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Thunder Point - Teil 4-6 (3in1)

hier erhältlich:

SEHNSUCHTSTAGE IN THUNDER POINT

Nachdem FBI-Agentin Laine Carrington bei einem Undercover-Einsatz angeschossen wurde, nimmt sie sich eine Auszeit und kommt nach Thunder Point. Sie braucht die Sicherheit, die nur eine Kleinstadt bieten kann, und viel Ruhe, um zu entscheiden, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll. Und vielleicht, ganz vielleicht kann sie in Thunder Point das finden, was sie in ihrem Leben sehnlichst vermisst: echte Freundschaft und möglicherweise sogar die Liebe.

VEREINT IN THUNDER POINT

Nach einer bitteren Enttäuschung braucht Peyton Lacoumette vor allem eins: einen Tapetenwechsel. Da kommt die Stelle in einer Arztpraxis im beschaulichen Küstenstädtchen Thunder Point gerade recht. Drei Monate will Peyton hier bei Dr. Scott Grant aushelfen und wieder zu sich selbst finden. Mit jedem Tag verblasst der Schmerz mehr, was auch an ihrem attraktiven Chef Scott liegt. Aber kann sie ausgerechnet mit diesem Mann einen Neubeginn wagen?

SCHICKSALSSTÜRME IN THUNDER POINT

Als Kinder und Jugendliche waren Iris McKinley und Seth Sileski unzertrennlich - bis zu jenem verhängnisvollen Abschlussball. Seit siebzehn Jahren herrscht Funkstille zwischen ihnen. Daher Iris war es nur recht, dass Seth für eine Sportlerkarriere das kleine Thunder Point verließ. Jetzt kehrt Seth nach all den Jahren in seinen Heimatort zurück und Iris ist gezwungen, sich ihren Gefühlen für ihren einstigen Vertrauten und heimlichen Schwarm zu stellen …

"Robyn Carr schreibt wie immer ganz wunderbar über Figuren, die uns durch ihre menschlichen kleinen Schwächen nur noch sympathischer werden."
Publishers Weekly

"Für großartig erzählte Geschichten und wunderbar gezeichnete Charaktere tauchen Sie ein in Robyn Carrs Welt."
New York Times-Bestsellerautorin Susan Elizabeth Phillips


  • Erscheinungstag: 16.07.2018
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1120
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955769284
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Robyn Carr

Thunder Point - Teil 4-6 (3in1)

Robyn Carr

Sehnsuchtstage in Thunder Point

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Barbara Minden

 

 

 

MIRA© TASCHENBUCH

MIRA© TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Chance
Copyright © 2014 by Robyn Carr
erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with
Harlequin Enterprises II B.V./S.ár.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln
Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln
Redaktion: Christiane Branscheid
Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München; pecher und soiron, Köln

ISBN eBook 978-3-95649-959-3

www.mira-taschenbuch.de
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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

1. Kapitel

Als Laine Carrington in Thunder Point eintraf, fuhr sie direkt zum Hang am Strand und stellte das Auto auf dem Parkplatz neben Coopers Strandbar ab. Doch sie ging nicht hinein. Noch nicht. Zunächst wollte sie erst einmal sehen, ob der Ausblick von dem Grundstück mit den Bildern, die man ihr geschickt hatte, übereinstimmte. Laine atmete tief aus, ohne sich bewusst zu sein, dass sie vorher den Atem angehalten hatte. Die Aussicht war sogar noch schöner als auf den Fotos.

Was mache ich hier? schoss es ihr erneut durch den Kopf. Denn schon während der dreitausend Meilen langen Fahrt hatte sie sich diese Frage wieder und wieder gestellt.

Der Ausblick war tatsächlich atemberaubend. Der Strand lang und breit. Die riesigen dunklen Felsen bildeten einen deutlichen Kontrast zum graublauen Wasser. Die Bucht lag zwischen zwei Landzungen, hinter denen sich schier endlos der Pazifik erstreckte, der sich an den gigantischen Klippen brach. Doch das Wasser in der Bucht lag ruhig und still vor ihr.

Laine erschauderte vor Kälte und kuschelte sich noch tiefer in ihre Jacke. Es war Ende Januar, und die feuchte Kälte sorgte dafür, dass ihre rechte Schulter bis hinunter in den Ellbogen schmerzte. Die Schulter, in der eine Kugel gesteckt hatte. Vielleicht war es diese Kugel, die Laine nach Thunder Point geführt hatte. Sie war im Dienst verletzt und anschließend zur Erholung vom Außendienst des FBI in den Innendienst versetzt worden. Sie hatte keine laufenden Fälle mehr bekommen, aber einen Computer, um für andere Agenten zu recherchieren und Büroarbeit zu erledigen. Sowie sie erkannte, dass es statt der bisherigen Leitung von Ermittlungen eher um Assistenzaufgaben ging und zudem nach einem längeren Schreibtischaufenthalt aussah, hatte sie um ein Jahr unbezahlten Urlaub gebeten. Sie wollte sich voll und ganz auf ihre Genesung konzentrieren.

Die Reha war nur eine Ausrede. Laine brauchte dafür kein Jahr mehr. Ihre Schulter war beinahe schon wiederhergestellt. In einem halben Jahr wäre sie wieder topfit. Doch obwohl der Psychologe sie bereits für einsatzfähig erklärt hatte, wollte sie ihre berufliche Laufbahn noch einmal überdenken. Außerdem war sie allergisch gegen einen Vollzeitjob am Schreibtisch.

Noch dazu hatte sie einen schrecklichen Besuch bei ihrem Vater in Boston hinter sich. Danach war sie wütend heimgereist und hatte sich unverzüglich mit einer Immobilienmaklerin in Thunder Point in Verbindung gesetzt. Eine E-Mail mit ein paar Fotos hatte Laine gereicht. Sie beschloss, ein Haus zu mieten. Ein Haus mit Ausblick über die gesamte Bucht. Thunder Point in Oregon war so weit wie möglich von Boston entfernt.

Laines Auto stand auf dem Parkplatz der Strandbar. Sie lehnte lange am Kofferraum und blickte aufs Meer. Der Himmel war bedeckt, eigentlich sogar grau. Außerdem war es kalt und niemand auf dem Wasser. Laine mochte bewölkte und stürmische Tage. Ihre Mutter hatte solche Tage immer Suppentage genannt. Obwohl ihre Mutter eine typische Karrierefrau gewesen war, hatte sie gern gekocht und gebacken. Vor allem an solchen grauen Tagen war sie mit Tüten voller Lebensmittel früher aus dem Büro oder dem Krankenhaus nach Hause gekommen, um ein paar Stunden in der Küche zu verbringen. Das hatte sie entspannt. Ihr gefiel es, die Familie mit herzhaftem Essen zu versorgen – schmackhaften Suppen und Eintöpfen, deftigen Pfannengerichten, Nudeln in Sahnesoßen und süßen weichen Brötchen.

Laine seufzte. Sie würde es nie verwinden, dass sie ihre Mutter verloren hatte. Inzwischen lag ihr Tod fünf Jahre zurück. Dennoch griff sie immer noch ab und zu nach dem Telefon, bevor sie sich daran erinnerte, dass ihre Mutter nicht mehr lebte.

Es war Zeit, sich auf den Weg in die Stadt zu machen, um die Maklerin zu treffen. Laine setzte sich ins Auto. Am Hang wurde gebaut. Es sah aus, als würden auf der Strandseite einige Häuser an den Hang gebaut. Von dort aus hätte man, genau wie von Coopers Strandbar aus, den besten Ausblick über die Bucht.

Laine fuhr über die Hauptstraße zur Arztpraxis, vor der sie anhielt. Nachdem sie aus dem Wagen gestiegen war, schloss sie die Türen aus reiner Gewohnheit ab. Sie schaute sich um und betrachtete die Straßenlaternen, zwischen denen immer noch Weihnachtsschmuck hing. Na ja, es ist erst Januar, dachte sie und lachte leise.

Dann betrat sie die Praxis, wo Devon McAllister hinter dem Empfangstresen an einem Schreibtisch saß. Strahlend lächelnd erhob sich Devon.

„Du bist da“, sagte sie beinahe flüsternd, kam hinter dem Tresen hervor und schloss Laine in die Arme. „Ein Teil von mir hatte Angst, dass du nicht kommst. Dass etwas passiert ist, dass das FBI einen Einsatz für dich hat …“

„Können wir bitte so wenig wie möglich über dieses Thema sprechen?“

„Welches Thema? Die Sekte? Den Angriff? Das FBI?“

Laine konnte sich nicht zurückhalten und strich Devon das Haar aus dem Gesicht, als wäre sie ihre kleine Schwester. Laine hatte Devon in der Kommune unter ihre Fittiche genommen. „Alles, was damit zusammenhängt“, erklärte Laine. „Wenn die Leute herausfinden, dass ich fürs FBI arbeite, stellen sie mir entweder merkwürdige Fragen oder sie verhalten sich seltsam. Als ob sie Angst hätten, ich würde ihre Akten überprüfen oder so was. Lass uns die Sache ein wenig herunterspielen. Wenigstens so lange, bis ich mich hier ein bisschen eingelebt habe.“

„Was wirst du sagen? Denn die Leute hier wollen immer alles über alle wissen. Sie sind sehr nett und freundlich, doch sie werden dich löchern.“

„Ich werde einfach erzählen, dass ich für ein Sonderkommando gearbeitet habe, die meiste Zeit jedoch hinterm Schreibtisch zugebracht habe. Datenüberprüfung, Nachforschungen und solche Dinge. Das ist nicht mal gelogen. Und ich bin wegen meiner Schulter-OP freigestellt.“

„Okay“, meinte Devon und lachte leise. „Sie müssen wirklich nicht wissen, dass dein Sonderkommando eine Antiterroreinheit war, bis du über die illegale Marihuana-Plantage einer Sekte gestolpert bist. Genauso wenig wie wir ihnen auf die Nase binden müssen, dass deine Schulter operiert wurde, weil du bei einem Einsatz angeschossen wurdest.“ Sie grinste.

Laine stöhnte. „Bitte, ich will wirklich nicht, dass es so interessant klingt.“

„Na ja, die einzigen Menschen, die ein paar Einzelheiten kennen, waren in jener Nacht dabei. Sie wurden gründlich gebrieft. Rawley, Cooper und Spencer werden sich sehr freuen, dich wiederzusehen. Und natürlich ist auch Mac im Bilde – er verkörpert hier in der Gegend das Gesetz. Man kann ihm nichts verheimlichen. Ich habe es auch meinem Chef Scott erzählt, aber den habe ich ganz gut im Griff.“

„Sag bloß“, erwiderte Laine lächelnd.

„In Dr. Grants Fall hat es mehr damit zu tun, dass er mich bei Laune halten will, damit ich in Ruhe den Papierkram seiner Klinik erledige. Er hat einen Horror vor Dingen wie Versicherungsformularen, vor allem, wenn es um die Gesundheitsprogramme Medicaid und Medicare geht. Wenn er muss, macht er es selbst, aber ehrlich, er braucht dafür fünfmal so lange wie ich. Er ist nicht mal gut darin, Patientenakten oder das Labor auf Stand zu halten.“

„Du bist so anders als der Mensch, den ich auf der Farm kennengelernt habe.“

„Eigentlich war ich in der Kommune ein anderer Mensch als der, der ich wirklich bin“, entgegnete Devon. „Jetzt bin ich wieder mehr ich selbst. Ich war immer eine gute Studentin und habe immer schon hart gearbeitet. Du bist hier das Rätsel. Wie hat ein so gebildetes Mädchen aus der Stadt wie du es geschafft, sich dermaßen in die Gemeinschaft dieser Sekte einzufügen?“

Laine lächelte und war insgeheim stolz auf ihre Leistung. „Spezialtraining, Recherche und gute schauspielerische Leistung.“

„Ich kann mir vorstellen, dass so etwas ein paar Tage lang funktioniert, doch in deinem Fall waren es über sechs Monate!“, warf Devon ein.

Das wusste Laine leider nur zu gut. „Sehr gute Recherche und sehr gute schauspielerische Leistung“, präzisierte sie. Ganz zu schweigen davon, dass Leben auf dem Spiel gestanden hatten und von ihrem Erfolg oder Versagen abhängig gewesen waren. Laine hatte jahrelang als verdeckte Ermittlerin gearbeitet. Ihre Zeit bei The Fellowship jedoch war der längste Undercover-Einsatz ihrer beruflichen Laufbahn gewesen. Sie hatte um den Auftrag gebeten, weil sie geglaubt hatte, dass es sich hier lediglich um eine kurze Beweisaufnahme handeln würde. Sie hatte angenommen, dass sie sich leicht einfinden und allem, was dort geschah, auf den Grund gehen konnte. Was dann tatsächlich passiert war, hatte sich jedoch ziemlich von dem unterschieden, was das FBI vermutet hatte. Eigentlich hatte sie nach Beweisen für die Bildung einer kriminellen Vereinigung, Steuerflucht, Betrug, Menschenhandel und möglichem Inlandsterrorismus gesucht. Stattdessen entdeckte sie eine gigantische Marihuana-Farm, betrieben von einer vermeintlichen Sekte.

Laine hätte die Gemeinschaft damals verlassen, fliehen und ihre Informationen dem Sonderkommando übergeben können. Ihre Vorgesetzten hätten am besten gewusst, wie man einen Durchsuchungsbefehl kriegte, um auf das Gelände zu gelangen und Verdächtige festzunehmen, ohne einen Kleinkrieg zu entfachen. Doch hinter dem Zaun, der The Fellowship begrenzte, lebten Frauen und Kinder. Und die Männer der Gemeinschaft hätten sich vermutlich gewehrt – sie waren bis an die Zähne bewaffnet. Deshalb war Laine geblieben, damit sie so viele Frauen und Kinder wie möglich sicher nach draußen schaffen konnte, bevor das FBI das Gelände stürmte. Es war eine gefährliche und umfangreiche Operation gewesen. Am Ende war Laine vom Sektenführer Jacob angeschossen worden.

„Bist du jetzt so weit, es einmal etwas ruhiger angehen zu lassen?“, fragte Devon.

„Du hast ja keine Ahnung wie sehr“, erwiderte Laine, die es bisher noch nie ruhig hatte angehen lassen. Der Gedanke, dass ganze Tage ohne Planung vor ihr lagen, jagte ihr eine Heidenangst ein.

„Ich habe es gesehen“, wechselte Devon das Thema. „Das Häuschen, das du gemietet hast.“

„Du hast es gesehen?“

„Ray Anne, die Immobilienmaklerin, die ich dir empfohlen habe, hat mir erzählt, um welches Haus es sich handelt. Ich war neugierig und habe durch die Fenster geschaut. Es ist wundervoll. So schön.“

„Ich habe es bisher nur auf Fotos gesehen“, erwiderte Laine. „Wenn ich es richtig verstanden habe, hatte ich viel Glück, weil es in dieser Gegend normalerweise kaum etwas zu mieten gibt.“

„Jedenfalls nichts wirklich Schönes. Dein Domizil ist ein Ferienhaus, das aus unerfindlichen Gründen für eine Zeit lang nicht von den Besitzern benutzt wird. Darum vermieten sie es.“

„Kennst du sie? Die Leute, die das Haus vermieten?“

Devon schüttelte den Kopf. „Aber ich bin auch noch nicht lange hier. Ich kenne noch nicht jeden.“

Laine sah auf ihre Uhr. „Ich fahre jetzt besser los, um mich mit Ray Anne zu treffen. Willst du mitkommen? Und dir einmal alles von innen anschauen?“

Lächelnd nickte Devon. „Lass mich kurz mit Scott sprechen, dann folge ich dir hinterher, damit ich anschließend sofort wieder zurückfahren kann.“

„Vielleicht sollte ich lieber hinter dir herfahren“, meinte Laine. „Ich habe noch nicht durch die Fenster geschaut.“

Devon lotste Laine zu ihrem neuen Haus. Sie fuhren auf der Hauptstraße an etwas vorbei, das wie die Haupteinkaufsstraße von Thunder Point aussah, bogen nach links ab und gelangten in ein Wohnviertel. Eine Frau, die insgesamt ein wenig zu aufgedonnert wirkte, parkte mit ihrem BMW vor einem sehr kleinen Haus, das inmitten eines Dutzends unbeschreiblicher Häuser lag. Die Bäume, die ringsherum standen, waren trotz des tiefen Winters dunkelgrün. In Virginia oder Boston wäre um diese Jahreszeit höchstens alles mit Schnee bedeckt gewesen. An den Bäumen dort hing im Winter kein einziges Blatt mehr.

Laine war ein wenig erschrocken, wie gewöhnlich und plump das kleine Domizil wirkte. Sie hatte es auf keinen Fotos von vorn gesehen. Es wirkte sehr klein. Die Vorderseite hatte eine ganz normale weiße Haustür und ein einziges Fenster. Wenn es Laines Haus gewesen wäre, hätte sie die Tür dunkelgrün gestrichen und es mit den Fensterrahmen und -läden ebenso gemacht.

Sie parkte den Wagen, stieg aus und reichte der Immobilienmaklerin die Hand. „Ms. Dysart?“, fragte sie.

„Nennen Sie mich Ray Anne. Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen, Laine.“ Sie klimperte mit den Hausschlüsseln. „Ich glaube, es wird Ihnen gefallen. Bitte, gehen Sie vor.“

Mit Ray Anne und Devon, die ihr dicht auf den Fersen folgten, betrat Laine das kleine Haus und damit eine völlig neue Welt. Im Inneren empfing sie eine weiträumige Diele. Links waren eine offene Treppe und ein kleines Gästebad. Auf der rechten Seite ein kleiner unmöblierter Raum mit einer Doppeltür, die man aufschieben konnte. Perfekt, um ihn als Arbeitszimmer zu nutzen. Geradeaus befand sich ein großes Zimmer mit einem riesigen Panoramafenster. Auf der linken Seite des großen Raums lag die große offene Küche mit angrenzendem Essbereich vor einem weiteren Fenster. Die beiden Fenster waren durch eine Fenstertür getrennt, die auf eine sehr große Terrasse führte – mit einem Ausblick auf die Bucht, der Laine einfach nur umhaute. Sie holte einmal tief Luft, lief zum Terrassengeländer und schaute hinunter. Die Terrasse thronte auf der Spitze eines Felshügels. „Sie können von hier aus nicht direkt zum Strand“, erklärte Ray Anne, die hinter ihr stand. „Es ist auch kein wirklich großer Strand – nur ein kleiner Sandstreifen bei Niedrigwasser. Um zum Strand zu gelangen, müssen Sie die Straße runter, durch die Stadt zur Marina runter. Doch die einzige, wirklich nennenswerte Strandlage hat Thunder Point da, wo Cooper gerade baut. Die meisten von uns hätten nie gedacht, dass dort je Gebäude stehen werden, doch Cooper plant mindestens zwanzig Einfamilienhäuser. Das restliche Fußvolk muss entweder von seiner Bar oder der Marina aus zum Strand gehen. Das ist die nördliche Landzunge. Der vorherige Besitzer, der Cooper alles vererbt hat, wollte immer, dass sie ein Naturund Tierschutzgebiet bleibt. Sosehr ich mir auch wünschen würde, auch dieses Land in Grundstücksparzellen aufzuteilen, um sie für Cooper zu verkaufen, müssen Sie zugeben, dass es wunderschön ist.“

„Wunderschön“, wiederholte Laine atemlos.

Ein paar Bäume wuchsen direkt aus den Felsen und dem Hügel unter ihrer Terrasse und ragten so weit auf, dass ihre Äste das Geländer streiften. Bald müssten sie gestutzt werden, damit sie Laine nicht die Sicht nahmen.

„Im Moment ist es so feucht und kalt, dass ich den Grill und die Terrassenmöbel unter ihrer Abdeckung gelassen habe. Bei diesem Wetter sitzen Sie vermutlich sowieso nicht draußen.“

Laine sah sich zum ersten Mal richtig um. Offenbar standen unter der wasserfesten Plane ein Tisch, vier Stühle, ein Sessel und ein ziemlich großer Grill. Laine drehte sich um und kehrte in Haus zurück. Dort nahm sie erst jetzt richtig Notiz von dem großen Wohnzimmer, das durch einen Frühstückstresen von der Küche getrennt war. Auf den Fotos hatte die Einrichtung etwas schöner ausgesehen, als sie es tatsächlich war. Es gab ein kastanienbraunes Sofa, zwei ungemütlich wirkende Rattan-Sessel, einen schönen Kamin und überhaupt nichts Anheimelndes. In der Frühstücksecke stand ein heruntergekommener, aber großer Tisch mit acht Korbstühlen. Ein kleiner Flur führte zu einem Waschraum, einer kleinen Pantry und der Innentür zur Garage.

„Schlafzimmer?“, fragte Laine.

„Gleich hier entlang“, erwiderte Ray Anne und führte sie wieder zur Haustür zurück und die Treppe hoch. Laine und Devon folgten ihr. Oben gab eine offene Doppeltür den Blick auf ein ziemlich kleines, doch gemütlich aussehendes Schlafzimmer mit großem Bett, Schreibtisch, Nachttisch und Kamin frei. Ein bodentiefes Fenster aus drei gläsernen Schiebeelementen führte auf einen kleinen Balkon mit atemberaubendem Blick. Laine war begeistert. Bei dem Gedanken, in die Kissen gelehnt auf dem Bett zu sitzen und durch das Fenster in die Wolken zu schauen, während im Zimmer nur der Kamin brannte, wurde ihr ganz warm ums Herz.

Beim Schein eines Kaminfeuers einzuschlafen schien ihr besonders reizvoll. Seit der Schießerei ließ sie nachts immer ein Licht brennen. Doch das erzählte sie niemandem.

„Wenn das Wetter schlechter wird, erinnern die Blitze über der Bucht an ein großes Feuerwerk“, erklärte Ray Anne. „Hier in der Gegend geht es immer nur um die Aussicht. Und in der Stadt gibt es eine Menge schöner Aussichten. Manche haben die Aussicht vorn, andere hinten, manche oben auf dem Hang, andere näher am Wasser. Manche in großen Häusern, manche in kleinen.“ Ray Anne stellte sich neben Laine. „Das Bad“, verkündete sie und deutete auf ein sehr funktionelles, großes Bad mit Ankleidebereich und Schrank, gläserner Duschkabine, einer großen Badewanne mit Whirlpool-Funktion.

Laine schaute kaum hin, denn ihre Blicke wurde wieder von der Aussicht angezogen. Devon dagegen begeisterte die Größe des Badezimmers und der Ankleidebereich.

„Es gibt unten noch zwei kleine Schlafzimmer, die durch ein großes Bad voneinander getrennt sind. Die Besitzer hatten in jedem der beiden Zimmer ein Bett stehen. Der Stauraum ist begrenzt. Es sind nur kleine Zimmer, aber wenn man das Sofa unten auch noch ausklappt, können hier acht Personen übernachten. Die Besitzer wollten Platz für Besuche ihrer Kinder und Enkel haben. An der dem Hauptschlafzimmer gegenüberliegenden Wand steht ein Stoffschrank und unten unter der Treppe noch einer. Und Sie haben eine Doppelgarage.“

Aber nur ein paar ziemlich geschmacklose Drucke an der Wand, kein Anzeichen von Gemütlichkeit, natürlich keine Pflanzen, und die kleinen Lampen hängen auch schon ewig hier, dachte Laine.

„Ich habe eine Reinigungsfirma beauftragt, alles fertig zu machen. Der Teppich ist frisch shampooniert, die Bäder und Küchen sind geputzt, die Betten frisch bezogen, und es liegen auch ein paar frische Handtücher im Schrank. Der Teppich ist noch ziemlich neu. Ich weiß nicht, was Sie mit dem Haus vorhaben, doch es bietet genug Platz, um viele Menschen unterzubringen.“

Überrascht starrte Laine sie an. „Ich will hier wohnen.“

„Oh! Toll! Werden Sie denn auch hier arbeiten?“

„Vielleicht ein wenig vom PC aus. Ich mache gerade eine Art Sabbatical von meinem eigentlichen Job bei der Staatsbehörde, könnte aber von hier aus ein paar Nebenjobs erledigen. Sie wissen schon, Bürokram. Ich hatte eine ziemlich ernste Schulter-OP und mit meinen Urlaubstagen und den Zusatzleistungen und …“

„Ich hoffe, es war nicht die Rotorenmanschette“, fiel ihr Ray Anne ins Wort und bewegte ihre Schulter dabei von oben nach unten. „Das ist das Schlimmste! Ich hatte vor ein paar Jahren eine Operation. Es war höllisch. Inzwischen ist alles wieder gut, doch ich dachte, es würde ewig dauern, bis alles wieder in Ordnung ist!“

Devon blickte Laine an, enthielt sich allerdings eines Kommentars. Laine stand im Schlafzimmer und schaute auf die Bucht.

Sie dachte darüber nach, wie diese Wohnung mit einem hübscheren Sofa aussehen würde, mit einer kuscheligen Decke für winterliche Abende vor dem Kamin. Und wie ein paar kleine Tische, Designerleuchten, Gemälde an den Wänden und Bücher in den Bücherregalen wirken würden. Ihre eigenen Laken und Handtücher, ein paar ihrer Lieblingstöpfe und ihr Lieblingsgeschirr. Und die kleine Küchenplatte ihrer Mutter, ihr ganzer Schatz.

