„Die Ärzte haben ihm letzte Woche gesagt, dass er wieder arbeiten gehen könnte. Ich bin sicher, dass es ihm körperlich gut geht.“

„Und sonst?“

„Dein Vater muss einige Dinge bewältigen. Hab etwas Geduld, Hallie.“

Hallie seufzte. Geduld war noch nie ihre Stärke gewesen.

„Er hat dich schon durch mehrere schwierige Lebensphasen gehen sehen. Dann kannst du ihm auch in dieser beistehen.“

Soweit Hallie zurückdenken konnte, war ihr Leben eine einzige endlose schwierige Phase gewesen. Als einziges weibliches Wesen im heimischen Haushalt bestehen zu müssen hatte seine Nachteile gehabt.

„Ich will nur ganz sicher sein, dass Dad okay ist, bevor ich gehe.“

Altheas Armreifen klimperten leise. „Sei auch sicher, dass du okay bist, bevor du gehst. Du hast selbst noch Dinge zu klären. Steve Whitman …“

Zum Glück wurde ihre Cousine durch ein lautstarkes „Althea!“ aus dem ersten Stock unterbrochen.

„Man muss tief durchatmen“, murmelte Althea, „und innere Ruhe finden.“ Sie lächelte. „Thor hat Probleme damit, sich pflegen lassen zu müssen.“

„Geh schon zu ihm“, meinte Hallie. „Ich mache mich in der Scheune an die Arbeit.“

Drinnen kletterte Hallie auf den Anhänger und aß ihren Apfel, während sie sich ihr Leben in Sandy Bend in Erinnerung rief. Und diesmal nicht ihre Missgeschicke, sondern die guten Zeiten.

Sie hatte die am Michigansee verbrachten Tage immer sehr schön gefunden. Während die anderen Mädchen am Strand mit den Jungen geflirtet oder Musik gehört hatten, hatte sie sich immer allein beschäftigt und weit ab von den anderen Drachen steigen lassen und große Sandburgen gebaut.

Und genau das würde sie aus diesem Festwagen machen: Einen privaten Strand, der mitten über die Hauptstraße fahren würde. Um Farbe hineinzubringen, würde sie ganz einfach verschiedene flatternde Fahnen benutzen. Auch die restliche Dekoration sollte kein Problem sein. Im Haus der Brewers waren ganze Strandausrüstungen zu finden. Aber sie brauchte auch Sand.

Sie könnte dem öffentlichen Strand einen Besuch abstatten, hatte aber Bedenken, ob sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten würde, wenn sie einfach Sand abtransportierte. Sie hatte die Schlagzeile im „County Herald“ schon vor Augen: „Tochter des Polizeichefs wegen Sandraub verhaftet.“

Damit blieben nur die Privatstrände, und Hallie hatte keine Ahnung, ob die Leute, denen früher ein Grundstück am See gehört hatte, immer noch dort wohnten.

Nur von Steve wusste sie es. Denn Cal hatte gestern Abend erwähnt, dass Steve das Ferienhaus von seinen Eltern gemietet hatte.

Doch sie konnte sein Grundstück nicht einfach unbefugt betreten und sollte sich vorher seine Erlaubnis holen. Allerdings war er fast den ganzen Tag über in der Schule, und sie wollte ihn auf keinen Fall bei der Arbeit stören. Außerdem war ihr das Anwesen der Whitmans sehr vertraut, weil sie sich als Jugendliche dort oft genug herumgetrieben hatte, um einen Blick auf Steve zu erhaschen. Und dann war dort der Moment gewesen, als sie …

Hallie verscheuchte schnell das Bild, das sie ungewollt vor Augen hatte. Nach einigen von Altheas „tiefen“ Atemzügen hatte sie sich fast wieder im Griff.

Um ihrer Seelenruhe willen entschied sie, sich den Sand dort einfach heimlich zu holen. Sie könnte mit dem Pick-up ihres Vaters dort hineinfahren, ohne dass Steve etwas davon mitkriegen musste.

