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Susan Mallery - Fool's Gold 1-3

hier erhältlich:

STADT, MANN, KUSS

So idyllisch Fool’s Gold, die Kleinstadt am Fuße der Sierra Nevada, auch ist. Der hübsche Ort hat ein gewaltiges Problem: Es herrscht akuter Männermangel. Um das zu ändern, wird die erfolgreiche Stadtplanerin Charity Jones engagiert. Ausgerechnet sie, bei der Amor mit seinem Pfeil bisher immer danebengeschossen hat. Nichtsdestotrotz lockt sie die ersten potenziellen Ehekandidaten an. Dabei befinden sich bereits einige Prachtexemplare direkt vor Charitys Nase …

ICH FÜHLE WAS, WAS DU NICHT SIEHST

Nicht freiwillig kehrt die Krimiautorin Liz Sutton zurück in ihre Heimatstadt Fool’s Gold, sondern nur, weil sie sich um ihre beiden Nichten kümmern muss. Der Zustand ihres Elternhauses ist noch der kleinste Schock, denn kaum wieder da, trifft sie schon auf Ethan. Den Mann, der ihr einst das Herz gebrochen hat - und den sie in ihren Romanen schon auf die grausamsten Weisen zur Strecke gebracht hat. Und dem sie schon lange etwas Bedeutendes hätte sagen müssen …

JA, ICH WILL - EIN DATE MIT DIR!

Katie braucht einen Begleiter! Aber wo hernehmen, wenn nicht stehlen? Die Auswahl an Männern in ihrer Heimat Fool’s Gold ist nicht groß. Da arrangiert ihre Mom ein Date für sie, das zu einer wahren Überraschung wird …


  • Erscheinungstag: 19.09.2019
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 808
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745751444
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Susan Mallery

Susan Mallery - Fool's Gold 1-3

Susan Mallery

Stadt, Mann, Kuss …

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Maike Müller

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Chasing Perfect

Copyright © 2010 by Susan Macias Redmond

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.á.r.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Robyn Neil / Newdivision

ISBN eBook 978-3-95649-953-1

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Charity Jones liebte gute Katastrophenfilme – es wäre ihr nur lieber gewesen, jemand anders hätte die Hauptrolle gespielt.

Das scharfe Knacken eines Kurzschlusses, sogleich gefolgt von einem beißenden Geruch, füllte den Konferenzraum im dritten Stock des Rathauses. Eine dünne Rauchfahne stieg von ihrem Laptop auf und bereitete jeglicher Hoffnung auf eine glattlaufende Power-Point-Präsentation ein jähes Ende. Eine Präsentation, an der sie fast die ganze Nacht gefeilt hatte.

Das ist mein erster Tag in diesem Job, dachte Charity, während sie tief einatmete, um die aufkeimende Panik zu unterdrücken. Die erste offizielle Stunde des ersten offiziellen Tages. War ihr denn nicht mal eine klitzekleine Pause vergönnt? Irgendein kleines Zeichen der Gnade vom Universum?

Offenbar nicht.

Sie schaute von ihrem immer noch qualmenden Computer auf und blickte in die Gesichter des zehnköpfigen Gremiums der California University, Fool’s Gold Campus. Keiner von ihnen sah glücklich aus. Das lag zum Teil daran, dass sie mit dem vorherigen Stadtplaner fast ein Jahr zusammengearbeitet und noch immer keinen Vertrag über die neue Forschungseinrichtung geschlossen hatten. Für diesen Vertrag war sie nun zuständig. Der andere Grund, warum sie unruhig auf ihren Stühlen herumrutschten, war vermutlich der unangenehme Brandgeruch.

„Vielleicht sollten wir das Meeting vertagen“, schlug Mr. Berman vor. Er war groß, hatte graue Haare und trug eine Brille. „Wenn Sie besser vorbereitet sind.“ Er nickte in Richtung ihres qualmenden Computers.

Charity lächelte warmherzig, obwohl sie am liebsten mit irgendetwas geworfen hätte. Sie war vorbereitet. Sie war jetzt – ein kurzer Blick auf die Wanduhr – ganze acht Minuten in ihrem Job, aber mit den Vorbereitungen hatte sie schon vor knapp zwei Wochen begonnen, als sie die Position als Stadtplanerin angenommen hatte. Sie kannte sowohl die Anforderungen der Universität als auch die Möglichkeiten der Stadt. Sie mochte neu sein, aber sie war trotzdem verdammt gut in dem, was sie tat.

Ihre Vorgesetzte, die Bürgermeisterin, hatte sie im Vorfeld vor dieser Truppe gewarnt und ihr angeboten, das Meeting ein wenig nach hinten zu verschieben, aber Charity hatte sich beweisen wollen. Und sie würde nicht zulassen, dass sich diese Entscheidung am Ende als falsch herausstellte.

„Wo wir schon mal alle hier versammelt sind“, erwiderte sie und lächelte noch immer so souverän wie möglich, „können wir das Ganze doch auch auf die altmodische Art machen.“

Sie trennte ihren Computer vom Stromnetz und brachte ihn in den Flur, von wo aus er ohne Frage auch das restliche Gebäude verpesten würde. Aber das Meeting hatte eben höchste Priorität. Sie war fest entschlossen, ihren neuen Posten mit einem Sieg anzutreten, und das bedeutete, die California University von Fool’s Gold dazu zu bringen, auf der letzten Seite ganz unten zu unterschreiben.

Als sie in den Konferenzraum zurückkam, trat sie ans Whiteboard und nahm einen dicken blauen Stift von der kleinen Ablagefläche.

„So wie ich das sehe“, begann sie, schrieb die Ziffer Eins an die Tafel und kreiste sie ein, „gibt es drei Kernprobleme. Erstens: die Mietdauer.“ Sie schrieb die Ziffer Zwei. „Zweitens: der Rückfall der Wertsteigerungen auf dem Grundstück. Mit anderen Worten: das Gebäude selbst. Und drittens: die Ampel am Ende der Freewayausfahrt.“ Sie drehte sich wieder zu den zehn gut gekleideten Menschen um, die jede ihrer Bewegungen verfolgten. „Stimmen Sie mir zu?“

Alle sahen zu Mr. Berman, der langsam nickte.

„Gut.“ Charity hatte sämtliche Protokolle der vorangegangenen Meetings durchgearbeitet und am Wochenende mit der Bürgermeisterin von Fool’s Gold gesprochen. Was Charity nicht verstand, war, warum sich die Verhandlungen derart in die Länge zogen. Offenbar war es ihrem Vorgänger wichtiger gewesen, recht zu haben, als das Projekt „Forschungseinrichtung“ voranzubringen. Bürgermeisterin Marsha Tilson hatte sich klar und deutlich ausgedrückt, als sie Charity den Job angeboten hatte. Sie sollte die Wirtschaft nach Fool’s Gold locken, und zwar schnell.

„Und nun zu meinem Lösungsvorschlag“, sagte sie und machte eine zweite Spalte auf. Sie ging alle drei Probleme sorgfältig durch und schrieb ihre Lösungen daneben – darunter eine fünf Sekunden länger dauernde Grünphase für die Linksabbieger am Ende der Ausfahrt.

Die Gremiumsmitglieder hörten ihr aufmerksam zu. Als sie fertig war, richteten sich alle Augen wieder auf Mr. Berman.

„Das hört sich gut an“, fing er an.

Sich gut anhören? Das war besser als gut. Das war ein einzigartiger Deal. Das war genau das, was die Universität verlangt hatte. Das war ein Null-Kalorien-Brownie mit Sahneeis.

„Es gibt trotzdem noch ein Problem“, meinte Mr. Berman.

„Nämlich?“, fragte sie.

„Eins Komma sechs Hektar an der Bezirksgrenze.“ Die Stimme kam von der Tür.

Charity drehte sich um. Ein Mann betrat den Konferenzraum. Er war groß und blond, sah beinahe überirdisch gut aus und bewegte sich mit einer athletischen Anmut, die ihr sogleich ein gewisses Unbehagen einflößte. Er kam ihr irgendwie bekannt vor, und dennoch war sie sich sicher, ihm noch nie begegnet zu sein.

Er lächelte ihr kurz zu, wobei seine weißen Zähne aufblitzten. Die Millisekunde Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte, nahm ihr fast die Luft. Wer war dieser Kerl?

„Bernie“, sagte der Fremde und richtete sein Megawatt-Lächeln auf den Kopf der Gruppe. „Ich habe gehört, dass Sie in der Stadt sind. Sie haben mich gar nicht zum Abendessen eingeladen.“

Mr. Berman sah tatsächlich interessiert aus. „Ich dachte, Sie wären mit Ihrer jüngsten Eroberung beschäftigt.“

Der blonde Typ zuckte bescheiden die Schultern. „Für Vertreter der Universität habe ich immer Zeit. Sharon. Martin.“ Er begrüßte jeden am Tisch, schüttelte ein paar Hände, zwinkerte der älteren Dame am Kopfende zu und wandte sich dann an Charity.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich bin mir sicher, dass Sie dieses Problem unter normalen Umständen lösen würden, ohne ins Schwitzen zu kommen. Aber der Grund, warum wir uns noch nicht geeinigt haben, ist weder der Rückfall der Pacht noch die Ampel.“ Er kam auf sie zu und nahm ihr den Stift aus der Hand. „Sondern die gut anderthalb Hektar Land, die der Universität von einer sehr wohlhabenden Absolventenfamilie angeboten worden sind. Sie wollen ihren Namen am Gebäude stehen sehen, und sie sind bereit, für dieses Privileg zu zahlen.“

Er schenkte Charity ein weiteres Lächeln, bevor er sich wieder dem Whiteboard zuwandte. „Ich werde mal erklären, warum das eine schlechte Idee ist.“

Und dann fing er an zu reden. Sie hatte keine Ahnung, wer er war, und vermutlich hätte sie ihn auffordern sollen zu gehen, aber irgendwie konnte sie sich weder bewegen noch sprechen. Es war, als hätte er rings um sich ein außerirdisches Kraftfeld aufgebaut, das sie paralysierte.

Vielleicht sind es seine Augen, dachte sie, während sie in die braungrünen Seen starrte. Oder seine von der Sonne gebleichten Wimpern. Womöglich war es die Art, wie er sich bewegte, oder die Hitze, die sie jedes Mal spürte, wenn er an ihr vorbeiging. Oder vielleicht hatte sie auch irgendein seltsames Gas eingeatmet, als ihr Computer Funken gesprüht hatte und schließlich jämmerlich verschmort war.

Zwar fand sie es, wie jede Frau, aufregend, einem attraktiven Mann zu begegnen. Aber noch nie war sie von einem Typen derart hypnotisiert gewesen. Und schon gar nicht während eines Geschäftstreffens, das eigentlich sie führen sollte.

Doch sie kannte diesen Schlag Mann genau. Sie hatte gesehen, wie viel Zerstörung diese Kerle mit jedem ihrer Schritte anrichteten. Ihr Selbsterhaltungstrieb riet ihr, sich so weit wie möglich zurückzuziehen. Und das würde sie auch tun … sobald das Meeting zu Ende war.

Fest entschlossen, sich die Kontrolle über ihren Körper und über das Meeting zurückzuholen, straffte sie die Schultern. Dann begriff sie, was der rätselhafte Eindringling soeben gesagt hatte. Ein Geschenk abzulehnen, das in Gestalt eines erstklassigen Grundstücks daherkam, wäre für jede Universität schwer. Kein Wunder, dass Mr. Berman an ihrer Lösung nicht interessiert gewesen war. Sie packte das Problem einfach nicht an der Wurzel.

„Die Forschungsarbeit, um die es hier geht, ist für uns alle wichtig“, schloss der Blonde. „Und deshalb ist das Angebot der Stadt das beste auf dem Tisch.“

Charity zwang sich, Mr. Berman anzusehen, der langsam nickte. „Sie haben einige gute Aspekte aufgezeigt, Josh.“

„Ich habe lediglich ein paar Dinge hervorgehoben, die Sie unter Umständen noch nicht bedacht haben“, erwiderte der Blonde bescheiden. Der Blonde, der anscheinend Josh hieß. „Die eigentliche Arbeit hat Charity gemacht.“

Sie hob die Augenbrauen. Er kaperte ihr Nervensystem und ihr Meeting, und er versuchte, ihr Anerkennung zu zollen?

„Keineswegs“, widersprach sie und war erleichtert, dass ihre Stimme ihr gehorchte. „Wie könnte ich mit Ihren exzellenten Ausführungen mithalten?“

Josh zwinkerte ihr doch tatsächlich zu, bevor er nach der Mappe griff, die auf dem Tisch lag. „Das ist der Vorvertrag. Ich denke, die Unterzeichnung wurde lange genug aufgeschoben, finden Sie nicht auch, Bernie?“ Mr. Berman nickte langsam und zog einen Stift aus der Innentasche seines Sakkos. „Sie haben recht, Josh.“ Dann unterzeichnete er mir nichts, dir nichts das Dokument und schenkte Charity damit den Sieg, den sie sich so sehnlich gewünscht hatte.

Irgendwie hatte sie gehofft, er würde ein kleines bisschen süßer schmecken.

Binnen weniger Minuten hatten alle einander die Hände geschüttelt, irgendwas von der Anberaumung eines nächsten Treffens zur konkreten Planung gemurmelt und waren dann gegangen. Nun stand Charity allein im Konferenzraum. Der Geruch verbrannten Plastiks und ein unterzeichnetes Schriftstück waren die einzigen Beweise dafür, dass diese Sitzung tatsächlich stattgefunden hatte. Sie sah auf die Uhr. Es war 09:17 Uhr. So schnell, wie die Dinge hier abliefen, könnte sie bis zum Mittag diverse Krankheiten heilen und die Hungersnot stoppen. Na ja, im Grunde nicht sie. Bislang beschränkten sich ihre Erfolge auf das Grillen unschuldiger Elektro geräte.

Sie sammelte die Unterlagen ein, ging hinaus auf den Flur und klemmte sich den kalten toten Computer unter den Arm. War das wirklich geschehen? War irgendein blonder Sonnyboy in ihr Meeting geplatzt, hatte ihr den Tag gerettet und war wieder verschwunden? Wie ein ortseigener Superheld? Und wenn er so gut Bescheid wusste, warum hatte er sich dann nicht schon vor Wochen um das Problem gekümmert?

Von der Privatspende hatte sie nichts wissen können – ganz gleich wie viel sie auch recherchiert und wie gut sie sich vorbereitet hatte. Und trotzdem verspürte Charity ein leichtes Gefühl der Unzufriedenheit. Sie gewann lieber durch eigene Taten und nicht, weil jemand zu ihrer Rettung eilte.

Sie ging zu ihrem neuen Büro in der ersten Etage. Der Umzug nach Fool’s Gold am Wochenende und die Vorbereitung der Präsentation hatten ihre kostbare Freizeit verschlungen, weshalb sie noch nicht dazu gekommen war, sich anständig einzurichten. Um kurz vor sechs an diesem Morgen hatte sie einfach eine Kiste mit persönlichen Dingen auf ihren Schreibtisch gestellt. Um eine Minute nach sechs war sie im Konferenzraum gewesen, um ihre Präsentation durchzugehen, die hatte perfekt werden sollen. Tja, das war ja wohl reine Zeitverschwendung, dachte sie, als sie im ersten Stock ankam. Zwischen dem Dahinscheiden ihres Computers und dem Auftauchen des rätselhaften Mannes hätte sie sich gar nicht großartig zu bemühen brauchen.

Am Morgen war das alte Gebäude leer und still gewesen. Jetzt arbeiteten ein halbes Dutzend Frauen an den Tischen. Bürotüren standen offen, und Unterhaltungen vermischten sich zu einem monotonen Hintergrundgemurmel.

Sie ging auf ihr Büro zu. Inzwischen müsste ihre Assistentin da sein, sodass sie sich endlich einmal persönlich sehen würden. Technisch gesehen arbeiteten sie nun schon seit zwei Wochen zusammen, und in dieser Zeit hatte Sheryl unterschiedlichste Informationen zu Charity nach Nevada gefaxt und gemailt.

Charity war für ihr Bewerbungsgespräch nach Fool’s Gold gekommen. Sie hatte sich mit der Bürgermeisterin und einigen Mitgliedern der Stadtverwaltung getroffen und sich die Gegend angesehen. Sie hatte noch nie in einer Kleinstadt gelebt. Am vertrautesten war ihr noch Stars Hollow aus ihrer Zeit am College, als sie keine Folge der Gilmore Girls verpasst hatte. Fool’s Gold hatte ihr durch und durch gefallen, und sie hatte sich gut vorstellen können, in diesem Städtchen am See Wurzeln zu schlagen. Sie war sogar in diesem Gebäude gewesen und hatte sich ein bisschen umgesehen. Aber dabei hatte sie das riesige Poster an der Wand übersehen.

Nun starrte sie auf ein überlebensgroßes Poster ihres geheimnisvollen Fremden. Er lächelte auf sie herunter. Unter dem Arm hielt er einen Fahrradhelm, und das enge Trikot und die Radlerhose ließen nur wenig Raum für Fantasie. Die Bildunterschrift lautete: Josh Golden – Fool’s Golds liebstes Kind.

Sie blinzelte ein Mal, dann noch mal. Josh Golden? Der gefeierte Radfahrer Josh Golden? Der zweitjüngste Gewinner in der Geschichte der Tour de France und vermutlich Sieger Hunderter weiterer Radrennen? Sie hatte die Meldungen im Radsport nie verfolgt. Eigentlich verfolgte sie keinerlei Sportnachrichten. Doch selbst sie hatte von ihm gehört. Er war mit einer bekannten Frau verheiratet gewesen – sie konnte sich nicht erinnern, mit welcher – und lebte jetzt in Scheidung. Er warb für Energydrinks und für eine große Sportmarke. Der lebte hier? Der war in ihr Meeting geplatzt und hatte ihr den Tag gerettet?

Unmöglich, sagte sie sich. Vielleicht hatte sie sich bei einem Sturz den Kopf angeschlagen und konnte sich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht lag sie irgendwo im Koma und stellte sich das Ganze nur vor.

Sie ging an dem Poster vorbei und auf ihr Büro zu. Vor der offenen Tür sah sie eine Frau in den Dreißigern, die gerade telefonierte. Sie hatte dunkle Haare, war sehr hübsch und schaute jetzt lächelnd auf. „Sie ist hier. Ich muss Schluss machen. Hab dich lieb.“ Die Frau stand auf. „Ich bin Sheryl, Ihre Assistentin. Sie müssen Charity Jones sein. Schön, Sie endlich persönlich kennenzulernen, Ms. Jones.“

„Finde ich auch, und bitte nennen Sie mich Charity.“

Sheryl grinste. „Ich habe gerade erfahren, dass Sie die Universität zur Unterschrift bewegt haben. Bürgermeisterin Marsha wird einen Freudentanz vollführen. Endlich hat jemand diese glitschigen Aale festgenagelt.“

Aus dem Augenwinkel sah Charity, dass sich etwas bewegte. Sie blickte über die Schulter ihrer Assistentin und sah, dass Sheryls Bildschirmschoner mit einer Diashow begonnen hatte.

Das erste Bild zeigte Josh Golden auf einem Rennrad. Auf dem zweiten war er oben ohne und mit einem strahlenden Lächeln zu sehen. Das dritte Bild zeigte einen splitternackten Mann unter einer Dusche mit dem Rücken zur Kamera. Charity riss die Augen auf.