Sie drehte sich um und sah Ray Anne an. „Haben Sie die Besitzer gefragt, ob es sie stören würde, wenn ich die Möbel einlagere und meine eigenen Möbel benutze? Natürlich würde ich die Kosten für den Transport und die Lagerung tragen.“

„Sie sind einverstanden, solange ihre Sachen nicht beschädigt werden.“ Ray Anne hob die Schultern. „Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, wie sie jemals feststellen wollen, ob etwas von ihren Sachen beschädigt wurde. Das Zeug ist zweckmäßig, aber alt. Tatsächlich steht es Ihnen frei, zu tun und zu lassen, was Sie wollen, solange sie das Einlagern zahlen und die Möbel beim Auszug wieder dahin stellen, wo sie waren. Sie dürfen auch die Wände neu streichen, wenn Sie bei den vorgegebenen Farben bleiben oder sie am Ende wieder so streichen, wie sie waren.“ Dann senkte sie die Stimme, als ob sie Laine ein Geheimnis verraten wollte. „Wenn Sie ein paar der Wände neu streichen, was ich noch vor Anbruch der Nacht tun würde, versuchen Sie, keine zu dunklen Farben zu verwenden, damit sie später beim Auszug in der Lage sind, wieder alles in der Originalfarbe zu übermalen.“

Doch Laine hatte etwas anderes im Kopf. „Lassen Sie uns mal in der Küche nachsehen, was die Besitzer dagelassen haben, bevor meine Sachen eintreffen. Der Umzugswagen ist schon unterwegs und sollte in ein bis zwei Tagen hier sein.“

„Okay, aber es gibt im Ort auch jede Menge Möglichkeiten, etwas zu essen zu bekommen, bis Sie sich hier eingerichtet haben.“

Laine war schon auf dem Weg in die Küche und fing an, die Schranktüren zu öffnen. Sie entdeckte Teller, ein paar Töpfe, eine Pfanne, alle möglichen Küchenutensilien, ein paar Küchenhandtücher, grundlegende Dinge, die sich für eine Ferienwohnung eigneten. Das war in Ordnung. Sie schloss die letzte Schranktür, drehte sich um und lächelte Ray Anne und Devon an. „Das gefällt mir“, sagte sie. „Wenn Sie mir einfach die Adresse der nächstgelegenen Lebensmittelläden geben, mache ich Feuer und koche mir eine Suppe. Es sieht mir heute ganz nach einem Suppentag aus.“

Eric Gentry saß im Diner am Tresen und genoss ein spätes Frühstück. Neben ihm saß Cooper von der Strandbar und tat das Gleiche. Der Deputy des Sheriffs kam herein. Mac nahm den Hut ab und setzte sich neben Eric. Seine Frau Gina brachte ihm einen Kaffee, beugte sich über den Tresen und küsste ihn.

„Ich wurde hier noch nie so erstklassig bedient“, protestierte Cooper lächelnd. „Und dabei habe ich ein komplettes Frühstück bestellt.“

„Ja, mein Lieber, an dem Tag, an dem ich höre, dass du genauso bedient wirst wie ich, wirst du mit einem blauen Auge herumlaufen“, erwiderte Mac.

Eric lachte leise. Er hätte es niemals gewagt, so einen Kommentar abzugeben. Gina und er hatten eine gemeinsame Vergangenheit, und er wollte lieber kein blaues Auge riskieren.

„Mac“, tadelte Gina ihn mit einem lachenden Unterton in der Stimme.

„Was machst du eigentlich hier?“, wollte Mac von Cooper wissen. „Hast du Rawleys Kochkünste in deiner Strandbar da draußen satt?“

„Rawley kocht nicht“, erwiderte Cooper. „Manchmal wärmt er etwas auf, aber eben auch nur manchmal.“

„Deine Frau sagt, er kocht gut“, warf Gina ein.

„Stimmt, er kocht für Sarah“, sagte Cooper. „Wenn sie in die Küche geht, fragt er sie sofort, was sie haben will. Jetzt, wo sie so beladen ist, kümmert sich Rawley wirklich rührend um sie.“

„Beladen?“, fragte Eric.

„Schwanger“, antworteten drei Menschen unisono.

„Verstehe.“ Er lehnte sich zurück und wischte sich den Mund an einer Serviette ab.

„Die Geschäfte laufen wohl gut“, wandte sich Mac an Eric. „Ich habe einen Dually mit Anhänger durch die Stadt fahren sehen. Er hatte einen alten Plymouth auf der Ladefläche.“

„Einen 1970er-Superbird“, erklärte ihm Eric. „Der braucht einen neuen Motor, eine neue Sitzbank und ein restauriertes Armaturenbrett. Ich glaube, wir werden auch das Dach neu machen müssen. Es ist noch aus Original-Vinylstoff, das wird nicht einfach.“

„Sitzbank? Keine Einzelsitze?“

Eric schüttelte den Kopf. „Nicht im Superbird. Ich vermute, dass man, wenn man einen fuhr, jede Menge Mädchen hatte. Und wenn man Mädchen hatte, wollte man schließlich, dass sie ganz nah neben einem saßen.“

„Woher kommt er?“, fragte Mac.

„Aus Südkalifornien.“

„Jemand bringt dir ein altes Auto aus Südkalifornien?“

Eric nippte an seinem Kaffee. „Tja, es ist ein Zweihunderttausend-Dollar-Klassiker. Der Eigentümer schafft ihn durch sechs Bundesstaaten her, weil er ordentliche Arbeit will. Ich habe schon viel für ihn gearbeitet. Er hat an die zwanzig Autos. Ich glaube, er ist da unten derjenige mit den meisten Oldtimern. Er macht selbst jede Menge Restaurierungsarbeiten und macht das großartig. Aber ihm fehlt die Ausrüstung, um einen Motorblock zu ersetzen, und dieses Auto ist sein Baby.“

„Sein Baby?“, fragte Gina.

„Er küsst das Auto jeden Abend, bevor er zu Bett geht. Vermutlich behandelt er seinen Wagen besser als seine Ehefrau.“

„Jungs und ihre Spielzeuge“, brummte Gina.

„Du bringst uns auf die Landkarte“, sagte Mac. „Stell dir vor – dieses Auto ist mehr wert als der gesamte Diner.“

Eric bemerkte zwei junge Frauen, die von der Klinik gegenüber über die Straße auf den Diner zukamen. Eine kannte er bereits. Sie hieß Devon und arbeitete als Sprechstundenhilfe bei dem neuen Arzt in der Praxis. Er hatte sie vor ein paar Monaten kennengelernt und hin und wieder gesehen. Die andere kannte er nicht. Sie trug eine tief in die Stirn gezogene Mütze, eine enge Yogahose, Jacke und Laufschuhe. Ihr blondes Haar hatte sie unter die Mütze gestopft. Es war nur zu sehen, wenn sie sich ein wenig drehte, um über etwas zu lachen, das Devon sagte.

Als sie in den Diner kamen, begrüßte Gina sie strahlend.

„Was ist denn hier los?“, fragte Devon. „Tagt der Club der mürrischen alten Männer?“

„Wie bitte?“, protestierte Cooper. „Ich bin doch nicht alt.“

„Er ist älter als ich“, sagte Mac.

Eric schwieg. Seine Blicke hingen an dem neuen Mädchen, und wenn ihm das passierte, hatte er einen Knoten in der Zunge.

„Laine, Cooper und Mac kennst du ja bereits. Aber bist du Eric schon einmal begegnet? Ihm gehören die Tankstelle und die Werkstatt am Ende der Straße. Eric, das ist meine Freundin Laine Carrington. Sie ist neu in der Stadt.“

Eric erhob sich. „Freut mich, Sie kennenzulernen.“

„Gleichfalls“, erwiderte sie. „Bitte setzen Sie sich doch. Wir holen uns nur rasch einen Kaffee.“ Sie schaute zu Gina. „Hast du nicht Pause?“

„Habe ich“, antwortete Gina. „Ich bringe euch den Kaffee.“

Als Devon und Laine auf eine Nische im hinteren Bereich des Diners zusteuerten, sah Eric ihnen hinterher. Schließlich richtete er seinen Blick schuldbewusst auf seine Kaffeetasse und war dankbar, dass Cooper und Mac darüber diskutierten, wie viel Geld sie für ein Auto ausgeben würden. Ein Zweihunderttausend-Dollar-Superbird kam in ihrer Unterhaltung nicht einmal vor.

Eric besaß selbst ein paar Klassiker, die er eigenhändig restauriert hatte. Er hatte sie irgendwo entdeckt und vorgehabt, sie nach dem Restaurieren wieder zu verkaufen, sich dann aber nicht mehr von ihnen trennen können. So etwas kam vor. Es gab Händler, und es gab Sammler. Und es gab Männer wie ihn, die versuchten, ein paar Dollar zu verdienen, und plötzlich zu Sammlern wurden.

Er unterhielt sich noch eine Weile mit seinen Freunden und zwang sich dabei, nicht unentwegt zur dunklen Nische hinüberzusehen. Mac stand auf, hinterließ der Kellnerin ein Trinkgeld und löste damit einen Lachanfall bei den Männern aus. Cooper legte einen Zehner für sein Sieben-Dollar-Frühstück auf die Theke.

Doch Eric ging zur Nische. „Gina, ich habe kein Kleingeld. Du bist zwar gut, aber nicht so gut.“

„Darüber könnten wir uns streiten, aber ich glaube, es geht schneller, wenn ich dir etwas rausgebe.“ Sie nahm ihm den Zwanziger aus der Hand und ging zur Kasse.

„War nett, Sie kennengelernt zu haben, Laine. Falls Sie mal ein paar Dellen ausgebeult oder raue Kanten geschliffen haben wollen, bin ich genau der Richtige für Sie“, sagte er. Als ihm auffiel, dass Laine und Devon ihn überrascht anschauten, zuckte er kurz zusammen. Doch die beiden Frauen lachten.

„Ich werde es im Hinterkopf behalten“, sagte Laine.

2. Kapitel

Obwohl Laine beim Tragen schwerer Gegenstände und Aufhängen der Bilder in ihrem neuen Haus Hilfe brauchte und dadurch alles etwas länger dauerte, fühlte sie sich darin sehr schnell zu Hause. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, sich intensiv auf eine Sache zu konzentrieren. In weniger als einer Woche standen alle Möbel am richtigen Platz. Dank der Hilfe von Devon und ihrem Verlobten Spencer war bald alles so eingerichtet, wie sie es sich gewünscht hatte. Laine ließ die Möbel der Hauseigentümer einlagern. Dazu wurden sie in den Umzugswagen eingeladen, der ihre Möbel gebracht hatte. Alles, was sich auf Schulterhöhe oder niedriger abspielte, konnte Laine selbst regeln. Aber über Kopf konnte sie nur mit dem linken Arm arbeiten. Sie war inzwischen richtig gut mit dem linken Arm! Trotzdem versuchte sie auch, ihren rechten Arm etwas mehr zu bewegen und zu belasten, und widmete sich dieser Übung mit Hingabe.

Dieses Haus war anders als das Stadthaus in Virginia – sie würde es zu ihrem Zuhause machen. In ihrem Stadthaus in Virginia hatte sie sich nur aufgehalten. Obwohl sie dort ihre eigenen Sachen gehabt hatte, hatte sie das Haus in all den Jahren, die sie darin gelebt hatte, nur gemietet. Sie war viel gereist, hatte verdeckte Ermittlungen geführt und in den Ferien und an den Wochenenden hatte sie ihren Bruder und dessen Familie besucht. Ihr Stadthaus war jahrelang nur eine provisorische Lösung gewesen. Und Laine war so oft weg, wie sie da gewesen war. Doch das Haus in Thunder Point – das Haus mit diesem Traumausblick – sollte ihr Zuhause werden. Es würde ein Jahr lang ihr Refugium sein. Das hatte sie sich verdient.

Es war Samstagnachmittag, und zur Abwechslung schien einmal die Sonne. Der Tag war wie dazu geschaffen, um durch die Stadt und über den Strand zu joggen.

Während Laine lief, wanderten ihre Gedanken zu ihrem letzten Einsatz zurück. Sie hatte fast alle Frauen und Kinder durch ein Loch im Zaun aus der Kommune geschleust. Dass Jacob ihr zuletzt auf die Schliche gekommen war, hatte ihren anfänglichen Erfolg jedoch total zunichtegemacht. Jacob hatte Laine zusammengeschlagen, an einen Stuhl gefesselt und in seinem Haus eingesperrt. Dann hatte er auch noch Devons dreijährige Tochter Mercy ausfindig gemacht, entführt und zurück ins Lager der Kommune gebracht. Später, als alles vorbei war, hatte das FBI erfahren, dass er dazu einfach im Computer nach Devons Adresse gesucht hatte.

Zu diesem Zeitpunkt war Laine bereits seine Gefangene gewesen. Genau wie Mercy wenig später auch. Jacob hatte vorgehabt, mit seiner Tochter, allem Geld und allen Unterlagen, deren er habhaft werden konnte, zu fliehen. Er wollte das Gelände in Brand stecken, alles bis auf die Grundmauern niederbrennen und alle außer Mercy zurücklassen. Er legte Feuer im Lagerhaus, wo das Marihuana lagerte. Dabei nahm er in Kauf, dass sich das Feuer zu einem unkontrollierten Brand entwickelte. Er nahm in Kauf, dass ein solcher Brand das ganze Tal in Mitleidenschaft gezogen hätte. Mehr noch, er hoffte sogar, dass die Polizei so lange mit dem Brand beschäftigt sein würde, bis er entkommen war.

Laine hatte es geschafft, sich und Mercy zu befreien, war dabei aber in die Schulter geschossen worden. Bis Rawley, Spencer, Cooper und Devon aufgetaucht waren, war sie wegen des enormen Blutverlusts beinahe bewusstlos gewesen.

Natürlich hatte Laine Devon und Mercy aus der gemeinsamen Zeit in der Kommune gekannt, aber sie kannte die Männer nicht, die sie gerettet hatten. Wer sie waren, hatte sie erst später erfahren, als es ihr wieder besser ging.

Sie joggte am Strand entlang. Als sie in Coopers Strandbar ankam, war sie ziemlich außer Atem. Der Besitzer des Lokals saß auf der Terrasse in der Sonne. Sein Laptop stand aufgeklappt vor ihm, und er war damit beschäftigt, sich irgendetwas genauer anzusehen.

„Hallo!“, begrüßte sie ihn. „Wie geht es mit dem Hausbau voran?“

Cooper hob den Kopf und lächelte sie an. „Wurde auch Zeit, dass du meine Strandbar mal besuchst. Der Hausbau verläuft zum Glück planmäßig. Sarah hat langsam genug davon, in nur einem Zimmer mit mir zu wohnen.“

„Wann kommt das Baby?“, fragte Laine.

„Im Juli. Wir sollten spätestens Ende Juni umziehen.“

„Das ist wunderbar, Cooper“, sagte sie.

„Wie sieht’s mit deiner Wohnung aus?“, fragte er.

„Gut. Meine Sachen sind schon da, und die Umzugsleute haben die Möbel der Eigentümer ins Möbellager gebracht. Mit Devons und Spencers Hilfe habe ich mich schon ziemlich gut eingerichtet. Ich muss nur noch ein paar Dinge wegräumen.“

„Ich habe gehört, du hast eine tolle Aussicht.“

„Oh ja. Eine große Terrasse, eine große Küche und ein paar Kamine. Wenn ich nicht jeden Tag glücklich bin, liegt es bestimmt nicht an diesem Haus. Ist Rawley vielleicht da?“

„Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, war er dabei, Lebensmittel zu verstauen. Er müsste in der Küche sein.“

„Danke. Wir sehen uns später noch.“

Laine ging durch die Bar in die Küche. Rawley kauerte am Boden und war dabei, ein Regal umzuräumen. „Hallo, Fremder“, begrüßte sie ihn.

Er erhob sich und drehte sich zu ihr um. Er trug verschlissene Jeans, Stiefel, ein dickes Hemd über einem T-Shirt und eine rote Baseballkappe. Sie wusste, dass er Anfang sechzig war. Er wirkte ein bisschen älter, weil er dünn und sein Gesicht von tiefen Falten durchzogen war. Als er sie erkannte, blitzten seine Augen auf. Er verzog leicht einen Mundwinkel und deutete mit dem Kinn auf ihren rechten Arm. „Wie geht’s dem Flügel?“, fragte er.

„Geht so“, erwiderte sie und bewegte automatisch die Schulter. „Ich bin jetzt wieder gut in Schuss.“

„Was machst du hier?“, fragte er. „Musst du nicht herumspionieren?“

Laine lächelte, blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. „Ich habe mich freistellen lassen. Ich brauche noch mehr Zeit, bevor ich …“ Sie räusperte sich. „Ich bin keine Spionin. Ich …“ Rawley lächelte sie an, hakte den Daumen in die Gürtelschlaufe seiner Jeans und stützte sich auf das linke Bein. „Na ja, jedenfalls momentan nicht so richtig. Ich arbeite als Ermittlerin. Und ich wäre froh, wenn wir den FBI-Ball ein bisschen flach halten könnten.“

„Wie du willst, Mädelchen“, sagte er. „Gute Arbeit“, ergänzte er noch.

„Du hast mir das Leben gerettet.“

„Nicht wirklich. Ich bin im Lager gewesen, um Mercy zu finden. Ich glaube, es war Spencer, der dir das Leben gerettet hat. Er ist mit dir auf dem Arm über die Nebenstraße gejoggt und hat die Blutung deiner Schulterwunde mit der Faust gestoppt. Ja, er ist der Mann, der dich gerettet hat. Ich bin bloß ein alter Vet. Aber ich hab mich an das kleine Mädchen gewöhnt und wollte nicht, dass irgendein Verrückter es seiner Mutter wegnimmt.“

„Bloß ein alter Vet …“, wiederholte Laine lächelnd. „Ein Green Beret mit zwei Purple-Heart-Orden, einem Stern in Bronze und in Silber …“

„Schönfärberei“, meinte er schulterzuckend. „Das sind die Nebenprodukte des Am-Leben-Bleibens.“

„Du bist der höchstdekorierte Mensch, den ich kenne.“

„Es war eine schlimme Zeit damals, aber wir haben alle unser Bestes gegeben. Und es gibt Gerüchte, dass du auch ein bisschen Schönfärberei abbekommen hast.“

Sie nickte. „Ich wurde nominiert und für einen Preis vorgeschlagen. Du weißt, solche Dinge brauchen Zeit.“

Er grinste sie an. „Für welchen Preis genau wurdest du nominiert?“

„FBI-Auszeichnung. Das zählt bei meinen Leuten ziemlich viel. Aber das gehört zu den Dingen, die ich gern für mich behalte. Ich wäre dir dankbar, wenn du das auch machen würdest.“

„Kein Problem, Mädelchen. Ich war nie der Typ, der sich mit so etwas brüstet.“

„Ich wollte mich bei dir bedanken. Ich weiß, du warst nicht allein, aber ich habe sämtliche Protokolle gelesen. Alle sind sich einig, dass der Plan, Mercy und alle anderen, die noch im Lager waren, herauszuholen, von dir stammt. Kommst du zum Abendessen zu mir? Damit ich mich mit einem Essen bei dir bedanken kann? Ich koche sehr gern.“

„Könnte sein“, antwortete Rawley. „In dieser Jahreszeit ist es immer bewölkt und nass, da ist nicht viel los. Da kommt Cooper auch allein klar. Aber ich bin keine dolle Gesellschaft …“

„Wie wäre es, wenn ich auch noch Devon, Spencer und Mercy einlade? Das wollte ich sowieso. Sie haben mir sehr beim Umzug geholfen.“

„Klingt gut.“ Rawley griff in die Hosentasche und fischte ein Handy heraus. „Hab jetzt auch eins von diesen Dingern. Cooper hielt es nicht aus, nicht jede Sekunde zu wissen, wo ich stecke. Jetzt ruft er dieses Ding an. Normalerweise gehe ich nicht ran. Aber da sind auch Spiele und Bücher und eine Taschenlampe drauf. Kein schlechter Apparat. Willst du die Nummer?“

Er war ein echtes Original. Und zwar durch und durch – und mitnichten der alte Trampel, der er vorgab zu sein. Eigentlich war Rawley beinahe genial, aber er kämpfte schon seit Jahren mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, sodass er seinen Intellekt nie so weit hatte entwickeln können, wie es möglich gewesen wäre. Er nannte ihr seine Nummer, und Laine nickte kurz.

„Willst du sie nicht irgendwo aufschreiben?“, fragte er.

„Ich habe sie im Kopf. Ich rufe dich an. Und hör mal … Rawley, ich kann es kaum mit Worten beschreiben. Wenn du nicht ins Gelände eingedrungen wärst und die Rettungsaktion geleitet hättest, wie du es gemacht hast, dann …“

„Manche Dinge entpuppen sich später als Schicksal, Mädelchen“, erwiderte er und grinste breit. „Zum rechten Zeitpunkt am rechten Ort. Glück.“

„Und Können“, ergänzte sie. „Und Mut.“

Er schaute etwas verlegen zu Boden. „Mut. Irgendwie komisch, womit man dasteht, wenn es keinen Ausweg gibt. Ich setze lediglich einen Fuß vor den anderen. Mehr nicht. Bin froh, dass es geklappt hat. Bist du mit diesem beschädigten Flügel in der Lage, ein Kajak zu paddeln?“

„Im Frühling. Ich rufe dich in den nächsten ein, zwei Tagen wegen des Essens an.“

„Klingt gut. Du gehörst aber nicht zu diesen Vegetariern, oder?“

Laine lachte. „Nein. Ich mag herzhaftes Essen mit Fleisch.“

„Das ist ein Segen. Ich stehe nicht gern hungrig vom Tisch auf.“ Rawley grinste sie noch einmal an.

Laine konnte nicht anders. Sie musste ihn umarmen. Er mochte zwar wie ein dürrer alter Mann aussehen, aber unter ihrer Wange und in den Armen spürte sie harte Muskeln. Sie verharrte einen Augenblick lang in dieser Position und bemerkte, dass er seinen langen Arm um sie schlang, während er ihr mit der anderen Hand sanft über den Kopf strich. Dann ließ sie ihn los.

„Ich würde sagen, du warst hier die Mutige“, sagte er. „Du hättest nach dem Schuss verbluten können.“

„Ich bekomme eine Medaille“, erinnerte sie ihn. „Nebenprodukt des Am-Leben-Bleibens.“

Er lächelte. Es wirkte melancholisch.

„Du hast unterwegs schon einige Menschen verloren, stimmt’s, Rawley?“, fragte Laine.

Er hob eine graue Augenbraue. „Ein paar. Du nicht?“

Sie nickte bloß, war aber nicht bereit, weiter darüber nachzudenken oder die Einzelheiten zu erzählen. Zehn Jahre beim FBI, davon eine Menge verdeckter Ermittlungsarbeit. Da hatte sie eine Menge Leute verloren. Plötzlich wusste Laine, worauf Rawley hinauswollte – er hätte diese Menschen lieber wiedergehabt, als Medaillen zu bekommen.

Sie schlug ihm sachte auf den Oberarm. „Danke“, sagte sie sehr leise. „Ich rufe dich an. Und du wirst ganz sicher nicht hungrig nach Hause gehen.“

„Dann ist ja gut.“

Während Laine die Strandbar durchquerte, dachte sie, dass alte Soldaten leise abtraten. Es war für sie offensichtlich, dass Rawley seine Zeit in der Army gut genutzt hatte, aber sie hatte ihn auch völlig ausgezehrt. Echte Helden sprachen nie über ihre Heldentaten. Er war einer von einer Million.

Ich habe meine Zeit beim FBI ebenfalls gut genutzt, dachte sie.

Als sie auf die Terrasse zurückkehrte, hatte Cooper den Laptop zusammengeklappt und die Füße aufs Geländer gelegt. „Ich nehme an, du hast ihn gefunden.“

„Habe ich, danke.“

Er schob ihr eine Flasche Wasser über den Tisch zu. „Läufst du auch in die Stadt zurück?“

Sie schraubte den Verschluss auf, um einen Schluck zu trinken. „Nur über den Strand. Dann werde ich die Gunst der Stunde nutzen und mich auf meine Terrasse setzen und die Sonne genießen, obwohl ich noch ein paar Dinge zu erledigen hätte. Es ist zwar noch kalt, aber die Sonne fühlt sich gut an.“

„Möchtest du einen Rat, Laine? Kauf dir einen dieser kleinen Kamine für die Terrasse. Die geben zwar nur wenig Hitze ab, sind aber gemütlich.“

„Gute Idee“, sagte sie.

„Ich werde auf meiner Terrasse einen Kamin installieren“, erzählte Cooper. „Und auch ein Schattenplätzchen – der Sonnenaufgang ist nicht nur atemberaubend, er blendet auch. Und eine Markise, denn es ist ganz schön nass hier und unmöglich, das zu ignorieren. Ob Regen oder Sonnenschein, ich möchte immer mittendrin sein. In Wahrheit baue ich eigentlich eine Terrasse, an der zufällig noch ein Haus hängt.“

Sie lachte. „Wie lange kennst du Rawley schon?“

„Erst seit gut einem Jahr. Er gehörte irgendwie zum Haus und dem Grundstück dazu. Ben hat ihn entdeckt und hierher mitgebracht. Ben war mein Freund. Er hat mir das Grundstück hinterlassen. Rawley hat ein paar Jahre bei Ben gearbeitet.“

„Schön, einen Mitarbeiter zu haben, der das Geschäft kennt.“

Cooper lachte. „Mach dir nicht vor, dass er für mich arbeitet. Er macht ziemlich genau das, was ihm gefällt. Lässt sich so selten wie möglich sehen, und wenn er mir sagt, dass ich etwas tun soll, dann tue ich das normalerweise auch.“ Er zwinkerte ihr zu. „Mädelchen.“

„Ist es so, als ob man einen Vater um sich hätte?“

„Mein Vater ist nicht annähernd so störrisch, aber vom Alter her passt es“, erwiderte Cooper. „Rawley ist ein interessanter Typ. Ein echtes Original. Wirklich ruhig. Doch er ist in der Lage, tiefe Bindungen aufzubauen – zum Beispiel zu Devon und Mercy. Sie sind jetzt seine Familie. Und da Devon keine eigene Familie hat, ist das gut. Was das betrifft, hat Spencer auch keine eigene Familie mehr.“

„Aber du hast eine Familie?“

„Jede Menge. Alle in oder aus der Nähe von Albuquerque. Eltern, Schwestern, Schwager, deren Kinder. Plus einen eigenen Sohn – Austin. Spencer und ich teilen uns einen Sohn.“ Laine sah einen Augenblick erschrocken aus, und Cooper erklärte es ihr. „Spencer hatte meine Exverlobte geheiratet. Sie ist letztes Jahr gestorben, und wir haben uns erst unmittelbar davor kennengelernt. Wie sieht es bei dir aus?“

„Ich habe vor ein paar Jahren meine Mutter verloren, aber mein Vater und mein Bruder wohnen in Boston. Ich stehe meinem Bruder sehr nah. Er ist verheiratet und hat zwei Mädchen, die ich vergöttere. Obwohl ich sie wegen meiner Arbeit nicht oft genug gesehen habe.“

„Und du bist nicht an der East Coast?“

„Ich brauchte eine Veränderung“, erklärte sie. „Dieser Ort hat etwas Besonderes. Als ich undercover auf der Farm lebte, habe ich mich trotz der erschwerten Bedingungen ein wenig in die Gegend verliebt. Jetzt möchte ich etwas mehr davon sehen. Außerdem wollte ich die Menschen kennenlernen, die alles aufs Spiel gesetzt haben, um mich aus diesem Lager herauszuholen. Plus: Mein Bruder ist ein sehr beschäftigter Mann. Und jetzt, wo ich Zeit habe, besuche ich ihn vielleicht einmal. Langer Flug, aber was soll’s? Ich spreche mehrfach pro Woche mit ihm. Ich nehme an, wir sind alle daran gewöhnt, so weit entfernt von der Familie zu wohnen. Und hey – du bist schließlich auch nicht in den Bergen von Mexiko.“

„Das ist nicht weiter überraschend. Ich bin von zu Hause weg, als ich zur Army gegangen bin. Seitdem bin ich nicht mehr zurückgezogen. Die wirkliche Überraschung ist, dass ich jetzt hier wohne! Bis ich nach Thunder Point kam, war ich eher so etwas wie ein Vagabund. Und jetzt bin ich Landbesitzer.“

Laine stand auf ihrer Terrasse und sah sich um, als ihr Telefon klingelte. Ihr Handy lag auf der Küchenablage, und sie ging hinein, um es zu holen. Ein Festanschluss war in diesem Haus überflüssig. Als sie sah, dass es ihr Bruder war, erhellte sich ihre Miene. „Pax!“, rief sie. „Wie geht’s dir?“

„Ich habe zwei Anrufe von dir verpasst. Tut mir leid. War eine volle Woche. Jede Menge Operationen.“

„Kein Problem. Wir haben eine Vereinbarung; nach deiner Arbeit kommen zuerst deine Frau und deine Kinder – und dann komme ich. Ich bin sehr geduldig.“

„Wie ist es da draußen?“

„Hitzewelle“, erwiderte sie lachend. „Zehn Grad und sonnig. Ich habe gerade überlegt, wo auf der Terrasse ich am besten einen tragbaren Kamin hinstelle. Damit ich mich einkuscheln und die Nacht draußen verbringen kann. Was macht Mutter Natur bei euch?“

„Du siehst keine Nachrichten, nehme ich an.“

Tatsächlich war sie von den Bostoner Nachrichten immer besessen gewesen. Angefangen beim Wetter bis hin zu aktuellen Veranstaltungen und Verbrechen. Ihre Familie wohnte in Boston, und sie dachte ständig an sie. Trotzdem sagte sie: „Nein, wenn es sich vermeiden lässt, nicht.“

„Wir bereiten uns auf einen Nordoster vor. Sieht nach sechzig Zentimetern Schnee heute Nacht aus. Die Straßen und Flughäfen werden vermutlich geschlossen, und alle bleiben zu Hause und sehen sich alte Filme an, bis der Strom ausfällt.“

„Außer dir.“

„Ich habe erst morgen Nacht Bereitschaft. Heute werde ich dem Schnee beim Fallen zusehen und den Wind heulen hören.“

„Wie geht es Missy und Sissy und Miss Perfekt?“, fragte Laine.