Eine Stunde später parkte Hallie den Pick-up hinter Steves Haus und kletterte aus dem Fahrzeug.

Sie mochte dieses alte Holzhaus sehr. Als sie jünger gewesen war, hatte sie sich oft in ihrer Fantasie ausgemalt, mit Steve verheiratet und hier Hausherrin zu sein und regelmäßig im Sonnenuntergang auf der Veranda Cocktailpartys zu geben.

Als Erwachsene hatte sie in Kalifornien nicht nur einige mittlerweile wieder Pleite gegangene Internetmillionäre kennen gelernt, sondern konnte auch die Kosten abschätzen, die es erforderte, das dem brutalen Winter in Sandy Bend schutzlos ausgelieferte Holzhaus mit acht Schlafzimmern und veralteten Rohren in Schuss zu halten. Der Traum war ausgeträumt.

Und auf sie wartete ja in wenigen Tagen auch ohnehin ihr kleines, ordentliches Pförtnerhaus in Carmel. Außerdem war heute ein wunderschöner Tag für einen Sandraub. Es war sonnig und warm. Hallie versuchte, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, und sah sich um.

Das Haus war auf einem großen Hügel gebaut worden, der zum See hin auslief. Knorrige Kiefern und Büsche, die dort gepflanzt worden waren, hatten ihre Wurzeln in den trockenen sandigen Boden gegraben. Und an den Stellen, wo der Hügel in seinem natürlichen Zustand belassen wurde, wuchsen zwischen dem Sand Strandgras und Gestrüpp.

„Sieht nicht gut für mein Vorhaben aus“, murmelte sie.

Ein Stück weiter entfernt bemerkte sie einen Geräteschuppen. Falls Steve eine Schubkarre hatte, könnte sie den Sand damit vorne vom Strand holen.

Die Tür war nicht verschlossen, was ihr Gewissen erheblich erleichterte, auch wenn ein Eindringen trotzdem illegal war. Hinter einigen Schaufeln und Harken erspähte sie eine alte, aber noch brauchbare Schubkarre. Hallie holte die Schaufel und die Arbeitshandschuhe aus dem Lieferwagen, schnappte sich die Schubkarre und machte sich an die Arbeit.

Gegen Mittag begannen ihre Arme von der ungewohnten körperlichen Anstrengung zu schmerzen. Obwohl der Sandhaufen auf dem Pick-up noch kaum der Rede wert war, lief ihr der Schweiß übers Gesicht.

Zeit für eine Pause, sagte sie sich. Sie zog die Arbeitshandschuhe aus und zuckte wegen der Blasen an ihren Händen zusammen. Vorsichtig zog sie das T-Shirt und ihre Shorts aus und enthüllte den orangefarbenen Bikini, der ebenfalls ein Spontankauf gewesen war, um in der Heimat auch ja gut auszusehen. Sie wusste, dass sie wegen ihrer Figur nicht mehr unter mangelndem Selbstwertgefühl leiden musste. Denn heute war sie keine Bohnenstange mehr. Sie ging die Düne hinunter und watete ins Wasser. Eine Welle umspülte ihre Oberschenkel.

Der Kälteschock ließ sie kurz aufschreien, aber nicht umkehren, denn sie war in Sandy Bend aufgewachsen und die eisige Nordströmung im See gewohnt. Als sie bis zur Taille im Wasser stand, tauchte sie ganz in die Wellen ein. Sie hatte noch nicht einmal bemerkt, dass sie einen Zuschauer hatte.

5. KAPITEL

Einen Moment lang hatte Steve den Eindruck, in die Welt der Mythen versetzt worden zu sein. Er schien Venus aus den schaumgekrönten Wellen steigen zu sehen. Doch sein Verstand sagte ihm, dass die sommersprossige und hoch aufgeschossene Hallie Brewer keine Venus war. Was seinen Körper aber nicht daran hinderte, in eindeutiger Weise auf sie zu reagieren.