Sheryl warf einen Blick über ihre Schulter und lachte. „Ich weiß. Er ist umwerfend. Ich habe die Bilder aus dem Internet heruntergeladen. Soll ich sie auf Ihrem Computer installieren?“

„Äh, nein. Danke.“ Charity zögerte. „Ich bezweifle, dass Nacktbilder die angemessene Dekoration für ein Büro sind.“

„Wirklich?“ Sheryl wirkte irritiert. „Daran habe ich gar nicht gedacht. Aber ich schätze, Sie haben recht. Ich werde das Duschbild rausnehmen – obwohl es mein Lieblingsbild ist. Haben Sie Josh schon kennengelernt? Meine Großmutter würde ihn einen Traummann nennen. Ich habe meinem Ehemann schon gesagt: ‚Falls Josh jemals bei mir anklingeln sollte, bin ich schneller weg, als du gucken kannst.‘“

Dann reagierte also jede Frau auf diesem Planeten genauso auf Josh wie sie. Fantastisch. Nichts ist so toll wie zu einer sabbernden Menge von Verehrerinnen zu gehören, dachte sie und betrat ihr Büro.

Aber das war kein Problem. Sie würde den Mann einfach meiden, bis sie in der Lage wäre, ihre Reaktion auf ihn zu kontrollieren. Sie wollte einen netten, normalen Mann, dessen sie sich sicher sein konnte. Ihre Mutter hatte sich immer in die Joshs dieser Welt verliebt: in Männer, die zu attraktiv waren und von allen Frauen angehimmelt wurden. Und regelmäßig hatten sie ihr das Herz gebrochen. Charity war fest entschlossen, aus den Fehlern ihrer Mutter zu lernen.

Nachdem sie ihren toten Laptop neben die Kiste mit den persönlichen Dingen gestellt hatte, die immer noch darauf wartete, ausgepackt zu werden, sah Charity durch die offene Tür zu Sheryl hinüber.

„Würden Sie bitte die Bürgermeisterin anrufen und fragen, ob ich heute Morgen noch kurz bei ihr vorbeischauen kann?“

Sheryl schüttelte den Kopf. „Das hier ist nicht die Großstadt, Charity. Sie können jederzeit bei Marsha anklopfen.“

„In Ordnung. Danke.“

Charity nahm den Ordner mit dem unterzeichneten Vorvertrag mit und machte sich auf den Weg zum anderen Ende des Flurs. Das Büro von Bürgermeisterin Marsha Tilson lag hinter einer riesigen, mit Schnitzereien verzierten Doppeltür, die weit offen stand.

In dem Raum stand ein großer Schreibtisch. Zwei Fahnen – die Flagge der Vereinigten Staaten und die des Bundesstaates Kalifornien – hingen an der Wand, und am Fenster hatte ein kleiner Konferenztisch mit sechs Stühlen seinen Platz gefunden.

Marsha saß in einer kleinen Sitzgruppe in der Ecke. Als Charity den Raum betrat, sah sie, dass auch Josh da war. Er saß auf einem Sofa, sah atemberaubend gut aus und wirkte, als fühlte er sich ganz wie zu Hause.

Marsha, eine attraktive, gut gekleidete Frau Mitte sechzig, lächelte und stand auf. „Wir haben gerade von Ihnen gesprochen, Charity. Sie hatten ja einen ereignisreichen Morgen. Meine Glückwünsche. Unser Josh hat mir erzählt, dass Sie Bernie überzeugen konnten, den Vorvertrag zu unterzeichnen.“

Charity ging auf die beiden zu und gab sich alle Mühe, freundlich zu wirken, ohne Josh richtig anzusehen. Als sie den Fehler beging, ihm in die Augen zu schauen, hätte sie schwören können, die Titelmelodie von Vom Winde verweht zu hören.

Josh erhob sich und lächelte sie lässig an. Sie musste sich mit den Zehen in ihren Pumps festkrallen, um nicht die Balance zu verlieren. „Man hat uns einander noch gar nicht offiziell vorgestellt“, begrüßte er sie und hielt ihr die Hand hin. „Ich bin Josh Golden.“

Sie wollte ihm auf gar keinen Fall die Hand geben. Nicht bei den Symptomen, die sie jetzt schon spürte. Hautkontakt könnte am Ende zu Herzversagen oder etwas noch Peinlicherem führen. Sie schluckte, atmete tief ein und wappnete sich für ihr Schicksal.

Seine große Hand verschlang ihre. Funken, noch größer als jene, die ihren Computer zerstört hatten, sprangen zwischen ihnen hin und her. Ihr Magen schlug einen Purzelbaum, ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie rechnete damit, jeden Moment ein Feuerwerk an der Zimmerdecke zu erblicken.

„Mr. Golden“, murmelte sie. Schnell entzog sie ihm die Hand und ließ sich in den hinter ihr stehenden Sessel sinken. Sie gab sich Mühe, nicht daran zu denken, dass sie dank Sheryls Bildschirmschoner bereits seinen nackten Hintern gesehen hatte.

„Josh, bitte.“

Wie viele Frauen das wohl schon geschrien haben, fragte sie sich und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die bei Weitem ungefährlichere Bürgermeisterin.

„Josh übertreibt, was meine Rolle bei dem Meeting angeht“, erklärte sie und freute sich, dass sie in vollständigen Sätzen sprechen konnte. „Er wusste von dem Grundstücksangebot, das die Universität an der Unterzeichnung gehindert hatte. Als das geklärt war, konnten wir die anderen Probleme schnell lösen.“

„Ich verstehe.“ Marsha sah zu Josh, der bescheiden die Achseln zuckte.

Vor dem Hintergrund, dass Josh offensichtlich ein bekannter Sportler war, der sich nicht scheute, seinen nackten Hintern in irgendwelche Kameras zu halten, hätte sie erwartet, dass er jede Gelegenheit nutzen würde, sich in den Vordergrund zu spielen. Doch seltsamerweise hatte er das nicht getan.

„Wir haben den Vorvertrag“, fuhr Charity fort. „Ich werde Sheryl bitten, ein weiteres Meeting einzuberufen, um die Dinge voranzutreiben. Da uns die Kostenvoranschläge für die Bauarbeiten bereits vorliegen, kann schnell mit dem Bau der Forschungseinrichtung begonnen werden.“

„Ausgezeichnet.“ Marsha lächelte sie an. „Aber kommen Sie doch erst mal richtig an. Die erste Stunde in Ihrem neuen Job war ja schon ziemlich aufregend. Wie wär’s, wollen wir morgen Mittag zusammen essen? Dann können Sie mir erzählen, wie es so läuft.“

„Ja, gern.“ Charity stand auf. „War nett, Sie kennenzulernen, Josh“, sagte sie im Rausgehen, um zu vermeiden, ihm noch einmal die Hand schütteln zu müssen.

Zurück in ihrem sicheren Büro, bestand ihre erste Amtshandlung darin, sich selbst ordentlich die Leviten zu lesen. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nicht so auf einen Mann reagiert. Es war mehr als peinlich – es war ein potenzieller Störfaktor in der Ausübung ihres Berufs. Sie konnte akzeptieren, dass irgendein Fehler in ihrem genetischen Code dafür verantwortlich war, dass sie sich immer die falschen Männer aussuchte. Aber sie würde sich nicht erlauben, sich wie ein verrückter Groupie oder wie eine sexuell ausgehungerte Irre aufzuführen, wenn sie in Joshs Nähe war. Fool’s Gold war klein. Sie würden sich ständig über den Weg laufen. Sie musste sich und ihre Hormone unter Kontrolle bringen, und zwar schnell.

Es muss eine vernünftige Erklärung für das Ganze geben, sagte sie sich streng. Ich habe letzte Nacht nicht besonders gut geschlafen. Oder vielleicht habe ich ja auch irgendeinen Vitamin-B-Mangel, oder ich esse nicht genug Brokkoli oder so. Was auch immer der Grund war, sie würde ihn finden und eliminieren. Sie weigerte sich, flatterhaft und schwach zu sein. Sie war stark. Sie verwirklichte sich selbst. Sie würde nicht zulassen, dass so etwas Unbedeutendes wie ein umwerfender Mann, der einen Hintern hatte wie ein griechischer Gott, ihren Tag auf den Kopf stellte.

„Und?“, fragte Marsha, nachdem Charity gegangen war.

Ein einziges Wort mit tausend Bedeutungen, dachte Josh grimmig. Wie machten die Frauen das bloß? Sie konnten einen Mann ohne große Anstrengung dazu bringen, sich zu drehen und zu winden. Eine Fähigkeit, die er gleichermaßen bewunderte und fürchtete.

„Sie ist klug und fair“, sagte er.

Marsha hob die Augenbrauen. „Du findest sie nicht hübsch?“

Er lehnte sich in dem Sessel zurück und schloss die Augen. „Darum geht es also. Warum verspürst du nur ständig den Drang, deine Mitmenschen zu verkuppeln? Ich war schon mal verheiratet, Marsha. Erinnerst du dich? Es ist nicht gut gegangen.“

„Aber das lag nicht an dir. Sie war eine Hexe.“

Er öffnete ein Auge. „Ich dachte, du mochtest Angelique.“ „Jedes Mal, wenn sie in der Sonne war, hatte ich Angst, dass all das Plastik, das sie sich in den Körper hatte einbauen lassen, schmelzen würde.“

Er lachte. „Das wäre durchaus möglich gewesen.“ Seine Exfrau war von Natur aus hübsch gewesen, hatte jedoch keine Ruhe gegeben, bis sie außergewöhnlich gewesen war.

„Dann magst du sie also?“, hakte Marsha nach.

Irgendetwas sagte ihm, dass es nicht mehr um seine Ex ging. „Warum spielt meine Meinung eine Rolle?“

„Darum.“

„Also gut. Ich mag sie. Bist du jetzt glücklich?“

„Nein, aber es ist ein Anfang.“

Er war die Verkupplungsaktionen gewohnt. Sie gingen immer einher mit nicht gerade subtilen Einladungen. Vermutlich hatte er von all jenen, die mit einem Fluch belegt waren, noch das beste Los gezogen: zu viele Frauen, die bereit waren, ihm alles zu geben, was er sich wünschte. Schade nur, dass das Zusammensein mit ihnen nicht das reparierte, was tatsächlich nicht mit ihm stimmte.

Er stand auf. „Ich habe gesagt, dass ich auf sie aufpassen werde, und das tue ich auch. Aber ich weiß gar nicht, warum du dir Sorgen machst. Wir sind hier in Fool’s Gold. Hier passiert nichts Schlechtes.“ Genau deshalb war er ja auch wieder nach Hause gekommen. Fool’s Gold war der ideale Fluchtort. Gewesen. Denn seit einiger Zeit hatte er das Gefühl, dass seine Vergangenheit ihn einholte.

„Ich möchte, dass Charity glücklich ist“, sagte Marsha. „Ich möchte, dass sie sich in unsere Gemeinschaft einfügt.“

„Je länger du ihr die Wahrheit verschweigst, desto wütender wird sie sein.“

Marsha zog die Mundwinkel nach unten. „Ich weiß. Ich warte auf den richtigen Moment.“

Er ging zu ihr hinüber, bückte sich und küsste sie auf die weiche, faltige Wange. „Den richtigen Moment gibt es nicht, Kleine. Das hast du mir selbst beigebracht.“

Dann richtete er sich auf und ging in Richtung Tür.

„Du könntest sie doch zum Abendessen ausführen“, rief Marsha ihm nach.

„Ja, das könnte ich“, stimmte er ihr im Gehen zu.

Er könnte Charity ausführen und dann was? Binnen weniger Tage hätte sie genug über ihn gehört, um zu glauben, alles zu wissen. Danach würde sie entweder versuchen, herauszufinden, ob an dem Gerede etwas dran war, oder sie würde ihn für klebrigen Abschaum auf dem Teich des Lebens halten. Nach ihren feinen Schuhen und dem konservativen Kleid zu urteilen, schätzte er, dass sie ihn zum Abschaum stecken würde.

Josh durchquerte die Lobby, ohne den gläsernen Kasten auf der Seite zu beachten, in dem das Gelbe Trikot hing, das er während seiner dritten Tour de France gewonnen hatte. Er trat in den sonnigen Morgen hinaus und wünschte sich sofort, er hätte es nicht getan, als er Ethan Hendrix aus seinem Wagen steigen sah. Ethan, der einst sein bester Freund gewesen war.

Ethan bewegte sich leichtfüßig. Nach der langen Zeit war sein Humpeln fast vollständig verschwunden. Bei jedem anderen hätte man es überhaupt nicht wahrgenommen. Aber Ethan war nicht jeder andere. Er war einmal ein hochrangiger Radsportler gewesen. Zu Collegezeiten hatten er und Josh gemeinsam an der Tour de France teilnehmen sollen. Sie hatten viele Stunden gemeinsam trainiert und einander provoziert, indem jeder von sich behauptete, er allein wäre in der Lage, das Rennen zu gewinnen. Nach dem Unfall hatte nur Josh teilgenommen und war zum zweitjüngsten Gewinner in der Geschichte der Tour geworden. Nur Henri Cornet war im Jahr 1904 jünger gewesen – ganze einundzwanzig Tage.

Ethan sah über die Straße, und ihre Blicke trafen sich. Josh wäre gern zu seinem ehemaligen Freund hinübergegangen, um ihm zu sagen, dass genügend Zeit vergangen war und sie beide darüber hinwegkommen mussten. Aber trotz der Nachrichten, die Josh ihm auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, hatte Ethan ihn nicht ein einziges Mal zurückgerufen. Er hatte ihm nie vergeben. Nicht den Unfall – den hatte Ethan selbst verschuldet. Sondern das, was danach geschehen war.

In gewisser Weise konnte Josh ihm das nicht einmal übel nehmen. Schließlich hatte er sich selbst auch nicht vergeben.

Am nächsten Tag packte Charity die kleine Kiste mit ihren persönlichen Dingen aus und stürzte sich anschließend in den Morgen. In einem Brainstorming waren ihr diverse Einfälle gekommen, wie man die Wirtschaft nach Fool’s Gold bringen könnte, und sie wollte sie unbedingt der Bürgermeisterin vorstellen. Nachdem sie ihre Zwischenberichte ausgedruckt hatte, machte sie sich mit dem verschrobenen E-Mail-System der Stadt vertraut und war überrascht, als sie die Bürgermeisterin in ihrer Tür stehen sah.

„Ist es schon halb zwölf?“, fragte Charity, die nicht glauben konnte, wie schnell die Zeit verflogen war.

„Sie wirken beschäftigt“, bemerkte Marsha. „Sollen wir unser Essen lieber verschieben?“

„Natürlich nicht.“ Charity holte ihre Handtasche aus der untersten Schublade ihres Schreibtischs, stand auf und strich sich den maßgeschneiderten Blazer glatt. „Ich bin fertig.“

Sie gingen die breite Treppe hinab und hinaus auf die sonnige Straße.

Das Rathaus lag im Zentrum der Stadt, wo die Gehwege von antik anmutenden Straßenlaternen gesäumt wurden. Hier gab es alte Bäume, einen Friseursalon und ein kleines Café, das mit Milchshakes nach alten Rezepturen warb. Vor den zahlreichen Geschäften wuchsen Tulpen und Krokusse in Blumenkästen.

„Die Stadt ist wirklich hübsch“, sagte Charity, als sie die Straße überquerten und auf das Restaurant an der Ecke zusteuerten. Sie gingen um einen offenen Gullydeckel herum, an dem zwei weibliche städtische Angestellte ihre Gerätschaften aufbauten.

„Aber ruhig“, erwiderte Marsha. „Zu ruhig.“

„Was ein Grund ist, weshalb Sie mich eingestellt haben.“ Charity lächelte. „Damit ich die Wirtschaft und somit Arbeitsstellen herbringe.“

„Ganz genau.“

„Ich habe auch schon einige Ideen“, erzählte Charity ihr. Sie war sich nicht ganz sicher, ob das hier ein Arbeitsessen oder ein Kennenlernessen war.

„Wie viele der Firmen, die Ihnen vorschweben, werden von Männern geführt? Und in wie vielen werden hauptsächlich Männer gebraucht?“

Charity blieb vor dem Restaurant stehen. Sie hatte die Frage der Bürgermeisterin bestimmt falsch verstanden. „Wie bitte?“

Marshas dunkelblaue Augen funkelten heiter. „Ich habe nach Männern gefragt. Aber jetzt kriegen Sie bloß keine Angst. Die Männer sind nicht für mich, sondern für die Stadt. Haben Sie es noch nicht bemerkt?“

Charity schüttelte langsam den Kopf, während sie sich fragte, ob die normalerweise recht kluge Bürgermeisterin sich womöglich den Kopf gestoßen oder fragwürdige Medikamente genommen hatte. „Was bemerkt?“

„Sehen Sie sich mal um“, forderte die Bürgermeisterin sie auf. „Zeigen Sie mir, wo die Männer sind.“

Charity hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.

Langsam sah sie sich auf der Straße um. Sie erblickte die beiden weiblichen Angestellten der Stadt, eine Frau in Briefträgeruniform, die die Post austrug, und eine junge Frau, die ein Ladenfenster anstrich.

„Ich sehe keine.“

„Genau. Fool’s Gold leidet an einem ernsthaften Männermangel. Das ist einer der Gründe, weshalb ich Sie engagiert habe. Damit Sie mehr Männer in unsere Stadt holen.“

2. KAPITEL

Das Restaurant „Fox and Hound“ war wie ein typisch englischer Pub dekoriert. Tiefe Sitzecken, eine lange Bar aus Holz und englische Jagdfotos an der Wand. Es war bestimmt reizend hier, und später, wenn Charity sich besser konzentrieren könnte, würde sie jedes noch so kleine Detail aufsaugen. Aber im Augenblick konnte sie bloß hinter der Bürgermeisterin hergehen, die zu einem ruhigen Tisch am Fenster geführt wurde.

Charity setzte sich der älteren Frau gegenüber und presste die Lippen aufeinander. Sie würde kein Wort sagen, bis Marsha erklärt hätte, was sie meinte.

Marsha ergriff sogleich das Wort. „Das Problem begann schon vor vielen Jahren. Die Männer gingen, um bessere Jobs zu finden, und kamen nie zurück. Das war in meinen besten Jahren, und aus irgendeinem Grund wird es nicht besser. Das Ergebnis der vorläufigen Volkszählung ist eine Katastrophe. Und wenn die tatsächliche Erhebung von 2010 rauskommt, wird das ein Desaster werden – sowohl in der Presse als auch unter der Stadtbevölkerung. Wenn wir nicht anfangen, für unsere jungen Frauen ein paar heiratsfähige Männer herzuschaffen, werden sie ebenfalls gehen, und dann wird die Stadt sterben. Aber das wird nicht passieren, solange ich hier das Sagen habe.“

Die Bürgermeisterin klang kämpferisch und entschlossen.

Charity hatte nach ihrem Wasserglas gegriffen, um Zeit zu gewinnen. Ein Männermangel? War das ein Witz? Teil eines kleinstädtischen Initiationsrituals?