Ihr Bruder lachte laut und erwiderte: „Irgendwann wird mir Genevieve gegenüber einmal Miss Perfekt entschlüpfen, und dann liefere ich dich ans Messer. Das schwöre ich dir. Hier geht es allen gut. Missy hat in sechs Wochen ihr erstes Schulkonzert und übt Tag und Nacht Cello. Es ist fast genauso groß wie sie und hört sich an wie die Brunftzeit der Elchfarm bei uns um die Ecke. Und Sissy bereitet sich gerade auf eine Frühjahrs-Tanzveranstaltung vor, was für sechsjährige Mädchen zauberhaft ist. Gott sei Dank hat sie sich kein Musikinstrument ausgesucht. Sonst würde ich wohl anfangen, im Krankenhaus zu übernachten.“

Seine achtjährige Tochter, die sie Missy nannten, hieß eigentlich Melissa. Die sechsjährige Catherine wurde Sissy genannt – wie Sister. Und Genevieve hatte den heimlichen Spitznamen Miss Perfekt, weil sie als Frau und Mutter unschlagbar war. Sie beklagte sich nie auch nur im Geringsten. Es war beinahe unnatürlich. Genevieve war mit einem Haufen Kinder, jeder Menge Verantwortung und einem meist abwesenden Mann geschlagen und nahm das dennoch alles mit einem fröhlichen Lächeln an. Laine fragte sich oft, wie sie das machte. Kannte ihre Schwägerin keine Grenzen?

Genevieve hatte zwei Schwestern, mit denen sie dermaßen eng verbunden war, dass kein Blatt Papier dazwischenpasste. Sie war eine liebende und aufmerksame Mutter, eine treue Frau, eine hingebungsvolle Freundin, geliebte Tochter und für Laines Geschmack ein wenig zu häuslich veranlagt. Außerdem hatte sie Laine den besten Freund weggenommen, ihren Zwillingsbruder Pax. Genevieve benahm sich Laine gegenüber wundervoll, aber Laine wurde trotzdem nicht richtig warm mit ihr. Sie waren nicht gerade Freundinnen. Aber Laine hatte insgesamt nur wenige Freundinnen. Es war ihr anscheinend unmöglich, sich enger auf jemanden einzulassen als auf Pax.

„Und Senior?“

„Ihm geht es genauso gut wie uns. Du hast vermutlich nichts von ihm gehört, oder?“

„Nein. Ehrlich gesagt, überrascht mich das auch nicht. Ich hatte ihn gebeten, mich erst wieder anzurufen, wenn er bereit ist, sich dafür zu entschuldigen, dass er so ein Arsch war, oder mir etwas Positives zu sagen hat. Ich glaube, dass eher Weihnachten und Ostern auf einen Tag fallen, als dass ich seinen Namen auf meinem Display lese.“

„Du nimmst ihn zu ernst“, meinte Pax. „Lern einfach, nicht auf ihn zu achten. Nicke, sage nichts und mach einfach, was du willst.“

„Das kann ich nicht“, erwiderte sie. „Du kommst damit immer durch. Bei deinen Entscheidungen ist er nie so kritisch …“

„Doch, ist er. Aber es ist mir egal. Er hat bei mir nichts zu melden. Und wenn du ehrlich bist, musst du zugeben, dass bei dir schon lange niemand mehr etwas zu melden hat. Das ist schon ungefähr seit deinem siebten Lebensjahr so.“

„Er regt mich auf“, erwiderte sie. „Er glaubt, wir müssten seine Worte wie Honig in uns aufsaugen und ihm dankbar sein, dass er sich unseretwegen überhaupt die Mühe gemacht hat, die Zunge zu bewegen.“

„Fang nicht wieder damit an“, riet ihr Pax. „Es ist vorbei. Du bist umgezogen. Ich wünschte bloß, du wärst nicht so weit weg. Richte dir doch bitte Skype auf dem PC ein, und sprich mit den Mädchen. Sie vermissen dich.“

„Er behandelt dich anders als mich“, beharrte Laine, unfähig, das Thema zu wechseln. „Er ist sehr stolz auf dich!“

„Er glaubt, ich hätte seinen Rat befolgt und wäre nur deshalb Arzt geworden. Das stimmt so aber nicht. Ich mache nur, was ich machen wollte. Und er erzählt mir immer noch, wie man arbeitet, obwohl er keine Ahnung von Kinderchirurgie hat. Ich versuche ihm so wenig wie möglich zu erzählen, aber ich nehme ihn auch nie ernst. Aber genug davon, erzähl mir lieber, was so Neues und Aufregendes in deiner kleinen Stadt passiert.“

„Ich habe eine Wand gestrichen“, sagte sie und seufzte schwach. „Zum größten Teil mit meinem linken Arm. Und ich werde auch noch die andere Wand streichen. Aber ich glaube, das ist schon alles. Ich musste einen Freund bitten, die Bilder aufzuhängen. Ich habe noch keine Kraft im Arm, vor allem, wenn ich über Kopf arbeite. Außerdem habe ich, seit wir letzten Dienstag telefoniert haben, drei Bücher gelesen. Heute war der erste Tag, der schön genug war, um laufen zu gehen. Aber ich schwöre, dass mir bei der Kälte die Schrauben in meiner Schulter wehtun.“

„Du weißt, dass es nicht an den Schrauben liegt …“

„Es fühlt sich aber so an.“

Laines Eltern waren Ärzte gewesen. Schon ihre Großeltern beiderseits waren Ärzte gewesen. Sie hatte zwei Cousinen, die Ärztinnen geworden waren. Lauter erfolgreiche Männer und Frauen. Laine war nicht die erste Carrington oder Wescott, die einen anderen Beruf gewählt hatte. Trotzdem war Dr. Paxton Carrington senior erschüttert gewesen, als seine Tochter im Hauptstudium von Medizin zu Kriminologie wechselte. „Glaub mir, du willst nicht in der Welt der Handwerker leben“, hatte er gesagt. Welt der Handwerker? Es war beinahe unmöglich, ohne einen höheren Abschluss zum FBI zu kommen.

Ihre Mutter dagegen hatte gesagt: „Du musst eine Arbeit finden, die du leidenschaftlich gern tust. Das Wichtigste im Leben ist, herauszufinden, wofür du morgens gern aufstehst. Eine Arbeit, die du auch ohne Bezahlung machen würdest, etwas, das dein Herz höherschlagen lässt. Ich bin nicht Ärztin, weil mein Vater Arzt war. Und ich bin mir verdammt sicher, dass ich erst recht nicht Ärztin geworden bin, weil mein Mann einer ist. Und es könnte mir nicht gleichgültiger sein, welchen Beruf sich meine Kinder aussuchen. Na ja, wenn du dich entscheiden würdest, obdachlos und drogenabhängig zu werden, hätte ich vielleicht etwas einzuwenden …“

„Aber bist du nicht stolzer auf Pax? Einen Medizinstudenten mit Auszeichnung?“, hatte Laine gefragt.

„Ich schaue auf das, was vor dir liegt, Laine. Und ich finde das alles sehr aufregend. Ich wünschte, ich könnte wenigstens einen Tag lang in deiner Haut stecken!“

„Aber Dad hasst meine Arbeit!“

„Tut er das? Er glaubt vielleicht, dass er besser weiß als du, was gut für dich ist. Doch ich bin hier, um dir zu sagen, dass du der einzige Mensch bist, der diese Entscheidung treffen darf. Und es spielt keine Rolle, was jemand anderes will.“

„Aber gib doch zu, dass Dad stolzer auf Pax ist!“, hatte Laine insistiert.

„Da bin ich mir nicht sicher. Ich weiß aber tatsächlich, dass Pax alles macht, wie es im Buche steht. Er tut genau das, was euer Vater von ihm erwartet. Das ist viel einfacher und bequemer. Du, mein Liebes, bist eine Herausforderung für deinen Vater.“

Während der gesamten Zeit am College, während des Hauptstudiums, während ihrer frühen Jahre beim FBI hatte ihre Mutter es kaum erwarten können, dass sie anrief. Sie interessierte sich für alle möglichen kleinen, spannenden Einzelheiten der Fälle, an denen Laine arbeitete oder von denen sie gehört hatte.

Senior hatte gesagt: „Was denkt sich dieses Mädchen eigentlich? Sie verschwendet ihre Zeit mit der Unterwelt! Dem Abschaum der Gesellschaft!“

Als Laine ihrem Vater Weihnachten erzählt hatte, dass man sie für eine Auszeichnung vorgeschlagen hatte, weil sie in Ausübung ihres Amtes Menschenleben gerettet hatte, hatte er lediglich gesagt: „Als ob so eine Medaille dich würdigen würde! Ärzte retten täglich Menschenleben.“

Danach hatte sie Boston in einem Wutanfall verlassen und sich geschworen, dass sie mit ihm fertig war.

Laine vermisste ihre Mutter sehr.

Eric war täglich dankbar, dass er Gina McCain gefragt hatte, ob sie damit leben könnte, wenn er nach Thunder Point zöge. Thunder Point war klein. Und Eric war beinahe jeden Tag in dem Diner, in dem Gina arbeitete. Die Hälfte der Zeit war auch ihr Mann dort. Die Geschichte mit Eric und Gina lag lange zurück. Damals war sie noch auf der Highschool gewesen und er gerade von der Schule geflogen. Ihre Beziehung war kurz, aber für sie beide gleichermaßen denkwürdig gewesen.

Im Oktober hatte Eric die einzige Tankstelle des Orts gekauft und zwei Monate damit verbracht, sie auf den neuesten Stand zu bringen und um eine Werkstatt zu erweitern. Die ganze Zeit hatte er im Motel gewohnt – im Coastline Inn. Das Motel war nichts Besonderes, aber sauber und günstig. Morgens gab es Kaffee umsonst, aber es gehörte kein Café oder Restaurant dazu. Nur der Diner und McDonald’s boten Frühstück an, es sei denn, Eric wäre zum Strand gefahren, um bei Cooper in der Strandbar zu frühstücken. Da er aber weder Zeit noch die Energie hatte, gleichzeitig nach einem Haus zu suchen und ein kleines Unternehmen aufzuziehen, hatte er sich einen kleinen Kühlschrank und einen Toaster gekauft und sich im Motelzimmer einigermaßen praktisch eingerichtet. Morgens ging er in die Rezeption des Motels, um sich eine große Tasse Kaffee und die Zeitung zu besorgen. Anschließend fuhr er zur Tankstelle. Um etwas Anständiges zu frühstücken, ging er in der Pause zum Feinkostladen oder in den Diner. Eric war kein großer Freund von Fast Food, das er häufiger essen musste, als ihm lieb war.

Als Eric heute in den Diner kam, stand die junge Frau, die neu in der Stadt war, bei Gina am Tresen. Sie schien schon mit dem Frühstück fertig zu sein und lächelte ihn an.

„Hey, Mr. Gebrauchtwagen, genau der Mann, den ich sehen wollte!“, empfing sie ihn.

„Na, so eine Begrüßung höre ich nicht jeden Tag“, erwiderte er.

„Ich habe gehört, Sie haben einen guten Ruf, was Schönheitskosmetik betrifft. Nun frage ich mich, wie es bei Ihnen unter der Motorhaube aussieht.“

Er zog die Brauen hoch. Das war eine tolle zweideutige Anspielung. Eric setzte sich und bekam sofort einen Kaffee. „Ich war Mechaniker, bevor ich der Mann für alle Fälle wurde“, erklärte er ihr lächelnd.

Laine lachte über sein Wortspiel. „Ich habe da einige Arbeiten, die erledigt werden müssten. Kann ich einen Termin mit Ihnen vereinbaren?“

„Sie brauchen keinen Termin. Fährt das Auto noch?“

„Ja. Aber ich bin damit quer durchs Land gefahren. Von Virginia bis hierher. Sie braucht einen Ölwechsel und eine Inspektion.“ Laine hob die Schultern. „Ich bin mir sicher, sie ist sehr müde und vielleicht ein wenig wund.“

Er grinste. Nur Sammler klassischer alter Autos wussten einen Autobesitzer zu schätzen, der seinem Auto ein Geschlecht und vielleicht sogar einen Namen gab. „Wohnen Sie hier in der Gegend?“

Sie lachte. „Schauen Sie sich um, Eric. Hier wohnen alle in der Gegend.“

Sie erinnert sich also an meinen Namen. Oder vielleicht hat Gina ihn ihr gesagt. „Stimmt. Bringen Sie den Wagen einfach vorbei, wenn Sie ihn für ein paar Stunden entbehren können. Dann kümmere ich mich gleich darum.“ Zu Gina sagte er: „Kannst du Stu bitten, mir drei Eier mit ein paar grünen Chilis und etwas Cheddar zu machen?“

„Schon unterwegs. Mit ein paar Bohnen als Beilage?“

„Da muss ich passen. Lieber Toast, bitte. Und sind vielleicht noch ein paar Pommes übrig, die Stu noch nicht verkohlt hat?“

„Ich sag dir was. Weil du es bist, werde ich sie einfach ein paar Mal auf dem Grill wenden. Denn Gott weiß, was passiert, wenn Stu Hand anlegt. Dann sind sie am Ende vermutlich wirklich verkohlt.“

„Du bist ein Schatz“, erwiderte er.

Als Gina Laines leeren Teller abräumte und in die Küche brachte, fragte Laine: „Sind Sie jeden Tag hier?“

Er schüttelte den Kopf. „Obwohl, eigentlich fast immer. Wenn es nicht wegen Gina wäre, würde ich von Kaffee und Kuchen leben.“

„Tatsächlich?“

„Ich bin auch neu in der Stadt. Ich habe die Tankstelle gekauft. Da gab es so viel zu tun, bis ich sie unter einem neuen Namen und nach dem Umbau wiedereröffnet habe, dass ich im Coastline-Motel wohne. Dagegen sieht das Motel 6 aus wie ein Fünfsterneluxushotel. In den nächsten Tagen muss ich mich ernsthaft nach einem Haus oder einer Wohnung umsehen. So wie es ist, ist es aber trotzdem ganz praktisch. Und ich gehe gern zu Fuß zur Arbeit …“

„Ein Automann, der gern zu Fuß geht …“

„Es gibt genügend andere Orte, wohin ich fahren muss. Obwohl wir im Eiltempo arbeiten, bin ich immer noch damit beschäftigt, die Tankstelle mit einer Werkstatt aufzumöbeln. Der vorige Besitzer hat keine Reparaturarbeiten gemacht, und für eine Werkstatt braucht man Platz. Ich habe einen ziemlich großen Kundenkreis, der klassische Autos sammelt.“ Er trank einen Schluck Kaffee. „Was machen Sie, Laine?“

„Schulterübungen“, antwortete sie. „Ich hatte vor drei Monaten eine Schulteroperation. Es ist schon wieder viel besser, aber ich bin noch nicht ganz wiederhergestellt. Ich habe beschlossen, mir eine Weile freizunehmen und mal etwas Neues auszuprobieren.“

„Also arbeiten Sie gar nicht?“

„Ich arbeite am Computer, aber das versuche ich zu vermeiden, wo ich kann. Ich habe ein bisschen Recherchearbeit gemacht. Sie wissen schon, Langweilerkram. Daten, Statistiken, Personenüberprüfungen, Steuerunterlagen, diese Art von Dingen.“

„Für eine große Firma?“

„Ja. Die größte. Das FBI.“ Sie grinste ihn an.

„Das klingt wirklich … langweilig.“

Sie lachte. „Ich weiß. Und traurigerweise bin ich auch noch gut. Aber falls jemand aus meiner alten Dienststelle anrufen und um Hilfe bitten würde, müsste man mir einen Zeitausgleich bezahlen. Ich habe meine Rechenaufgaben gemacht und glaube, ich bekomme mit ein paar Monaten Reha und Urlaub – bei ein bisschen Zusatzarbeit von zu Hause aus -ein freies Jahr hin.“

„Ich war eine Zeit lang mit einer Frau zusammen, die Webseiten entworfen und gehostet hat. Sie hat den Computer kaum verlassen …“

„Der Typ Frau bin ich nicht. Das kann ich Ihnen sagen. Ich habe keine Probleme, mich vom Computer zu entfernen. Die Zentrale zu verlassen bedeutet, dass ich nicht mehr herumreise oder jemanden führe. Die Techniker oder Researcher zu führen und am Computer zu unterweisen hat mir nie großen Spaß gemacht. Vielleicht fällt mir während meiner Auszeit etwas Neues ein, womit ich mein Geld verdienen kann.“

Den Ellbogen auf dem Tresen abgestützt, fragte Eric: „Wie gut können Sie mit einem Schraubenschlüssel umgehen?“

„Besser, als Sie glauben.“

Gina brachte Erics Frühstück.

„Ich lasse Sie essen“, sagte Laine. „Und ich bringe meinen Wagen in den nächsten Tagen mal vorbei.“

„Großartig“, sagte er und beobachtete, wie sie den Laden verließ.

Als er sich umdrehte, starrte Gina ihn an. „Hast du Sie gebeten, mit dir auszugehen?“

„Natürlich nicht.“

„Warum nicht?“, fragte sie. „Das willst du doch ganz offensichtlich.“

„Das weißt du doch gar nicht“, meinte er, bevor er sich eine Gabel Rührei in den Mund schob.

„Deine schönen grünen Augen strahlten, als du sie am Tresen stehen sahst.“

„Ich kann gut aussehende Frauen doch immer noch zu schätzen wissen“, sagte er. „Aber ich habe dieser Tage viel zu viel zu tun.“

„Du solltest dir etwas Zeit für ein interessanteres Sozialleben nehmen, als immer nur zu Abend zu essen.“

„Na ja, ich fühle mich nicht so richtig wohl dabei, mit dir über diese Dinge zu sprechen, weil du und ich mal … du weißt schon.“

Gina lachte, wobei sich kleine Lachfältchen in ihren Augenwinkeln bildeten. „Wir waren genau zwei Wochen zusammen, Eric, und ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, aber ich bin total über dich hinweg. Ich bin schon seit fünfzehn Jahren über dich hinweg.“

Er aß noch etwas Rührei. „Es ging länger als zwei Wochen.“

„Nicht viel.“

„Und ich bin auch über dich hinweg.“

„Gut zu wissen. Also … was ist jetzt mit Laine? Sie scheint eine nette, bodenständige und attraktive …“

Die Tür des Diners ging auf und Mac betrat den Laden, um seine Frühstückspause bei Gina zu verbringen. Er war in Uniform mit Pistole und allem, und obwohl Eric beinahe so groß war wie Mac, schien die Uniform ihm immer mindestens vier Zentimeter zu stehlen. Mac beugte sich über die Theke und küsste seine Frau.

„Gut, dass du da bist“, sagte Eric. „Deine Frau dringt in mein Privatleben ein. Sie gibt mir Verabredungstipps.“

„Du bist mit jemandem verabredet?“, fragte Mac.

„Nein, weshalb ich mir auch die Verabredungstipps nicht anhören sollte.“

Mac musterte Eric. Dann führte er die Kaffeetasse zum Mund. Er war kein Mann großer Worte.

„Du solltest seine Augen sehen, wenn er Laine begegnet. Das blitzt und funkelt! Und sein Lächeln? Sie entlockt ihm sogar ein Lächeln“, verriet Gina ihrem Mann.

„Ruhe“, sagte Eric. Gina lachte, und Mac lachte ebenfalls leise in sich hinein.

„Du solltest nach einer richtigen Frau für dich suchen. Du warst nie verheiratet oder verlobt, und du arbeitest die ganze Zeit. Du könntest ein wenig Beständigkeit vertragen. Und die richtige Frau gibt einem Mann erst das richtige Gleichgewicht und lässt ihn reifen. Stimmt’s, Mac?“

„Was auch immer du meinst, Liebling“, erwiderte dieser und trank einen Schluck Kaffee.

„Ich verbuche das mal unter Lebensberatung“, sagte Eric und aß seine Pommes. „Und danke, dass du diese Kartoffeln aus Stus Reichweite geschafft hast.“

„Gern geschehen. Laufen die Geschäfte gut?“

„Großartig. Jetzt, wo die Tankstelle mehr Service anbietet, haben wir mehr zu tun. Norm hatte alles zurückgeschraubt, wollte verkaufen und sich zur Ruhe setzen. Darum ist das Geschäft woanders gemacht worden. Wir rüsten wieder auf, bieten zusätzliche Dienstleistungen an und holen das Geschäft zurück. Und wie sich herausstellte, war das gar keine so große und schwere Sache.“

„Toll, aber du wohnst immer noch im Motel und bist mit niemandem zusammen. Wir müssen uns darum kümmern. Du brauchst eine ordentliche Wohnung und eine Frau.“

Eric trank den Rest seines Kaffees aus, erhob sich, legte einen Zwanziger auf den Tresen und sagte: „Besonders großes Trinkgeld, Gina. Mit Dank für den großartigen Ratschlag.“ Obwohl sie lachte, als er den Diner verließ, dachte Eric: Ich werde lernen müssen, Fast Food zu mögen. Sie bringt mich noch um! Sie ist neugieriger als eine Schwester!

Aber er dachte auch, dass er wirklich jemanden brauchen könnte. Jemand Weiches und Anschmiegsames.

3. Kapitel

Am nächsten Dienstag, einen Tag nach ihrer Unterhaltung, brachte Laine ihren mittelgroßen SUV zu Eric in die Werkstatt. Es war ein neues Modell in einem exzellenten Zustand. Wenn er die Meilen, die sie quer durchs Land gefahren war, abzog, war sie in einem Jahr nur ein paar Tausend Meilen gefahren. Normalerweise hätte Eric den Wagen von Norm oder Manny inspizieren lassen, aber in diesem Fall übernahm er die Sache selbst. Er fand nichts an dem Wagen auszusetzen, also wusch er ihn und kümmerte sich um Kleinigkeiten. Höchstpersönlich.

Eric hatte vier Angestellte. Norm hatte ihm die Tankstelle verkauft und versuchte sich durch die Arbeit vor Kreuzfahrten und Seniorenreisen mit seiner Frau zu drücken. Ohne Frage hatte er seiner Frau erzählt, dass seine Hilfe beim Eigentümerwechsel absolut unentbehrlich war. Mit Eric war er ehrlicher – er wollte die Bürde, eine Tankstelle zu leiten, los sein und das Geld auf die Bank legen. Dennoch war er nicht so weit, sich den üblichen Ruhestandsaktivitäten zu widmen, die für ihn wie die reinste Qual klangen. Genauso wenig konnte er sich vorstellen, Tag für Tag mit seiner Frau zusammen zu sein.

Manny war mit Eric nach Thunder Point gekommen, nachdem Eric seine Werkstatt in Eugene verkauft hatte. Manny war ein guter Freund von ganz früher. Er hatte eine Frau und einen Haufen Kinder. Howie hatte halbtags für Norm gearbeitet. Er war ungefähr in Norms Alter und tat nicht viel – ein paar Reparaturen. Ansonsten tratschten die beiden gern miteinander, tranken Unmengen Kaffee und bedienten die Zapfsäulen. So wie die Tankstelle bei der Übernahme ausgesehen hatte, hatte keiner von ihnen je den Besen geschwungen oder gar mal mit einem Lappen die Fenster oder andere Oberflächen geputzt. Die beiden würden wahrscheinlich bald kündigen, denn wenn Eric eins hasste, dann war das ein schmutziger Laden. Sammler klassischer alter Autos mochten es, wenn es in einer Werkstatt wie in einem Operationssaal aussah. Ergo machte Eric den beiden alten Jungs das Leben schwer.