„Schau weg“, befahl er sich laut, als sie tauchte. „Dreh dich einfach um, und geh zurück zum Haus.“

Ein guter Vorsatz, aber nicht so einfach umzusetzen. Steve schaffte es gerade mal, sich von seinem Platz auf der Düne in seinen Liegestuhl zurückzuziehen.

Als er dann immer noch nicht den Blick von Hallies anmutigem Körper wenden konnte, überlegte er, dass er sich vielleicht doch einmal den aufgedonnerten Frauen im „Truro’s“ zuwenden sollte. Die plötzliche Fixierung auf Hallie Brewer war für ihn nur durch seine körperliche Bedürftigkeit zu erklären. Oder dadurch, dass er plötzlich verrückt nach orangefarbenen Bikinis geworden war.

Er erinnerte sich, dass Hallie damals, als er als Refendar in ihrer Abschlussklasse Mathestunden gegeben hatte, noch ganz schlaksig und ungelenk gewesen war. Er hätte nie gedacht, dass sie sich zu einer derart attraktiven Frau entwickeln würde. Damals war sie immer so ängstlich besorgt gewesen zu gefallen, dass er gar nicht gewusst hatte, wie er mit ihr umgehen sollte.

Obwohl sie beide im Moment kampfbereit auf der Lauer lagen, musste er zugeben, dass sie nun weicher und reifer geworden war. Ihre Unbeholfenheit war einer Art Liebreiz gewichen. Er würde sie gern berühren.

„Bekomm dich in den Griff“, murmelte er.

Denn Hallie stellte für ihn eine Gefahrenzone dar. Aus mehreren Gründen war es heute nicht akzeptabler als vor sieben Jahren, sich zu stark für sie zu interessieren. Damals hatte sie sich ihm angeboten.

Natürlich war sie zu dieser Zeit nicht ganz bei Sinnen gewesen. Und selbstverständlich hatte er das Angebot klar und deutlich abgelehnt.

Aber er war interessiert gewesen. Viel zu sehr. Noch Wochen danach hatte sich Hallie immer wieder auf sehr erotische Weise in seine Gedanken eingeschlichen. Diese merkwürdige Anziehung, die das acht Jahre jüngere Mädchen auf ihn ausübte, hatte ihn erschreckt. Er hatte sich bereits gefragt, ob er vielleicht einen Lolita-Komplex hätte.

Auch gegenüber Susan, seiner damaligen Freundin, hatte er sich deswegen schuldig gefühlt. Susan war das genaue Gegenteil von Hallie gewesen: weder viel zu jung und unschuldig, noch unbeholfen, ungeschickt und furchtbar verlegen. Mit eisernem Willen hatte er es schließlich geschafft, die ausufernden Fantasien über Hallie aus seinem Kopf zu verbannen. Schließlich hatte er nicht auf der Couch eines Psychiaters enden wollen.

Und nun war Hallie vollkommen erwachsen und wunderschön nach Sandy Bend zurückgekehrt. Steve streckte sich auf seinem Liegestuhl aus, nahm die Sonnenbrille ab und bedeckte mit dem Arm seine Augen, um den atemberaubenden Bikini aus seinem Blickfeld auszusperren. Er kannte Hallie einfach schon zu lange als die kleine Schwester seines besten Kumpels, um auf solche Gedanken zu kommen. Es wurde wirklich Zeit für ihn, im „Truro’s“ ein bisschen Spaß zu haben.

Er hatte bereits eine Weile mit geschlossenen Augen dort gelegen, als er ein atemloses „Hallo!“ hörte.

Fast unwillig nahm Steve seinen Arm weg. Hallie stand vor ihm. Er erlaubte sich nicht mehr als einen ganz kurzen – wenn auch sehr eingehenden – Blick auf ihren Körper, bevor er sich aufrecht hinsetzte und ihr ins Gesicht sah.

„Hallo“, erwiderte er, nachdem er seine Sonnenbrille wieder aufgesetzt hatte.

„Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich mir deinen See ausgeborgt habe.“

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