„Es gibt einen Haufen Arbeitsbereiche, die traditionell Männer beschäftigen“, begann sie vorsichtig. „Falls das wirklich Ihr Ernst ist.“

„Mein voller Ernst.“ Marsha beugte sich zu ihr rüber. „Fool’s Gold war eine Goldfieberstadt, die in den Siebzigerjahren des 19. Jahrhunderts gegründet wurde. Es wuchs und florierte, doch als kurz nach der Jahrhundertwende die Goldvorräte erschöpft waren, fingen die Probleme an.“

Eine Kellnerin brachte die Speisekarte. Sie nahm die Getränkebestellung auf und ging wieder.

„Geografisch gesehen sind wir gesegnet“, fuhr Marsha fort. „Das hat uns davor bewahrt, vollständig zu verschwinden. Das ursprüngliche Skigebiet wurde in den Fünfzigerjahren gebaut, die Weinberge westlich von hier sind mindestens sechzig Jahre alt. Bislang können wir uns noch über Wasser halten. Es gibt zahlreiche Dienstleistungsunternehmen und ein paar kleine Betriebe. Ethan Hendrix besitzt eine Baufirma, die sich auf Windkraftanlagen spezialisiert hat. Er bringt also ein paar Männer her, aber das reicht nicht.“

Marsha zuckte die Achseln. „Eigentlich sollte ich begeistert sein, dass er so viele Frauen beschäftigt. Von wegen Gleichberechtigung und so. Aber ich bin es nicht. Die Männer verlassen unsere Stadt, und wir wissen nicht, warum. Liegt es an der Topografie? Oder ist es irgendein Fluch der Eingeborenen? Die Situation gerät außer Kontrolle. Die jungen Frauen in der Stadt haben Schwierigkeiten, Ehemänner zu finden. Und zu allem Überfluss suchen sich die wenigen Männer, die hier leben, ihre Ehefrauen offenbar woanders.“

Charity gab sich alle Mühe, zugleich intelligent und interessiert auszusehen. „Ich verstehe, dass das eine schwierige Situation ist.“ Vom Kopf her verstand sie, dass eine wachsende Bevölkerung für das Überleben einer Stadt essenziell war. Aber ein Männermangel? Im Ernst? „Sind Sie der Sache mit dem Eingeborenenfluch nachgegangen?“, fragte sie, als ihr nichts anderes einfiel.

Marsha lachte. „Die einzigen Indianer, die in den Hügeln lebten, waren nicht die Typen für Flüche. Ich hatte folgenden Gedanken: Wenn wir die Wirtschaft ohnehin zu uns holen, was könnte es dann schaden, sich auf die Zweige mit traditionellen Männerberufen zu konzentrieren? Ingenieurswesen, Hightech, ein zweites Krankenhaus. Natürlich beschäftigen Krankenhäuser eher Frauen, aber wir würden damit viele neue Arbeitsplätze schaffen.“

Genau. Weil Charity ja auch einfach ins Internet gehen und ein Krankenhaus bestellen konnte. Sie atmete scharf ein. Sie brauchte etwas mehr Zeit, um die Informationen zu verarbeiten. Ein Männermangel? So etwas hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gehört. Aber sie konnte es der Bürgermeisterin auch nicht verübeln, dass sie in dem Einstellungsgespräch nichts davon gesagt hatte. Damit hätte sie sich nur die Bewerber vergrault.

„Ich möchte, dass Sie in den nächsten Tagen, während Sie die Stadt kennenlernen, in Gedanken mitzählen. Dann werden Sie selbst sehen, dass es erschreckend wenige Männer gibt. Meine größte Befürchtung ist, dass sich die Sache irgendwie herumspricht. Dass irgendein Reporter Wind davon bekommt und anfängt, über die Stadt zu schreiben.“

„Aber würde ein bisschen Aufmerksamkeit nicht helfen?“

„Diese Stadt ist für uns alle etwas ganz Besonderes. Wir haben kein Interesse daran, als Kuriosität betrachtet zu werden. Wir müssen einfach nur ein neues Gleichgewicht in die Bevölkerung bringen.“

Charity dachte an Josh Golden. Er hatte genügend Strahlkraft für drei Männer. Bürgermeisterin Marsha sollte ihn mit einer der alleinstehenden Frauen verheiraten.

„Das Dilemma hat aber auch einen Vorteil für Sie“, erklärte Marsha ihr mit einem Augenzwinkern. „Da Sie diejenige sind, die den Kontakt zu den Unternehmensbossen herstellen wird, werden Sie auch diejenige sein, die bei den Männern eine Vorauswahl trifft.“

„Ich Glückspilz“, murmelte Charity und war dankbar, dass die Kellnerin zurückkam und ihr Gespräch an dieser Stelle unterbrach. Charity hatte nicht vor, mit ihrer neuen Vorgesetzten über die Details ihres (nicht vorhandenen) Privatlebens zu sprechen. Und es gab auch keinen Grund, zu erwähnen, dass sie im Bereich „Männer“ bisher alles andere als ein gutes Händchen bewiesen hatte.

Zwar vermied sie es, die gleiche Vorliebe für viel zu attraktive Männer zu entwickeln wie ihre Mutter. Aber das garantierte noch lange kein Happy End. Bis dato war Charity gewissermaßen das Paradebeispiel für Liebeskatastrophen.

Als sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, kam eine gut gekleidete Frau mit lockigen Haaren an ihren Tisch. Sie war etwas größer als Charity und strahlte Stil und Sex-Appeal aus.

„Sie sind also die Neue“, sagte die junge Frau, die schätzungsweise Mitte zwanzig war, mit fröhlicher Stimme. „Hi. Ich bin Pia O’Brian, die exklusive Partyplanerin von Fool’s Gold.“

Marsha schüttelte den Kopf. „Eventkoordinatorin. Das klingt viel besser.“

„Für dich vielleicht. Mir gefällt an meinem Job gerade der Partyaspekt.“ Pia grinste Charity an. „Schön, Sie kennenzulernen.“

„Ganz meinerseits.“

„Eigentlich plane ich keine Partys“, gestand Pia. „Ich organisiere das Frühlingsfestival, das Sommerfestival und die Feierlichkeiten um den vierten Juli.“

„Und das Herbstfestival?“, erkundigte sich Charity.

Pia lachte. „Ja, aber das kommt erst nach dem Sommerende-Festival und legt seinen Schwerpunkt auf Bücher. Sie sehen: Wir sind richtige Partylöwen.“

„Offensichtlich.“ Das einzige mit einem Stadtfest vergleichbare Event, an dem Charity je teilgenommen hatte, war ein Basar zu Collegezeiten gewesen. „Ich freue mich schon, bei den Veranstaltungen dabei zu sein.“

„Wenn es nur darum ginge“, erwiderte Pia dramatisch. „Sie und ich müssen unbedingt miteinander sprechen. Ich werde Sie anrufen, um einen Termin mit Ihnen zu vereinbaren.“

„Muss ich nervös sein?“, fragte Charity mit einem Lachen.

„Nein. Keine Sorge. Guten Appetit“, rief sie über ihre Schulter, während sie in Richtung Ausgang davonrauschte.

„Sie ist nett“, meinte Charity. Und sie war fast in ihrem Alter. Vielleicht war Pia eine potenzielle Freundin.

„Nur damit Sie vorgewarnt sind: Pia ist ziemlich vorlaut, und sie vergreift sich gerne mal im Ton.“ Marsha schüttelte den Kopf. „Ach Charity. Sie werden einfach ins kalte Wasser geworfen. Ich hoffe, das ist in Ordnung.“

„Ich war auf der Suche nach einer Herausforderung“, beruhigte Charity sie. Und nach einem Job, der das Gegenteil von dem war, was sie zuvor gemacht hatte. Sie hatte einen unbelasteten Neuanfang gewollt, und der Job in Fool’s Gold hatte genau das versprochen.

„Gut. Ich möchte Sie nämlich nicht schon an Ihrem zweiten Tag vergraulen. Sondern vielleicht erst an Ihrem dritten.“

Charity lachte. „Ich lasse mich nicht so leicht erschrecken. Am Wochenende werde ich mal ein bisschen herumfahren und mir die verschiedenen Wohngegenden ansehen.“

„Haben Sie vor, sich ein Haus zu kaufen?“

„Nicht sofort, aber in ein paar Monaten. Ich möchte sesshaft werden.“ Eine feste Adresse zu haben und an eine Gemeinde gebunden zu sein war schon immer ihr Traum gewesen.

„Es gibt ein paar sehr hübsche Häuser. Auch wenn Sie vielleicht ein bisschen warten sollten, wo doch bald so viele Männer in die Stadt ziehen werden. Sie haben erwähnt, dass Sie alleinstehend sind. Vielleicht begegnen Sie ja Mr. Right?“

„Mhm“, erwiderte Charity und nahm einen Schluck Kaffee. Bürgermeisterin Marsha war wirklich nett, aber nicht gerade besonders feinfühlig.

Und was das Thema „Mr. Right“ betraf – Charity suchte nicht nach dem Perfekten. Sie wollte einfach einen netten Kerl, der sie genauso liebte wie sie ihn. Ach ja, und einen Mann, der Single, ehrlich und treu war. Und das waren leider Charaktereigenschaften, die in der Datingszene nur deprimierend schwer zu finden waren – jedenfalls ihrer Erfahrung nach.

„Falls Ihnen in der Stadt irgendwer ins Auge fällt, fragen Sie mich einfach“, sagte Marsha in dem Moment, als das Essen kam. „Ich kenne hier jeden.“

Wieder rasten Charitys Gedanken zu Josh. Auf fünfzehn Arten umwerfend und auf tausend Arten verheerend, dachte sie grimmig. Vielleicht konnte sie die seltsame Reaktion ihres Körpers nicht ignorieren, die eintrat, wenn sie sich mit ihm im selben Raum aufhielt, aber sie konnte ihr Bestes tun, ihn zu ignorieren. Und das würde sie auch. Selbst in einer so kleinen Stadt wie Fool’s Gold konnte das nicht so schwierig sein.

„Du machst mich wahnsinnig. Das weißt du genau, oder?“

Josh starrte unentwegt auf seinen Monitor, ohne seine Assistentin zu beachten. Darin war er gut. Das kam von der jahrelangen Übung.

Leider war Eddie nicht die Sorte Mensch, die den Hinweis kapierte. „Ich rede mit dir, Josh.“

„Das weiß ich.“ Er löste den Blick von der E-Mail und sah seine knapp über siebzig Jahre alte Assistentin an, die mit in die Hüfte gestemmten Händen neben ihm stand.

Eddie Carberry trug ihre weißen gelockten Haare kurz. Sie legte gern ein kräftiges Make-up auf und bevorzugte Trainingsanzüge aus Velours. Sie besaß für jeden Wochentag einen. Montags war immer der violette dran.

„Die gehen mir auf die Nerven“, verkündete sie. „Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht? Ich weiß, dass du nicht mit ihnen schläfst, also geht es nicht um Sex. Und sag mir nicht, dass du einfach nur nett bist. Du weißt, wie sehr ich das hasse.“ Eddie funkelte ihn an, während sie sprach.

Er wusste, dass er ihren Wutausbruch nicht ernst nehmen musste, genauso wie er wusste, dass sie mit „die“ die drei Mädchen im Collegealter meinte, die ihr im Büro helfen sollten.

„Du hast selbst gesagt, dass du nicht mehr so viel Verantwortung tragen willst“, erwiderte er. „Du hast gesagt, du brauchst Mitarbeiter.“

Eddie verdrehte die Augen. „Ich habe auch gesagt, dass ich wie Demi Moore aussehen will, aber in dieser Richtung unternimmst du nichts. Außerdem sind das keine Mitarbeiterinnen. Sie sind blond und erfüllen jedes Klischee, das mit dieser Haarfarbe einhergeht. Das Einzige, worüber sie reden wollen, bist du.“ Sie verstellte die Stimme. „Josh sieht ja so gut aus“, fuhr sie in einem spöttischen Piepston fort. „Glaubst du, dass er mal mit mir ausgeht?“

Dann sprach sie in ihrer normalen rauen Stimme weiter. „Ich dachte, du hättest alles geklärt, als du sie eingestellt hast.“

Er zuckte zusammen. „Das habe ich auch. In allen Einzelheiten.“

„Dann wirst du es wohl noch einmal tun müssen.“

Anscheinend.

Junge Frauen hatten schon alles gebracht: von nackt und uneingeladen in seinem Bett aufzutauchen bis zu behaupten, schwanger von ihm zu sein – und das alles nur, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er verstand durchaus die Theorie, die dahintersteckte: Wenn sie zu jemandem gehörten, den die Öffentlichkeit als besonders einstufte, waren sie ebenfalls besonders. Ihnen zu sagen, dass ihre Bemühungen reine Zeitverschwendung waren, schien nicht zu fruchten. Deshalb hatte er diesen Sommer Stellen ausgeschrieben. Er hatte gedacht, die Realität des Arbeitsalltags würde ihnen helfen, den Menschen hinter dem Mythos zu sehen. Doch bislang war sein Plan nicht aufgegangen.

„Eine Handvoll Katzen wäre mir eine größere Hilfe“, grummelte Eddie. „Und du weißt, wie ich zu Katzen stehe.“

Allerdings. Sie verachtete jede Kreatur, die es wagte, Haare an einem ihrer geliebten Trainingsanzüge zu hinterlassen.

„Ich werde mit ihnen reden“, versprach er.

„Wenn du klug bist.“ Sie ließ die Arme sinken und ging um seinen Schreibtisch herum. „Der Laden in der Third Street ist vermietet.“

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, als sie sich setzte. „Gut.“ Er hatte seit knapp drei Monaten leer gestanden.

„Der Mietvertrag liegt beim Anwalt. Ich werde ihn später abholen, damit du ihn durchgehen kannst.“ Sie räusperte sich. „Es liegt eine Anfrage für ein Benefizrennen vor.“

„Sag es ab.“

„Es ist für kranke Kinder.“

„So wie meistens.“

„An diesem solltest du teilnehmen.“

Sie versuchte ihn zu provozieren. Aus irgendeinem Grund glaubte Eddie, wenn sie ihn dazu brächte, herumzubrüllen, würde er einlenken.

„Es findet in Florida statt“, fuhr sie fort. „Du könntest Disney World besuchen.“

„Ich war schon mal in Disney World.“

„Du musst hier mal raus, Josh. Wieder aufs Fahrrad. Du kannst nicht …“

„Was gibt es sonst noch?“, schnitt er ihr das Wort ab.

Sie starrte ihn aus zusammengekniffenen Augen an. Er hielt ihrem Blick stand.

Sie blinzelte als Erste. „Na schön. Dann mach halt weiter so.“ Sie seufzte schwer, als sei ihr Leben eine einzige Qual. „Ich bekomme immerzu Anrufe wegen eines Benefiz-Golfturniers. Der Sponsor hat eine Verbindung zu unserem Skigebiet, und sie ziehen in Erwägung, das Event in unserer Stadt durchzuführen.“

Golfen ginge in Ordnung. Das war nicht sein Spezialgebiet, weshalb man von ihm weder erwartete noch verlangte, zu brillieren. Er könnte einfach charmant in die Kameras lächeln, etwas Geld sammeln und fertig.

„Ein Go fürs Golfen.“

„Wenigstens etwas“, grummelte sie. „Die Verkaufszahlen des Sportladens bekomme ich später. Die vorläufigen Zahlen sehen gut aus. Die Flyer haben auf jeden Fall ein paar Kunden angelockt. Und der Internetverkauf läuft auch. Wenn wir jetzt noch an den Fahrrädern, die wir führen, ein Bild von dir anbringen …“

Er ignorierte sie. Was hieß, dass er zur Seite schaute. In genau dem Augenblick ging eine der Blondinen vorbei und nahm an, dass er zur ihr hin anstatt von Eddie wegsah. Die junge Frau lächelte und verlangsamte den Schritt.

Verdammt.

Eddie drehte sich um und erblickte das Mädchen. „Geh wieder an die Arbeit“, sagte sie kurz angebunden. „Hier geht es nicht um dich.“

Das Mädchen zog eine Schnute, befolgte die Anweisung jedoch.

„Habe ich schon gesagt, dass sie mich wahnsinnig machen?“, fragte Eddie.

„Mehr als einmal.“

„Du brauchst eine Freundin. Wenn sie denken, dass du mit jemandem zusammen bist, werden sie sich zurückziehen.“

„Nein, werden sie nicht.“

„Wahrscheinlich nicht“, stimmte sie zu. „Ich schwöre dir, Josh, du hast irgendwas an dir. Überall auf der Welt sehnen sich die Frauen danach, in deinem Bett zu liegen.“

Er zuckte innerlich zusammen. Er wollte diese Unterhaltung nicht mit seiner über siebzigjährigen Assistentin führen.

„Ich schätze, die gute Nachricht ist, dass du schon längst tot wärst, wenn du es so oft getan hättest, wie alle behaupten.“

„Ein erheiternder Gedanke“, erwiderte er trocken.

Eddie stand auf. „Ich komme später mit den Zahlen zurück.“

„Ich zähle schon die Minuten.“

Sie lachte bellend, als sie ging. Josh widmete sich wieder seinem Computer, aber mit den Gedanken war er noch ganz woanders. Die Mädchen in seinem Büro waren sein kleinstes Problem. Was ihn nachts wachhielt, waren nicht die jungen Frauen, die fest davon überzeugt waren, dass er die Antwort auf jedes ihrer Gebete war. Es war das Wissen, dass er ein Schwindler war und es bislang niemand bemerkt zu haben schien.

In den nächsten Tagen arbeitete Charity sich immer besser in ihren Job ein und lernte die restlichen Mitarbeiter kennen. Ihr fiel auf, dass es alles Frauen waren, bis auf Robert Anderson, den Leiter des Finanzressorts.

„Robert ist schon seit fünf Jahren bei uns“, sagte Marsha nach einem Meeting am Mittwoch und entschuldigte sich anschließend, weil sie noch ein Telefonat mit dem Landrat führen musste.

Robert war ein gut aussehender Mann Anfang dreißig. Seine dunklen Augen funkelten amüsiert, als er Charity die Hand schüttelte. „Sie wirken etwas überrascht, mich zu sehen. Liegt das daran, dass ich ein Mann bin? Hat die Bürgermeisterin Ihnen von unserem kleinen Problem erzählt?“

„Ja. Und das muss Sie doch unheimlich beliebt machen.“

Er schmunzelte und bedeutete ihr mit einer Geste, ihm in sein Büro zu folgen, wo sie sich an seinem Schreibtisch gegenübersetzten. „Ich komm damit klar.“

„Wussten Sie um Ihren Vorteil, als Sie den Job angenommen haben?“

Er lachte. „Nein, und ich habe die Lage auch während meiner Einstellungsgespräche nicht erkannt. Ich war auf den Job konzentriert und nicht auf die Umgebung. Nicht besonders aufmerksam, schätze ich. Ungefähr zwei Wochen nach meinem Umzug fiel mir auf, dass viele Frauen vorbeikamen, um mich zu begrüßen.“

Charity hatte nach wie vor Schwierigkeiten, den Männermangel zu fassen. „Dann ist an dem demografischen Problem also wirklich was dran?“

„Das haben Sie sehr feinfühlig ausgedrückt. Ja, es ist was dran. Allerdings habe ich noch nicht den Grund dafür herausgefunden – aber ich denke auch nicht besonders viel darüber nach. Die Männer bleiben nicht. Und es ziehen auch keine her. Der Statistik zufolge kommen in einer durchschnittlichen Bevölkerung mehr Jungs als Mädchen zur Welt. Das Verhältnis ist ungefähr einhundertzehn Jungen zu einhundert Mädchen. Aber es sterben auch mehr Jungen vor ihrem achtzehnten Geburtstag, und in der mittleren Altersklasse gibt es mehr Frauen als Männer. Nur hier ist alles anders. Hier sind die Frauen in jeder Altersklasse in der Überzahl.“

Charity hatte gedacht, der verkokelte Computer und der Anblick von Josh Goldens nacktem Hintern auf dem Bildschirmschoner ihrer Assistentin wären die seltsamsten Vorkommnisse der Woche gewesen.