Sein jüngster Angestellter war Justin Russell, ein schlaksiger, launischer Siebzehnjähriger, der entweder viele Probleme hatte oder sehr schüchtern war. Er erinnerte Eric an sich selbst in diesem Alter. Eric vermutete, dass er Justin auch darum eingestellt hatte. Als eine Art psychologisches Experiment. Als könnte er seine eigene Jugend als Kleinkrimineller wiedergutmachen, indem er Justin auf den rechten Weg führte. Bis jetzt war allerdings noch nichts geschehen. Doch wenn Eric eines war, dann stur.

Justin arbeitete hart. Er hatte ein gutes Händchen, wenn er unter der Motorhaube herumschraubte. Für einen Jungen, der bisher noch nicht viel mit Motoren zu tun gehabt hatte, besaß er ein bemerkenswertes Feingefühl.

Eric ging in den Waschraum, schrubbte sich die Hände, wusch sich mit reichlich Wasser das Gesicht, spülte sich den Mund aus und reinigte den Spiegel über dem Waschbecken mit einem Spritzer Glasreiniger. Anschließend wischte er das Waschbecken mit dem Papiertuch aus, das er zum Hände trocknen benutzt hatte. Zum Schluss warf er noch einen Blick in den Spiegel. Er hatte seinen Schutzoverall ausgezogen und trug darunter die typische Mechanikerkluft – dunkelblaue Hose, hellblaues Hemd, das mit dem neuen Namen der Tankstelle, Lucky’s, bestickt war. Auf der Hemdtasche stand noch sein eigener Name. Eric hatte seiner Werkstatt einen neuen Namen gegeben, weil er dachte: Neuer Name, neues Glück. Eigentlich wäre er gern besser gekleidet, aber das hier entsprach nun mal seiner Vorstellung von einem Kraftfahrzeugmechaniker – einem Karosseriebauer. Seine Uniform war sauber, er zog sich immer einen Schutzoverall über seine Sachen, bevor er sich unter einen Motor legte. Auch seine Hände waren sauber, sogar unter den Nägeln.

„Ich liefere jetzt ein Auto aus. Bin nicht lange weg“, informierte er Manny.

„Alles klar, Boss.“

Eric fuhr ein paar Straßen weiter zu Laines Haus. Er stellte den Motor ab und rief sie von der Auffahrt aus an. „Würde es Ihnen zeitlich passen, wenn ich Ihnen das Auto jetzt vorbeibringe?“

„Sie müssen es mir nicht bringen“, erwiderte sie. „Ich komme und hole es in ungefähr einer Stunde ab.“

„Ähm, ich stehe schon vor Ihrer Tür. Wenn ich den Schlüssel irgendwo hinterlegen soll, können wir den Rest auch später erledigen, wenn es Ihnen besser passt.“ Sie sagte kein Wort, und Eric wartete ab. „Laine?“, fragte er schließlich doch. Und dann sah er zu, wie die Haustür aufging und sie erstaunt dreinblickend nach draußen kam. Sie trug dasselbe wie die Male, als er sie im Diner gesehen hatte: Yogahose, dickes kurzärmliges Sweatshirt über einem langärmligen T-Shirt, Tennisschuhe. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie sah aus wie ein junges Mädchen. Ein sehr hübsches junges Mädchen.

Eric stieg aus dem Wagen und reichte Laine die Autoschlüssel. Dann fischte er eine Quittung aus der Innentasche seines Jacketts. „Wir haben die Bremsen gemacht, einen Ölwechsel, alles nachgeschmiert, die Räder ausgewuchtet, und ich habe höchstpersönlich jeden Punkt überprüft. Bei Ihnen ist alles in einem guten Zustand, was mich nicht überrascht. Ich würde, abhängig davon, wie oft und wie weit Sie fahren, regelmäßige Inspektionen empfehlen. Ihr Wagen ist insgesamt sehr gepflegt.“

„Sie hätten mich anrufen sollen“, sagte sie. „Ich wäre vorbeigekommen und hätte mein Auto selbst abgeholt.“

„Kein Problem. Ich habe es Ihnen gern vorbeigebracht.“

„Aber, ich wollte mit Kreditkarte bezahlen.“

Er nahm sein iPhone aus der Tasche. „Das können Sie gern tun, wenn Sie wollen – oder auch ein anderes Mal, wenn Sie in der Werkstatt vorbeikommen.“ Er zeigte ihr den Scanner auf seinem Telefon. „Wie auch immer es Ihnen am besten passt.“

„Ich hatte nicht erwartet, das Auto heute schon wiederzubekommen“, erklärte sie offensichtlich überrascht.

„Wir hatten nicht viel zu tun. Aber das mit der Bezahlung ist nicht eilig …“

„Nein. Ich bezahle Sie jetzt. Kommen Sie rein, Eric.“

„Es macht mir nichts aus, hier zu warten …“

„Himmel noch mal, jetzt kommen Sie doch rein!“ Damit wandte sie sich ab, um vor ihm ins Haus zu gehen.

Einen Augenblick stand Eric unschlüssig da. Er hatte Laine nicht stören, sondern ihr nur zeigen wollen, dass er gleichzeitig ein Geschäftsmann mit einem großartigen Kundenservice und … na ja … ein Gentleman war. Er folgte ihr nur zögerlich. Sie hatte die Tür offen gelassen. Schließlich betrat er das Haus. Nach nur wenigen Schritten stand er bereits im Salon.

„Wow!“, rief er.

Im Kamin loderte ein Feuer. Ihre Möbel sahen gemütlich aus. An den Wänden hingen Bilder, und auf der Lehne eines Sessels und auf dem Sofa lagen Decken. Von ihrem Panoramafenster aus bot sich eine fantastische Aussicht. Auf dem Tisch standen Blumen, und aus der Küche drang ein wundervoller Duft. Etwas köchelte im Ofen, und Laine holte es gerade mit einem Topflappen heraus.

„Wow?“, fragte sie.

„Es ist so … gemütlich“, meinte er. Es war alles in Erdtönen mit vereinzelten Akzenten von Lavendel und Blau gehalten. Dezente Rottöne, sparsam eingesetzt, sorgten dafür, dass es aussah, wie es aussah. Anheimelnd. Warm.

„Das ist ein Zuhause“, sagte sie und lachte.

„Ich weiß, aber leben Sie denn nicht allein?“

„Doch.“

„Tut mir leid. Ich habe Sie bisher immer nur kurz gesehen. Sie erwähnten, dass Sie am Computer arbeiten. Meine letzte Freundin, die einzige, die ich in den vergangenen Jahren gehabt habe, wusste nicht, wo die Küche war. Sie reagierte allergisch auf Hausarbeit. Aber sie liebte ihre Computer.“

Laine streifte die Topfhandschuhe ab und griff in ihre Brieftasche. „Ich werde in der nächsten Zeit hier wohnen. Darum muss es gemütlich sein. Und ich koche gern. Nicht die ganze Zeit, aber es entspannt mich. Heute Abend habe ich Gäste zum Essen eingeladen, aber ich koche auch für mich allein. Was ist mit Ihrer Freundin passiert?“

„Sie hat mich wegen eines Programmierers verlassen. Ich wette, sie hausen im Elend und sind entweder vor Hunger abgemagert oder vor lauter Fast Food fett geworden.“

In einem Bilderrahmen entdeckte Eric ein Foto von Laine mit einem Mann – einem sehr gut aussehenden Mann. Sie wirkten sehr glücklich. Auf einem zweiten Foto – auf dem Beistelltisch neben dem Sofa – waren zwei kleine Mädchen zu sehen. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte Eric sich sterbenselend. Sie hatte doch wohl nicht ihre Familie verloren! Das wäre zu grausam.

Laine hatte inzwischen ihre Kreditkarte gefunden und reichte sie ihm. „Meine Nichten“, erklärte sie. „Übrigens wirken Sie nicht sehr traumatisiert wegen des Verlusts Ihres Computermädchens.“

Sie hatte ihm zwar nicht erklärt, wer der Mann war, aber das war schon in Ordnung. Eric zog die Karte über das Display und hielt es ihr zum Unterschreiben hin. „Wir waren vermutlich nicht füreinander geschaffen. Unsere größte Gemeinsamkeit war, dass wir viel gearbeitet haben.“

„Was hat Sie denn zusammengebracht? Haben Sie sich das einmal gefragt?“ Laine schrieb ihren Namen auf das schmale Display.

„Ein Freund. Einer von der Sorte, die es nicht ertragen kann, einen alleinstehenden Mann zu sehen, ohne sofort etwas zu unternehmen, um ihn zu verkuppeln. Machen Ihre Freunde das nicht?“

„Nein“, erwiderte sie. „Offensichtlich haben sich meine Freunde in der Hinsicht keine Sorgen um mich gemacht.“

„Waren Sie noch nie verheiratet?“

Sie schüttelte nur den Kopf. „Ich hatte nur wenig Beziehungen. Wegen meines Jobs musste ich viel reisen.“

„Aber Sie arbeiten am Computer. Wie kommt es, dass Sie da viel reisen müssen?“

„Niemand schickt seine Leute so gern zu Seminaren, Trainingseinheiten, Führungs-Workshops oder zeitlich begrenzten Arbeitseinsätzen in andere Abteilungen wie die Regierung. Für mich ist der Computer ein Werkzeug. Alles andere interessiert mich daran nicht. Wenn ich keine Überstunden mache oder unterwegs sein muss, habe ich andere Interessen. Ich habe schon immer gern gekocht. Es erinnert mich an meine Mutter, die auch immer gern gekocht hat.“

„Wow.“

„Das macht Sie echt an.“ Laine steckte ihre Kreditkarte in die Tasche zurück. „Sie lernen einfach nur eine Frau kennen, die gern kocht und in einem sauberen Umfeld lebt, und das macht Sie schon an.“

„Nein. Ich schwöre …“

„Doch! So ist es! Ich glaube, Sie würden mich sofort heiraten, wenn ich Ihnen versprechen würde, Sie zu lieben und zu ehren, zu staubsaugen und zu kochen.“

„Wirklich, nein …“

„Das liegt daran, dass Sie in einem Motel wohnen. Und vielleicht auch daran, dass Ihre Freunde versuchen, Sie unter die Haube zu bringen. Sie suchen nach einer Haushälterin.“

„Hey, das stimmt nicht. Ich koche auch gut. Sehr gut sogar. Tatsächlich würde ich gern einmal für Sie kochen …“ Eric hielt inne und rieb sich verlegen den Nacken. „Ich müsste mir dafür aber Ihre Küche ausleihen.“

Laine lachte.

„Ich habe die Tankstelle renoviert und auf Vordermann gebracht. Von frühmorgens bis spätnachts …“

„Sie können uns heute Abend gern Gesellschaft leisten, wenn Sie mögen. Es kommen nur meine Freundin Devon, ihr Verlobter, ihre dreijährige Tochter und ihr Freund Rawley.“

„Danke, das ist sehr nett von Ihnen, aber ich möchte nicht stören.“ Eric steckte sein Telefon in die Tasche zurück. „Wir sehen uns sicher im Diner wieder. Sagen Sie Bescheid, wenn irgendwas mit dem Auto nicht in Ordnung ist.“

„Darf ich Sie zur Tankstelle fahren?“

„Nein, vielen Dank. Ich gehe gern zu Fuß. Schönen Abend noch.“

Eric ging nach draußen in die kühle feuchte Luft. Und er holte tief Luft.

Sich eine Frau zu suchen war so ziemlich das Letzte, worauf er aus war. Viel richtiger fand er es, so eine Situation wie eben in einer kleinen Stadt wie Thunder Point tunlichst zu vermeiden. Er wollte hier seinen Lebensunterhalt verdienen und von Freunden und Kunden respektiert werden. Da konnte er sich wirklich keine romantischen Dramen erlauben. Außerdem gab es nur eine einzige Frau, der seine ganze Aufmerksamkeit galt: seine siebzehnjährige Tochter Ashley. Eric bemühte sich wirklich sehr, ihr nicht die Zeit zu stehlen. Sie war in ihrem letzten Jahr an der Highschool und hatte Besseres zu tun, als ihren Vater zu sehen. Außer seiner Arbeit brauchte er nicht viel, nur Seelenruhe, ein bisschen Zeit für Ashley und die Möglichkeit, sie zu einer wirklich großartigen jungen Frau heranreifen zu sehen.

Doch dann war ihm auf einmal Laine aufgefallen. Und es wäre verdammt dumm von ihm, wenn alles, was er sich vorgenommen hatte, nun plötzlich nicht mehr gelten sollte.

Laine genoss das Abendessen mit ihren Freunden. Spencer hatte seinen Sohn Austin mitgebracht, einen höflichen und lustigen zehnjährigen Jungen. Am meisten aber überraschte sie Rawley, der nicht viel sprach, aber ständig Dinge entdeckte, auf die er Mercy aufmerksam machte. Rawley fragte Mercy, ob ihre Puppe mit bei ihnen am Tisch sitzen solle. Er empfahl ihr, rote Soße auf ihren Knoblauchtoast zu streichen. Dann fragte er sie, ob sie in letzter Zeit Bilder von ihm gemalt und welche Filme auf ihrem tragbaren DVD-Player sie gesehen hatte. Mit den Erwachsenen sprach er nicht viel, es sei denn, man stellte ihm eine konkrete Frage.

Zwei Tage später traf Laine Eric zufällig im Diner wieder. In Wahrheit hatte sie das zeitliche Ende ihres Laufs absichtlich genau zu diesem Zweck geplant. Natürlich fragte er sie nach dem Abendessen und ob ihr Auto in Ordnung sei. Noch einmal zwei Tage später sah sie ihn ins Deli gehen. Spontan beschloss sie, dass es höchste Zeit war, einmal etwas von Carries berühmtem Krabbensalat zu kaufen. Wieder fragte Eric sie nach ihrem Auto. Weitere zwei Tage später begegneten sie sich erneut im Diner. Eric wollte wissen, was sie in letzter Zeit so gekocht hatte und … wie ihr Auto lief.

Laine wusste, dass er sie mochte. Wenn er sie sah, strahlte er. Und wenn er mit ihr sprach, lehnte er sich immer ein wenig in ihre Richtung. So langsam kotzte es sie wirklich an! Sie würde den ersten Schritt machen müssen.

Seit Eric ihr das Auto gebracht hatte, waren zehn Tage und fünf zufällige Treffen vergangen. Dann lief Laine ihm noch einmal zufällig über den Weg. Sie war auf dem Nachhauseweg vom Diner, er auf dem Weg dorthin. Es folgte ihr üblicher Small Talk – Wetter, Auto, Kochen –, bis sie sagte: „Das wird allmählich wirklich richtig langweilig, Eric. Warum fragst du mich nicht, ob ich mit dir ausgehen will? Bin ich so unattraktiv?“

Er blieb überrascht stehen, den Mund weit offen. „Hm?“

„Sehr eloquent. Aber lieber Himmel, mein Auto fährt einfach gut. Ich koche auch nicht jeden Tag ein großartiges Abendessen, aber wenn es dunkel, bewölkt und nass draußen ist, mag ich Suppen, Eintöpfe und Schmortöpfe. Ich weiß, dass du mich magst. Ich kann zwar noch nicht sagen, wie sehr, aber ich bin sicher, dass ich es auch noch herausbekomme. Also, wir beide sind neu in dieser Stadt, und wir haben nur wenige Freunde. Du vermutlich ein paar mehr als ich, weil du ein Geschäft hast. Wir kommen gut miteinander aus, können uns gut leiden und sind mit niemandem zusammen. Warum gehen wir nicht einfach mal miteinander aus? Etwas essen. Vielleicht können wir uns auch mal über etwas anderes unterhalten als über mein Auto. Zum Beispiel über unsere Hobbys oder so.“

Sein Gesichtsausdruck war unbezahlbar. Eric wirkte eindeutig fassungslos. „Klar“, sagte er schließlich.

„Freitagabend. Und ich koche nicht für dich. Dieser hungrige verzweifelte Ausdruck in deinen Augen, wenn du mit meiner Häuslichkeit konfrontiert wirst, ist alarmierend. Ich suche keinen Mann, um den ich mich kümmern muss. Oder jemanden, der sich in dieser Hinsicht um mich kümmert. Aber ich fände es schön, auch mal außer zum Laufen aus dem Haus zu kommen. Und ich hatte schon lange keine richtige Verabredung mehr. Ich habe gearbeitet. Dann habe ich … das erkläre ich ein anderes Mal. Also, Freitagabend?“

„Ja“, antwortete er wie aus der Pistole geschossen. „Freitagabend.“ Dann grinste er breit. „Du hast mich um eine Verabredung gebeten. Du mich.

„Ich hatte es einfach satt, noch länger zu warten“, erklärte sie mit einem sehr ungeduldigen Unterton in der Stimme.

„Ich bin noch nie um eine Verabredung gebeten worden.“

Laine musterte ihn von Kopf bis Fuß. Knapp eins neunzig und gut gebaut, kupferrotes Haar und die beneidenswert grünsten Augen, die sie je gesehen hatte. Außerdem ein kleiner Dreitagebart. Wirklich hinreißend! Diese Augen. Gott, diese Augen! „Du großer Lügner“, sagte sie.

Er schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. „Nicht seit dem Sadie-Hawinks-Tanz in der Achten.“

„Aber die Leute hier organisieren doch ständig etwas für dich“, erinnerte sie ihn.

„Aber nur, wenn ich zur selben Geburtstagparty oder Hochzeitsfeier gehe wie sie. Das ist keine richtige Verabredung. Wenn mir die Frau gefiel, habe ich gefragt.“

Sie sah ihn zweifelnd an. „Trägst du Kontaktlinsen?“

Er schüttelte wieder den Kopf und lächelte immer noch wie ein Depp. „Ein Geschenk meiner Mutter. Also, magst du Fisch?“

„Ich komme aus Boston“, informierte sie ihn.

„Ich denke mir etwas aus und hole dich um sechs ab. Oder ist dir sieben zu spät zum Essen? Denn ich muss vorher noch …“

„Sollte ich nicht lieber dich abholen? Und ein Restaurant aussuchen?“

„Nein. Du hast den schwierigen Part übernommen und mich gefragt. Ich kümmere mich um den Rest. Und übrigens, ich bin froh, dass du mich gefragt hast. Danke.“

„Hättest du mich denn auch irgendwann gefragt?“

„Ich glaube schon, ja. Aber ich war vorsichtig. Nicht meinetwegen, sondern deinetwegen.“

„Hm. Das musst du mir beim Abendessen mal genauer erklären.“

„Abgemacht. Und du kannst mir Aufregendes aus der Welt der Recherche erzählen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte lieber, dass du bei unserer ersten Verabredung hellwach bist.“

Laine war ziemlich gut darin, sich nicht zu viele Gedanken zu machen. Daher passierte es selten, dass sie länger als nötig über etwas nachdachte. Am Freitag ihrer Verabredung schob sie den Gedanken daran beiseite und konzentrierte sich erst einmal auf andere Dinge. Sie suchte im Internet nach einem neuen Teppich für den Platz vor dem Kamin in ihrem Schlafzimmer. Dann las sie ein paar Kapitel des Buchs, mit dem sie sich gerade beschäftigte, rief Pax an und wusch Wäsche. Sie war erstklassig ausgebildet und wusste, wie man sich auf etwas Bestimmtes konzentrierte. Sie hatte sich schon vor langer Zeit als äußerst diszipliniert bewiesen – das war bei verdeckten Ermittlungen unverzichtbar.

Laine schaffte es tatsächlich, nicht darüber nachzudenken, dass sie schon seit anderthalb Jahren nicht mehr verabredet gewesen war. Wie zum Teufel konnte es sein, dass das schon so lange her war?

Sie lackierte sich ihre Fußnägel blau. Es war lustig, welche Sachen man bei einer verdeckten Ermittlung vermisste. Ihr erster Einsatz war relativ kurz gewesen – zwei Wochen in einer Klinik, die in Verdacht stand, Drogenhandel zu betreiben. Danach vier Wochen im Büro einer Spedition, um Verbindungen zu Menschenhändlern und Schleusern zu entdecken. Bei der Kommune jedoch, die sich The Fellowship nannte, war sie länger als ein halbes Jahr gewesen. Dort hatte sie es wirklich schmerzlich vermisst, sich nicht die Nägel lackieren und auch kein Parfum oder Duschgel benutzen zu dürfen. Nur weil Laine FBI-Agentin und eine erfahrene Scharfschützin war, hieß das nicht, dass sie ein Haudegen oder burschikos war. Im Grunde war sie ein ziemlich mädchenhaftes Mädchen. Sicher, sie konnte einen großen Mann auf die Kofferraumhaube eines Autos werfen und ihm Handschellen anlegen. Und ja, sie war schon in einige Kämpfe verwickelt gewesen – nicht freiwillig, aber manchmal rief eben die Pflicht. Laine war stark, hart im Nehmen, angstfrei und feminin.

Dann wurde es Zeit. Sie duschte, föhnte sich das Haar und zog Woll-Slacks, Stiefel, Pulli, Blazer und einen langen Seidenschal an. Die Stiefel hatten dünne hohe Absätze. Eric war fast eins neunzig. Laine konnte ein paar Zentimeter mehr gebrauchen.

Als sie ihm die Tür öffnete, war sie überrascht, wie gepflegt er aussah. Insgeheim lachte sie beinahe über sich selbst. Habe ich etwa erwartet, dass er in seiner Mechanikerkluft und hoch geschnürten Arbeitsschuhen bei mir auftaucht? Eric trug dunkle Jeans, einen tollen Pullover unter einem Jackett und schwarze Cowboy-Stiefel. Und nirgendwo war sein Name aufgestickt.

„Fertig?“, fragte er.

„Fertig“, erwiderte sie und drehte sich um, um die Tür abzuschließen. Dabei warf sie sich den Seidenschal über die Schulter. Als sie in der Auffahrt den glänzendsten, cranberryroten restaurierten Klassiker sah, der ihr je unter die Augen gekommen war, hielt sie inne. „Wow.“

„Ich nehme an, du weißt ein altes Auto zu schätzen.“

„Ein Chevy El Camino von 1970. Coupé oder Pick-up? Das ist die Frage.“

„Du kennst dich aus“, meinte er anerkennend und ging vor, um ihr die Beifahrertür zu öffnen. „Interessierst du dich für Autos?“

„Nicht im großen Stil, aber das hier ist wunderschön.“ Doch sie erkannte Automodelle und Jahrgänge tatsächlich fast auf Anhieb. Das gehörte zur Polizeiarbeit. Sie konnte sich an Nummernschilder erinnern, ohne sie aufschreiben zu müssen. Das war nicht unbedingt bei allen Ermittlern der Fall, aber Laine hatte ein außerordentliches Erinnerungsvermögen. In Wahrheit sogar noch weitaus besser als außerordentlich.

Als Eric sich auf den Fahrersitz neben sie setzte, streichelte sie über das Armaturenbrett und fragte voller Respekt: „Hast du das gemacht?“

„Hab ich“, erwiderte er und ließ den Motor an. „Ein Freund hat diese Schönheit zusammen mit noch vier weiteren Autoruinen auf einer stillgelegten Farm entdeckt. Der Eigentümer des Grundstücks war schon alt, und die Wracks interessierten ihn nicht die Bohne. Also bin ich hin und habe ein schnelles Geschäft mit ihm abgeschlossen. Ich gab ihm Bargeld und brachte die Autos zum Restaurieren auf einem Hänger nach Oregon. In dieses hier habe ich mich verliebt. Ich habe es noch etwas verbessert, offensichtlich. Es ist nicht alles original.“

„Also kaufst und restaurierst du alte Autos?“

„Manchmal. Ich habe einen festen Kundenstamm. Die Leute kommen für Karosseriearbeiten zu mir. Ich halte immer Ausschau nach guten Geschäften, also alten, verwaisten Klassikern und Originalteilen. Das ist die ganz normale Arbeit eines Karosseriebauers …“

„Das ist nicht einfach nur normaler Karosseriebau“, widersprach sie und strich sanft über das weiche Armaturenbrett. „Das ist Kunst.“

Ihr Kommentar entlockte ihm ein Lächeln. „Das ist meine Arbeit.“

„Ich dachte, deine Arbeit sind Kfz-Reparaturen und Benzin.“

„Das gehört auch dazu. Wir möchten uns, so gut wir können, um die Stadt kümmern. Doch Karosseriebau und Restaurierung sind meine Leidenschaft. Wir sind gerade dabei, eine neue Lackierkabine in der Werkstatt zu installieren. Ich musste viel Spezialwerkzeug zurücklassen. Deshalb ist das hier ein bisschen wie wieder ganz von vorn anfangen. Es ist aber sinnvoll, ein Unternehmen neu aufzuziehen. Und es funktioniert bereits.“

„Warte mal einen Augenblick – zurückgelassen?“

„Oh“, sagte er lachend. „Okay, ich erzähle dir, wie alles war. Vor über zehn Jahren habe ich ein kleines, schlecht laufendes Geschäft in Eugene gekauft. In den letzten zehn Jahren machten wir es mithilfe hervorragender Mechaniker und Karosseriebauer zu einer kleinen Goldgrube. Wir haben es geschafft, uns einen treuen Kundenstamm aufzubauen. Dann kamen ein paar reiche Säcke und wollten den Laden unbedingt kaufen. Sie haben ihr Angebot so lange aufrechterhalten, bis ich anfing, mich nach einem anderen Ort für meine Arbeit umzusehen. Norms Tankstelle stand schon seit Jahren zum Verkauf. Es ist wirklich keine große Werkstatt, aber sie liegt an einer ziemlich günstigen Stelle auf einem netten Grundstück mit viel Platz für Erweiterung. Norm hat den Platz, der ihm zur Verfügung stand, nie groß beachtet. Er wollte einfach nur Tanks füllen und kleinere Reparaturen wie Bremsen und so etwas erledigen. Ich habe die Tankstelle gekauft, alles aufgeräumt und ausgemistet und einen Batzen Geld hineingesteckt. Jetzt erweitern wir gerade im wahrsten Sinne des Wortes. Rohrleitungen und Elektrik nehmen mehr Zeit in Anspruch als alles andere. In drei Monaten können wir, abgesehen von neuen Zapfsäulen, eine Karosseriewerkstatt mit allen Dienstleistungen anbieten. Ich hoffe, dass ein paar meiner Angestellten aus Eugene sich entscheiden, hierher zu mir zu kommen. Wir haben sehr gut zusammengearbeitet. Und mir gefällt das Meer.“ Er sah Laine an. Seine Augen blitzten. „Nette kleine Stadt.“

„Nette kleine Stadt“, wiederholte sie.