„Ich bin sprachlos“, gab sie zu. „Und das kommt nicht oft vor.“

Robert lachte. „So schlimm ist es nun auch wieder nicht.“

„Für Sie nicht. Sie sind nicht nur eins der wenigen kostbaren Männerexemplare, sondern Sie wurden zudem nicht angewiesen, mehr Branchen in die Stadt zu holen, die vorwiegend Männer beschäftigen.“

Sein Lachen ging in ein Zusammenzucken über. „Das hat Marsha gesagt?“

„Ja. Daran gab es nichts misszuverstehen.“ Sie blickte auf Roberts linke Hand. „Hmm, ich sehe gar keinen Ehering. Warum erfüllen Sie nicht Ihre Pflicht der Stadt gegenüber und heiraten?“

Er hob entschuldigend die Hände. „Ich hab’s versucht. Ich war verlobt. Aber als wir merkten, dass unsere Vorstellungen vom Familienleben stark voneinander abweichen, haben wir die Verlobung gelöst. Ich wollte Kinder, sie nicht. Sie ist nach Sacramento gezogen.“

„Eine Singlefrau weniger, um die wir uns Gedanken machen müssen“, murmelte Charity, während sie sich fragte, ob gleich irgendein Fernsehmoderator aus dem Schrank springen würde, um ihr mitzuteilen, dass sie einem perfekt eingefädelten Streich aufgesessen war. So ungern sie eine solche Demütigung über sich ergehen lassen würde, wäre es ihr doch sehr lieb, wenn die Bürgermeisterin sie mit dieser Männersache nur auf den Arm genommen hätte. Doch so viel Glück war ihr wohl nicht beschieden.

Im nächsten Augenblick wurde ihr klar, dass ihre Reaktion auf Roberts Schilderung mehr als unsensibel gewesen war. „Moment. Das wollte ich so nicht sagen. Tut mir leid, dass es mit Ihrer Verlobten nicht geklappt hat.“

Er zuckte die Achseln. „Es ist schon eine Weile her. Inzwischen treffe ich mich wieder mit anderen Frauen.“

„Die stehen doch sicher jubelnd an der Straße, oder?“

„Letzte Woche gab es sogar eine Parade.“

„Schade, dass ich das verpasst habe. Ich habe vor einigen Tagen Pia O’Brian kennengelernt. Scheint so, als gäbe es in Fool’s Gold eine Menge Paraden.“

„Festivals“, korrigierte er. „Genau unser Ding. Fast jeden Monat findet eines statt. Die Festivals ziehen Touristen an, und die Einheimischen scheinen den Trubel zu lieben. Leben Sie zum ersten Mal in einer Kleinstadt?“

Sie nickte. „Ich bin vor allem in großen Vororten aufgewachsen, was bei Weitem nicht dasselbe ist. Ich freue mich schon auf die Veränderung.“

„Machen Sie sich darauf gefasst, dass jeder alles von jedem weiß. Hier gibt es keine Geheimnisse. Ich bin in einem Ort wie diesem aufgewachsen. Ich möchte gar nicht in einer Großstadt leben.“ Er beugte sich zu ihr hinüber. „Wir sollten mal zusammen Mittagessen gehen. Dann könnte ich Sie in die Schrullen einer Kleinstadt einweihen.“

Robert ist nett, dachte sie, als sie ihm in die dunklen Augen sah. Und intelligent. Und Humor hat er auch. „Ja, das wäre nett.“

Sie hielt inne. Sie hoffte auf ein leises Gefühl der Vorfreude – ein Zittern oder irgendeine andere körperliche Reaktion. Irgendetwas.

Nichts, dachte sie seufzend und bemühte sich, nicht an ihre erstaunliche Reaktion auf Josh Golden zu denken. Es hatte sich angefühlt, als hätte sie einen zu niedrigen Blutzuckerspiegel. Oder als hätte sie zu viel Kaffee getrunken und zu wenig geschlafen. Trotzdem, Robert wäre eine wesentlich bessere Wahl.

Sie wollte sich gerade entschuldigen, als ihr ein Plastikspielzeug ins Auge fiel, das auf Roberts Schreibtisch stand. Es war eine Wackelkopffigur, deren übergroßer Kopf ihr seltsam bekannt vorkam.

„Ist das …“

„Josh Golden“, sagte Robert. „Haben Sie ihn schon kennengelernt?“

„Ähm, ja.“ Der Mann hatte seine eigenen Wackelkopffiguren?

„Was halten Sie von ihm?“ Robert sprach in einem beiläufigen Ton, aber Charity konnte sehen, wie es in seinen Augen blitzte.

„Ich hatte noch gar keine Zeit, mir eine Meinung zu bilden“, erwiderte sie und redete sich ein, dass es fast der Wahrheit entsprach. Wenn man nicht atmen konnte, funktionierten die Gehirnzellen schließlich wesentlich schlechter.

„Er ist ziemlich berühmt. Ein Radfahrer. Tour de France und so.“

„Ich bin kein großer Sportfan“, gestand sie. „Warum ist er hier und fährt nicht bei irgendwelchen Rennen mit?“

„Er hat vor einer Weile aufgehört. Die Frauen hier sind verrückt nach ihm. Man sagt, er sei ein echter Ladykiller. Wahrscheinlich werden Sie sich auch noch in ihn vergucken.“

Charity starrte Robert an. „Wie bitte?“

„Es ist unvermeidlich. Keine Frau kann ihm widerstehen.“

Wenn das mal keine Herausforderung ist, dachte sie leicht verärgert. „Es muss doch wenigstens eine geben, die ihm mal einen Korb gegeben hat.“

„Wenn dem so ist, habe ich noch nie von ihr gehört. Aber Josh geht es nur um die Jagd. Mehr nicht.“

Allmählich verlor sie den Spaß an dieser Unterhaltung. „Soll das eine Warnung sein?“

„Nein. Ich … äh …“ Er sah ihr fest in die Augen. „Ich fänd es nur schön, wenn Sie anders wären, Charity.“

Sein Blick war voller Wärme, und das fühlte sich gut an. Sie lächelte.

„Ich werde mein Bestes geben“, sagte sie. „Ich bin wirklich nicht gerade ein Groupietyp.“

„Gut.“

Sie stand auf. „Ich muss mich wieder an die Arbeit machen. Es war schön, Sie kennenzulernen.“

Er erhob sich ebenfalls. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite.“

Was für ein netter Mann, dachte sie, als sie ging. Oberflächlich betrachtet war er alles, wonach sie suchte. Natürlich hätte man die wenigen Männer, mit denen sie bisher ihr Leben geteilt hatte, mit den gleichen Worten beschreiben können. Aber sie waren allesamt Katastrophen gewesen.

Ich bin nicht nach Fool’s Gold gekommen, um mich zu verlieben, erinnerte sie sich. Sondern wegen des Jobs und um hier sesshaft zu werden. Auch wenn es wirklich schön wäre, sich in den Richtigen zu verlieben und zu heiraten. Eine eigene Familie war immer Teil ihres Traums gewesen.

Ich habe ja noch Zeit, dachte sie auf dem Weg zurück in ihr Büro. Robert verursachte bei ihr vielleicht keine Herzrhythmusstörungen, aber das konnte nur gut sein. Sie hatte ihre Lektion schon mehr als einmal gelernt. Wenn es um ihr Privatleben ging, würde sie extrem vernünftig sein. Vernünftig und besonnen. Alles andere würde ihr nur wieder um die Ohren fliegen – das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Die restliche Woche verlief relativ ruhig. Charity traf noch mehr Mitglieder des Stadtrats – alles Frauen – und machte sich mit den laufenden Entwicklungsprojekten vertraut. Sheryl ging fast jeden Tag um halb fünf, aber Charity arbeitete länger. Am Donnerstag blieb sie bis kurz vor sieben – bis ihr Magen so laut knurrte, dass sie sich nicht länger konzentrieren konnte. Sie sah aus dem Fenster und stellte überrascht fest, dass es dunkel war.

Nachdem sie ihren nagelneuen Computer heruntergefahren hatte, nahm sie ihre Handtasche und eine Aktentasche mit Unterlagen, die sie nach dem Abendessen noch durchgehen wollte, und ging.

In dem Gebäude war es unheimlich still. Schnell ging sie hinaus auf die Straße, wo sie von einer kühlen Brise empfangen wurde, die in ihr den Wunsch nach einem dickeren Mantel weckte. Der kälteste Wintertag in Henderson, einem Vorort von Las Vegas, war wärmer gewesen als dieser Frühlingsabend in den Ausläufern der Sierra Nevada.

Zum Glück lag das Hotel nur wenige Blocks entfernt. Charity ging eilig den Gehweg entlang. Als sie die Ecke erreicht hatte, sah sie einen alten Mann, der die Stufen des Buchladens wischte, den sie in der Mittagspause besucht hatte. Er nickte ihr zu und hielt dann inne.

„Ich kenne Sie gar nicht“, sagte er und sah sie im Licht der Straßenlaterne an. „Nicht wahr?“

Sein Ton klang freundlich. Sie lächelte.

„Ich bin Charity Jones, die neue Stadtplanerin.“

„Tatsächlich? Was Sind sie doch für ein hübsches kleines Ding. Alle jungen Ladys sind hübsch, selbst diejenigen, die gar nicht hübsch sind.“ Er lachte in sich hinein und hustete dann. „Ich bin Morgan. Einfach nur Morgan. Der Buchladen gehört mir.“

„Oh. Er ist wunderschön. Ich habe schon zweimal etwas bei Ihnen gekauft.“

„Da muss ich Sie wohl verpasst haben. Beim nächsten Mal plaudern wir ein bisschen. Sie erzählen mir, was Sie gerne lesen, und ich werde dafür sorgen, dass ich es in meinem Sortiment habe.“

Der Service einer Kleinstadt, dachte sie erfreut. „Danke. Das ist sehr nett.“

„Ist mir ein Vergnügen. Sie wissen, wie Sie nach Hause kommen?“

„Ich wohne im Ronan’s Lodge.“

„Das ist nur zwei Blocks weiter. Ich bleibe hier stehen, bis Sie da sind. Winken Sie mir einfach kurz zu, wenn Sie an der Treppe angekommen sind.“

Sein Angebot kam unerwartet. Sie hatte keine Angst, dass ihr auf dem kurzen Weg zum Hotel irgendetwas zustoßen könnte, aber es tat gut zu wissen, dass jemand mitbekäme, falls doch.

„Danke“, sagte sie noch mal. „Sie sind wirklich sehr freundlich.“

Er zwinkerte ihr zu. „Man hat schon vieles zu mir gesagt, Charity, aber freundlich nehme ich gerne an. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.“

„Danke.“

Sie legte das kurze Stück zum Hotel zurück. An der Treppe angekommen, die zur Lobby führte, drehte sie sich um. Morgan beobachtete sie. Sie winkte ihm zu, und er hob seinerseits den Arm. Dann machte er sich wieder ans Wischen.

Hier werde ich mich wohlfühlen, beschloss sie. Jeder Ort hatte seine Marotten, aber in Fool’s Gold gab es auch viel Gutes.

Sie hielt kurz inne, bevor sie die Doppeltür des Hotels aufdrückte. Sie war groß und mit vielen Schnitzereien verziert, die offensichtlich aus einer anderen Ära stammten.

Ronan’s Lodge, auch bekannt als Ronan’s Folly, war ein großes Hotel am Rande des Sees. Es war zu Zeiten gebaut worden, als das Gold genauso geflossen war wie die Flüsse, aus denen die Menschen es geschürft hatten. Ronan McGee, ein irischer Einwanderer, war in den Westen gekommen, um hier ein Vermögen zu machen, und hatte dann einen Großteil seiner Einnahmen in die Errichtung des Hotels gesteckt.

Als Charity das letzte Mal in der Stadt gewesen war, hatte sie seine Geschichte gelesen. Sie hatte in der Nacht vor ihrem Bewerbungsgespräch nicht schlafen können und sämtliche Touristenbroschüren in ihrem Zimmer studiert.

Als sie nun die große Lobby mit den reich verzierten Holzpaneelen an den Wänden und dem massiven Kronleuchter aus irischem Kristallglas betrat, hatte sie das Gefühl, nach Hause zu kommen. Irgendwann würde sie sich ein Haus kaufen und sich in Fool’s Gold niederlassen, aber bis dahin war Ronan’s Lodge das ideale Übergangszuhause.

Sie ging an der Rezeption vorbei und auf die geschwungene Treppe zu, die zum ersten Stockwerk führte. Von dort wand sich eine schmalere Treppe bis zur zweiten Etage, auf der ihre kleine Suite lag.

Sie hatte gerade die Hand auf das Geländer gelegt und noch nicht mal die erste Stufe genommen, als jemand etwas sagte. Die Stimme kam von hinter ihr und sagte nur ein einziges Wort.

„Hallo.“

Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer da sprach. Sie brauchte nur dazustehen und zu fühlen, wie ihr Herz unkontrolliert zu rasen anfing, während eine unbeschreibliche Hitze sie durchflutete.

Ihre Woche hatte mit einem unangekündigten Auftritt von Josh Golden begonnen, und offensichtlich würde sie auch damit enden. Die einzige Frage, die in ihrem Kopf herumspukte, als sie sich dafür rüstete, sich umzudrehen und ihm ins Gesicht zu sehen, war, warum von allen Männern auf der Welt es ausgerechnet er sein musste.

3. KAPITEL

Charity drehte sich um und sah Josh in der Lobby stehen. Er war genauso groß, wie sie es in Erinnerung hatte, und seine zerzausten Haare sahen in dem schmeichelhaften Licht eher golden als blond aus. Als er sie locker anlächelte, bildeten sich um seine braungrünen Augen feine Fältchen. Er war wahrscheinlich der bestaussehende Mann, dem sie je persönlich begegnet war. Und, na ja, vor wenigen Stunden hatte sie schon wieder seinen nackten Hintern gesehen. Was es nicht gerade leichter machte, sich zu konzentrieren.

„Ich bin Josh“, sagte er. „Wir sind uns im Büro der Bürgermeisterin begegnet.“

Beinahe hätte sie sich an einem Lacher verschluckt. Als ob sie das vergessen könnte. „Ja“, erwiderte sie und hoffte, ruhig und von seiner Gegenwart unbeeindruckt zu klingen. „Anfang der Woche. Sie haben mein Meeting übernommen und den Deal besiegelt. Ich erinnere mich.“

„Sie sind deswegen doch nicht sauer, oder?“

Sie war vieles – verwirrt, weil ihr Körper auf ihn so reagierte, wie er reagierte. Verärgert, weil er Zugang zu Informationen hatte, an die sie nicht herangekommen war, und bei der Präsentation deshalb einen besseren Job gemacht hatte als sie. Hungrig und müde. Aber nicht sauer.

„Schon in Ordnung“, versicherte sie. „Wir mussten die Universität dazu bringen, zu unterschreiben, und genau das haben wir geschafft. Ich sollte Ihnen vermutlich dankbar sein.“

Sie machte eine Pause in der Hoffnung, dass er sich entschuldigen würde, um sich wieder der Sache – oder Person – zu widmen, wegen der er ins Hotel gekommen war. Stattdessen sah er sie weiter an.

Sie versuchte seinen Blick weder zu spüren noch darauf zu reagieren. Aber das gestaltete sich schwieriger als erhofft.

Nachdem sie einander mehrere Sekunden lang angestarrt hatten, sagte sie: „Ich möchte Sie nicht von Ihrem Abend abhalten.“

„Das tun Sie nicht.“ Er deutete auf die Treppe. „Wollen wir?“

„Wollen wir was?“

„Hochgehen. Wir sind Nachbarn. Sie wohnen in der 301 und ich in der 303.“

Er legte ihr die Hand auf den unteren Rücken, als wollte er sie die Stufen hinaufführen. Instinktiv gab sie dem Druck nach, weigerte sich jedoch, sich einzugestehen, dass Blitze kreuz und quer durch ihren Körper zuckten. Von jedem seiner Finger ging eine unsägliche Hitze aus – eine Hitze, die in ihr die Sehnsucht nach nackter Haut auf nackter Haut, einem unbenutzten Besenschrank und fünfzehn ungestörten Minuten mit Josh weckte.

Blutzucker, erinnerte sie sich. Mein Blutzuckerspiegel ist zu niedrig.

„Warum leben Sie in einem Hotel?“, fragte sie, vor allem um sich abzulenken.

„Warum nicht? Es liegt zentral, es gibt einen Zimmerservice, und ich muss morgens mein Bett nicht selbst machen.“

„Der ultimative Weg, fürs eigene Leben keine Verantwortung zu übernehmen?“, platzte es aus ihr heraus, und im nächsten Moment wünschte sie sich, sie hätte den Mund gehalten.

Doch statt wütend zu werden, lachte Josh. Es war ein leises, sexy Lachen, das ihr eine Gänsehaut verursachte.

„Weil Verantwortung übernehmen der Gipfel der Perfektion ist?“

„Es ist ein Zeichen von Reife.“

„Eine weit überschätzte Qualität.“

Für dich vielleicht, dachte sie missmutig. Sie hatte schon mit neun oder zehn Jahren anfangen müssen, auf sich selbst aufzupassen. Sie hatte immer die anderen beneidet, die ein sorgloses Leben führen konnten. Jene, die wussten, dass andere sich um sie kümmerten. Das war für sie unmöglich gewesen. Ihre Mutter war der Freigeist der Familie gewesen. Sie hatte Charity oft sich selbst überlassen, um ihr Leben so unkompliziert wie möglich zu gestalten.

Charity hatte ihre Mutter immer geliebt, aber sie hatte sich auch oft gewünscht, sie wäre in vielerlei Hinsicht anders. Natürlich war es lustig, eine Mutter zu haben, die nie sagte, man solle zur Schule gehen oder Hausaufgaben machen. Aber es gab auch Zeiten, in denen sich ein Kind nach Strukturen und Regeln sehnte. Charity hatte gelernt, selbst dafür zu sorgen.

Sie erreichten die zweite Etage. Charity eilte voraus, um so schnell wie möglich zu ihrem Zimmer zu kommen und darin zu verschwinden. Aber irgendwie gelang es ihm, sie zu überholen und sich gegen ihre Tür zu lehnen.

„Wir sollten bei Gelegenheit mal was zusammen trinken gehen“, schlug er vor, während sich sein braungrüner Blick so tief in ihre Augen bohrte, dass jede ihrer Zellen aufgeregt seufzte.

„Ich bin mir nicht sicher, ob es gut ist, Zeit mit einem Mann zu verbringen, der freudestrahlend verkündet, dass er unreif und verantwortungslos ist.“

Wieder das leise, tiefe Lachen. „So schlimm bin ich gar nicht.“

„Ach nein?“

Er drehte sich langsam um die eigene Achse. „Sehen Sie. Ich bin ganz normal. Praktisch langweilig.“

Er war vieles, aber auf keinen Fall langweilig.

Noch ehe sie ihn darauf hinweisen konnte, ging seine Tür auf. Eine hübsche Blondine, die nichts trug als eines seiner Hemden, sah ihn an.

„Hallo, Josh. Ich meinte, deine Stimme gehört zu haben.“

Josh erstarrte. Charity nutzte die Gelegenheit, um in ihr Zimmer zu schlüpfen und die Tür hinter sich abzuschließen. Einige Sekunden lang stand sie einfach nur gegen die Wand gelehnt, erst dann beugte sie sich vor und schaltete eine Lampe ein.

Als das Licht das kleine, aber stilvoll möblierte Wohnzimmer erhellte, ignorierte sie das Gefühl der Niederlage, das sich wie ein Stein in ihren Magen gelegt hatte. Im Grunde war sie nicht einmal überrascht. Natürlich wartete bei einem Mann wie Josh eine Frau im Zimmer. Vermutlich kamen sie in Schichten. Nach allem, was sie wusste, liebte er die Frauen, und die Frauen liebten ihn.

Sie straffte die Schultern. Auch wenn sie die Reaktion ihres Körpers auf seine Nähe nicht kontrollieren konnte, so konnte sie sehr wohl kontrollieren, was sie daraus machte – nämlich gar nichts.

Am Freitag fühlte Charity sich in dem alten Rathausgebäude schon wohler, und inzwischen kannte sie die Namen der meisten Mitarbeiter.

Ihr Elfuhrtermin war ein Meeting mit Pia O’Brien. Darauf hatte sie sich schon gefreut, seit Sheryl es in ihren Kalender eingetragen hatte.

Pia traf pünktlich ein. Die braunen Locken fielen ihr weit über die Schultern, und das gut geschnittene Kostüm, das sie trug, betonte ihre langen Beine.

„Und, wie kommen Sie hier zurecht?“, erkundigte Pia sich, als Charity sie zu dem kleinen Konferenztisch am Fenster führte. „Stehen Sie schon kurz davor, schreiend zurück in die Großstadt zu laufen?“

„Es gefällt mir hier. Das Kleinstadtleben passt zu mir.“

„Das sagen Sie jetzt“, frotzelte Pia. Sie legte einen Stapel Akten auf den Tisch. „Warten Sie ein paar Monate ab, bis Sie merken, dass jeder in der Stadt alles über Sie weiß und sich niemand scheut, darüber zu reden.“

Charity lachte. „Mein Leben ist gar nicht so interessant. Warum sollte sich irgendwer was daraus machen?“

„Sie sind neu hier und bieten den Ladys dieser Stadt Zunder für frischen Klatsch und Tratsch. Denken Sie immer daran: Es gibt keine Geheimnisse. Jedenfalls nicht für lange Zeit.“

„Danke für die Warnung.“ Sie warf einen Blick auf die Akten. „Leichte Kost?“

„Ich würde Ihnen gern sagen, dass die Lektüre Sie nicht einschläfern wird, aber garantieren kann ich es leider nicht.“ Pia tippte auf den Stapel. „Da drin sind die Kosten der Festivals, Feiern und sonstigen Vergnügungsaktionen unserer Bürger der letzten zwei Jahre zusammengefasst. Die Parade zum vierten Juli, die Fantastische Weihnachtsnacht und Ähnliches. Die seit jeher beliebten Goldfiebertage. Wenn es Stände braucht und in Fool’s Gold stattfindet, bin ich höchstwahrscheinlich involviert – oder stehe wenigstens mit meinem Rat zur Seite. Falls Sie also jemals zweitausend Klappstühle zu einem sensationell günstigen Preis brauchen, wenden Sie sich zuerst an mich.“

„Ich hoffe, dass es dazu niemals kommen wird“, murmelte Charity.

„Keine große Hochzeit geplant?“

„Ich hab gar keinen Freund.“

„Ich auch nicht.“

„Ich bin neu in der Stadt“, meinte Charity. „Und was ist Ihre Ausrede?“ Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die hübsche und aufgeschlossene Pia keinen Mann hatte.

„Ein eklatanter Männermangel“, erwiderte Pia fröhlich. „Marsha hat Ihnen sicher schon gesagt, dass Sie sich auf Wirtschaftszweige konzentrieren müssen, in denen vor allem Männer arbeiten. Das Letzte, was wir hier brauchen, ist eine Kosmetikerinnenschule. Ich tue mein Bestes mit auf Männer zugeschnittenen Events. Golfturniere, Autoshows und so weiter.“ Pia klang nicht nur ernst, sie sah auch so aus.

Charity musste dennoch lachen. „Ich weiß, dass das ein ernsthaftes Problem ist, aber Sie müssen zugeben, dass es wirklich skurril klingt.“

„Was Sie nicht sagen. In meiner Abschlussklasse an der Highschool waren zehn Prozent mehr Mädchen als Jungs. Das hat den Abschlussball zu einer echt faden Veranstaltung gemacht.“

„Aber Sie sind bestimmt nicht ohne Begleitung gegangen.“

Pia zuckte die Achseln. „Nein, aber ein paar meiner Freundinnen mussten für den Ball Jungs importieren. Wirklich sehr erniedrigend.“

„Sie sind hier aufgewachsen?“

Pia zögerte und nickte dann. „Geboren und groß geworden. In der dritten Generation. Oder in der vierten? Ich kann mir das nie merken. Meine Eltern sind vor Jahren weggezogen, aber ich bin geblieben. Ich bin die letzte O’Brian in Fool’s Gold.“ Sie grinste. „Das bedeutet eine große Verantwortung.“

„Ganz offensichtlich.“ Charity beugte sich zu ihr hinüber. „Das ganze Leben hier zu verbringen muss großartig sein. Ich bin als Kind ständig umgezogen. Meine Mom hatte keine Lust, sich irgendwo niederzulassen, aber ich habe von nichts anderem geträumt als davon, einen Ort in- und auswendig zu kennen und Wurzeln zu schlagen. Sie sind ein Glückskind.“

In Pias Augen flackerte etwas auf. „Der Nachteil ist, dass es hier keine Geheimnisse gibt. Jeder weiß alles von einem. Manchmal denke ich, es wäre schön, die Straße entlangzugehen, ohne dass jemand weiß, wer ich bin.“

„Dabei kann man sich aber auch sehr einsam fühlen.“

„Genau wie in einer Kleinstadt.“ Pia schüttelte den Kopf. „So, genug herumphilosophiert. Lassen Sie uns wieder zum Geschäftlichen kommen. Ich habe Ihnen den Festivalplan für das laufende Jahr mitgebracht, damit Sie einmal drüberschauen können. Je nachdem, um die Gunst welcher Branchen Sie buhlen, möchten Sie ja vielleicht ein paar Geschäftsführer und ihre Familien einladen, das Kleinstadtleben kennenzulernen. Oder noch besser: alleinstehende, männliche Geschäftsführer. Während unserer Festivals zeigen wir uns von unserer Schokoladenseite. Freundlich und geschniegelt.“

Charity scannte die Liste. „Wann ist die Stadt denn nicht geschniegelt? Hier gibt es ja fast jeden Monat ein Event.“

„Und die Auflistung ist nicht mal vollständig“, fuhr Pia fort. „Wir sind zudem Gastgeber zahlreicher Wohltätigkeitsveranstaltungen. Eigentlich wollten wir auch ein Radrennen veranstalten, aber das wird ständig verschoben.“

Ein Radrennen? Ein Wettkampf aus Josh Goldens Territorium? Charity erwog kurz, nachzufragen, fürchtete jedoch, Pia könnte die Frage als Interesse werten.

„Außerdem gibt es noch Benefiz-Golfturniere“, erzählte Pia weiter. „Wir haben einen hervorragenden Golfplatz. Eigentlich sogar mehrere, aber der Profiplatz ist namhaft. Fragen Sie mich nicht, warum – ich golfe nämlich nicht. Und ich stehe auch nicht auf die Stars. Die sind mir viel zu pflegeintensiv.“

„Gut zu wissen“, murmelte Charity. „Dann werden Sie dort also nicht nach einem Ehemann Ausschau halten.“

Pia lachte. „Ich bin mir gar nicht sicher, ob ich der Hochzeitstyp bin. Ich weiß ja nicht mal, ob ich Kinder will. Ich befinde mich immer noch in der Lebensphase, in der ich froh bin, wenn meine Pflanzen überleben. Als Nächstes werde ich mir vielleicht ein Haustier anschaffen.“

„Wenigstens haben Sie einen Plan.“

„Ich werde Sie wissen lassen, ob ich damit Erfolg habe.“

Sie gingen den Festivalplan bis zum Ende durch. Charity versprach, sich die Unterlagen anzusehen und sich bei Pia zu melden, wenn sie Fragen hätte.

Pia nahm ihre Handtasche und den Aktenkoffer und stand auf. „Ich freue mich, dass Sie den Job genommen haben, Charity. Ich weiß, dass Sie Marshas erste Wahl waren. Und das will was heißen. Nummer zwei und drei waren nämlich alleinstehende Männer.“

„Dann bin ich umso dankbarer.“

„Das sollten Sie auch.“ Pia lachte. „Es gibt hier übrigens ein paar Frauen, die sich zweimal im Monat treffen. So ’ne Art Mädchenabend. Soll ich Sie anrufen, wenn es das nächste Mal so weit ist?“

„Ja. Danke. Das wäre schön.“

„Dann bleiben wir in Kontakt.“ Pia winkte und ging.

Charity wandte sich wieder ihrem Schreibtisch mit dem Aktenberg zu, den sie an diesem Abend zur Durchsicht mit nach Hause nehmen wollte. Bisher hatte ihr Job sie derart in Anspruch genommen, dass sie noch nicht mal dazu gekommen war, den Fernseher in ihrem Hotelzimmer einzuschalten. Das war vermutlich gar nicht so schlecht. Auch wenn es durchaus nett wäre, so was wie ein Sozialleben zu haben.

Statt an Robert zu denken, diesen erfreulich normalen Singlemann, wanderten ihre Gedanken sofort zu Josh. Zu dem Mann, der sie angegraben hatte, während seine Nachtbespaßung in seinem Zimmer auf ihn wartete. Schäbiger ging es kaum.

Wenigstens versprach dieser Mädchenabend ein paar lustige Stunden und die Möglichkeit, in der Stadt Freunde zu finden. Am Wochenende könnte sie mit der Erkundung der Gegend anfangen und sich vielleicht informieren, ob an der hiesigen Volkshochschule Koch- oder Strickkurse angeboten wurden. Sie musste mehr unter Leute kommen.

Sie machte in ihrem Kalender einen Vermerk, sich ein Veranstaltungsprogramm zu besorgen, und widmete sich dann ihrem Computer. Aber noch ehe sie ihre E-Mails lesen konnte, klopfte es an der geöffneten Tür.

Charity blickte auf und sah eine Frau in den Vierzigern, die eine dunkelblaue Polizeiuniform trug.

„Alice Barns“, sagte sie. Sie trat ein, kam zum Schreibtisch herüber und schüttelte Charity fest die Hand. „Polizeichefin von Fool’s Gold. Ich dachte mir, ich stelle mich am besten persönlich vor.“

Charity wies auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs. „Das freut mich. Schön, Sie kennenzulernen.“ Sie neigte den Kopf zur Seite und lächelte. „Wie soll ich Sie ansprechen?“

Die andere Frau grinste. „Vor der Presse oder vor meinen Leuten Chief Barns. Und Alice, wenn wir unter uns sind.“

„Gut zu wissen.“

„Haben Sie sich schon eingelebt?“

„Es war eine hektische Woche mit einem Haufen Informationen. Aber bislang liebe ich diese Stadt.“

„Hier lebt es sich wirklich gut“, sagte Alice. „Die Kriminalitätsrate ist verschwindend gering. Hier und da mal ein paar Teenager, die sich für gescheiter halten, als sie sind. Die gewöhnlichen Einbrüche in Ferienhäuser. Touristen, die zu schnell fahren. Nichts, was meine Einheit nicht schaffen würde.“ Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum. „Womöglich gibt es einen neuen Obdachlosen in der Stadt.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Irgendwer stiehlt in den Lebensmittelläden. Vor allem Snacks und Fertiggerichte. Und ein paar Hygieneartikel. Nichts, was Anlass zur Sorge gäbe. Wir werden herausfinden, wer dahintersteckt, und dem Diebstahl einen Riegel vorschieben.“

Zwar hasste Charity die Vorstellung, dass jemand Hunger leiden musste, aber sie verstand auch, dass die hiesigen Geschäfte keine Diebe sponsern wollten.

„Haben Sie vor, die Stadt ein bisschen zu erkunden?“, fragte Alice.

„Ja. Ich möchte gern die Gegend kennenlernen.“

„Gute Idee. Aber vor einer Sache muss ich Sie warnen: Die stillgelegten Minen sind gefährlich. Gehen Sie bloß nicht um die Absperrung herum, um darin herumzukraxeln.“

„Ich bin kein großer Fan vom Kraxeln“, beruhigte Charity sie.

„Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, wie viele Leute das schon versucht haben. Sie finden so eine alte, gefährliche Mine irgendwie romantisch. Wenn es nach mir ginge, würden wir sie ihrem Schicksal überlassen und der natürlichen Auslese freien Lauf lassen. Aber Bürgermeisterin Marsha findet, dass wir nett zu den Touristen sein müssen – ganz gleich, wie dämlich sie sind.“

Charity konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Alice’ Lippen zuckten.

„Auch wenn ich das der Bürgermeisterin gegenüber nicht so sagen würde“, murmelte sie.

„Ist wahrscheinlich auch besser.“

Alice stand auf. „Tja, das ist alles. Bei Alkohol am Steuer verstehen wir keinen Spaß, aber da Sie ohnehin nicht der Typ sind, der angetrunken Auto fährt, erspare ich Ihnen den Vortrag.“

Charity erhob sich und ging um den Schreibtisch herum zu Chief Barns. „Woher wollen Sie wissen, dass ich so was nicht mache?“

„Irre ich mich denn?“

„Nein, aber Sie klingen so überzeugt.“

„Ich kann andere ziemlich gut einschätzen.“

Sie gingen gemeinsam hinaus.

Im Erdgeschoss schüttelte Chief Barns ihr erneut die Hand.

„Wenn Sie Probleme haben, wenden Sie sich einfach an mich oder meine Mitarbeiter. Bürgermeisterin Marsha ist schwer beeindruckt von Ihnen und Ihrer Arbeit, und das reicht mir vollkommen.“

Charity merkte, wie sie bei dem Kompliment leicht errötete. „Danke. Aber ich werde mir natürlich Mühe geben, nicht in Schwierigkeiten zu geraten.“

„Das weiß ich.“

Die Polizeichefin setzte ihre blaue Kappe auf und ging hinaus auf den Gehweg. Charity sah ihr nach. Sie hatte mit ihrer Bemerkung über die Schwierigkeiten einen Witz machen wollen, aber Alice hatte sie ernst genommen. Als wüsste sie, dass Charity immer das Richtige tat. Und so war es ja auch.

Aber war das etwa schlecht? Sie hatte noch nie daran geglaubt, dass böse Mädchen mehr Spaß hatten.

„Hat Alice versucht, Ihnen Angst zu machen?“

Sie drehte sich um und sah Robert die Treppe herunterkommen.

„Ich fand sie nett.“

„Warten Sie, bis sie Sie wegen zu schnellen Fahrens anhält. Sie kann andere ganz schön einschüchtern. Sie hat drei Söhne, die alle im Footballteam der Highschool spielen. Sie sind um einiges größer als ihre Mutter, aber ich schwöre Ihnen, dass sie in ihrer Gegenwart alle zittern.“

Charity kicherte. „Das könnte eher mit der mütterlichen als mit der polizeilichen Macht zu tun haben.“

„Wahrscheinlich haben Sie recht.“ Er machte eine Pause. „Dieses Wochenende fahre ich nach San Francisco, um mich mit Freunden zu treffen. Aber ich wollte fragen, ob Sie am nächsten Wochenende Zeit haben, mit mir essen zu gehen?“

Ein Abendessen mit Robert. Das klang … nett.

„Ja, das wäre schön“, erwiderte sie.

„Toll. Den Tag und die Uhrzeit können wir ja in der nächsten Woche festmachen.“ Er schaute auf die Uhr. „Wenn ich noch rechtzeitig in San Francisco ankommen will, muss ich jetzt los.“

„Sicher. Viel Spaß mit Ihren Freunden.“

„Den werde ich haben.“

Er verließ das Gebäude durch eine Seitentür, die direkt zum Mitarbeiterparkplatz führte.

Ein Essen mit Robert ist wirklich eine nette Art, den Abend zu verbringen, dachte sie, bevor sie innerlich zusammenzuckte. Nett? Ging das nicht etwas besser? Was, wenn sie in seiner Nähe kein Kribbeln verspürte? Na und? Kribbeln war sowieso viel zu gefährlich und wurde vollkommen überbewertet. Besser eine wohlige Wärme als ein heißes Strohfeuer.

Sie ging zurück in die erste Etage, aber noch ehe sie ihr Büro erreicht hatte, kam Sheryl ihr entgegengerannt.

„Sie kommen noch zu spät“, sagte ihre Assistentin eindringlich. „Sie sollten sich besser beeilen.“

„Wieso? Ich habe heute keine Termine mehr.“

„Jetzt schon.“ Sheryl klang entzückt. „Marsha hat vorhin angerufen und ihn für sie vereinbart. Ich bin ja so neidisch. Nicht dass ich eine Führung brauchen würde, aber trotzdem. Ich wünschte, ich wäre an Ihrer Stelle.“

Charity gefiel nicht, was zwischen den Zeilen mitschwang. „Was ist das für ein Termin?“

„Josh kommt, um Ihnen die Stadt zu zeigen!“ Sheryls Augen leuchteten vor Aufregung. „Nur Sie beide, allein. Für mich würden mit so einem Treffen alle meine Fantasien wahr werden. Na ja, natürlich nicht alle, aber wenigstens die, über die ich sprechen kann.“

Zeit mit Josh? „Warum sollte Marsha so etwas arrangieren? Ich kann mir die Stadt auch alleine ansehen.“

„Sie dürfen Zeit mit Josh verbringen! Sie sind wirklich ein richtiges Glückskind. Marsha tut Ihnen damit einen riesigen Gefallen.“

Insgeheim dachte Charity, dass sie auf derlei Gefallen getrost verzichten konnte, aber das behielt sie besser für sich. Die Bürgermeisterin war schließlich ihre Chefin, und außerdem musste sie davon ausgehen, dass Marsha einfach nur nett sein wollte. Charity konnte ja schlecht zugeben, dass sie jedes Mal, wenn Josh sich ihr auf mehr als fünf Meter näherte, einen völligen Kontrollverlust erlitt.

Ihre Reaktion auf ihn war schon schlimm genug, aber ein wandelndes Klischee zu sein machte alles nur noch schlimmer. Anscheinend reagierte jede Frau in der Stadt genauso wie sie. Der arme Mann – wurde derart mit weiblichem Interesse überschüttet. Es war erstaunlich, dass er überhaupt noch irgendetwas zuwege brachte. Sie runzelte die Stirn. Oder tat er das gar nicht? Ihres Wissens nach saß er herum und lebte von den Erlösen aus seinen Radrennen und den Lizenzgebühren für seine Nacktarschbilder.