„Du bist hier eigentlich die Rätselhafte.“

„Ich? Nicht die Bohne. Ich bin nur jemand, der sich nach einer Schulter-OP durch einen Telekommunikationsjob mogelt. Man könnte es auch Reha nennen – plus freie Tage und Urlaub. Aber es läuft alles auf eines hinaus: Ich kann nicht reisen und keine Auswärtseinsätze annehmen. Darum arbeite ich so viel wie möglich von zu Hause aus. Und zu Hause kann überall sein, stimmt’s?“

„Trotzdem bist du dreitausend Meilen gefahren, um nach Hause zu kommen?“

„Kann ich dir vertrauen und mich darauf verlassen, dass du den Mund hältst?“

Er hob die Schultern. „Wem sollte ich etwas erzählen?“

„Gut“, sagte sie.

„Nein, Laine. Ich meine, wem sollte ich denn etwas erzählen?“ Eric sah sie mit diesen verhexten grünen Augen an.

„Der Steuerfahndung? Denn diese Mistkerle sind falsche Schlangen.“

Er lachte. „Wer ist dein Chef?“

„Präsident Obama. Könnte sein, dass noch ein oder zwei Vorgesetzte zwischen mir und Mr. Präsident stehen.“ Sie lächelte ihn frech an.

Eric lachte. „Warum Thunder Point?“

Laine seufzte. „Die kurze Antwort lautet, ich habe eine Freundin hier. Devon. Als sie hierherzog, konnte sie einfach nicht aufhören, von dieser kleinen Stadt zu schwärmen. Ich habe im Internet nachgesehen – meine Spezialität, wenn du dich erinnerst – und eine Immobilienmaklerin gebeten, mir ein paar Fotos zu schicken. Die längere Antwort: Ich habe gründlich überlegt, wie ich mir eine ausgedehnte Auszeit von meinem Regierungsjob verschaffen kann, mit genug Zeit, um darüber nachzudenken, ob ich weiter in der Gegend um Washington D. C. wohnen und so viel und hart arbeiten will. Nachzudenken, ob ich immer noch mit ganzem Herzen dabei bin … Es ist kompliziert. Der Druck ist manchmal schrecklich. Ich mache meine Arbeit gut. Doch wann wird es zu viel? Ich meine, stehst du unter Druck?“

„Ja“, antwortete er sofort. „Aber nur unter der Art von Druck, die mir gefällt. Das liegt aber nicht daran, dass ich besonders schlau gewesen wäre. Ich habe es mir so ausgesucht. Mir gefällt der Druck, den ich habe. Ich arbeite für einige ziemlich große Geldfische und ihre Fünfhunderttausend-Dollar-Klassiker. Ich darf nicht zu viele Fehler machen. Aber andererseits mache ich auch nicht zu viele Fehler. Nicht bei der Arbeit.“

Ich mache auch keine Fehler, dachte Laine. Ich bin am besten darin, das zu tun, was ich tue. Trotzdem kann ich nicht so weitermachen.

4. Kapitel

Eric war optimistisch, was seine Verabredung mit Laine anging, doch er hatte nicht damit gerechnet, dass es so gut laufen würde. Zuerst hatte Laine ihm tausend Fragen über die Restaurierung des El Camino gestellt – bis hin zum Material der Plane für die Ladefläche und der Instrumente am Armaturenbrett, für die er Ersatzteile gefunden hatte. Sie wollte wissen, wie er alles wieder zusammengesetzt hatte. Er war kein Dummkopf und wusste, dass sie seinen männlichen Stolz ansprach. Doch er begriff auch, dass sie sich ernsthaft für das Thema interessierte und nicht nur versuchte, ihm zu schmeicheln. Als sie bei dem Restaurant in Bandon ankamen, hatte er bereits den Point of no Return überschritten. Er fühlte sich nicht nur von ihr angezogen, sondern mochte sie wirklich gern.

„Ich hoffe, das Restaurant ist in Ordnung“, sagte er und bog in die Parkbucht ein. „Es ist nicht elegant, aber Cooper hat gesagt, dass Essen sei großartig und es sei nicht laut.“

„Perfekt“, meinte Laine, löste den Sicherheitsgurt und wollte die Tür öffnen.

Er umfasste ihr Handgelenk. „Warte“, bat er. „Lass mich bitte Gentleman sein. Wenigstens heute Abend. Ich versuche, einen guten Eindruck zu machen.“

„Gut, dann hau rein“, erwiderte sie und wartete, bis er um den Wagen herumgegangen war, um ihr die Tür zu öffnen.

Als sie das Restaurant betraten, lehnte Eric den ersten Tisch, den die Kellnerin ihnen zeigte, ab. „Wie wäre es mit dem?“, fragte er und deutete auf einen Tisch, der eher in der Ecke als in der Mitte des Raums stand. Dann beugte er sich zur Kellnerin und flüsterte: „Die erste Verabredung.“

„Hab verstanden“, erwiderte die Frau und lächelte komplizenhaft.

Als sie an ihrem Tisch saßen, sagte Laine: „Entweder du hast sehr viel Erfahrung mit ersten Verabredungen, oder du bist wirklich höflich.“

„Wie alt bist du?“, fragte er. „Du siehst jung aus, sehr jung, aber wenn du etwas sagst, spricht jede Menge Erfahrung aus dir.“

„Dreiunddreißig. Jung auszusehen war mit fünfzehn ein Problem für mich. Mit einundzwanzig auch noch. Aber mit dreiunddreißig macht es mir nicht mehr viel aus. Ich glaube, wenn ich fünfzig bin, werde ich dankbar dafür sein. Und du bist …“

„Sechsunddreißig. Noch einen Monat lang.“

Sie bestellte ein Glas Cabernet und er ein Bier, dann studierten sie die Speisekarten. Nachdem sie bestellt hatten, lehnte Eric sich zurück und sagte: „Jetzt bist du an der Reihe, Laine. Wie ist es so als Rechercheurin?“

„Ach nein, nicht. Aber lass es uns gleich aus dem Weg räumen. Ich arbeite für eine Regierungsstelle – in einer Arbeitsgruppe, die mit vielen verschiedenen Regierungsstellen zu tun hat. Wie ich dir schon erzählt habe, führe ich eine Menge Hintergrundermittlungen im ganzen Land durch. Das ist aber nichts, worüber ich sprechen dürfte. Ich bin eine Geheimnisträgerin. Neunzig Prozent meiner Zeit arbeite ich an uninteressanten Dingen, aber wenn es interessant wird, darf ich wirklich nicht darüber sprechen. Ich will nicht herablassend klingen, und ich ziere mich auch ganz bestimmt nicht, aber wenn du damit leben kannst, möchte ich lieber nicht darüber sprechen.“

„Geheimnisträgerin, hm?“, meinte er. „Ich wette, du hast mit unheimlichen Dingen zu tun.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Das dachte ich auch immer. Aber, ganz im Ernst, im Moment ist das nicht der Fall.“

„In Ordnung. Erzähl mir, wofür du dich außer Kochen noch so interessierst.“

Ihre Augen begannen zweifellos zu strahlen. „Für eine Menge Sachen. Ich mag Pferde, obwohl ich seit dem College keines mehr hatte. Als Kind bin ich geritten. Englischer Sattel und Wettkämpfe im Dressurreiten. Ich habe auch bei Karatewettkämpfen mitgemacht. Zuerst hatte meine Mom mich zur Gymnastik angemeldet. Doch dann wuchs ich in Karate hinein, was ich immer noch liebe. Ich mag Gleitschirmfliegen und klettere gern auf Berge und Felsen – alles Dinge, die ich im Augenblick wegen des Arms nicht mehr machen kann. Aber meine Schulter heilt und wird von Tag zu Tag belastbarer, sodass ich demnächst … Meine Familie hatte ein Segelboot, darum kann ich segeln. Bis das Wetter wärmer wird, bin ich so weit, die Schulter mit einem Kajakpaddel auf der Bucht zu trainieren, wo es üblicherweise flach und ruhig ist. Ich bin wirklich gern draußen.“

„Das alles hast du als Kind schon gemacht?“

Sie nickte. „Was hast du denn gemacht?“

Eric lachte. „Ich glaube, wir hatten eine sehr unterschiedliche Kindheit. Mein Dad war Briefträger und meine Mom Hausfrau. Ich habe in der Kreisliga und auf Bolzplätzen Fußball gespielt – Verein und Trikots waren ziemlich teuer. Ich habe den Verdacht, dass du viele Privilegien hattest.“

„Meine Eltern waren beide Chirurgen. Meine Mutter ist vor einigen Jahren gestorben, und mein Dad geht auf die siebzig zu. Aber er ist immer noch aktiv und operiert. Nicht so viel wie früher – aber manchmal. Er schraubt alles ein wenig zurück, seine Partner übernehmen den Großteil seiner Patienten, aber er ist immer noch dabei. Orthopädie.“

Ihre Salate wurden gebracht, und sie unterhielten sich beim Essen weiter. Laine erzählte Eric, dass ihr nie bewusst gewesen sei, welch eine glückliche Kindheit sie gehabt hatte. Und dass sie viel zu viel Zeit darauf verwendet hatte, sich auf Dinge zu konzentrieren, die ihr nichts gebracht hatten. Er gab zu, dass er in seiner Umgebung keine Ahnung gehabt hatte, dass er arm war. Das war ihm erst später aufgegangen, als er die Unterschiede zwischen den Habenichtsen und jenen, die etwas besaßen, kannte.

„Und du stammst aus Thunder Point?“, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. „Wir sind hergezogen, als ich in der Highschool war. Meine Leute haben nur ein paar Jahre hier gewohnt, bevor sie in die Nähe meiner ältesten Schwester und deren Familie umgezogen sind.“

„Und heute bist du definitiv nicht mehr arm.“

„Ich komme rum. Ich habe ein bisschen Geld gespart. Kein Vermögen. Ich bin, wenn ich es recht betrachte, eigentlich ziemlich geizig.“

„Der Nebeneffekt davon, irgendwo aufzuwachsen, wo es nicht genug gab?“

Er kaute seinen Salat. „Eher ein Nebeneffekt der Sorge, nicht verdient zu haben, was ich habe. Ich habe nicht mal meinen Highschool-Abschluss gemacht. Den habe ich erst später nachgeholt.“

„Jedenfalls hast du ihn!“

Bis die Hauptgerichte kamen, sprachen sie über ihre unterschiedlichen Lebenserfahrungen. Laine gab zu, dass sie das College erfolgreich abgeschlossen hatte, während Eric von den wenigen Collegekursen erzählte, die er gemacht hatte. Sie erfuhr, dass sein Schwager ihm geholfen hatte, die erste Karosseriewerkstatt in Eugene zu kaufen. Dass er es aber geschafft hatte, ihm alles zurückzuzahlen und ihm sogar seinen Anteil abzukaufen. Eric genoss die Unterhaltung, obwohl er der arme Gesprächspartner des privilegierten Mädchens war. Es störte ihn nicht – seine Eltern waren gute, aber keine reichen Menschen. Er war sich bewusst, dass ihre Verschiedenheit sehr weit reichte, aber das kümmerte ihn heute Abend nicht weiter. Er wollte Laine zuerst kennenlernen; wollte, dass sie den Menschen kennenlernte, der er jetzt war, und nicht den Menschen, der er früher gewesen war. Außerdem ließ sie sich ebenfalls nicht in die Karten schauen – diese Topsecret-Geschichte, über die sie nicht sprechen durfte. Garantiert hatte ihre gute Freundin Devon eine Ahnung, was Laine tat, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und er war bereit darauf zu wetten, dass es nicht nur Recherche war.

Doch egal, was noch fehlte, Eric hatte bereits eine Menge erfahren. Außerdem hatte er die rote Linie weit überschritten – er mochte Laine wirklich. Sie war lustig und klug und sexy. Es klang so, als ob sie ein kompliziertes Leben führte, womit sie locker umging, was für ihre Reife sprach. Das schätzte er. Es hatte etwas von jugendlicher Weisheit, wenn sie Sätze sagte wie: „Ich glaube, es ist schlimm, wenn unsere Eltern nicht leben, wie wir es erwarten. Dabei ist es eigentlich eher so, dass wir nicht so leben, wie sie es erwarten.“

Und ihm gefiel die Art, wie sie die Gabel hielt, ihre Lippen leckte, ihr Haar zurückstrich. Sie hatte ein kleines Grübchen rechts neben dem Mund, sehr tiefblaue Augen und einen leicht schiefen Schneidezahn, der ihr Lächeln ganz besonders wirken ließ. Sie sprach so artikuliert. Als Eric anfing, auch gehobene Kundschaft zu gewinnen, hatte er ganz schön an sich arbeiten müssen. Er kam aus keinem gebildeten Haushalt und hatte als Jugendlicher ziemlich viel Umgang mit zwielichtigen Gestalten gepflegt. Laine erzählte, dass sie nicht viele, sondern nur ein paar gute Freunde hatte. „Geht mir genauso“, sagte er.

„Wenn man es genau nimmt, bin ich nicht besonders gesellig“, verriet sie ihm. „Ich gehe lieber mit ein paar Freunden essen, als eine Party zu feiern. Ich glaube, ich war schon seit … Jahren auf keiner Party mehr. Ein paar Hochzeitsfeiern oder Ruhestandspartys, aber das waren eher Pflichttermine.“

„Wärst du denn hier gern etwas geselliger?“, fragte er sie.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich mag, was ich mag. Ich koche gern für Freunde. Ich habe einen Zwillingsbruder, noch einen Arzt, der meinen Vater sehr glücklich macht. Er heißt Pax und ist der bemerkenswerteste Mann, den ich kenne – Harvard-Absolvent. Er macht gerade ein Fellowship in Kinderchirurgie bei Brigham and Women’s, und er ist eine echte Persönlichkeit. Sehr freundlich und großartig.“ Sie lachte und sagte: „Ich vermute, du ahnst, dass wir uns sehr nahestehen. Meine Schwägerin und ich stehen uns nicht so nah. Aber wir lieben beide Pax und kommen deshalb einigermaßen gut miteinander aus.“

Da lachte Eric. „Ich muss zugeben, dass mein Schwager und ich uns näherstehen als meine Schwester und ich. Meine Schwester hat mindestens zwanzig Jahre lang versucht, mich für alles Mögliche einzuspannen. Mein Schwager hält mich für cool.“

Zum Nachtisch teilten sie sich einen üppigen Käsekuchen mit Schokolade. Eric bestellte sich einen Kaffee, während Laine ihr zweites Glas Wein austrank. „Was ist mit dem Bier?“, fragte sie. „Hat es nicht geschmeckt? Du hast nicht mal die Hälfte davon getrunken.“

„Es war gut, aber ich trinke nicht viel, und ich fahre. Ich sollte mir wahrscheinlich eher Gedanken über meinen Kaffeekonsum machen.“

Auf dem Nachhauseweg fragte er: „Hattet ihr, als du klein warst, auch so normale Unterschichten-Dinge wie … du weißt schon … Pfadfinder? Völkerball? Jugend forscht?“

„Nein, meine Eltern haben uns gleich in gehobene akademische Kinderprogramme gesteckt. Wir hatten von Anfang an Tutoren. Mein Vater war da ziemlich hinterher. Ich wusste nicht mal etwas von diesen anderen Dingen. Ich habe bereits mit acht Schach gespielt, Pax war in der Grundschule Vorsitzender des Wissenschaftsclubs. Mein Dad hatte klare Vorstellungen, und meine Mom stand ziemlich auf seiner Seite. Ich war nur wegen Pax beim Karate.“ Sie wandte sich Eric zu und grinste. „Aber ich habe ihn überholt. Ich kann ihn vollkommen aufs Kreuz legen.“

„So spricht eine wahre Schwester.“

Er bog in ihre Einfahrt ein. Dann drehte er sich zu ihr, um sie anzusehen. Sie war so verdammt schön. Das war eine ziemlich besondere Erfahrung für ihn. „Gute erste Verabredung“, sagte er unglaublich eloquent.

„Wundervolle erste Verabredung.“

Er führte sie zur Haustür. Dort blieb sie stehen, drehte sich um und sah ihn erwartungsvoll an. „Nun?“

Eric war kein Depp. Er wusste, worauf Laine wartete. „Möchtest du mich nicht erst ein bisschen besser kennenlernen, bevor wir uns einen Gutenachtkuss geben?“

„Ich war seit über einem Jahr nicht mehr richtig verabredet. Und davor hatte ich eine Reihe wirklich schrecklicher Verabredungen mit Kerlen, die ich kein zweites Mal mehr getroffen habe. Das hier war eine wundervolle Verabredung. Hatte ich das nicht gerade gesagt? Und verdammt, ich möchte sie krönen mit einem …“

Ihm schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie mindestens eine Leitungsposition gehabt haben musste. Er schlang ihr einen Arm um die Taille und hob sie etwas an, um sie besser küssen zu können. Sie wirkte zierlich, war aber nicht so leicht, wie er gedacht hatte. Sie war eine starke Frau. Er verliebte sich augenblicklich in ihren Mund. Eine Hand auf ihrem schlanken Rücken, die andere in ihrem Haar vergraben, versank er in diesem Kuss. Sie öffnete die Lippen. Vorsichtig erforschte er sie mit der Zunge. Laine war wesentlich weniger zurückhaltend. Sie erwiderte sein Zungenspiel mit leidenschaftlicher Intensität, legte ihm die Arme um den Nacken und schmiegte sich eng an ihn, während er sich an ihrem Geschmack berauschte. Sie war einfach perfekt. Es war beinahe beängstigend, wie perfekt sie war. Am liebsten hätte er sie mit Haut und Haaren verschlungen, und er begann, schwer zu atmen, obwohl er eigentlich cool bleiben wollte. Er war aber nicht cool. Er war ihr komplett verfallen.

Schließlich zog er sich ganz langsam zurück, ohne sie herunterzulassen. Es gefiel ihm, sie so im Arm zu halten. „Gib es zu. Der Präsident arbeitet in Wahrheit für dich …“

Sein Kommentar entlockte ihr ein Lachen. „Möchtest du reinkommen?“, fragte sie ihn atemlos und beinahe flüsternd.

Er schüttelte den Kopf. „Wenn ich jetzt einen Fuß über deine Türschwelle setze, bleibe ich die ganze Nacht.“

„Darüber ließe sich verhandeln …“

„Wir sollten uns lieber erst besser kennenlernen.“

„Wow. Ich dachte Männer sagen niemals Nein.“

„Ich mag dich“, erwiderte er. „Sehr. Und ich möchte nicht, dass du es bereust. Ich möchte, dass du dir sicher bist.“

„Und du? Möchtest du dir auch sicher sein?“

Oh Mann, er war sich bereits zu sicher. Aber es gab einfach noch zu viel, was sie nicht von ihm wusste. Und eine Haustür war nicht der richtige Ort, um die Einzelheiten durchzugehen. „Wenigstens noch eine Verabredung, Süße“, bat er. „Ich glaube, wir sind beide so weit, aber lass es uns ein wenig langsamer angehen.“

„Hältst du mich für eine Schlampe?“

Er lachte. „Ich halte dich für eine Göttin!“

„Korrekte Antwort“, meinte sie und wand sich in seinen Armen, bis er sie schließlich absetzte. „Gute Verabredung, guter erster Kuss, dann lass uns mal sehen, ob du es mit dem Rest auch noch aufnehmen kannst.“

„Oh, immer dieser Druck“, konterte Eric und lachte leise in sich hinein. Dann beugte er sich hinunter und küsste sie auf die Nasenspitze. „Danke, Laine. Es war ein schöner Abend.“

„Glaubst du, du fragst mich nächste Woche, ob ich noch einmal mit dir ausgehe, oder wieder nur, ob mein Auto noch läuft?“

Er liebte ihre Frechheit. Liebte sie. Sie war so direkt. An ihr gab es keine einzige feige Faser. „Sonntagabend?“

„Ist morgen Abend irgendwas los?“

Eric schüttelte den Kopf. „Ich habe morgen tagsüber ziemlich viel zu tun. Mehr nicht.“

„Kann ich uns etwas zum Abendessen kochen?“

Und er wusste es. Wusste, dass er ihr alles erzählen musste – alles, was in seiner Vergangenheit vorgefallen war. Möglich, dass sie ausflippte. Falls sie nicht ausflippte, würde er bis Sonntagmorgen bei ihr bleiben. Das war eine wunderschöne, schreckliche, ausweglose Situation.

„Klar“, sagte er. „Wann?“

„Um sechs?“

„Ich bin pünktlich.“

Nach der Verabredung wusch sich Laine das Gesicht, putzte sich die Zähne und zog sich ihren Lieblingsschlafanzug an. Dann entfachte sie das Feuer im Kamin ihres Schlafzimmers und kuschelte sich ins Bett. Normalerweise hätte sie die Augen geschlossen und ein paar Mal tief ein- und ausgeatmet, langsame Atemzüge. Sie hätte gefürchtet, dass sie nicht schlafen konnte oder aus dem Schlaf hochfahren würde, weil irgendeine Angst aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins sie in der dunklen Nacht heimsuchte.

Vor der Schussverletzung war sie hochgradig diszipliniert gewesen und hatte überall schlafen können. Nach der Schießerei litt sie unter Schlaflosigkeitsattacken. Manchmal glaubte sie, Pistolenschüsse zu hören, und schreckte panisch aus dem Schlaf auf. Als die Psychologin vom FBI sie gefragt hatte, wie sie schlief, hatte sie geantwortet: „Wie erschossen, vermutlich wegen der Schmerzmedikamente, nehme ich an. Doch ich schlafe. Ich konnte immer schon gut schlafen.“ Sie wusste, dass sich die Psychologin nicht hinters Licht führen ließ. FBI-Agenten erzählten ihr dauernd solches Zeug.

Jetzt hätte Laine ein wenig Schlaflosigkeit begrüßt.

Sie sah ins Feuer und dachte über diesen Mann nach, diesen attraktiven, angenehmen Mann. Und sie dachte an Sex. Alles, was Eric bei ihrer ersten Verabredung gesagt oder getan hatte, deutete darauf hin, dass er selbstbewusst und bedacht genug war, um gut im Bett zu sein. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Sex gehabt hatte.

Falsch. Sie konnte – wollte es aber lieber nicht. Es war ein Ermittler gewesen, mit dem sie in New York gemeinsam an einem Fall gearbeitet hatte. Nach Abschluss des Falls waren sie in eine Bar gegangen, um auf den Erfolg anzustoßen, und dann ins Hotel und … abschreckend. Sehr enttäuschender Sex. Wie hieß er noch? Richtig, Paul Remmings – DEA, Rauschgiftbehörde. Sehr netter Typ, sehr scharfsichtig und schnell, wobei „schnell“ auch im Bett der treffende Begriff war.

Laine wusste, dass es, wenn man bei der Regierungsbehörde arbeitete, zu den üblichen Problemen gehörte, sich zu Kollegen hingezogen zu fühlen. Vermutlich, weil man die meiste Zeit mit ihnen verbrachte. Wenn es um Zivilisten ging, durfte man selbst nicht viel von sich preisgeben, was nicht gerade zu einer besonderen Vertrautheit führte. Wenn sie ehrlich war, war das einer der Gründe für ihre derzeitige Auszeit. Sie wollte ihren Bekanntenkreis erweitern und die echte Welt außerhalb des FBI kennenlernen.

Und Bingo, was hat mir die echte Welt angeboten? Eric. Gleichzeitig hinreißend und, wie er selbst behauptete, ebenfalls von ihr hingerissen.

Sie dachte über das Kochen nach. Morgen müsste sie sich von ihrer besten Seite zeigen. Muschelsuppe oder Bouillabaisse. Vielleicht Langusten. Oder frischer Fisch … aber sie war eher für Suppen und Eintöpfe, vor allem an kalten Abenden. Sie zog etliche Möglichkeiten in Betracht, angefangen bei einem Chili bis hin zu einer Hühnersuppe.

Schließlich schlief sie ein und erwachte im Morgengrauen bei feuchten, kühlen Temperaturen. Das entlockte ihr ein Lächeln. Denn es passte wie angegossen zu ihrer zweiten Verabredung. Sie würde ein Kaminfeuer anzünden und ein heißes, wohliges Mahl zubereiten. Sie schrieb eine Einkaufsliste, auf der sie sogar Gourmetkaffee für Eric notierte und eine gute Flasche Sauvignon blanc für sich selbst. Und sie würde einen Käsekuchen backen – etwas Kühles für den Gaumen nach dem schweren Mahl.

Zuerst erledigte sie den Einkauf. Bei der Wahl des Essens setzte sie auf ihre Leidenschaft – Hühnchen und Klöße. Niemand konnte Klöße so gut wie ihre Mutter, und Laine hatte die Talente ihrer Mutter geerbt … und deren Rezepte. Sie würde mit krabbengefüllten Tomatenhälften und knusprigen Parmesan-Grissini anfangen. Laine schnippelte Gemüse und ging anschließend trotz des nasskalten Nieselregens laufen, um Energie und Aufregung zu verbrennen.

Auf dem Rückweg lief sie ein wenig vor dem Diner auf und ab, bis sich ihr Atem beruhigt hatte. Dann erst nahm sie schwungvoll vor Gina auf einem Barhocker Platz.

„Hallo“, sagte Gina. „Guter Tag zum Joggen?“

„Ja, ist tatsächlich so. Kannst du mir etwas Leckeres, Heißes bringen?“

„Ich habe einen Geheimvorrat an heißer Schokolade“, erwiderte Gina und zog ein Tütchen Schokoladenpulver aus der Tasche ihrer Schürze. „Da kommt dann noch ein Sahnehäubchen drauf.“

„Oh ja. Das will ich“, rief Laine. Dann sah sie sich um. „Keine Gäste heute?“

„Ein verregneter Samstagmittag zieht nicht besonders viel Kundschaft an, womit ich aber kein Problem habe.“ Gina goss heiße Milch in eine Tasse, rührte das Schokoladenpulver dazu und stellte die Tasse vor Laine ab, bevor sie ihr ein Schälchen Sahne holte. „Du musst eine begnadete Läuferin sein, wenn du bei diesem Sauwetter läufst.“

„Ich mag Sauwetter“, erwiderte Laine. Sie nippte und sagte: „Ahhhh.“

„Ich dagegen habe den Regen und den Nebel satt und lebe für die sonnigen Tage.“

„Ich hatte gestern Abend eine Verabredung“, erzählte Laine leise. Sie lächelte und wusste, dass ihre Augen strahlten. „Eine gute Verabredung. Eine nette Verabredung. Und heute Abend vielleicht noch eine. Darum musste ich ein bisschen Energie verbrennen. Ich will wirklich nicht so schnell den Höhepunkt erreichen. Das ist beinahe immer die Vorstufe zu einer Enttäuschung.“

Gina sah sie überrascht an. „Mit …“

„Eric. Der Tankstellenmann.“

„Oh, wow!“

Laine sah nach draußen und entdeckte Eric, der aus dem Delishop kam, wo er jemandem die Tür aufhielt. Und dann beobachtete sie verwundert, wie eine schöne junge Frau hinter ihm aus dem Shop trat. Die beiden umarmten sich. Laine spürte, wie sich ihr der Hals zuschnürte.