Was beides keine Rolle spielt, erinnerte sie sich. Das ist nur ein Termin, den ich hinter mich bringen muss.

„Wann soll ich ihn treffen?“, fragte sie.

„Jetzt“, sagte eine tiefe Männerstimme neben ihr.

Ihr Herz begann so unvermittelt zu rasen, dass ihr die Luft wegblieb. Ihre Oberschenkel zitterten, und auf einmal sah sie nur noch einen einzigen Menschen, der von einem fast überirdischen Lichtschein umgeben war.

Wie schaffte er es bloß, ihren gesamten Körper dazu zu bringen, sie zu verraten? Es musste irgendein chemischer Prozess sein oder ein … Mangel. Ein Nährstoffmangel oder vielleicht sogar mangelnder Verstand. Vielleicht müsste sie öfter Sport treiben. Oder überhaupt mal.

„Hallo“, sagte sie, um einen ruhigen Tonfall bemüht. „Schön, Sie wiederzusehen. Ich habe gehört, dass wir einen Termin haben.“

„Marsha fand, dass ich Ihnen die Stadt zeigen soll.“

„Ist sie nicht ein Goldstück?“, fragte Charity und versuchte, nicht die Zähne aufeinanderzubeißen. „Ich weiß die Bemühungen unserer Bürgermeisterin wirklich zu schätzen, aber ich finde mich in Fool’s Gold auch prima alleine zurecht. Falls Sie also noch etwas anderes zu tun haben …“

Er ignorierte den Wink und lächelte. „Sie genießen bei mir absolute Priorität.“

Er will mich nur aufziehen, sagte sie sich. Alles andere war unmöglich. Und dennoch sprach er in einem Ton, bei dem sie am liebsten aufgestöhnt hätte … oder geschnurrt.

„Mein Güte“, seufzte Sheryl.

Charity sah sie vielsagend an. Sheryl grinste süffisant, bevor sie an ihren Arbeitsplatz zurückging.

Charity zupfte am Saum ihrer konservativen Tweedjacke. „Okay. Gut. Dann auf zu unserer Tour.“ Sie zögerte. „Wir fahren doch nicht mit dem Rad, oder?“

Sein perfekter Mund verzog sich zu einem wissenden Lächeln. „Sie haben sich über mich informiert.“

Charity gefiel der Klang seiner Worte nicht, denn er implizierte ein Interesse, das sie sich unter keinen Umständen eingestehen wollte. „Es ist schwer, sich nicht über Sie zu informieren – bei all den Postern, Bildschirmschonern und Wackelkopffiguren.“

„Was gefällt Ihnen am besten?“

Sofort musste sie an das Bild auf Sheryls Bildschirmschoner denken, das Josh unter der Dusche zeigte. Nackt. Mit dem Hintern zur Kamera.

„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht“, log sie. „Kann ich Ihnen die Antwort später geben?“

„Ich kann es kaum erwarten.“

„Das glaube ich. Haben Sie eigentlich gar keine Angst, dass Ihr Ego Sie irgendwann mal erdrückt?“

Das Lächeln wurde noch breiter. „Doch. Aber dafür gibt es ja die Fans. Sie helfen mir, das Gewicht zu tragen.“

Ein unglaublicher Mann, dachte sie, während sie sich ein Lachen verkniff. Sie zeigte zur Tür. „Lassen Sie uns die Sache hinter uns bringen.“

„Jetzt tun Sie nicht so, als wäre unser Treffen nicht der Höhepunkt Ihres Tages.“

„Sind Sie immer so selbstbewusst?“

Er hielt ihr die Tür auf. „Das gehört zu meinem Charme.“

Daran hatte sie keinen Zweifel – was bedeutete, dass sie in ernsthaften Schwierigkeiten steckte.

4. KAPITEL

Josh führte sie zu einem glänzenden Geländewagen, der so groß war, dass es einer Stufe bedurfte, um den Beifahrersitz zu erklimmen. Charity war dankbar, dass ihr das schlichte dunkelblaue Kleid bis über die Knie reichte und nicht besonders figurbetont geschnitten war. So konnte sie ins Auto klettern, ohne einem der freundlichen Einwohner, der sie womöglich beobachtete, Einblicke in ihre Dessousauswahl zu gewähren.

Mit der legeren Anmut eines Sportlers setzte Josh sich neben sie. Er legte den Arm auf die Mittelkonsole und lehnte sich zu ihr herüber. Viel zu dicht. Mit dem nächsten Atemzug sog sie seinen Körperduft ein – ein warmer, maskuliner Geruch, der wie gemacht dafür war, die dünne Mauer, die ihren gesunden Menschenverstand davor bewahrte, sich einem hysterischen „Ich will deine Aufmerksamkeit“-Bettelanfall zu ergeben, zum Einstürzen zu bringen.

Er ist genau wie die Männer, die im Leben meiner Mutter ein- und ausgegangen sind, dachte sie. Aber Charity war fest entschlossen, sich nicht von dem gleichen Herzschmerz auffressen zu lassen, den sie unzählige Male miterlebt hatte. Auffallende Männer waren nett fürs Auge, aber grausam, wenn es um Beziehungen ging. Wie oft war das Herz ihrer Mutter gebrochen worden? Zehnmal? Zwanzigmal? Es kam ihr so vor, als hätte sie alle paar Monate einen Neuen gefunden. Einen perfekten, oberflächlichen Kerl, der ihr alles versprochen und sie dann zerschmettert zurückgelassen hatte.

Charity wollte „glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende“. Und sie wollte etwas Normales. Etwas, das Josh niemals sein könnte.

„Was möchten Sie denn gerne sehen?“, fragte er leise und irgendwie zweideutig.

Sie zwang sich, aus der Windschutzscheibe zu schauen und sich einzureden, dass sie sich zu Tode langweilte. Im Büro gab es Tausende Dinge, die darauf warteten, dass sie sich ihnen widmete: Anrufe, die sie tätigen musste, Pläne, die erstellt werden wollten, und Listen, die es durchzusehen galt. Ihre Zeit mit Josh war von all dem am wenigsten interessant.

Charity seufzte. Wenn sie sich selbst in die Tasche log, kritisierte sie wenigstens niemand dafür. „Sie sind der Ortskundige“, sagte sie. „Ich lasse Sie die Route aussuchen.“

„Na gut, aber Sie werden den Sicherheitsgurt anlegen müssen.“

Sie griff nach dem Gurt. „Aber nur, weil es so im Gesetz steht, nicht wahr? Wir fahren doch nicht in die Berge oder so?“

Er lachte schelmisch. „Nicht beim ersten Date. Ich hebe die prickelnden Abenteuer lieber für später auf. Um sicherzugehen, dass Sie damit auch umgehen können.“

Sie hätte gern darauf hingewiesen, dass das hier kein Date war, aber dafür hätte sie sprechen müssen, und irgendwie hatte sein Wortspiel ihre Kehle ein bisschen ausgetrocknet.

Der Mann ist ja der personifizierte Charme, dachte sie und fragte sich, ob das ein gottgegebenes Geschenk war oder ob er es üben musste. Bei ihrem Glück war er ein Naturtalent. Vermutlich wusste er nicht mal, was er mit den Frauen um ihn herum anstellte. Und sie würde es ihm auf keinen Fall verraten.

Er lenkte den Wagen auf die Straße und blieb vor der Ampel an der Ecke stehen. „Nehmen Sie die Interstate, wenn Sie in die Stadt fahren?“, fragte er.

„Ja.“

„Haben Sie seit Ihrer Ankunft denn schon viel von der Gegend gesehen?“

„Nur das, was ich zu Fuß erreichen konnte. Ich bin erst seit zwei Wochen hier und hatte noch nicht viel Zeit.“

„Haben Sie an den Wochenenden nicht frei?“

„Mein erstes Wochenende habe ich damit verbracht, mich auf das Meeting mit der Universität vorzubereiten.“ Bei dem Gedanken daran, was für ein Desaster der Morgen gewesen war, bis Josh hereingeschneit war, ein paar magische Worte gesprochen und ihr den Tag gerettet hatte, verzog sie das Gesicht. Nicht dass sie sich über die Vertragsunterzeichnung ärgerte. Es war nur so, dass er ihr das Gefühl gegeben hatte, schlecht in ihrem Job zu sein. Oder vielleicht hatte sie sich dieses Gefühl auch selbst gegeben.

„Und am letzten Wochenende habe ich mich für meine Meetings in dieser Woche vorbereitet.“

„Mir fällt ein gewisses Muster auf. Sie müssen mehr rauskommen.“

War das ein Angebot? Wie sehr sie sich doch wünschte, dass er ihr ein Angebot machte. Was albern war, weil sie jegliche Angebote seinerseits ablehnen müsste. Der Mann war nicht gut für ihre geistige Gesundheit. Und außerdem – hallo-ho! – hatte gestern Abend eine Frau in seinem Zimmer gewartet. Eine fast nackte Frau, die offensichtlich erwartet hatte, dass ihr Abend eine erotische Wendung nehmen würde. Josh war ein Spieler, und Charity hatte die Regeln dieses Spiels noch nie verstanden.

Memo für mich: Josh im Internet suchen, wenn ich heute Abend in meinem Zimmer bin. Die Wahrheit über sein persönliches Leben würde garantiert jegliches Verliebtheitsgefühl vernichten.

„Ich habe vor, lange in Fool’s Gold zu bleiben“, sagte sie. „Mit der Zeit werde ich schon alles sehen.“

Zwei Straßen vor der Abfahrt auf die Interstate bog er in Richtung Westen ab. „Im Tal gibt es drei verschiedene Winzer, die Wein anbauen“, erzählte er und zeigte auf die mehrere Hektar großen Weinberge, die sich bis zum Horizont erstreckten. „Vor allem Cabernet Sauvignon, Merlot und Cabernet Franc. Und ein paar andere Sorten für die Assemblage.“

Er lächelte ihr zu. „Womit wir am Ende meines Weinwissens angelangt wären. Wenn Sie mehr erfahren möchten – noch zwei Wochen, und dann bieten die Winzer wieder jedes Wochenende Führungen an.“

Während sie den Highway entlangsausten, konnte Charity an den nackten Zweigen winzige Knospen sehen, die versprachen einmal dicke Trauben zu werden.

„Die meisten Winzer haben sich vor vielen Jahren hier angesiedelt“, fuhr er fort. „Früher wurde in dem Tal alles Mögliche angebaut, von Getreide bis zu Äpfeln. Allmählich übernehmen die Weinberge die Führung. Das hängt mit dem Boden und dem Wetter zusammen.“

„Und mit dem Geld“, ergänzte sie. „Viele Bauern können aus den Trauben größeren Profit schlagen. Wein ist heutzutage sehr gefragt.“

Er sah sie an. „Beeindruckend.“

Sie gab sich alle Mühe, nicht rot zu werden. „Ich habe meine Hausaufgaben gemacht, bevor ich hierher gezogen bin.“ Sie räusperte sich. „Die Weinkellereien liegen dichter an der Stadt, als ich dachte“, sprach sie weiter und blickte wieder zu den Bergen, die sich vor dem blauen Himmel abhoben. Sie griff in ihre Handtasche und zog einen kleinen Notizblock heraus.

„Was für eine großartige Ressource. Wir müssen mit jedem Unternehmen, das in Erwägung zieht, sich hier niederzulassen, eine Führung durch die Gegend machen“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihm. „Das ist ein fantastisches Verkaufsargument.“

Es gab bestimmt eine Broschüre, mit der die Stadt für sich warb. Sie machte noch eine Notiz, sich dieses Heftchen anzusehen, wenn sie zurück war, um sich davon zu überzeugen, dass die Winzer und Weinberge explizit darin erwähnt wurden. Vielleicht sollte sie auch noch mal Pias Terminplan überfliegen. Darin musste ein Wein- oder ein Traubenfestival auftauchen.

„Die Winzer sind nur ein Teil davon“, sagte Josh. „Im Sommer kommen Klettern und Campen hinzu und im Winter Skifahren. Das Resort hat ein Fünfsternerestaurant und eine Kochschule. Es kommen wirklich eine Menge Touristen her.“

„Sie wissen viel über die Gegend. Wie lange leben Sie schon hier?“, erkundigte sie sich.

„Ich bin hier aufgewachsen. Wir sind hergezogen, als ich zehn war.“

„Das war bestimmt schön“, sagte sie neidisch. „Ich habe als Kind immer davon geträumt, an einem Ort zu bleiben, aber meine Mom ist lieber herumgereist.“

Josh sah zu ihr hinüber. In seinen Augen blitzte ein fragender Ausdruck auf, der jedoch sofort wieder erlosch. „Hat sie gesagt, warum?“

„Sie hatte viele Gründe. Sie mochte die Spannung, die ein neuer Ort bot. Und die Möglichkeiten. Sie sagte immer, sie sei geboren, um weiterzuziehen.“ Aber zum Teil wollte sie nur deshalb weiterziehen, weil irgendetwas Schlechtes passiert war, dachte Charity, und zwar meistens in Form eines Mannes und einer gescheiterten Beziehung.

Charity hatte ihre Mutter geliebt, doch das ständige Herumziehen war nicht einfach gewesen. Insbesondere weil Sandra nach Lust und Laune die Taschen gepackt hatte. Es war ihr egal gewesen, wenn es nur noch wenige Wochen bis zum Ende des Halbjahres oder des ganzen Schuljahres gewesen waren. „Ich war immer ‚die Neue‘.“

„War das ein Problem für Sie?“

„Ich war nicht gerade kontaktfreudig. Und wenn ich endlich ein paar Freunde gefunden und mich eingelebt hatte, sind wir wieder weitergezogen. Ich hatte immer das Gefühl, ich muss mich abrackern, um die Regeln zu lernen.“

„Sie werden Fool’s Gold mögen.“

„Ich mag es schon jetzt. Alle sind so freundlich und so offen.“

Er bog mehrmals ab, und dann fuhren sie zurück in Richtung Berge.

Charity merkte, dass sie sich ein wenig entspannte. In Joshs Nähe zu sein war gar nicht so beängstigend – jedenfalls nicht, solange sie daran dachte, zu atmen, und das permanente energetische Summen ignorierte, das zwischen ihnen herrschte – zumindest von ihrer Seite aus.

Ein hellroter Wagen kam ihnen entgegen. Er war vollgestopft mit Mädchen im Collegealter, die die Fensterscheiben herunterließen, hupten und Josh zuwinkten. Er nickte grüßend zurück.

„Fans?“, fragte sie, als das Auto vorbeisauste.

„Vermutlich.“

Sie riskierte es, ihn anzusehen. „Wegen dieser Fahrradgeschichte, stimmt’s?“

Seine Mundwinkel zuckten, als versuchte er, sich ein Lächeln zu verkneifen. „Ja. Wegen der Fahrradgeschichte.“

„Weil Sie ein bekannter Radfahrer sind?“

„Ich und Lance Armstrong.“

„Dann sind Sie bei der Tour de France mitgefahren?“

Er schaute sichtlich amüsiert zu ihr hinüber. „Wissen Sie denn überhaupt, was das ist?“

„Ein, ähm, bekanntes Radrennen. In Frankreich. Es wird in Teilstrecken oder Runden oder Etappen oder so gefahren. Und es gibt ein Gelbes Trikot.“

„Nicht schlecht für den Anfang“, foppte er sie. „Es sind übrigens Etappen.“

„Ich bin nicht gerade gut, wenn’s um Sport geht. Aber nach allem, was ich gehört habe, sind Sie ziemlich gut.“

Er hob die Augenbraue, ohne etwas zu sagen.

„Kann man gut davon leben? Vom Radrennsport?“

„Man kann. Es gibt oft beachtliche Preisgelder. Ein Spitzenfahrer kann mehr als eine Million einfahren.“

„Dollar?“

„Die Tour de France zahlt in Euro.“

„Stimmt.“ Sie verspürte eine leichte Übelkeit.

„Mit Werbeverträgen macht man das ganz große Geld. Multimillionen-Dollar-Deals.“ Er warf ihr einen schelmischen Blick zu. „Gezahlt wird in Dollar. Oder in Yen.“

Eine Million hier, eine Million da. Spielte die Währung da überhaupt eine Rolle? „Dann waren Sie also erfolgreich?“

„Könnte man so sagen.“

„Und Millionen wert?“

„An einem guten Tag schon.“

Weil der Sex-Appeal, der unglaubliche Körper und das attraktive Gesicht noch nicht genug waren.

„Und was machen Sie hier?“, fragte sie.

„In dem Geländewagen oder in Fool’s Gold?“

„Beides.“

„Ich zeige Ihnen die Gegend, weil Marsha mich darum gebeten hat, und ich bin in Fool’s Gold, weil ich hier lebe. Ich habe mich aus dem Radsport zurückgezogen. Ich bin quasi im Ruhestand.“

Sie veränderte ihre Sitzposition, um ihn besser ansehen zu können. „Im Ruhestand? Sie sind doch gerade mal dreißig.“

„Es ist ein Sport für junge Leute.“

Wie jung? Im Ruhestand? Das schien unmöglich. Ob er sich verletzt hatte? Das würde sie ihn natürlich niemals fragen. Es erschien ihr viel zu persönlich.

„Und was machen Sie jetzt?“

„Dies und das. Ich beschäftige mich. Ich habe in der Gegend ein paar Sachen laufen.“

Sie waren zurück in der Stadt. Josh fuhr um den See herum. Hier standen kleine Hotels, einige Bed & Breakfasts, Restaurants und Ferienhäuser. Auf der anderen Straßenseite gab es kleine Boutiquen, einen Bäcker und einen Park mit weitläufigen Rasenflächen.

„Bei Angelo’s kann man sehr gut italienisch essen“, sagte er und zeigte auf den Eingang zu einem großen Restaurant. „Und im Margaritaville gibt es das beste mexikanische Essen.“

„Nach dem Song von Jimmy Buffett benannt?“

„Leider ja. Nehmen Sie bloß keinen Extra-Shot in die Margarita – außer Sie sind Profi. Sonst haut es Sie nämlich aus den Socken.“

„Danke für den Tipp. Aber ich gehöre eher zu den Frauen, denen ein Glas Wein reicht.“

Er zählte noch ein paar Restaurants auf, zwei Bars und das Drive-in mit den besten Pommes und Shakes weit und breit. Das alles machte sie glücklich, den Job in Fool’s Gold angenommen zu haben. Wenn ich doch nur an einem Ort wie diesem aufgewachsen wäre, dachte sie wehmütig. Aber ihre Mutter hätte die gesamte Stadt gehasst. Und ganz besonders die engen Fesseln.

Ihre Mutter hatte es gemocht, kommen und gehen zu können, wie es ihr gefiel. Sie war immer auf der Suche nach neuen Abenteuern gewesen – vor allem, wenn es um Männer ging. Charity hatte früh gelernt, nicht zu erwarten, dass einer von ihnen länger blieb. Sie zogen ebenfalls immer weiter.

Sie hatte sich geschworen, dass ihr Leben anders verlaufen würde. Dass sie einen besonderen Mann fände, ihn heiraten würde und für immer mit ihm zusammen wäre. Bislang war sie in dieser Hinsicht nicht besonders erfolgreich gewesen, aber sie war fest entschlossen, es weiter zu versuchen.