„Oh“, murmelte sie leise. Eric ging weg. Die Frau kam über die Straße in den Diner, und Laine bemerkte, dass sie in Wahrheit ein Mädchen war. „Gott, sie ist so jung! Was …? Er ist viel zu alt für sie!“

Gina lachte liebevoll. „Da besteht keine Gefahr, Laine. Er ist ihr Vater.“

„Aber …“

Das Mädchen betrat den Diner und kam hinter den Tresen.

„Hallo, Mom. Eric hat mir einen Amazon-Gutschein geschenkt.“

Dann schaute es Laine an. „Hallo“, sagte sie. Laine bemerkte die Ähnlichkeit. Rotes Haar, grüne Augen, aber das Lächeln gehörte zu jemand anderem. Zu Gina.

„Nett, Sie kennenzulernen“, sagte Ashley. „Ich ziehe mich um und bin gleich da, um mich um Sie zu kümmern.“

Laine war sprachlos. Sie wusste nicht, welche Frage sie zuerst stellen sollte, und spürte, wie sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht wich. Tolles Pokerface, warf sie sich insgeheim selbst vor.

„Highschool-Liebe“, erklärte Gina. „Eric wusste bis vor einem Jahr nichts von Ashley. Ich war sehr jung und habe Ashley allein aufgezogen, mit der Hilfe meiner Mutter. Der Delishop gehört ihr, und Ashley arbeitet halbtags dort, wann immer Mom ihre Hilfe benötigt. Und ein paar Nachmittage und Abende pro Woche ist sie hier.“

„Er hat nicht erwähnt …“

„Ich vermute, man kann nach einer Verabredung noch nicht alles voneinander wissen“, meinte Gina schulterzuckend.

„Eine Tochter zu haben scheint mir aber ziemlich weit oben auf der Prioritätenliste zu sein“, erwiderte Laine. Sie spürte, wie die Farbe in ihr Gesicht zurückkehrte, ja, mit aller Macht ins Gesicht schoss. Was zum Teufel …? Ich bin eine erfahrene verdeckte Ermittlerin! Ich werde weder bleich noch erröte ich. Ich erlaube mir niemals, dass persönliche Gefühle mein Verhalten oder meine Reaktionen bestimmen. Doch sie sagte: „Du und Eric?“

„Wir kommen erheblich besser miteinander klar, als ich erwartet hätte. Ich habe ihn im letzten Jahr aufgespürt und mich mit ihm getroffen, um etwas über die medizinische Vorgeschichte seiner Familie herauszufinden. Eine rein sachliche Angelegenheit. Es war Ashleys Entscheidung, ihn kennenlernen zu wollen. Ihr Wunsch hat mich anfangs wahnsinnig nervös gemacht, ziemlich paranoid sogar, aber es hat sich für die beiden ausgezahlt. Es klappt gut mit ihnen, glaube ich. Er hat sich in den letzten siebzehn Jahren sehr verändert. Andererseits gilt das auch für mich.“

Doch für Laine ging sofort eine rote Warnlampe an. Kinder zu haben, ein Kind zu haben, Vater oder Mutter zu sein – selbst wenn es noch nicht lange her war und nur ab und zu – wäre etwas gewesen, das sie sofort erwähnt hätte. Vielleicht gleich nach dem Punkt, womit sie ihr Geld verdiente. Wie konnten wir fast vier Stunden miteinander verbringen, ohne dass die Sprache darauf gekommen ist? Geheimhaltung? Verborgene Informationen waren immer ein erstes Signal, dass etwas faul war.

Ach tatsächlich, Agent Carrington? schalt sie sich selbst. Doch betraf es in ihrem Fall nicht die öffentliche Sicherheit? Die nationale Sicherheit? Oder wenigstens beinahe?

Stattdessen sagte sie zu Gina. „Dann scheint doch alles gut funktioniert zu haben.“

„Nimm dir die Sache nicht zu Herzen, Laine. Ich bin eine sehr glückliche Frau. Mac scheint Eric zu respektieren. Und Mac ist nicht einfach. Ich bin mir sicher, wenn du Eric darauf ansprichst, erzählt er dir die ganze Geschichte. Er ist ein sehr netter Mensch. Jetzt.“

„Damals nicht?“

„Ich weiß nicht, das ist schwierig. Er war nett zu mir, aber gleichzeitig so ein typischer Neunzehnjähriger – rastlos, unverantwortlich und egozentrisch. Und ich war das typische Teeniemädchen. Liebe war viel wichtiger als Verstand. Das ist eine schreckliche Falle. Aber ich glaube, wir haben das alles hinter uns gelassen. Wir haben schließlich alle unsere Päckchen zu tragen. Oder nicht?“

„Klar“, erwiderte Laine, glaubte jedoch, dass sie die schwerste Last lange Zeit für sich behalten konnte. Und dabei ging es nicht um ihre Arbeit beim FBI. „Aber weißt du was? Der beste Weg, sich um etwas zu kümmern, ist, sich darum zu kümmern.“ Sie stand auf. „Was schulde ich dir für den Kakao?“

„Der geht aufs Haus. Reiß ihm nicht den Kopf ab. Ich habe ihm schon vor langer Zeit verziehen, und ich glaube, er verzeiht mir, dass ich Ashley so lange für mich behalten habe.“

„Ich werde ihm nicht wehtun“, versprach Laine, lächelte flüchtig und verließ den Diner, bevor sie noch länger darüber nachdachte.

Sie joggte die Straße hinunter, hatte die Kapuze aufgesetzt, um ihren Kopf vor dem Regen zu schützen, und lief direkt zur Tankstelle. Ein Teenager kümmerte sich um ein paar Autos, die an den Tanksäulen standen. In der Werkstatt sah sie Beine unter einem Auto hervorragen. Lange Beine, die Laine sofort erkannte, obwohl Eric einen Schutzoverall oder etwas in der Richtung trug.

„Eric?“

Er schaute unter dem Wagen hervor. Zuerst lächelte er, runzelte dann aber besorgt die Stirn. „Laine, du bist total durchnässt …“

Sie stellte sich vor ihn. „Ich habe im Diner gerade Ashley kennengelernt. Du hast sie nicht erwähnt.“

Er schnappte sich einen Lappen und wischte sich die Hände sauber. „Ich hatte es vor, aber wir haben über andere Dinge gesprochen.“ Er grinste sie an. „Offensichtlich kann ich sie nicht geheim halten. Die Haare, die Augen – sie ist entweder geklont oder meine Tochter. Ist sie nicht wunderschön?“

Laine nickte, fühlte sich aber plötzlich schwach.

„Und innerlich ist sie genauso schön. Einfach ein tolles Mädchen. Gina und ihre Mutter haben bei Ashleys Erziehung wirklich Wunder vollbracht.“

„Ich habe mich dennoch gefragt, welche anderen wichtigen Dinge du mir noch nicht erzählt hast. Denn ich hätte gern, dass wir die Hauptsachen gleich auf den Tisch packen. Ich möchte mich nicht in etwas hineinstürzen und später herausfinden, dass da noch ein Rattenschwanz nachkommt, wie zum Beispiel eine Familie, die bislang nicht erwähnt wurde.“

Eric runzelte die Stirn und wirkte nachdenklich. Er schwieg einen kurzen Moment, holte tief Luft und sagte: „Hier gibt es keine Privatsphäre, wo wir reden können, Laine. Geh nach Hause, und trockne dich ab. Ich wasche mir die Hände und komme zu dir. Ich erkläre dir alle Umstände, und du fragst mich alles, was dir durch den Kopf geht. Wir legen alle Karten auf den Tisch. Vor heute Abend.“

„Vor heute Abend?“, fragte sie und war bereits enttäuscht.

„Ich möchte nicht, dass du deine Zeit verschwendest. Ich mag dich. Ich möchte, dass du mich magst. Aber ich bin bei Weitem nicht perfekt. Also, lass uns anfangen.“ Er musterte sie. „Was meinst du?“

Das klang nach schlechten Nachrichten. Aber es musste erledigt werden.

„Lass mich nicht so lange warten“, bat sie ihn. Dann wandte sie sich ab und joggte aus der Werkstatt, den Hügel hinunter nach Hause.

Laine zog sich ein warmes, trockenes Sweatshirt an und legte das Hühnchen für ihren Schmortopf mit einer halben Zwiebel und den Enden einiger Selleriestangen ins Wasser. Es war eins. Sie legte die Zutaten für die Parmesan-Grissini auf die Ablage – das wäre dann ihr nächstes Projekt. Sie war entschlossen, Hühnchen mit Knödeln zu kochen, ob ihre Verabredung stattfand oder nicht.

Es klopfte an der Tür.

Eric stand in blauem Blazer und Hose davor. Sie holte tief Luft. „Ich wollte nicht so sein – so misstrauisch und so. Sie ist bestimmt ein tolles Mädchen. Ashley wird nicht …“

Er kam rein, packte Laine am Ellbogen und sagte: „Komm, Laine. Lass uns reden.“ Nachdem er sie zum Sofa geführt hatte, setzten sie sich und sahen sich an. „Ashley gehört zu den besten Dingen, die in meinem Leben passiert sind. Ich darf ihr bei der Suche nach einem College helfen. Ich habe dieses Privileg überhaupt nicht verdient. Ich habe nicht nur überhaupt nichts zu ihrer Erziehung beigetragen, sondern Gina und Mac waren ihre Eltern und nicht ich. Ich wusste nichts von Ashley. Na ja, ich fragte mich …“

„Was?“, wollte sie wissen.

„Ich bin mit sechzehn von der Highschool abgegangen. Ich dachte, ich hätte die Welt an den Eiern, weil ich neun Dollar pro Stunde mit Ölwechseln und dem Frisieren von Motoren verdiente. Und Mädchen – ich hatte jede Menge Mädchen. Mann …“, sagte Eric mit einem reumütigen Lachen, „… ich dachte, ich hätte alles. Ich hielt mich für einen Profi – für von Gott begnadet. Dabei war ich bloß ein dummer, geiler Bengel. Und Gina – sie war das schönste Mädchen von der Highschool. Um die fünfzehn. Ich hatte damals kein Hirn. Mir fiel nicht einmal auf, dass sie zu jung war. Wir sind miteinander gegangen, wenn man es so nennen kann. Es waren nur ein paar Hamburger und Kino und jede Menge Knutschereien. Und dann erklärte sie mir plötzlich, dass sie glaube, möglicherweise schwanger zu sein. Ich bin sofort abgehauen. Ich war neunzehn, sie fünfzehn – ich hörte schon die Zellentür hinter mir ins Schloss fallen. Ich bin weg, ohne mich noch einmal umzudrehen. Ich fand Arbeit in Idaho – noch mehr Werkstattarbeit. Und ich fand meine Art von Kumpeln. Typen, die am Tag arbeiteten und tranken und Partys feierten und nachts zur Entspannung ein paar Drogen einwarfen. Wir haben unser Geld für Partys ausgegeben. Ich dachte, ich hätte mein Leben auf der Reihe, bis ich das Blaulicht im Rückspiegel sah. Meine neuen Kumpel hatten wegen eines neuen Kasten Biers angehalten. Ich saß am Steuer, während sie das Bier kauften, denn ich war erst neunzehn und sie einundzwanzig.“

Sein Blick verfinsterte sich. So etwas hatte Laine nicht erwartet, aber sie war ausgebildet im Verhör, und daher überraschte sie nichts.

„Ja. Sie haben den Laden überfallen. Nahmen den Kasten Bier und achtzig Dollar. Sie waren solche Spieler. Der Ladenbesitzer löste einen stillen Alarm aus – und meine Kumpel … Sie waren nicht einmal bewaffnet. Zum Glück, denn sonst wären wir alle getötet worden. Einer von ihnen hatte einen Finger unter dem T-Shirt wie eine Pistole auf jemanden gerichtet und ,Geld her!‘ gerufen. Wir wurden getrennt vor Gericht gestellt. Ich bekam den schlimmsten Pflichtverteidiger und den härtesten Richter und die längste Strafe. Ich saß fünf Jahre.“

Sie schwieg. „Mist“, entfuhr es ihr schließlich, bevor sie sich zurückhalten konnte. Dann ließ sie sich gegen die Sofalehne fallen, schloss die Augen und legte sich die Hand auf die Stirn.

„Fünf“, wiederholte Eric. „Ich trinke nicht viel, weil ich fünf Jahre lang überhaupt nichts getrunken habe, weil ich auf Bewährung war und der Preis der Freiheit keine Drogen und kein Alkohol waren. Glaub mir, eine Kiste Bier wird mir nie wieder wichtig sein. Ich habe nicht vor, noch einmal so ein nutzloser Schwachkopf zu sein. Ich habe meine Konten geklärt, ein paar Lektionen gelernt und mir ein neues, besseres Leben aufgebaut. Das ist alles, Laine. Ich bin ein Exknacki. Gina, Mac und Ashley kennen die Geschichte. Soweit ich weiß, kennt die ganze Stadt sie auch. Ich versuche nicht, irgendetwas geheim zu halten, aber ich hänge es auch nicht an die große Glocke. Ich wollte es dir heute Abend erzählen. Ich versuche nicht, etwas zu verschleiern.“

Laine öffnete die Augen und sah ihn an. „Haben wir irgendetwas gemeinsam?“

Eric schüttelte den Kopf. „Außerdem habe ich Höhenangst“, fuhr er fort. „Ich würde nie mit dir zum Gleitschirmfliegen gehen oder auf Bergen herumklettern. Ich kann mir nicht einmal Filme ansehen, in denen Menschen auf Dächern kämpfen oder auf Dachkanten stehen. Und ich bin zwar in passabler Form, kann aber kein Karate. Ich hatte nie Stunden für irgendwas. Du kannst mir vermutlich auch in den Hintern treten.“

„Du kennst nicht einmal die halbe Wahrheit“, murmelte sie. „Was für ein Mist!“

„Tut mir leid. Das ist alles, was ich zu bieten habe. Ich bin ein Autoschrauber, der im Gefängnis saß und ein Baby hatte, von dessen Existenz er nichts wusste. Ich habe zwar hin und wieder an Gina gedacht und mich gefragt, ob sie tatsächlich ein Baby bekommen hat. Aber ich glaubte nicht, dass es eine gute Idee gewesen wäre, ihr einen Brief aus dem Gefängnis zu schreiben, um sie nach dem Baby zu fragen. Also behielt ich meine Neugier für mich. Das ist alles. Mehr habe ich nicht zu bieten.“ Er stand auf.

„Eric, ich bin eine FBI-Agentin.“

Er setzte sich wieder. „Lieber Himmel!“

„Ja. Im Augenblick bin ich außer Dienst, aber das ändert nichts an meinem Status. Ich vermute, du kannst dir denken, dass ich in der Stadt nicht darüber spreche. Ich brauche niemanden, der mich merkwürdig ansieht. Ich bin ein Bulle. Eine FBI-Agentin. Ich habe mir beim Versuch, einer Kugel auszuweichen, die Schulter verletzt. Ich kann dir in den Arsch treten. Wir machen über so etwas keine Scherze …“

„Du kannst nass keine vierundfünfzig Kilo wiegen!“

„Aber ich kenne jeden schmutzigen Trick und kann dich mit meinen bloßen Händen umbringen. Okay, nicht mit bloßen Händen, aber wenn ich einen Korkenzieher oder eine Nadel hätte, wärst du Geschichte. Mein Vater hält mich für Arbeiterklasse.“

Eric musste unwillkürlich lachen. „Er ist eifersüchtig.“

„Möglicherweise nicht. Ich habe seinen Erwartungen noch nie entsprochen.“

„Na ja, nachdem ich im Gefängnis und für immer zum Exknacki geworden war, waren meine Eltern, wie du dir vorstellen kannst, ziemlich enttäuscht von mir. Inzwischen kommen wir wieder etwas besser miteinander klar. Aber sie sind uralt und haben keine Energie mehr, böse auf mich zu sein. Und dann ist da Ashley. Meine Mutter und Schwester hatten keine Ahnung, dass ich etwas so Unschuldiges, Wunderschönes und Großartiges zustande bringen kann.“ Er zuckte mit den Schultern. „Andererseits war es mir selbst nicht klar. Das verdanke ich alles Gina. Wenn ich damals auch nur ein Fünkchen Hirn besessen hätte, hätte ich zugelassen, dass Gina mich zurechtbiegt …“

„Liebst du sie immer noch?“, fragte Laine.

Er fuhr sich durch das dichte Haar. „Ich habe sie nie geliebt, Laine. Ich fühlte mich von ihr angezogen und wusste, dass sie ein toller Mensch ist, aber damals fehlte mir die Fähigkeit, richtig zu lieben. Sie hatte Glück, dass ich abgehauen bin. Ich hätte sie vermutlich mit ins Verderben gerissen.“

Wieder stand er auf. „Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid, und das meine ich ernst. Ich wollte, dass wir uns etwas besser kennenlernen. Ich wollte dir heute Abend alles erzählen. Ich wollte nie jemanden in eine Beziehung mit mir hineintricksen. Es steht alles in den Akten. Ich habe keinen Einfluss darauf.“

„Und du versuchst, dir ein Geschäft in Thunder Point aufzubauen“, erinnerte sie ihn.

„Wenn ich Glück habe, erfahren meine neuen Kunden erst, dass ich ein Exknacki bin, nachdem sie mich als den Mann, der ich heute bin, kennengelernt haben.“

„Ich schmore das Hühnchen an“, erklärte sie.

„Es tut mir leid wegen der Unannehmlichkeiten. Ich hätte dir schon gestern alles erzählen sollen. Aber ich konnte es einfach nicht. Ich fand es so schön mit dir. Ich wollte, dass du mich magst. Wirklich.“

Sie erhob sich ebenfalls und stemmte die Hände in die Hüften. „Geh zurück zur Arbeit, und komm nachher – nach dem Duschen – zurück. Ich mache die Klöße meiner Mutter. Sie zergehen auf der Zunge. Ich habe dir einen besonderen Kaffee besorgt und für mich einen besonderen Wein …“

„Laine, vielleicht wäre es besser, wenn wir es einfach sein lassen …“

„Ich darf mich nicht mit Personen mit einem schlechten Leumund einlassen. Du hast das Kapitel also hoffentlich beendet. Denn, verdammt, ich schmore jetzt dieses Hühnchen. Und es ist ein kalter, nasser Abend.“

„Bist du dir sicher?“

„Bist du es denn?“, antwortete sie mit einer Gegenfrage.

Er grinste. „So lange du mir versprichst, dass alle Korkenzieher oder Nadeln außer Reichweite bleiben.“

„Um sechs“, sagte sie. „Ich werfe die Klöße ins Wasser, wenn du hier bist. Sie zerfallen leicht. Wir wollen sie nicht verderben. Komm nicht zu spät.“

5. Kapitel

Eric verspürte den spontanen Impuls abzuhauen. Das war ihm seit Jahren nicht mehr passiert. Er war sich nicht einmal sicher seit wie vielen Jahren. Dieses Mal jedoch befiel ihn der Drang zur Flucht aus einem völlig anderen Grund. Zum ersten Mal hatte er keine Angst, in eine Falle zu tappen, sondern davor, dass Laine ihm keine Chance geben würde. Er hatte Angst, dass sie zur Vernunft gekommen war. Diese Angst war schmerzlich gekoppelt mit seinem übergroßen Verlangen nach ihr und dem Willen, alles zu riskieren, um den Traum wahr werden zu lassen. Unsinnig, es zu leugnen. Er wollte sie für sich. Das war ein so neues und aufregendes und irrsinniges Gefühl, dass er es nicht einmal wiedererkannte.

Seine letzte Freundin Cara hatte keine solchen Gefühle in ihm geweckt. Im Gegenteil. Er hatte sie gemocht. Wirklich. Mehr als das – sie war anbetungswürdig. Süß und lustig. Wenn sie zusammen gewesen waren, was nicht oft vorgekommen war, als sie noch zusammenwohnten, hatten sie es genossen. Sie hatten guten Sex gehabt, und er war wahnsinnig dankbar dafür gewesen. Doch als sie ihm sagte, dass es vorbei sei, hatte er kaum getrauert. Es hatte sich eher angefüllt wie das Abschiednehmen von Freunden an einem Bahnsteig. In etwa wie: Viel Glück, pass auf dich auf, meld dich mal, wenn du willst. Ich werd an dich denken. Er hatte gewusst, dass sie ihm keine schlaflosen Nächte bereiten würde. Sie waren wie zwei Bewohner einer WG mit Privilegien. Tollen Privilegien. Eric hatte gedacht, dass es so sein sollte.

Doch jetzt sehnte er sich schmerzlichst nach Laine.

Den ganzen Nachmittag über tat Eric, was er am besten konnte: Er vertiefte sich in einen Motor und überließ es seinem Hirn, mit sich selbst zu streiten. Er könnte edel sein und die Beziehung beenden, bevor sie begann, denn ihm war jetzt schon klar, dass sie in einem Desaster enden würde. Vorausgesetzt, Laine begehrte ihn genauso sehr wie umgekehrt. Sie verkörperte das Gesetz, und er war ein resozialisierter Krimineller. Sie kam aus einer gebildeten, sehr angesehenen Bostoner Familie. Er dagegen stammte aus einer Familie der Unterschicht, in der nur sein Schwager auf dem College gewesen war. Sie wollte aus großen Höhen losfliegen, er bevorzugte es, mit beiden Beinen auf dem Boden zu bleiben. Und dennoch fühlte er sich von ihr angezogen wie eine Motte vom Licht.

Erics Verstand sagte ihm, dass es gefährlich war, jemanden dermaßen voller Leidenschaft zu begehren, wie er Laine begehrte. Das konnte unmöglich funktionieren. Er versuchte verzweifelt, wieder an den Ausgangspunkt zurückzukehren, sie anzurufen und ihr zu sagen: „Hör zu, lass uns keinen Blödsinn machen. Unsere Beziehung hat über das Wochenende hinaus keinen Bestand. Das wissen wir beide. Lassen wir es einfach bleiben.“

Stattdessen bat er Manny, die Tankstelle am Samstagabend zu übernehmen, und fragte Norm, ob er Sonntagmorgen öffnen konnte. Anschließend sollte Justin mit Norm arbeiten.

„Meine Mom braucht mich normalerweise am Sonntagmorgen. Ich muss sie zur Kirche bringen“, sagte Justin.

Eric grinste. „Du? Kirche?“

„Meine Mutter, Kirche. Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?“

„Jesus, ich war nur ganz begeistert“, erwiderte Eric. „Besteht die Möglichkeit, dass du ein paar göttliche Hinweise aufnimmst, während du deine Mutter zur Kirche bringst?“

„Ja. Ich bohre in der Öffentlichkeit nicht mehr in der Nase.“

Eric runzelte die Stirn. „Fortschritt. Wahrscheinlich schafft Norm es morgen auch allein. Ich komme nicht allzu spät.“

Jetzt sieh dir mich an, dachte er insgeheim. Erst rate ich mir selbst abzuhauen, bevor zwei total unschuldige Menschen leiden, dann lasse ich mich von den anderen vertreten, als ob sie mich bereits gebeten hätte, die Nacht bei ihr zu verbringen. Wenn sie nur halb so klug ist, wie ich glaube, wird sie die Idee im Keim ersticken.

Um Punkt sechs Uhr klopfte Eric an Laines Tür. Sie öffnete und betrachtete ihn sehr lange. Irgendwie sah sie ihn an, als hätte sie ihn nicht erwartet. Dann zog sie ihn in die Wohnung, schlug die Tür hinter sich zu und sprang ihm in die Arme. Er suchte ihre Lippen. Alles, was er tagsüber gedacht hatte, war weg. Eric lehnte sich gegen die geschlossene Haustür und drückte Laine fest an sich. Er liebte diesen starken, muskulösen, kleinen, zierlichen Körper in seinen Armen. Sie hatten sich nicht einmal Zeit für ein Hallo genommen …

Er hielt sie eng an sich gepresst und ließ die Hand zu ihrem Po wandern. Ihre Lippen öffneten sich … Er hatte Ideen, die dazu führten, dass er innerhalb von drei Sekunden hart war. Ihr Atem ging schnell und heftig, und er fühlte sich benommen. Dann legte er den Kopf in den Nacken und unterbrach ihren Kuss eine Sekunde lang. „Wow“, flüsterte er.

„Doppel-Wow“, erwiderte sie. „Du riechst gut.“

„Du riechst sogar noch besser.“

„Ich habe oben Feuer gemacht.“

„Ich liebe eine Frau mit klaren Vorstellungen“, sagte er und küsste sie erneut. Lang und feucht und intensiv und leidenschaftlich. Sie war köstlich. Sie war willig. Sie war sein.

„Ich hatte keine Vorstellung“, gestand sie. „Ich wusste nicht, dass ich das hier tun würde. Aber ich bereue es nicht. Lass uns hochgehen … Eric?“

„Was ist mit den Klößen, die zerfallen?“

„Vergiss die bescheuerten Klöße – denen geht es gut, nachdem es uns gut gegangen ist.“

Er trug sie die Treppe hoch. „Wir sind verrückt, das weißt du“, warnte er sie noch einmal. „Das hier funktioniert auf keinen Fall.“

„Es wird alles ganz wunderbar funktionieren“, widersprach sie, während sie ihm den ersten Hemdenknopf aufmachte. Dann den zweiten. Danach musste sie aufhören, denn er trug einen dicken Pulli über dem Hemd.

„Mir hätte klar sein sollen, dass du eine Frau bist, die keine Probleme damit hat, sich zu nehmen, was sie will.“

„Wenn du andere Vorstellungen hattest, solltest du jetzt lieber damit herausrücken“, riet sie ihm.