Statt über ihr elendes Liebesleben nachzugrübeln, fragte sie: „Gab es schon mal ein Radrennen in der Stadt?“

„Nein. Es wurde mal darüber geredet, aber letztlich wurde nichts arrangiert.“ Er starrte aus dem Fenster.

„Wie wäre es mit einer Wohltätigkeitsveranstaltung? Um Geld für Kinder zu sammeln?“

„Ich fahre nicht mehr.“

„Gar nicht mehr?“

Er schüttelte den Kopf.

Sie dachte, er würde noch ein wenig um den großen See herumfahren, doch stattdessen bog er ein paarmal ab, und noch ehe sie sich’s versah, hielt er vor dem Rathaus. Ihre gemeinsame Zeit war so unvermittelt zu Ende gegangen, als hätte sie etwas falsch gemacht.

Als er den Motor nicht ausschaltete, verstand sie.

„Danke für die Tour“, sagte sie mit einem seltsamen Gefühl. „Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.“

„Kein Problem.“

Sie zögerte, wollte noch etwas sagen, stieg dann aber aus. Ohne ein weiteres Wort fuhr er davon.

Sie stand auf dem Gehweg und sah ihm nach. Was war das denn gewesen? Hatte sie was Falsches gesagt? Sie fühlte sich auf merkwürdige Art schuldig, ohne zu wissen, warum.

„Als ob die Hormone nicht schon genug Verwirrung stiften“, murmelte sie seufzend.

Der Abend war kühl und der Himmel sternenklar. Zwar wurde die Straße nicht vom Mondschein beleuchtet, doch das störte Josh nicht. Er kannte jedes Schlagloch und jede Kurve. Es ging keinerlei Gefahr von anderen Fahrern aus, weil er alleine fuhr. Er musste. Nur so konnte er seine Probleme lösen.

Als er die Steigung hochfuhr, trat er kräftiger und schneller in die Pedale. Er wollte seinen Puls in die Höhe treiben, wollte spüren, wie das Blut durch seinen Körper gepumpt wurde, wollte seinen Körper müde machen, damit er vielleicht, nur vielleicht, schlafen könnte.

Er war von Dunkelheit umgeben. Bei seiner Geschwindigkeit hörte er nichts als den Wind in seinen Ohren und die Reifen auf dem Asphalt. Seine Haut war kalt und sein Hemd schweißnass. Eine Fahrradbrille schützte seine Augen, und der Helm schmiegte sich fest an seinen Kopf. Er schoss über die Spitze des Hügels und auf die fünf Meilen lange Ebene, die zurück in die Stadt führte.

Das war der einzige Teil der Strecke, die er nicht mochte. Es gab nichts, was ihn ablenkte, nichts, das seinen Kopf beschäftigte, weshalb er Zeit hatte, nachzudenken. Sich zu erinnern.

Ohne es zu wollen, war er wieder in Italien beim Mailand-Sanremo oder, wie die Italiener es nannten, bei der Classica di Primavera. Das klassische Frühjahrsrennen.

Das Traumrennen eines jeden Sprinters, aber tödlich für den Sprinter, der nicht auf die Hügel vorbereitet war. Es gehörte zu den längsten Eintagesrennen. Zweihundertachtundneunzig Kilometer oder einhundertfünfundachtzig Meilen. In jenem Jahr war Josh in persönlicher Bestform gewesen. Er hätte gar nicht verlieren können.

Vielleicht ist es deshalb schiefgegangen, dachte er grimmig, als er immer schneller fuhr. Vielleicht haben die Götter entschieden, dass solche Arroganz bestraft werden muss. Nur dass nicht er derjenige gewesen war, den es vom Rad gefegt hatte.

Bei einem Radrennen ging es allein um die Gefühle. Die Rufe der Menge, die Geräusche des Hauptfeldes und der Klang des Rades. Das Brennen der Muskeln, die Schmerzen beim Einatmen. Ein Rennfahrer war entweder bereit, oder er war es nicht. Es ging nur um Talent, ums Können, um Entschlossenheit und um Glück.

Er hatte immer Glück gehabt. Im Leben, in der Liebe – oder zumindest beim Sex – und bei den Rennen. An jenem Tag war er der größte Glückspilz von allen gewesen.

Das hatten die Fotos gezeigt. Wie das Schicksal – oder das Glück – es wollte, hatte jemand eine Reihe Fotos geschossen, als der Unfall passiert war. Die Sequenz zeigte klar und deutlich, wie das erste Rad gestürzt war, dann das nächste.

Josh war nicht an der Spitze gefahren. Er hatte sich bewusst in Hintergrund gehalten, damit die anderen sich verausgabten.

Frank war jung gewesen, Anfang zwanzig, und hatte in dem Jahr zum ersten Mal an Profirennen teilgenommen. Josh hatte sein Bestes getan, dem Jungen ein Mentor zu sein. Ihm zu helfen. Ihr Trainer hatte Frank gesagt, solange er täte, was Josh tat, würde er nicht in Schwierigkeiten geraten.

Ihr Trainer hatte sich geirrt.

Die still stehenden Fotos fangen nicht die Geräusche ein, dachte er, als er schneller fuhr. Der erste Fahrer, der gestürzt war, war zur Rechten Joshs gefahren. Josh hatte weniger gehört, was passiert war, sondern es vielmehr gefühlt. Er hatte das Unbehagen im Feld gespürt und instinktiv reagiert, als er in dem Versuch, auszubrechen, zuerst nach links und dann nach rechts gefahren war. Er dachte nur an sich. In der Sekunde vergaß er Frank. Er vergaß den unerfahrenen Jungen, der tun würde, was er tat. Oder es zumindest versuchen würde.

Sie waren um die siebzig Kilometer pro Stunde schnell. Bei der Geschwindigkeit war jeder Fehler eine Katastrophe. Die Bilder zeigten, wie das Fahrrad, das neben Frank fuhr, in ihn hineinraste. Frank verlor die Kontrolle und flog durch die Luft. Er schlug mit 65 km/h auf dem Asphalt auf. Seine Wirbelsäule wurde durchtrennt, während sein Herz noch immer Blut durch seine Adern pumpte, und er starb innerhalb weniger Sekunden.

Aus unerfindlichen Gründen drehte Josh sich um und brach damit eines der obersten Renngebote: Dreh dich niemals um. Er sah, wie Frank mit unerwarteter Anmut durch die Luft flog, und eine einzige Sekunde lang sah er die Angst in seinen Augen. Dann schlug der Körper seines Freundes auf dem Boden auf.

Danach war es still gewesen. Josh war sich sicher, dass die Menge geschrien hatte und dass die anderen Fahrer Krach gemacht hatten, doch alles, was er gehört hatte, war sein eigener Herzschlag gewesen. Er hatte kehrtgemacht, womit er das zweite Gebot des Rennsports gebrochen hatte. Er war von seinem Fahrrad gesprungen und zu dem Jungen gerannt, der viel zu ruhig dagelegen hatte. Aber es war zu spät gewesen.

Seitdem war Josh keine Rennen mehr gefahren. Er konnte nicht. Er war unfähig gewesen, mit seinem Team zu trainieren. Nicht wegen dem, was sie gesagt hatten, sondern weil er förmlich vor Angst platzte, wenn er im Hauptfeld fuhr.

Jedes Mal wenn er auf sein Rad stieg, sah er Franks Körper auf dem Boden liegen. Jedes Mal wenn er zu treten anfing, wusste er, dass er der Nächste wäre. Dass der Unfall jede Sekunde passieren würde. Er war gezwungen gewesen, sich beurlauben zu lassen und schließlich ganz aufzuhören. Er redete sich damit raus, den jüngeren Teamkollegen Platz machen zu wollen, aber er ahnte, dass jeder die Wahrheit kannte. Dass er einfach nicht die Eier in der Hose hatte, um weiterzumachen.

Selbst jetzt noch fuhr er ausschließlich allein in der Dunkelheit. Wenn niemand ihn sehen konnte. Wenn niemand durch seine Schuld verletzt werden konnte. Er trat seinen Dämonen nur unter vier Augen gegenüber und hatte damit den Ausweg für Feiglinge gewählt.

Als nun die Lichter der Stadt näher kamen und heller wurden, verlangsamte er das Tempo. Stück für Stück verblassten die Geister der Vergangenheit, bis er wieder Luft bekam. Das Training war abgeschlossen.

Morgen Abend würde er es wieder machen: in der Finsternis Rad fahren, auf die Ebene am Ende warten und dann das Geschehene von Neuem durchleben. Morgen Abend würde er sich wieder hassen, weil er wusste, dass Frank noch leben würde, wenn er an jenem Tag an der Spitze mitgefahren wäre.

Er bog von der Hauptstraße zu einem Schuppen hinter dem Sportgeschäft ab, das ihm gehörte. Er ging hinein und trank gierig aus seiner Wasserflasche. Dann setzte er den Helm ab, zog Jeans und T-Shirt an und tauschte seine Rennradschuhe gegen Stiefel.

Verschwitzt und mit rotem Kopf trat er den Rückweg zum Hotel an. Wenn ihn irgendjemand sähe, würde dieser Jemand annehmen, er käme von einem abendlichen Rendezvous. Damit konnte er leben.

Aber was Affären anging – er hatte keine. Schon seit einem knappen Jahr nicht mehr. Nach seiner Scheidung war er durch ein paar Betten gesprungen, doch es hatte keinen Spaß gemacht. Jedenfalls ihm nicht. Es war, als wäre es ihm nicht vergönnt, irgendetwas Gutes zu erleben. Als Strafe für das, was mit Frank geschehen war.

Josh ging zurück zum Hotel. Er würde beim Zimmerservice etwas zu essen bestellen, eine Dusche nehmen und hoffen, dass er heute Nacht gut schliefe.

„Hey, Josh. Ist es jemand, den ich kenne?“

Josh drehte sich zu der Stimme um und winkte, ohne stehen zu bleiben. Er wollte jetzt mit niemandem sprechen.

Als er die Treppe hochging, spürte er, dass ihm jemand entgegenkam. Er schaute nach links und sah Charity. Ausnahmsweise trug sie mal kein Alte-Frauen-Kleid und auch keinen dieser kastenförmigen Sixtiesblazer, sondern Jeans und einen pinkfarbenen Pulli. Flüchtig nahm er lange Beine, eine schmale Taille und beeindruckende Brüste wahr, bevor sein Blick weiter nach oben wanderte und in ihre eisigen Augen blickte.

Er mochte Charity – fand sie attraktiv, gescheit und witzig. Unter anderen Umständen – wenn er jemand anderes wäre – würde er sie wollen.

Nein, das stimmte so nicht. Er wollte sie auch jetzt. Wenn die Dinge anders lägen, würde er versuchen, sein Verlangen zu stillen, aber so konnte er nicht. Sie verdiente etwas Besseres.

Er wusste, was sie dachte. Er wusste, was alle dachten. Das ist besser als die Wahrheit, sagte er sich, als er ihr ein kurzes Lächeln zuwarf und weiterging.

Charity hasste es, sich dumm zu fühlen, vor allem, wenn sie keinem anderen als sich selbst die Schuld daran geben konnte. Sie hatte sich am Wochenende in Arbeit vergraben, weil sie sich nur so daran hindern konnte, über Josh nachzudenken. Jedes Mal wenn sie nicht abgelenkt war, schwirrten mehr oder weniger absurde Fragen durch ihren Kopf, und sie drohte den Verstand zu verlieren wie ein junges Mädchen.

Sie war auf unerwartete, unbekannte und ein kleines bisschen zwanghafte Art von ihm fasziniert. Das war okay. So was passierte. Und irgendwann wäre sie darüber hinweg. Als sie am vergangenen Freitag durch die Gegend gefahren waren, hatte sie sich sogar dabei ertappt, dass sie die Zeit mit ihm genoss. Sie hatte ihn witzig und charmant gefunden.

Aber irgendetwas war auf der Fahrt passiert. Er hatte sich verändert, und sie war von dem Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, frustriert gewesen. Dabei hatte sie überhaupt nichts falsch gemacht. Und ihr Kopf wusste das auch. Aber ihre Hormone wollten es irgendwie nicht begreifen. Das gesamte Wochenende hatten sie vor lauter Verlangen, wenigstens einen kurzen Blick auf diesen Mann erhaschen zu können, unaufhörlich geseufzt. Und dann war er am Freitagabend auch noch völlig verschwitzt ins Hotel gekommen – wie sexy er ausgesehen hatte! Aber es bedeutete auch, dass er mit einer anderen zusammen gewesen war. Da hatte es auch nichts geholfen, ins Internet zu gehen und sich Fotos von ihm mit anderen Frauen anzugucken.

Wäre sie noch in der Highschool gewesen, hätte sie akzeptieren können, dass sie sich wie ein nach Jungs verrückter Teenager fühlte. Aber sie war achtundzwanzig Jahre alt. Also in einem Alter, in dem man durchaus eine gewisse Reife erwarten konnte. Schließlich hatte sie in ihrer Vergangenheit schon mit netten, normalen Männern diverse Romantikpleiten erlebt. Mit Männern, von denen sie geglaubt hatte, sie könnte ihnen vertrauen. Wenn sie bei ihnen schon so falsch gelegen hatte, wäre es einfach nur idiotisch, sich in Josh zu verlieben.

Um kurz vor zehn am Montagmorgen schenkte Charity sich einen Kaffee ein und machte sich auf den Weg zum Konferenzraum in der zweiten Etage, um an ihrer ersten Stadtratssitzung teilzunehmen.

Um den großen Tisch saßen bereits etwa ein Dutzend Leute – alles Frauen, bis auf Robert. Sie begrüßte die Bürgermeisterin, lächelte Robert zu und setzte sich.

Marsha zwinkerte ihr zu. „Hier geht es etwas weniger förmlich zu als auf den meisten Ratssitzungen, denen Sie bisher vermutlich beigewohnt haben, Charity. Gehen Sie bitte nicht zu hart mit uns ins Gericht.“

„Mache ich nicht. Versprochen.“

„Gut. Wen kennen Sie denn noch nicht?“ Marsha ging um den Tisch und stellte alle Teilnehmer vor.

Charity konzentrierte sich, um sich möglichst alle Namen zu merken. Pia kam um eine Minute vor zehn hereingerauscht.

„Ich weiß, ich weiß“, sagte sie mit einem Stöhnen. „Ich bin spät dran. Sucht euch lieber eine neue Partyplanerin.“ Sie ließ sich auf den Stuhl neben Charity fallen. „Hi. Hatten Sie ein schönes Wochenende?“, flüsterte sie.

„Ja. Ziemlich ruhig. Und Sie?“

Pia begann dünne Mappen auszuteilen, auf deren Vorderseite die amerikanische Nationalflagge prangte. „Ich habe an der Planung für den vierten Juli gearbeitet. Ich dachte mir, wir könnten das Ganze dieses Jahr ein bisschen auflockern und die Parade und Party am achten machen.“

Alice, die Polizeichefin, verdrehte die Augen, aber die Frau neben ihr, die Gladys hieß, falls Charity sich richtig erinnerte, japste erschrocken.

„Pia, das kannst du doch nicht machen. Das ist ein nationaler Feiertag, dessen Tradition mehr als zweihundert Jahre zurückreicht.“

„Sie macht nur Witze, Gladys“, beruhigte Marsha die Frau und seufzte dann. „Pia, versuch bitte nicht, komisch zu sein.“

„Ich versuche es gar nicht. Es passiert ganz spontan. Wie niesen.“

„Dann nimm dir ein Taschentuch und halt es zurück“, wies Marsha sie streng an.

„Jawohl, Ma’am.“ Pia beugte sich zu Charity. „Sie ist im Moment so was von herrisch. Sogar Robert hat Angst vor ihr.“

Charity sah zu Robert, der eher amüsiert als verängstigt aussah. Er erwiderte ihren Blick und lächelte. Sie lächelte zurück – in der Hoffnung auf irgendeine Reaktion. Ein Zucken. Ein Kitzeln. Ein leichter Druck, den man als Kribbeln interpretieren könnte.

Sie spürte nichts.

„Wir haben heute Morgen eine Menge zu besprechen“, eröffnete Marsha die Sitzung. „Und wir haben einen Besucher.“

„Besucher“, sagte eine andere Frau. „Das erinnert mich immer an diesen alten Zweiteiler, der vor ein paar Jahren im Fernsehen lief. V – Die Besucher. Waren das nicht diese Außerirdischen, die unter ihrer menschenähnlichen Fassade Schlangen oder Eidechsen waren?“

„Soweit ich weiß, ist unser Besucher ein Mensch“, erwiderte Marsha.

Die Bürgermeisterin ist anscheinend eine Frau mit grenzenloser Geduld, dachte Charity, während sich die Sitzung eines Themas nach dem nächsten annahm.

„Jetzt zur Neupflasterung der Straße am See“, sagte Marsha. „Ich glaube, einige haben dazu einen Bericht vorbereitet.“

Stück für Stück arbeiteten sie sich auf der Agenda voran. Charity gab eine kurze Zusammenfassung von dem Meeting mit der Universität und berichtete, dass der Vorvertrag unterzeichnet worden sei. Pia sprach über die Festlichkeiten zum vierten Juli, die doch tatsächlich an ebendiesem Tag stattfinden würden, und dann gab es eine fünfminütige Pause.

Robert stand auf und verließ den Raum. Die Tür war kaum zugegangen, da lehnte sich Gladys quer über den Tisch zu Charity.

„Sie haben sich neulich mit Josh getroffen.“

Charity wusste nicht genau, ob das eine Feststellung oder ein Vorwurf war. „Wir, ähm … Er hat mir die Stadt gezeigt. Auf Vorschlag der Bürgermeisterin hin.“

Marsha lächelte fröhlich. „Ich wollte nur, dass Sie sich willkommen fühlen.“

„Mir schickst du Josh nicht vorbei“, beschwerte sich Gladys.

„Du fühlst dich in der Stadt ja auch schon wohl.“

„Wie war es denn?“, wollte eine andere Frau wissen. Sie war zierlich, Mitte vierzig und hübsch. Renee vielleicht? Oder Michelle. Irgendwas mit französischem Klang, dachte Charity und wünschte sich, sie hätte die Namen mitgeschrieben.

„Ich habe es sehr genossen, mal die Umgebung zu sehen“, antwortete Charity. „Die Weinberge sind wirklich umwerfend.“

„Nicht die Tour“, meinte Renee-Michelle. „Josh. Sie sind doch Single, stimmt’s? Wow, wie gern würde ich meine Freizeit mit ihm verbringen.“

„Manchmal sehe ich ihn abends vollkommen verschwitzt durch die Stadt gehen“, sagte Gladys mit einem versteckten Stöhnen in der Stimme.

„Ich auch“, bestätigte eine andere.

Renee-Michelle schaute zur Tür, als wollte sie nachsehen, ob Robert in Hörweite war. „Einmal kam er ins Spa.“ Sie wandte sich Charity zu. „Ich führe ein Day Spa in der Stadt. Sie sollten bei Gelegenheit mal auf eine Massage vorbeikommen.“

„Ähm, ja. Gerne.“ Sie konnte nicht fassen, dass sie tatsächlich so über Josh sprachen.