Er blieb mitten auf der Treppe stehen. Einen Fuß bereits auf der nächsten Stufe, stützte er ihren Po auf seinem Bein ab. „Alles, was ich dazu zu sagen habe, ist danke.“ Er küsste sie erneut. „Ich habe den ganzen Tag nur an deinen Mund gedacht.“

„Nur an meinen Mund?“, fragte sie und lächelte beim Küssen.

„Wenn ich es mir erlaubt hätte, an etwas anderes zu denken, hätte ich mich womöglich verletzt. Wie schnell kannst du dich ausziehen?“

„Schneller als du. Wetten?“

Er rannte wie der Blitz nach oben. Dort legte er sie aufs Bett, wo Laine sich hinkniete. Sie schob ihm den Blazer von den Schultern, zog ihm den Pulli über den Kopf. Ohne sich mit den Knöpfen abzumühen, riss er sich das Hemd vom Leib. Rasch entledigte er sich seines Pullovers. Sie ließ sich rücklings auf die Matratze fallen und strampelte sich aus ihrer Hose frei.

Da stand er in Jeans und Stiefeln vor dem Bett und betrachtete sie von oben. „Oh Mann. Du bist wunderschön. Und du bist sehr fix.“

„Komm, Eric. Ich hab dir meins gezeigt. Jetzt zeig mir deins.“

Er ließ sich auf die Matratze sinken, um sich die Stiefel auszuziehen. „Geduld.“

„So etwas besitze ich nicht“, informierte sie ihn.

Bevor er aus seiner Jeans schlüpfte, holte er ein paar in Folie gepackte Päckchen aus seiner Hosentasche und legte sie auf den Nachttisch. Dann kniete er sich mit einem Bein aufs Bett und ließ sich von ihr begutachten.

„Lieber Himmel“, stieß Laine keuchend hervor, bevor sie die Arme ausbreitete, um ihn in die Arme zu schließen.

Eric rollte sich auf die Seite, sodass sie nebeneinanderlagen und sich anschauen konnten. Ihre Münder schienen untrennbar miteinander verbunden, während er langsam ihre Brüste liebkoste, dann den Rücken und den Bauch. Sowie er seine Finger weiter nach oben gleiten ließ, fasste sie ihn am Handgelenk. „Eric, warte noch. Sobald du mich berührst, bin ich verloren. Ich bin dir meilenweit voraus.“

Er grinste sie an und strich ihr zärtlich über den Mund. „Das ist sowieso das erste Mal. Ich kann noch aufholen. Keine Sorge.“

Er war nicht immer groß darin gewesen zu tun, um was man ihn bat. Er schnappte sich nicht sofort das Kondom, wie sie es sich von ihm gewünscht hatte. Er hatte den ganzen Tag versucht, nicht an das hier zu denken, und in den letzten Minuten hatte er gebetet, nicht zu schnell zu sein. Das erwies sich jetzt aber als überflüssig. Langsam und zärtlich glitt er mit dem Finger in sie, wobei er gleichzeitig ihren empfindsamsten Punkt stimulierte. Laine ging ab wie eine Rakete, umklammerte ihn, pulsierend, heiß und feucht. „Gott“, presste er keuchend hervor. „Wundervoll, wundervoll.“ Und dann ließ er sie noch einmal lange, ganz lange kommen, bis sie völlig erschöpft neben ihm auf die Matratze sank. Er küsste ihre Wange. „Kannst du das noch mal wiederholen?“

„Keine Ahnung“, flüsterte sie geschwächt.

„Wenn du mir zwei Dinge schenkst, kann ich als glücklicher Mann sterben.“

„Sag mir, was du willst“, bat sie ihn, die Lider immer noch gesenkt.

„Gib mir einen kleinen Vorgeschmack, und dann mach das noch einmal, wenn ich in dir bin. Ich will in deine Augen schauen, wenn ich in dir bin. Bring mich um den Verstand. Ich bin kurz davor.“

Sie hatte die Augen nur leicht geöffnet, aber sie funkelten. Ihre Lippen formten ein Lächeln. Sie spreizte die Schenkel für ihn.

Er schob sich langsam an ihrem Körper entlang, hielt kurz inne, um ihren aufgerichteten Brustwarzen die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, und schob sich dann weiter nach unten. Eric küsste die Innenseiten ihrer Beine, doch er ließ sich Zeit. Er war wild vor Erregung. Er war kurz vor dem Explodieren. Er leckte sie ein paar Mal zärtlich, schließlich ein wenig rauer, wobei er ihr Stöhnen und ihre Bewegungen total genoss. Danach widmete er sich erneut ihrem Mund. „Später mehr“, versprach er. „Laine, du bist das Süßeste, was meine Zunge je geschmeckt hat, und ich will dich so sehr, dass ich, glaube ich, gleich ohnmächtig werde. Sag mir, was du willst. Du kannst alles haben, was du willst. Ich gehöre jetzt dir.“

„Dring einfach in mich ein, Eric. Bevor ich auf dich steige und dir die Entscheidung abnehme.“

Er ließ sie nicht länger warten. Langsam und alles auskostend stieß er in sie und fing dann an, sich zu bewegen. Er hielt ihre Hände mit einer Hand fest und bewegte sich schneller, heftiger, tiefer, härter. Sie biss ihm in die Schulter. Laut keuchte sie auf und schenkte ihm einen weiteren wunderbaren Orgasmus. So schnell, so heftig, so kraftvoll, dass er sich ebenfalls laut stöhnend gehen ließ. Sie war nicht zu bremsen, war wie heiße Lava. Er kam, bis sein Gehirn leer war und sie vor Lust beinahe das Bewusstsein verlor.

„Meine Güte“, sagte sie.

„Ja“, erwiderte er schwach atmend.

Er stützte sich auf den Ellbogen ab, bis er wieder zu Atem kam. Dann nahm er sie zärtlich in die Arme und rollte sich mit ihr auf die Seite. Sie lagen Nasenspitze an Nasenspitze, Mund an Mund. Sie küssten sich und hielten sich so lange wie möglich eng umschlungen. Er wollte ihren Körper nicht verlassen. Er glaubte, dass er noch nie in seinem Leben so eine sexuelle Erfahrung gemacht hatte. Es war ihm unmöglich, sich auch nur an etwas annähernd Vergleichbares zu erinnern. Eric hätte gern etwas Gefühlvolles, Vertrautes gesagt. Etwas Denkwürdiges. Stattdessen brachte er bloß ein „Geht es dir gut?“ heraus.

„Nein“, antwortete sie. „Meine Knochen sind vollständig geschmolzen.“

Leise lachte er. „Eine Eins mit Sternchen?“

„Jetzt bilde dir bloß nicht zu viel ein. Und hör auf keinen Fall auf zu versuchen, es noch besser zu machen. Lieber Himmel, Eric. Warst du immer schon so ein Sexgott?“

Er schaute ihr ins Gesicht und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich kann ehrlich sagen, dass du das Beste in mir zum Vorschein bringst.“

„Wow. In ein paar Minuten fange ich mit den Klößen an …“

„Vergiss endlich die Klöße. Du reichst mir voll und ganz.“

„Da würdest du auf Dauer aber sehr dünn werden“, meinte sie lächelnd.

„Aber dabei würde ich mich extrem wohlfühlen. Ich schätze, wir müssen das noch einmal wiederholen. Sofort. Bevor wir vergessen, wie es geht. Verdammt, Süße, waren wir gut! Ich glaube, ich habe jetzt herausgefunden, was wir gemeinsam haben.“

Sie liebten sich noch einmal und duschten zusammen, wobei sie sich ein weiteres Mal im Reich der Sinne und der Lust verloren. Als sie sich dann anziehen wollten, um nach unten zu gehen und etwas zu essen, wurden sie prompt vom Bett abgelenkt. Als sie es irgendwann doch endlich in die Küche schafften, war ihnen flau vor Hunger, und sie waren berauscht vom Sex. Noch nie in seinem Leben hatte Eric an einem einzigen Abend dermaßen oft mit einer Frau geschlafen.

Die Klöße gab es erst gegen elf. Laine erklärte, dass sie ihr vermutlich noch nie so gut gelungen waren, weder geschmacklich noch von der Konsistenz. Doch das bemerkte Eric kaum. Das Einzige, was er auf seiner Zunge schmeckte, war Laine, und diesen Geschmack wollte er keine Sekunde lang vergessen.

Später saßen sie im Wohnzimmer auf dem Boden vor dem Kamin. Auf dem Schoß hatten sie Tabletts, und ihre Knie berührten sich flüchtig. Während des Essens unterhielten sie sich.

„Das ist jetzt eine total unangebrachte Frage“, sagte Laine. „Aber erzählst du mir von deinen Frauen?“

„Nein“, erwiderte er lachend. „Es waren nicht so viele. Wie schon gesagt war meine letzte Freundin ein süßer kleiner Computernerd. Wir haben beinahe zwei Jahre lang zusammengewohnt. Sie war auf hundert Arten besonders, aber wir wussten von Anfang an, dass das mit uns eine vorübergehende Sache ist. Letzten Sommer hat sie mich wegen jemand anderem verlassen, der eher ihr Typ ist.“

„Woher wusstet ihr, dass es nur vorübergehend war?“, fragte Laine.

„Sag du es mir, Laine. Du bist weder verheiratet noch verlobt noch anderweitig ernsthaft gebunden. Und ich kann einfach nicht glauben, dass nicht jeder Mann in Amerika dich für sich haben will. Du bist hier für die Zeit deines arbeitsfreien Jahres, dann kehrst du wahrscheinlich ins Büro zurück. Du wirst nicht in Thunder Point arbeiten. Das weiß ich. Ich weigere mich im Augenblick aber, daran zu denken. Willst du mir vielleicht etwas über deine Männer erzählen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Mein Berufsleben hat mir nicht viel Zeit für so etwas gelassen. Ich hatte ein paar Beziehungen, kurze Angelegenheiten mit Jungs, die ein ähnliches Leben führten wie ich. Das heißt ständig unter Hochdruck, schlechte Arbeitszeiten, zeitlich befristete Einsätze, viele Reisen. Aber dein Leben ist anders: ein Geschäft, eine Adresse und nicht so viel Ungewissheit.“

„Meine Liebe gilt größtenteils Autos“, sagte er schulterzuckend. „Ich bin kein Frauentyp. Ich mag Frauen, aber ich hatte zu arbeiten. War damit beschäftigt, mich selbst neu zu erfinden, wiederaufzubauen. Zehn Jahre aus dem Verkehr gezogen zu sein ist eine verdammt lange Zeit.“

„Du hast gesagt, fünf Jahre …“

„Fünf Jahre im Knast, fünf Jahre auf Bewährung. Zehn Jahre unter einem Mikroskop. Ich habe die Regeln nicht ausgereizt. Nicht mal ein kleines bisschen. Und ich war nervös wegen der Nachwirkungen.“

„Aber als du jung warst, bevor du ins Gefängnis …“

„Ich war ein Idiot, der herumgevögelt hat. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

„Du hast eine Tochter.“

Eric bekam einen leicht verträumten Blick. Laine musste unwillkürlich lächeln, während er sprach. „Da hatte ich so viel Glück. Und nachdem ich diese beängstigenden Worte – ,… ich glaube, ich bin schwanger!‘ – zum ersten Mal gehört hatte, war ich künftig sehr vorsichtig. Ich bin mir sicher, Ashley ist mein einziges Kind und ein Wunder. Warte, bis du sie besser kennst. Ich kann nicht glauben, dass ich einen Anteil an ihr habe. Du wirst nicht glauben, wie toll sie ist.“

„Na ja, Gina ist ziemlich großartig, also …“

„Letztlich muss ich einen Schutzengel gehabt haben“, sagte er. „Was machen wir nach dem Abendessen?“

„Was willst du denn machen?“

„Ich möchte ins Bett zurück. Ich möchte heute Nacht bei dir schlafen, aber das ist deine Entscheidung. Ich kann mich auch anziehen und nach Hause fahren. Ich wollte nur sagen, dass ich heute Nacht ganz dir gehöre.“

„Dann spülst du, ich trockne ab und hinterher kuscheln wir.“

„Die Idee gefällt mir.“

Als sie wieder im Bett lagen, flüsterten sie miteinander und erzählten sich weitere Einzelheiten aus ihrem Leben. Es war wahr, sie hatten wirklich kaum Gemeinsamkeiten. Dennoch hatte Laine sich in ihrem gesamten Erwachsenenleben noch nie so kompatibel mit einem anderen menschlichen Wesen gefühlt.

Um drei Uhr morgens wachte Laine auf und tastete nach Eric, doch seine Bettseite war leer. „Eric?“

Er saß auf der Bettkante. „Psst. Schlaf weiter. Ich wollte dich nicht aufwecken, sondern dir lieber eine Nachricht hinterlassen. Mein Telefon hat geklingelt. Ich muss jemanden abschleppen …“

„Ich habe kein Telefon gehört“, sagte sie.

„Es war auf ‚lautlos vibrieren‘ eingestellt. Ich habe es auf dem Nachttisch herumruckeln hören. Die Nummer auf der Seite meines Abschleppwagens, die Nummer, die die Polizei kennt, ist meine Handynummer. Ich habe eine SMS bekommen. Willst du sie sehen?“

Es gefiel ihr, dass er kein Geheimnis daraus machte und die Nachricht nicht vor ihr verbarg. Sie schüttelte den Kopf. „Was ist los?“

„Großer Auftritt auf der Freemont Bridge in der Nähe von Bandon. Die Cops haben ein paar Nagelstreifen auf die Straße geworfen, um den Fahrer eines Wagens aufzuhalten, der sich nicht stoppen ließ. Am Ende wurden bei dem Einsatz auch noch die Reifen von drei zivilen Fahrzeugen beschädigt, die gar nichts damit zu tun hatten. Mein Job wird vermutlich einfacher als der der Polizei, auf die vermutlich jede Menge nerviger Papierkram wartet. Ich habe eine SMS geschickt, dass ich unterwegs bin.“

„Ist ihnen der Mann, den sie schnappen wollten, entwischt?“, fragte sie.

„Keine Ahnung. Wenn du willst, komme ich danach wieder her. Das entscheidest du.“

„Wie lange bist du weg?“

„Das hängt davon ab, wie viele Abschleppwagen sich sonst noch melden. Könnte ein paar Stunden dauern.“

„Ruf mich an. Das ist die einzige Art zu erfahren, dass du nicht aufhören kannst, an mich zu denken.“ Sie lächelte und schloss verträumt die Augen.

Er küsste sie auf die Stirn. „Ich habe das Gefühl, dass du mir sehr lange sehr tief unter die Haut gehen wirst“, sagte er.

Eric joggte zu seiner Tankstelle, wo er sich einen Arbeitsoverall über die guten Sachen zog und seine Stiefel gegen hochgeschnürte Arbeitsschuhe mit Sicherheitskappen aus Stahl austauschte. Denn er war sich nicht sicher, wie das Gelände um die Brücke herum aussah. Dann entschied er sich für seinen Schiebeplateau-Abschleppwagen mit der Fünf-Tonnen-Hydraulikwinsch. Wenn er einen Wagen im Graben oder an einer Böschung fand, konnte er ihn damit auf den Abschleppwagen heben. Falls er nichts weiter machen musste als abschleppen, konnte er das leicht bewerkstelligen.

An der Brücke wurde er von jeder Menge Blaulicht empfangen. Er brachte die beiden Ausleger in Stellung und stieg aus, um zu erfahren, was er machen sollte. Es waren zwei Wagen der State Police und noch weitere Polizeiwagen der Polizei aus einer Stadt südlich der Brücke vor Ort. Und weil das alles ziemlich nah an seinem Revier passiert war, war Mac McCain ebenfalls dort. Am Brückenrand bemerkte Eric zwei Wagen mit platten Reifen. Und außerdem einen großen SUV, der auf der Seite lag. Der Fahrer hatte wohl die Kontrolle über den Wagen verloren, als die Nagelstreifen die Reifen durchbohrt hatten.

Zuerst ging Eric zu Mac. „Verletzte?“

Mac schüttelte den Kopf. „Guy und seine Frau, die im SUV fuhren, haben einen kleinen Schock. Sie hat außerdem ein paar Kratzer. Die beiden sind grundlos von der Straße abgekommen. Nun stehen sie dahinten und jammern und klagen wegen des Autos.“

„Und der Böse?“

„Wer weiß?“, sagte Mac. „Die Keystone Cops da drüben dachten, sie hätten ihn. Ich glaube, er ist von der Straße abgebogen und irgendwo in die Wälder oder sonst wohin gefahren. Als sie auf die Brücke zufuhren, drehte er ab und fuhr in die andere Richtung. Gestohlenes Fahrzeug. Wir finden es vermutlich bald irgendwo verlassen abgestellt.“ Mac grinste. „Diese ganzen State Cops sehen ziemlich selbstgefällig aus, findest du nicht? Was man da sieht, ist pure Erleichterung. Sie sind so froh, dass diesmal nicht sie es verkackt haben. Kannst du dich um den SUV kümmern? Es kommt noch ein anderer Abschleppwagen.“

„Mache ich. Wohin soll ich den SUV bringen?“

„Das machst du am besten mit dem Besitzer aus. Wir beschlagnahmen hier nichts.“

„Mal sehen, was sie wollen.“

Eric bahnte sich den Weg zu dem Pärchen, das am Straßenrand stand. Er tippte sich kurz mit den Fingern an den Hutrand. „Hallo! Heftige Nacht, wie ich sehe. Ich bin hier, um Ihren Wagen von der Böschung hochzuholen. Ich habe mir den Wagen noch nicht angesehen, aber er wird vermutlich vier neue Reifen brauchen. Und da er sich überschlagen hat, würde ich vorschlagen, den Rahmen und die Achsen zu überprüfen. Der Wagen muss auf die Hebebühne, der Unterboden muss ebenfalls gecheckt werden, damit dafür gesorgt ist, dass alles den Sicherheitsvorschriften entspricht. Außerdem sollte jemand die Karosserie auf Schäden untersuchen. Ich könnte mich in Thunder Point um all das kümmern. Wohin wollten Sie denn?“

Der Mann lutschte geräuschvoll an einem Minzbonbon. „Nach Hause. Wir waren in Sacramento. Wir sind beinahe zu Hause. In Eugene.“

Eric nickte. „Ich hatte jahrelang eine Werkstatt in Eugene. Ich kann das Auto nicht den ganzen Weg nach Eugene bringen, aber in Bandon gibt es ein paar gute Autowerkstätten, in North Bend, Coquille oder Thunder Point. Es gibt auch ein Motel in Thunder Point – nicht besonders luxuriös, aber nett und sauber. Und ich könnte mich gleich morgen um den Wagen kümmern. Ich könnte jemanden losschicken, der die richtigen Reifen besorgt, das Chassis untersucht, die Bremsen und andere wichtige Dinge. Ich könnte sogar die Karosseriearbeiten übernehmen, aber Sie wollen den Wagen, sobald er wieder fährt, sicher lieber in Ihrer Nähe haben. Falls dem so ist, könnte ich ein paar Fotos für den Schadensbericht an die Versicherung machen.“ Eric beugte sich leicht nach unten, um der Frau ins Gesicht zu sehen. Sie blickte zu Boden, hob aber ganz kurz den Kopf. „Möchten Sie, dass sich das jemand ansieht, Ma’am?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin in Ordnung.“

„Kommt die Polizei für die Reparaturen auf?“, fragte der Mann mit einem deutlich scharfen Unterton in der Stimme.

„Das müssen Sie mit der Polizei ausmachen. Was halten Sie davon, wenn ich jetzt erst einmal den Wagen von der Böschung hole, während sie mit dem Mann dahinten sprechen?“, schlug Eric vor. Er deutete auf Mac und zog ein paar Handschuhe aus der Hosentasche. Schließlich lüpfte er kurz den Hut und sah den Mann an. „Lassen Sie uns erst einmal den Wagen wieder auf die Straße holen.“

„Für mitten in der Nacht sind Sie ziemlich aufgekratzt“, sagte der Mann angesäuert. „Gibt’s hierfür eine große Kommission?“

Eric lächelte. Es stimmte, er war aufgekratzt, aber das hatte nicht das Geringste mit dem Geld zu tun, dass er mit diesem Einsatz verdiente. „Ich bin für die Polizei im Bereitschaftsdienst. Tatsächlich hat man mich aus einem sehr schönen Traum gerissen. Wenn Sie mir jetzt verraten, wohin Sie Ihren Wagen gebracht haben möchten, und beiseitegehen, mache ich mich an die Arbeit. Bis Sie sich entschieden haben, wo Sie den Rest des Abends verbringen wollen, habe ich das Auto auf der Ladefläche.“

Eric positionierte und verankerte den Abschleppwagen an der Straßenseite. Dabei benutzte er einen großen Scheinwerfer. Er bewegte sich vorsichtig die Böschung hinunter. Es war nicht zu steinig. Als er das Auto näher untersuchte, stieß er auf einige Überraschungen. Der Wagen hatte nur einen platten Reifen. Obwohl es dunkel war, erkannte Eric, dass kein Einstich zu sehen war. Dafür gab es aber eine Menge Kratzer und Dellen. Etwas Benzin leckte aus dem Auto und tropfte in den Bach. Möglicherweise war der Tank so gut wie leer gewesen, aber für den Fall, dass sich der Tank entzündete, hielt Eric vorsichtshalber einen Industriefeuerlöscher greifbar. Das Auto lag auf der Fahrerseite. Eric richtete den Scheinwerfer durch die offene Beifahrertür ins Innere des Wagens und schaute hinein.

Er glaubte nicht, dass dieses Auto die Polizei Geld kosten würde.

Nachdem Eric das Auto mit Ketten und Seilen befestigt hatte, ging er zu Mac. „Hör zu, es geht mich zwar nichts an, aber …“

Mac lächelte. „Was machen all diese Leute zwischen zwei und vier Uhr morgens draußen auf der Straße? Lustig, da bin ich einer Meinung mit dir. Die junge Dame da drüben arbeitet im Nachtdienst in einem Pflegeheim. Sie fühlte sich krank, weshalb sie ihre Arbeit heute frühzeitig beendete. Der Herr dahinten ist Fischer. Er wollte um vier auf seinem Boot sein. Das Pärchen mit dem SUV und dem vollen Kofferraum ist nach einem Besuch auf dem Nachhauseweg. Scheint ein bisschen spät geworden zu sein.“

„Hier ist jede Menge Minzgeruch in der Atemluft“, sagte Eric. „Keine perforierten Reifen, Frau oder Freundin mit hässlichen Blutergüssen …“

„Sie sagt, sie habe sich am Steuer verletzt.“

Eric schüttelte den Kopf. „Der Rücksitz ist zu weit zurückgestellt. Sie ist nicht mal eins sechzig. An der seitlichen Leitplanke sind Farbspuren.“

„Er sagt, er habe versucht, den Nagelstreifen auszuweichen, und sei dabei von der Straße abgekommen.“

Wieder schüttelte Eric den Kopf. „Ich glaube, wenn man die Nagelstreifen sehen und vermeiden könnte, würde sich die Polizei etwas Besseres überlegen, um einen Fluchtwagen aufzuhalten. Aber das ist nicht meine Angelegenheit. Ihr werdet schon herausfinden, wie es wirklich war …“

Er schaute hoch und steckte die Hände in die Hosentasche. „Der Bluterguss im Gesicht der Frau stört mich ziemlich. Sieht aus, als ob sie geschlagen wurde.“

„Vielleicht musste sie den Sitz so weit nach hinten stellen, um aus dem Auto zu kommen?“

Eric überlegte eine Weile. „Vermutlich alles möglich, außer dass das Auto auf der Fahrerseite liegt und es schwer gewesen wäre, ans Armaturenbrett zu kommen. Aber der Beifahrersitz ist vorn.“ Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass der Mann, der mindestens ein bisschen betrunken gefahren war, mit der Frau in Streit geraten war und dabei gesehen hatte, dass vor ihm gebremst wurde. Und zwar direkt vor ihm. Er war ausgewichen und von der Straße abgekommen. Er hatte es gar nicht bis zu den Nagelstreifen geschafft. „Warum lädst du nicht einfach das Auto auf, während du darüber nachdenkst?“

6. Kapitel

Um halb sieben schickte Eric Laine eine SMS, um ihr zu sagen, dass er wieder an der Tankstelle war. Und nicht aufhören konnte, an sie zu denken. Er rief sie nicht an, weil er sie nicht wecken wollte. Er fragte sie auch nicht, ob er noch einmal zu ihr kommen durfte, obwohl der Gedanke, sich an ihren warmen Körper zu schmiegen, reichte, um ihn zu erregen. Stattdessen wechselte er die Kleider und bereitete sich darauf vor, mindestens den ganzen Vormittag lang zu arbeiten. Laine konnte er später anrufen und vielleicht etwas für den Abend ausmachen. Doch das Warten fiel ihm schwer. Er wollte zurück in ihr weiches Bett. Jetzt. Sofort.

Während er allein und vollkommen unbeobachtet an der Tankstelle war, versuchte er, im Zwiegespräch mit sich selbst zu begreifen, welcher Art seine Beziehung zu Laine war. Wohin sie führen mochte und was er damit anfangen sollte.

Dann befahl er sich aufzuhören. Wen um alles in der Welt kümmerte das alles? Wenn er an Laine dachte, empfand er alles als gut. Lieber Himmel, sie passten einfach perfekt zusammen. Sie bewegten sich sogar ähnlich. Nur ein Schwachkopf würde das zerdenken.

Außerdem hatte er zu arbeiten. Die Polizei hatte den SUV schließlich doch beschlagnahmt. Stattdessen hatte Eric den kleinen Lieferwagen, mit dem der Fischer unterwegs nach North Bend gewesen war, bekommen. Er musste vier neue Reifen auftreiben. Was mit dem Pärchen aus dem SUV geschehen war, interessierte ihn brennend, auch wenn er zu wissen glaubte, was passiert war.

Zu seiner Überraschung tauchte um sieben Uhr Justin auf. „Was machst du denn hier?“, fragte Eric.

Der Junge ließ den Kopf hängen, was typisch für ihn war. „Meine Mom fühlt sich nicht gut und hat beschlossen, die Kirche sausen zu lassen. Ich hab Norm angerufen, um ihm zu sagen, dass ich die Morgenschicht übernehme.“

„Was ist mit deiner Mom?“, fragte Eric.

„Nur ein Virus“, erwiderte Justin. „Nichts Großes. Meine Brüder sind zu Hause, falls sie etwas braucht.“

Es war nicht das erste Mal, dass sich Justins Mom nicht gut fühlte. „Scheint, als sei sie häufig krank“, meinte Eric.

„Sie ist ein bisschen kränklich, ja. Aber sie ist auch zäh.“

„Ist dein Vater nicht da, um ihr zu helfen?“

Justin lachte kurz auf und verdrehte die Augen. „Sie haben sich scheiden lassen, als ich zwölf war. Er kommt nie vorbei.“

Das hatte Eric nicht gewusst. Es war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, danach zu fragen. „Das bürdet dir und deinen Brüdern aber eine Menge Verantwortung auf.“

„Wir kommen damit klar“, sagte Justin und entfernte sich, um sich einen der Arbeitsoveralls vom Haken zu nehmen und über sein blaues Hemd und die Jeans zu ziehen. Eric war ein echter Pedant, wenn es um sauberes Arbeiten und saubere Kleidung ging. Justins Kleidung war immer perfekt – sauber und gebügelt. Seine Mutter bestand darauf. Das war ein gutes Zeichen.

„Arbeitet deine Mom?“

Justin schüttelte den Kopf. „Schaltest du die Zapfsäulen ein?“

„Ja. Wenn du dich darum kümmern könntest, suche ich in der Zwischenzeit nach Reifen für diesen Lieferwagen. Ich werde den Wagen auf die Hebebühne stellen und dann nach Bandon fahren.“

Justin runzelte die Stirn. „Was ist passiert?“

Eric erklärte ihm die Sache mit den Nagelstreifen, und zum ersten Mal, seit Eric Justin eingestellt hatte, lachte dieser sich beinahe einen Ast. Er fand es zum Schreien komisch, dass die Polizei so einen Schlamassel verursacht hatte. Eric fragte sich, ob Justin ein Problem mit der Polizei hatte. Es hätte ihn nicht überrascht. Justin war ein mürrischer Teenager. Aber er nutzte den verbindenden Moment, um mit Justin zu lachen.

„Werden sie gefeuert? Diese Cops?“, fragte Justin.

„Nein. Aber ihre Abteilung wird für die Reparaturen aufkommen müssen. Und ich denke, dass ihnen mächtig Ärger bevorsteht. Vielleicht werden sie sogar bestraft. Siehst du ihn manchmal? Deinen Dad?“

Justin wurde wieder ernst und starrte Eric an. „Er hat uns verlassen. Weshalb sollte ich ihn sehen wollen?“

„Stimmt. Hör zu, ich habe nicht viel Ahnung, aber falls es etwas gibt, was du brauchst oder worum du, ähm, normalerweise einen Vater bitten würdest, kannst du dich mir immer anvertrauen. Ich bin ein ziemlich hilfsbereiter Mensch.“

„Schon in Ordnung“, meinte Justin.

„Ich habe eine siebzehnjährige Tochter“, erinnerte Eric ihn.

„Ich weiß. Mir geht’s gut.“ Damit wandte Justin sich ab, um rings um die Zapfsäulen und in der Werkstatt zu putzen.

„Na, das war merkwürdig“, sagte Eric leise zu sich selbst.

Justin arbeitete seit ein paar Monaten für ihn. Der Junge war zuverlässig, aber streitlustig. Eric vermutete, dass es bei ihm zu Hause Probleme gab, aber er hatte keine Ahnung, welche Art von Problemen. Eine alleinerziehende Mutter war ein Anhaltspunkt. Vermutlich stand die Familie enorm unter Druck. Es schien, als wäre die Mutter mindestens einmal pro Woche krank. Vielleicht ist sie Alkoholikerin, vielleicht aber auch chronisch depressiv, dachte Eric. Was auch immer das Problem war, es hatte keine positive Wirkung auf Justins Benehmen.

Justin war ein Highschool-Senior. Einer der Nachteile, wenn man einen Jungen von der Highschool einstellte, war, dass seine Kumpel von der Schule die Tankstelle in einen Treffpunkt zum Abhängen verwandelten. Deshalb hatte Eric Justin genau davor gewarnt. Dieser hatte nur erwidert: „Keine Sorge, Mann.“ Es war wirklich kein Thema. Wenn die Schüler der Highschool zum Tanken kamen, wechselten sie kaum ein Wort mit Justin. Vielleicht war er wirklich unbeliebt.

Eric nahm sich vor, Mac zu fragen. Mac kannte hier jeden. Dann sagte er sich, dass das Justin vermutlich auf die Palme bringen würde. Andererseits war Justin andauernd auf der Palme. Ist das überhaupt meine Angelegenheit? Der Junge ist siebzehn und an der Schwelle des Erwachsenseins. Doch genau in dem Alter hatte Eric beschlossen, alles besser zu wissen als alle anderen. In dem Alter war er von der Schule abgegangen, hatte ein Mädchen geschwängert, sich mit schlechter Gesellschaft eingelassen und war im Gefängnis gelandet. Er hatte sich sehr ähnlich verhalten und ähnlich ausgesehen wie Justin.

Da Eric mit seinen Gedanken nicht weiterkam, fuhr er erst einmal nach Bandon, um Reifen zu besorgen. Er zog sie auf, wuchtete sie aus, untersuchte die Bodengruppe, sah nach Schäden und rief dann Mac an.

Schließlich brachte er den Lieferwagen in die North Bend Marina. Mac wartete auf dem Parkplatz, um ihn nach Hause zu fahren. Eric legte die Rechnung ins Handschuhfach und übergab den Schlüssel einem Mann namens Sammy an der Tankstelle am Pier.

„Du hattest recht wegen des SUVs“, sagte Mac. „Ich sollte dich überreden, dich bei der Polizeiakademie anzumelden.“

„Mein polizeiliches Führungszeugnis sieht vermutlich nicht so gut aus“, gab Eric zu bedenken.

„Sie war nicht mal seine Frau. Seine Frau dachte, er wäre auf Geschäftsreise. Er verkauft irgendwas. Ich glaube, er sagte: Farbe. Oder vielleicht war es auch Dünger …“

„Wie kann man denn Farbe und Dünger miteinander verwechseln?“, fragte Eric.

„Es war nicht mein Fall. Jedenfalls nicht wirklich. Aber ich habe der State Police einen Tipp gegeben. Na ja, ich habe es meinem Schwager-Onkel Joe erzählt, der den Fall übernommen hat. Also, das Paar kam aus einem Liebesnest unten an der Küste und geriet in Streit. Er hat ihr nicht nur ins Gesicht geschlagen, sie hat auch Blutergüsse an den Armen, weil er sie gepackt und wie ein Wahnsinniger geschüttelt hat. Den Alkoholtest hat er bestanden, aber gerade so. Doch die Frau hatte genug und hat ihn ans Messer geliefert. Jetzt sitzt er wegen Misshandlung im Gefängnis. Ich würde zu gern Mäuschen spielen, wenn er seine Frau wegen der Kaution anruft …“ Mac lachte. Böse.

Bis Eric an die Tankstelle zurückkehrte, war es bereits nachmittags. Manny bereitete gerade ein Auto zum Lackieren vor. Ein altes Auto, mit einem Salzschaden von der Meeresluft. Kein Klassiker, aber in ein paar Jahren schon. Eric hatte mit Manny über die Lackierung gesprochen. Der einzige Weg, damit Geld zu verdienen und wettbewerbsfähig zu bleiben, war, billige Farbe zu benutzen. Doch Eric wollte nicht, dass ein Auto, das in seiner Werkstatt gewesen war, nach zwei Jahren wieder die Farbe abwarf. Also benutzte er lieber gute Farbe und verdiente weniger Geld. Schließlich stand er mit seinem Namen dafür ein.

Manny hatte einen seiner Söhne dabei – den zwölfjährigen Robbie. Manny hatte vier Söhne und zwei Töchter im Alter von vier bis sechzehn. Wenn er an den Wochenenden arbeitete, hatte er immer mindestens eins seiner Kinder dabei. Eric hatte noch nie so gut erzogene, respektvolle Kinder gesehen.

Er sprach eine Weile mit Manny und erzählte ihm von dem nächtlichen Abschleppjob. Manny meinte: „Wenn man dich als Abschleppdienst ruft, vor allem, wenn die Anrufe vom Sheriff kommen, musst du dir jemanden besorgen, der die Nachtschicht übernimmt. Mach ein Nickerchen, Chef. Wir sehen uns morgen wieder.“

Eric hatte nicht geplant, Nachtschichten zu schieben, aber er war ohnehin die meiste Zeit in seinem Laden. Dieses Wochenende war eine große Ausnahme. Ein Date am Freitagabend, eine noch größere Verabredung am Samstagabend und viel Hoffnung auf einen Sonntagabend. Er ging die paar kurzen Straßen bis zu Laines Haus zu Fuß den Hügel hinunter und klopfte an ihre Tür. Sie öffnete und lächelte ihn an.

„Ich könnte jetzt einen Mittagsschlaf machen und dich später anrufen. Vielleicht darf ich dich heute Abend zum Essen ausführen?“, sagte er.

Sie packte ihn an den Händen und zog ihn ins Haus. „Du musst hundemüde sein“, sagte sie.

Er schlang beinahe automatisch die Arme um sie. „Jemand hat mich den größten Teil der Nacht wach gehalten.“

Sie stieß ihn von sich. „Du sagst, es war der Deputy des Sheriffs?“ Dann lachte sie. „Komm, es ist Sonntag. Zeit zum Faulenzen.“

„Für dich vielleicht.“

„So faule Sonntage sind tatsächlich nicht dasselbe, wenn man nicht die ganze Woche arbeitet.“

Das Feuer im Kamin brannte. Laine drückte ihn auf die Couch. „Ich weiß nicht, ob ich gerade eine gute Gesellschaft bin, Laine. Ich bin erschossen, aber ich könnte …“

„Lehn dich zurück in die Kissen“, forderte sie ihn auf. „Das ist die beste Couch der Welt. Als ich sie gekauft habe, hatte ich hohe Ansprüche. Ich wohnte allein und brauchte etwas, das mich umarmt. Möchtest du etwas trinken? Eine heiße Schokolade? Eine Cola? Tee? Milch?“

Eric lehnte sich zurück, und die weichen Kissen schienen sich um ihn zu schließen. „Wow!“

„Sag ich doch – perfekt, stimmt’s?“ Sie nahm am anderen Ende der Couch Platz und sorgte dafür, dass er seine Füße auf die Couch legte. Dann zog sie ihm die Schuhe aus. „Auf meinem Lieblingssofa sind keine Schuhe oder Stiefel erlaubt. Erzähl mir vom Abschleppjob und den Cops. Erzähl mir alles. Von Anfang an.“

„Ich wurde in einem Haus geboren, das mein Vater gebaut hat …“

Sie knuffte ihn in die Seite. „Angefangen bei der SMS.“

„Ich glaube, Mac hat mir den Knochen zugeworfen. Sie brauchten drei Abschleppwagen. Ein paar Autos standen mit massiven Reifenschäden mitten auf der Straße zwischen Thunder Point und Bandon. Ich glaube, der Stiefvater meiner Tochter reicht mir die Hand. Das freut mich.“ Eric gähnte. „Aber es war interessant, denn ich war der Mann mit dem Side Puller, der einen SUV die Böschung hochziehen konnte. Dabei stellte sich heraus, dass der Fahrer gar kein Opfer der Nagelstreifen war, sondern es sich um einen Fall von häuslicher Gewalt handelte. Wir werden keine Einzelheiten erfahren, aber die Frau hatte Blutergüsse und Kratzer und war sauer. Er war ein wenig betrunken, und sie sind gar nicht auf die Nagelstreifen gefahren. Ich wette, er hat sie geschlagen, ist ins Schlingern geraten und hat schließlich die Kontrolle über den Wagen verloren, worauf sie sich überschlagen haben. Warum tut ein Mann so etwas?“, fragte Eric, immer noch befremdet. Dann gähnte er noch einmal. „Die anderen beiden waren unschuldige Opfer des Nagelstreifeneinsatzes – eine Pflegerin und ein Fischer. Ich habe den SUV aus dem Graben gezogen, dann aber den Lieferwagen des Fischers abgeschleppt, ihm neue Reifen besorgt und den Wagen untersucht.“

„Und das Pärchen?“

Sie massierte ihm die Füße. „Du bist wie eine Traumfrau, weißt du das?“

„Ja, weiß ich. Und das Pärchen?“

„Ich glaube, die haben jetzt Probleme. Mac hat ihren Wagen beschlagnahmt. Und er hofft, dass der Mann seine Frau anrufen muss, wenn er gegen Kaution entlassen werden will.“

„Sie waren gar nicht verheiratet? Er hat seine Geliebte geschlagen?“

„Oder vielleicht nicht mal seine Geliebte. Vielleicht nur eine Frau, mit der er kaum mehr als einmal verabredet war.“

„Was für ein Idiot! War ihm denn nicht klar, dass sie nicht so viel zu verlieren hatte? Ich meine, wenn sie nicht seine Frau war, hätte sie ihn in einer Sekunde erledigen können. Sie käme nicht ins Gefängnis. Blöder Arsch! Zum Thema ‚Sicherheit im Job‘ – die meisten bösen Jungs sind einfach zu dumm.“

Eric lächelte. Laine sprach wie ein echter Cop. Und er gähnte. Sie hatte mit dieser Couch ein sehr gutes Geschäft gemacht. Er hörte ihr zu, wie sie über die Befragung getrennter Paare sprach und darüber, wie man am ehesten herausbekam, was wirklich geschehen war … Er liebte den Klang ihrer Stimme und schloss für einen Augenblick die Augen.

Als er sie wieder öffnete, war es bis auf das Feuer im Kamin und ein Licht am anderen Ende des Raums dunkel im Haus. In einen großen Sessel in der Nähe des Kamins gekuschelt, saß Laine und las ein Buch. Die Stehlampe hinter dem Sessel beschien ihr goldenes Haar und das Buch. Manchmal biss sie sich beim Lesen auf die Nägel. Oder sie runzelte die Stirn beim Umblättern. Er fragte sich, wie spät es war, aber er wollte nicht auf die Uhr sehen. Stattdessen blieb er reglos liegen, um sie weiter heimlich beobachten zu können. Wann bin ich hierhergekommen? Um zwei? Drei? Er hatte die Augen nur für einen Augenblick schließen wollen, und am Ende waren es Stunden gewesen.

Sein Magen knurrte, und Laine hob den Kopf. Sie lächelte ihn an. Er erwiderte ihr Lächeln, und ihm fiel auf, dass sie ihn zugedeckt hatte.

Laine schälte sich aus dem Sessel und kam zu ihm. Sie krabbelte direkt auf ihn und schaute ihm von oben herab in die Augen. „Nun, Mr. Tankwart, hast du ein kleines Nickerchen gemacht?“

Er lachte leise. „Bitte sag mir, dass du dich auf meine Tankwartuniform beziehst …“

„Na ja, du schnarchst. Aber es ist irgendwie anbetungswürdig.“

„Nur, wenn ich auf dem Rücken liege. Du hast dir da eine gute Couch ausgesucht.“

„Ich weiß. Ich sagte es dir ja schon – sie muss dich von allen Seiten umfangen. Fühlst du dich jetzt besser? Abgesehen davon, dass du Hunger hast?“

„Ich habe vergessen, etwas zu essen. Ich hatte zu tun. Bin ich eingeschlafen, während du mir etwas erzählt hast? Das wäre sehr unhöflich, und außerdem höre ich dir ausgesprochen gern zu, wenn du redest.“

„Du hast einen Diskurs über hundertundeine Verhörtechnik verpasst. Es war faszinierend.“

„Bestimmt“, meinte er und strich ihr das Haar hinters Ohr. „Wie spät ist es?“

„Halb sieben.“

„Ich sollte duschen …“

„Oben?“, fragte sie.

Eric schüttelte den Kopf. „Wo ich Kleidung zum Wechseln habe. Wenn du mich einlädst, noch mal herzukommen, mache ich das.“

„Bringst du Pizza mit?“

„Wenn du sie wirklich essen willst. Anderenfalls würde ich etwas mitbringen, das kein Fast Food ist.“

„Was denn?“

„Lass dich überraschen. Du wirst nicht enttäuscht sein.“

„Ich mag Pizza. Aber ein paar deiner Überraschungen mag ich ebenfalls sehr, obwohl sie bislang nichts mit Essen zu tun hatten.“

„Du machst mich schon wieder an“, meinte er. Sie nickte und lächelte. „Das gefällt mir. Lass mich aufstehen. Ich dusche ganz schnell.“

„Du bist zu Fuß hergekommen, stimmt’s?“

„Es sind nur ein paar Straßen, aber nachher nehme ich den Wagen.“

„Nimm meinen. Und bring deine Arbeitskleidung für morgen gleich mit, denn ich weiß ja inzwischen, dass du jeden Tag arbeitest und jede Nacht Bereitschaftsdienst hast.“

„Was, wenn ich in meinem eigenen Bett schlafen will?“, fragte er amüsiert lächelnd.

„Wenn ich es recht verstanden habe, hast du gar kein eigenes Bett, sondern nur ein gemietetes Zimmer mit einem Bett.“

„Hey, ich habe auch einen kleinen Kühlschrank und einen Toaster. Es ist sehr kom… Okay, beinahe hätte ich ‚komfortabel‘ gesagt, was man kaum behaupten kann. Und verglichen mit deinem Bett, das diesen schönen, warmen, weichen Körper beinhaltet – das ist unschlagbar.“ Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Laine, du musst mich nicht jedes Mal, wenn wir zusammen sind, bei dir schlafen lassen. Ich weiß, dass du allein gelebt und geschlafen hast. Du würdest meine männliche Eitelkeit nicht verletzen, wenn du mich bittest, nach Hause zu gehen.“

„Dito. Wenn du gehen willst, ich nehme niemanden in Geiselhaft.“ Dann grinste sie ihn an. „Trotzdem gefällt es mir. Ich habe so etwas noch nicht oft gemacht. Du musst ein netter Mitschläfer sein … oder so etwas …“

„Ich schnarche, wenn ich auf dem Rücken liege.“

„Ich weiß.“

Bevor Eric unter die Dusche ging, rief er im Cliffhanger in der Marina an und bestellte ein Essen zum Mitnehmen. Auf dem Rückweg zu Laine hielt er dort an und traf, während er auf seine Muschelsuppe und Crab-Louie-Salat für zwei Personen wartete, vier Menschen, die er kannte. Mac, Gina, Cooper und Sarah saßen im Barbereich, und nachdem Eric sie begrüßt hatte, warfen sie sich gegenseitig vielsagende und allwissende Blicke zu. Sie sagten kein Wort außer „Hallo!“. Eric gab nichts preis. Und dennoch zweifelte er keine Sekunde daran, dass alle bald alles wissen würden, obwohl weder er noch Laine einen Ton gesagt hatten.

Während seiner Abwesenheit hatte Laine das Kaminfeuer neu entfacht, Musik angemacht und sogar eine Kerze angezündet. Ihr gefiel, was er für sie zum Essen ausgesucht hatte. Die Muschelsuppe kam in einer Schachtel, in Cliffs Spezial-Sauerteigbrotschüsseln, die sie so gern mochte. „Irgendwann mache ich die auch mal – Brotschüsseln. Vielleicht für meine Steaksuppe oder das Chili. Ich liebe Brotschüsseln!“

„Steaksuppe?“, fragte er hoffnungsvoll.

„Jetzt hast du wieder diesen Blick“, zog sie ihn auf. „Am nächsten wirklich guten Suppentag koche ich dir eine!“

„Ich mag Suppentage“, sagte er. Tatsächlich mochte er alles – ihre Couch, ihre Suppe, ihren süßen Körper, ihre Leidenschaft, den Klang ihrer Stimme, das Blau ihrer Augen.

Sie stellte das Essen auf den Tisch und warf die Schachteln, in denen es geliefert wurde, in den Müll in der Garage, um sie aus dem Blick zu haben. Als sie beim Essen saßen, erzählte sie ihm, wie schön sie die Tage gefunden hatte, an denen ihre Mutter früher von der Arbeit nach Hause gekommen war und Stunden in der Küche verbracht hatte, um ihr ihre Lieblingsgerichte zu kochen. Laine hatte es geliebt, auf einem Küchenhocker zu sitzen und ihrer Mutter beim Kochen zuzusehen. Bei diesen Gelegenheiten hatten sie ihre besten Gespräche über Kochen, Schule, Freunde, Zukunftspläne, Jungs … über alles von Karate über Pferde bis Colleges geführt. Und es war nie geplant gewesen. Tatsächlich hatte es Zeiten gegeben, in denen ihre Mutter alle Verabredungen für den Abend abgesagt hatte, weil ihr das Essen wichtiger war. Genauso wie es Zeiten gegeben hatte, in denen alle in der Familie beschäftigt waren. Aber das hielt Laines Mutter dennoch nicht vom Kochen ab. Sie kochte das Essen. Immer genug, um so viele Leute zu versorgen wie auftauchten. Auch wenn sie allein essen und die Reste in den Kühlschrank stellen musste. Laines Mutter hatte Aromen und das mit dem Kochen verbundene Wissen sehr geliebt. Die Arbeit in der Küche und die Komposition verschiedener Geschmacksrichtungen hatten sie entspannt.

„Sie arbeitete als plastische Chirurgin“, erzählte Laine. „Sie hat großartige Arbeit geleistet und war ihrem Beruf total ergeben. Als ich zwölf war, war sie fünfzig und musste ihre Arbeitsstunden ein wenig reduzieren. Sie wollte unsere Jugend nicht verpassen. Sie liebte ihre Arbeit, aber sie sagte, dass für die Arbeit immer noch genug Zeit bleiben würde. Jetzt wolle sie lieber unsere Theateraufführungen, Spiele und Wettkämpfe sehen. Sie wollte in der Nähe sein, wenn wir mit unserer Wahl der Freunde und Berufe haderten. Mein Bruder und ich sollten, weil unser Senior nur diesen einen Weg für uns vorgesehen hatte, Ärzte werden. Basta.“

„Aber das ist nicht der Weg, den du eingeschlagen hast.“

Laine schüttelte den Kopf. „Und dann strebte ich, um ihn noch mehr zu ärgern, nach meinem Jurastudium nicht einmal eine Anwaltskarriere an. Ich wollte Ganoven jagen. Er ist maßlos enttäuscht von mir.“

„Er ist ein Blödmann“, sagte Eric.

„Aber du bist ein Ganove!“, sagte sie, ihn ganz klar herausfordernd. „Und schau, ich habe dich gefangen.“

„Nein. Ich wollte nie jemandem etwas wegnehmen oder jemandem wehtun. Ich war bloß ein maßloser Idiot. Es ist viel schwerer, sich davon zu erholen, ein Idiot gewesen zu sein als ein Ganove. Ich habe verdient, was ich bekommen habe. Aber ich war nur dämlich. Nicht böse. Kennst du jemanden, der richtig böse war?“

„Einige. Und noch viel mehr Idioten …“

„Hoffentlich habe ich daraus gelernt. Ich nehme an, deine Mutter hat dich ermutigt.“

„Ja, hat sie. Ihr gefiel, was ich mache. Es machte ihr Angst, aber es gefiel ihr. Und Pax’ Entscheidung, Medizin zu studieren, gefiel ihr genauso gut. Sie hatte nur ganz wenig Einwände. Sie hat mich sehr unterstützt, aber noch wichtiger war, sie interessierte sich für mich. Sie war fasziniert.“

„Und du hast sie verloren …“

Laine ließ den Kopf hängen und legte die Gabel hin. Dann nickte sie ernst. „Bauchspeicheldrüsenkrebs, dieser Teufel. Sie hatte kaum Symptome – manchmal Sodbrennen, ab und zu Schmerzen. Sie hat dem nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, weil ihr Leben hektisch und stressig war. Und man muss sich nichts vormachen, im OP zu stehen ist keine einfache Arbeit. Dann wurde sie bei der Arbeit ohnmächtig und ließ anschließend eine Reihe von Tests machen. Sie redete sich selbst ein, dass sie ihr die Gallenblase rausnehmen würden, aber die Diagnose war Krebs im fortgeschrittenen Stadium, der bereits Metastasen in anderen Organen und den Knochen gebildet hatte. Sie war schon fast im Endstadium. Natürlich haben wir alles versucht, aber sie ist sehr schnell von uns gegangen. Und wie so oft war die Behandlung schlimmer als die Krankheit. Sie wollte damit aufhören.“

Laine lachte traurig. „In ihren letzten Wochen wollte sie, dass ich ihr FBI-Geschichten erzähle. Die liebte sie.“

„Also hast du ihr welche erzählt?“, fragte er lächelnd.

„Sie war meine Mutter! Ich habe ihr alles erzählt, was sie wollte. Nicht nur meine eigenen Erfahrungen, sondern auch Fälle, mit denen ich nur am Rand zu tun hatte. Nur Drama und Chaos und die witzigen Sachen. Sehr unterhaltsames Zeug.“ Laine nahm die Gabel wieder auf und lächelte erneut.

„Vielleicht erzählst du mir eines Tages auch ein paar Geschichten.“

Sie schob sich etwas Crab-Louie-Salat in den Mund. „Sobald ich deine Sicherheitsunbedenklichkeitsbescheinigung habe.“

Ein paar Stunden später rang Laine nach Luft. Sie stöhnte und seufzte in Erics Armen. „Oh Gott“, sagte sie atemlos. „Warst du immer schon so unglaublich gut beim Sex?“

Er küsste sie auf Stirn, Nase, Kinn. „Ich glaube, man hat mich vielleicht immer ein wenig unterschätzt. Oder es liegt an dir, und du glaubst nur, dass es an mir liegt. Das ist wahrscheinlicher.“

„Ich kann nicht einmal beschreiben, was du …“

Als sie mitten im Satz verstummte, sagte er: „Mir geht es genauso. Sei vorsichtig, Laine. Du solltest dich nicht länger, als du willst, mit mir belasten.“

„Mach es einfach noch einmal“, bat sie.

„Es ist schon spät.“

„Ich lasse dich später schlafen. Es ist nur Schlaf …“

„Oh Mann“, flüsterte er. „Oh Mann …“

Eric versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren und seine Hände zu beschäftigen, aber seine Gedanken wanderten ständig und zu allen Tageszeiten zu Laine. Er fühlte sich wie ein fünfzehnjähriger Teenager, der gerade erst die Mädchen entdeckt hatte. Er musste sich anstrengen, um keine dümmlichen Lieder zu singen. Und das war nicht leicht, was ihn nur wieder daran erinnerte, wie total uncool er war.

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