„Er wollte, dass ich ein Waxing bei ihm mache“, fuhr Renee-Michelle fort und fügte für Charity erklärend hinzu: „Sie lassen sich alle die Haare entfernen. Das reduziert die Luftreibung.“ Dann wandte sie sich wieder der Gruppe zu. „Er lag auf dem Tisch und trug nur diese knappe Unterhose. Mannomann, ich kann nur sagen, dass die Gerüchte über seine Bestückung nicht aus der Luft gegriffen sind.“

Renee-Michelle sank wieder auf ihren Stuhl und atmete tief durch. „An dem Abend bekam mein Ehemann den besten Sex seines Lebens, und er erfuhr nie, warum.“ Sie fächelte sich mit der Hand Luft zu.

Robert kam mit einer Dose Mineralwasser zurück in den Raum. Er ließ den Blick kurz über die Frauenrunde schweifen und seufzte. „Ihr redet über Josh, hab ich recht?“

Charity kämpfte den Drang nieder, sich auf ihrem Stuhl zu winden.

„Natürlich“, meinte Pia. „Wir können nicht anders.“

Charity hätte am liebsten schnippisch bemerkt, dass er auch nur ein Kerl war und sonst nichts, aber sie hatte Angst, so zu klingen, als hätte sie etwas zu verbergen.

„Wenn ihr meint“, sagte Robert mit einem Kopfschütteln.

„Ein großer Investor aus dem Osten ist nach Fool’s Gold gekommen, um eine Radsportschule oder ein Trainingscamp zu eröffnen“, erzählte Gladys. „Aber Josh wollte nicht. Er sagte, er wolle seinen Ruhm nicht auf diese Art ausnutzen.“

Die meisten Frauen im Raum seufzten.

Insgeheim dachte Charity, er hatte vielleicht nur deshalb nicht gewollt, weil er dann weniger Zeit gehabt hätte, sich flachlegen zu lassen. Wenn irgendwer hier etwas Besonderes war, dann Robert. Und nicht Josh. Robert war ein normaler Mann, der einer ehrlichen Arbeit nachging und dafür nur geringe Anerkennung bekam. Sicher, Josh war berühmt und ein erfolgreicher Sportler, aber er war kein Gott. Ganz egal, was ihre Hormone ihr vielleicht einzureden versuchten.

Marsha setzte ihre Lesebrille auf. „Wenn wir dann wieder zum eigentlichen Thema zurückkehren wollen“, sagte sie, und ihre ruhige Stimme ließ das Geplapper augenblicklich verstummen. „Tiffany wird jede Minute hier sein, und ich würde es vorziehen, über ein gehaltvolleres Thema zu sprechen, wenn sie eintrifft.“

„Tiffany?“, fragte Polizeichefin Alice. „Im Ernst?“

„Tiffany Hatcher.“ Marsha überflog das Blatt, das vor ihr auf dem Tisch lag. „Sie ist dreiundzwanzig und macht gerade ihren Ph. D. in Humangeografie. Und bevor jemand fragt: Ich habe im Internet nachgesehen, was das ist. Und zwar das Studium darüber, warum Menschen sich dort niederlassen, wo sie sich niederlassen. In anderen Worten: Sie untersucht, warum wir in Fool’s Gold nicht genügend Männer haben.“

Die Frauen tauschten Blicke. Robert lachte schelmisch. „Ihr habt doch mich.“

„Aber du bist nur ein Mann.“

„Ich tue, was ich kann.“

Charity verkniff sich ein Lachen. Er fing ihren Blick auf und grinste.

Marsha seufzte. „Sosehr mir auch daran gelegen war, unser Problem diskret zu behandeln, scheint das offensichtlich nicht möglich zu sein. Tiffany möchte ihre Doktorarbeit unbedingt veröffentlichen. Dann wird die ganze Welt davon erfahren.“

„Außer niemand liest es“, warf Alice ein.

„Ich glaube nicht, dass wir so viel Glück haben“, meinte Pia. „Männer oder Männermangel ist ein sexy Thema. Und die Medien lieben sexy Themen.“

„Wie kann Männermangel sexy sein?“, fragte Gladys.

In dem Augenblick klopfte es zaghaft an der offenen Tür. Charity drehte sich um und sah eine kleine dunkelhaarige junge Frau im Eingang zum Konferenzzimmer stehen. Marsha hatte gesagt, Tiffany sei Anfang zwanzig, aber sie wäre auch locker für dreizehn durchgegangen. Sie hatte große Augen, lange dunkle Haare und einen dermaßen ernsten Gesichtsausdruck, dass Charity sich gut vorstellen konnte, wie sehr sie einem mit ihren Fragen auf die Nerven zu gehen in der Lage war.

„Ihre Assistentin meinte, ich soll direkt reinkommen“, sagte Tiffany entschuldigend.

„Natürlich, meine Liebe“, erwiderte Marsha im Aufstehen. „Wir haben Sie schon erwartet. Also, das ist Tiffany. Sie wird sich in ihrer Dissertation der Frage widmen, warum die Männer aus Fool’s Gold wegziehen.“

„Eigentlich sind Sie nur ein Kapitel“, korrigierte Tiffany, und ihre Stimme war genauso winzig wie ihre Erscheinung.

„Glück gehabt“, flüsterte Charity Pia zu.

5. KAPITEL

Es war Schlag sieben, als Charity am Mittwochabend zu Angelo’s hineinging. Das italienische Restaurant war vom Hotel aus fußläufig zu erreichen, wie fast alles in der Stadt. Der Außenbereich mit der großen bestuhlten Veranda war weiß getüncht. Innen waren die Tische mit weißen Tischdecken gedeckt, und das gedämpfte Licht verlieh dem intimen Raum ein elegantes Flair. Ein Dutzend verschiedene köstliche Düfte buhlten um ihre Aufmerksamkeit, ließen ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen und brachten ihren Magen zum Knurren. Der Salat, den sie zum Lunch gegessen hatte, schien auf einmal ewig lang zurückzuliegen.

Ehe sie einen vorbeigehenden Kellner überfallen und sich zwei Scheiben Rosmarinbrot von seinem Tablett schnappen konnte, erblickte sie Robert, der an einem Tisch im hinteren Teil des Raumes saß.

„Gehen Sie nur hinein“, sagte die Wirtin mit einem Lächeln. „Und lassen Sie es sich schmecken.“

„Danke.“

Robert stand auf, als sie näher kam.

In dem Restaurant waren schon mehrere Tische besetzt. Vielleicht bildete Charity es sich nur ein, aber sie hatte das Gefühl, als würde sie von den bereits anwesenden Gästen beobachtet.

„Kontrollieren die Sie oder mich?“, fragte Robert leise, als er ihr den Stuhl zurechtrückte.

Sie lachte. „Das habe ich mich auch gerade gefragt.“ Sie setzte sich. „Ich kann mich nur nicht entscheiden, warum sie es tun. Weil ich die Neue bin, oder weil Sie ein Date haben? Immerhin sind Sie Single und männlich und damit eine kostbare Rarität.“

Er nahm ihr gegenüber Platz. „Sie finden den Männermangel in der Stadt amüsant.“

„Ich glaube nicht, dass es für Sie ein großes Elend bedeutet. Armer Robert. Es wollen einfach zu viele Frauen mit Ihnen zusammen sein.“

Seine braunen Augen funkelten schelmisch. „Mit dem Ruhm ist das so eine Sache. Man hat eine Menge Verantwortung.“

Sie wünschte, er hätte das Wort „Ruhm“ nicht benutzt. Aus irgendeinem Grund musste sie nämlich sofort an Josh denken. Dabei war sie doch fest entschlossen gewesen, ihn nicht in ihren Abend eindringen zu lassen – auch nicht im Geiste.

„Sie schaffen das schon“, sagte sie, während sie die Serviette nahm und auf ihrem Schoß ausbreitete.

Ihre Kellnerin, eine ältere Frau mit zu einem Dutt zusammengebundenen dunklen Haaren, brachte ihnen die Speisekarte.

„Ich dachte mir, wir unterhalten uns ein bisschen, bevor wir bestellen“, schlug Robert vor. „Möchten Sie ein Glas Wein?“

„Ja, danke.“ Sie grinste. „Ich bin zu Fuß da. Ich kann sogar zwei trinken.“

„Verwegen.“

„Ja, manchmal.“

Sie bestellten beide ein Glas vom Hauswein. Chianti. Wenige Minuten später brachte ihnen der Hilfskellner einen Korb mit Brot und ein Schälchen Olivenöl zum Dippen.

„Das Brot hier schmeckt köstlich“, sagte Robert und hielt ihr den Korb hin.

„Das habe ich befürchtet“, erwiderte Charity. „Ich warte noch ein bisschen und probiere es später.“ Kurz bevor sie ihr Essen bekämen, damit sie keine Chance hätte, alle Scheiben zu verschlingen. „Wie war das Wochenende mit Ihren Freunden?“

„Schön. Wir waren bei einem Spiel der Giants. Sie haben gewonnen. Mein Freund Dan heiratet nächsten Monat. Das Ganze war also eine Art Junggesellenabschied.“

„Beeindruckend, dass Sie bei einem Baseballspiel waren und nicht in einem Striplokal.“

Er lachte leise. „Aus dem Alter sind wir langsam raus. Aber wenn wir noch im College wären …“

„Plätze in der ersten Reihe?“

„Nur in unseren Träumen.“

Die Kellnerin brachte den Wein. Als sie wieder weg war, erhob Robert sein Glas. „Auf einen wunderbaren Abend.“

Sie erhob ebenfalls ihr Glas.

„Dan und seine Freundin haben schon ein Kind“, fuhr Robert fort. „Ein kleines Mädchen. Sie ist achtzehn Monate alt. Anscheinend machen das viele Leute so. Zuerst ein Baby bekommen und sich dann überlegen, ob sie zusammenbleiben wollen. Ich schätze, ich bin in der Hinsicht etwas altmodisch. Ich dachte immer, man macht das genau umgekehrt.“

„Sehe ich genauso“, erwiderte sie. „Aber nicht jede Schwangerschaft ist geplant. In der letzten Generation haben die Leute wahrscheinlich geheiratet, sobald sie es gemerkt haben. Heute hat man es nicht mehr so eilig.“

Er beugte sich ein wenig vor. „Jetzt sind Sie ja schon ein paar Wochen hier. Wie haben Sie sich denn eingelebt? Gefällt Ihnen das Kleinstadtleben?“

„Und wie. Ständig begegne ich einem bekannten Gesicht. Und ich kann fast alles zu Fuß erreichen. Sie hatten recht: Hier gibt es keine Geheimnisse, aber ich habe auch nichts zu verbergen.“

„Dann werden Sie sich hier wohlfühlen. Haben Sie schon mit der Suche nach einem Haus begonnen?“

„Nicht so richtig. Ich bin noch immer dabei, die einzelnen Wohnviertel kennenzulernen.“

„Ich lebe am Golfplatz. Ein herrlicher Ausblick. Die Häuser sind gut gebaut und haben eine nette Größe. Kommen Sie doch mal vorbei und sehen Sie sich mein Zuhause an.“

„Warum nicht?“ Sie fragte sich, wie er sich eins dieser Häuser leisten konnte. Sie hatte sie bei ihrer Fahrt durch die Stadt gesehen und sich sogar einen Flyer mitgenommen. Aber solange die Bürgermeisterin nicht insgeheim vorhatte, ihr Gehalt von der nächsten Woche an zu verdoppeln, würde Charity so etwas nicht bezahlen können. Eigentlich waren die Preise in Fool’s Gold schwer in Ordnung, doch selbst hier kosteten die Häuser am Golfplatz ein kleines Vermögen.

„Sie sagten, Sie seien in Kleinstädten aufgewachsen“, sagte sie. „In Kalifornien?“

„In Oregon. Ich bin in Eugene zur Schule gegangen. Die Stadt hat gut hundertfünfzigtausend Einwohner. Meinen Abschluss habe ich in Buchhaltung gemacht, und dann war ich für ein mittelgroßes Wirtschaftsprüfungsunternehmen tätig. Danach bin ich auf die Regierungsseite gewechselt. Nach ungefähr fünf Jahren ging es in den privaten Sektor. Einer meiner ersten Jobs war die Betriebsprüfung in einem der Unternehmen von Josh Golden. Deshalb bin ich hergekommen.“

„Josh ist Unternehmer?“

Robert zog eine Augenbraue hoch. „Das wussten Sie nicht?“

„Nein. Aber ich habe ja auch nicht viel Zeit mit ihm verbracht.“ Die Führung durch die Umgebung hatte gerade mal eine Stunde gedauert. „Ich weiß nur, dass er mal ein erfolgreicher Radfahrer war.“

Robert lachte. „Na, diese Beschreibung würde ihn sicher stolz machen.“

„Sie wissen, was ich meine. Ich interessiere mich nicht sonderlich für Sport. Ich habe schon mal von ihm gehört, aber nichts Spezifisches.“

„Er besitzt mehrere Firmen. Das Sportgeschäft, zum Beispiel. Außerdem hat er Anteile am Skigebiet, und ihm gehört das Hotel.“

Sie griff nach ihrem Weinglas und hätte es um ein Haar umgestoßen. „Ihm gehört das Hotel, in dem ich wohne?“

Robert nickte.

Kein Wunder, dass er dort wohnt, dachte sie und schämte sich dafür, ihm unterstellt zu haben, kein Verantwortungsgefühl zu haben. „Das wusste ich gar nicht.“

„Er hat die Firma beauftragt, für die ich damals gearbeitet habe, und ich bin hierhergekommen, um eine Betriebsprüfung durchzuführen. Die Stadt gefiel mir auf Anhieb. Als ich das Josh gegenüber erwähnt habe, meinte er, dass sie einen neuen Leiter für das Finanzressort suchen. Ich habe mich um den Job beworben und ihn bekommen.“

„Es ist ziemlich weit von hier bis nach Oregon“, meinte sie, während sie immer noch zu begreifen versuchte, dass Josh ein Firmenmogul war.

„Ich habe nicht viel Familie. Ich bin Einzelkind, und meine Eltern waren schon recht alt, als ich zur Welt kam.“ Er lächelte versonnen. „Mom hat immer gesagt, ich sei ein Wunder.“ Das Lächeln verblasste. „Sie sind vor ein paar Jahren gestorben. Ich habe noch eine Cousine, aber das war’s auch schon. Ich habe immer gedacht, dass ich mir halt meine eigene Familie aufbauen muss.“

„Das Gefühl kenne ich“, erwiderte Charity. Sie war überrascht, wie viel Gemeinsamkeiten sie hatten. „Ich wurde von meiner Mutter großgezogen. Meinen Dad habe ich nie kennengelernt. Meine Mom ist abgehauen, als sie schwanger war, und hat mir nie verraten, woher sie kam. Ich habe mich immer gefragt, ob ich irgendwo da draußen Verwandte habe. Ob irgendjemand von uns weiß. Nach ihrem Tod habe ich mich sehr einsam gefühlt. Ich habe mich nach einem Ort gesehnt, an den ich gehöre.“

„Und so sind Sie in Fool’s Gold gelandet.“

Sie nickte. „Ein Personalvermittler hat mich kontaktiert. Ich wollte unbedingt eine Veränderung.“ Vor allem wegen einer schmerzhaften Trennung, aber davon wollte sie jetzt nicht anfangen.

„Ich bin froh, dass Sie hergezogen sind“, sagte Robert und sah ihr dabei tief in die Augen.

Er ist nett, dachte sie, als sie ihn anlächelte. Warm und liebevoll, und wir haben viele gemeinsame Ziele. Er war genau der Typ Mann, nach dem sie suchte. Wenigstens oberflächlich betrachtet. Wenn es zwischen ihnen doch nur ein bisschen geknistert hätte. Wenn es doch nur irgendetwas gegeben hätte, das …

Ihr stellten sich die Nackenhaare auf. Eine unerwartete Wärme durchflutete sie. Einen kurzen Moment dachte sie, die chemische Reaktionskette sei endlich in Gang gekommen. Auf die Erleichterung folgte allerdings sofort ein innerliches Stöhnen, als sie Josh an ihrem Tisch vorbeigehen und auf der anderen Seite des Raumes Platz nehmen sah. Offensichtlich war er hier mit Bürgermeisterin Marsha zum Essen verabredet.

„Wenn man vom Teufel spricht“, sagte Robert leichthin und nickte in Richtung der Neuankömmlinge. Marsha winkte.

„Die Kehrseite des Kleinstadtlebens?“, fragte sie.

„Wie ich Ihnen gesagt habe: keine Geheimnisse. Jetzt weiß jeder, dass wir ein Date haben.“

Josh saß direkt in ihrem Blickfeld, und es kostete sie jedes Gramm Selbstbeherrschung, um ihn nicht unumwunden anzustarren.

„Es stört mich nicht, dass es alle wissen“, erwiderte sie und zwang sich, Robert anzusehen, als wäre er der interessanteste Mann auf der Welt. Aber am liebsten wäre sie zu Marshas Tisch gerannt, hätte die ältere Frau weggeschubst und sich neben Josh gekuschelt. Allein die Tatsache, dass die Frauen bei ihm Schlange standen und jederzeit abrufbar waren, hielt sie davon ab.

„Gut“, sagte Robert glücklich. „Wollen wir bestellen?“

„Ähm, ja. Gerne.“ Sie sah auf die Karte und fragte sich, wie sie es schaffen sollte, etwas zu essen. Es würde all ihre Energie und Konzentration erfordern, sich annähernd normal zu verhalten. Also ehrlich: Sobald sie wieder in ihrem Hotelzimmer wäre, müsste sie sich dringend eine Strategie überlegen, wie sie über diese Josh-Manie hinwegkäme.

Wahllos entschied sie sich für ein Pastagericht mit Hühnchen, klappte die Speisekarte zu und griff nach ihrem Wein. Aus purer Unachtsamkeit glitt ihr Blick ein wenig nach rechts. Josh beobachtete sie, und seine Augen strahlten belustigt. Sie ertappte sich dabei, wie sie am liebsten selbst gelacht hätte.

Widerstrebend widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder Robert, der wirklich ein sehr netter Mann war. Ein viel besserer als Josh. Offensichtlich würde sie sich wieder und wieder daran erinnern müssen. Und irgendwann würde es sich in ihrem Kopf festsetzen. Es musste sich festsetzen.

Josh lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Das hast du mit Absicht gemacht.“

Marsha blickte nicht von der Speisekarte auf. „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“

„Natürlich hast du das. Du gehörst zu den gescheitesten Leuten der Stadt.“

Sie legte die Karte auf den Tisch. „Und lass mich dir sagen, wie sehr ich es zu schätzen weiß, dass du Leute sagst und nicht Frauen.“

„Gern geschehen, aber darum geht es hier nicht. Du wusstest, dass Robert und Charity hier zusammen essen würden.“

„Wusste ich das?“ Marsha schaffte es, zugleich unschuldig und süffisant auszusehen. „Sind sie hier? Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.“

Josh ließ sich nicht beirren. „Du hast explizit um genau diesen Tisch gebeten. Du wolltest, dass ich mit dem Blick zu ihr sitze.“

Marsha strich sich die weißen Haare glatt. „Ich bin eine viel beschäftigte Frau, Josh. Ich habe keine Zeit, mir Gedanken über deine letzte Eroberung zu machen, so interessant sie auch sein mag.“

„Spiel nicht die Kupplerin.“

„Hast du Angst, es könnte funktionieren?“

Das eigentliche Problem war, dass er seine alte Freundin nicht verletzen wollte. Marsha war gut zu ihm gewesen, und er hatte ihr viel zu verdanken. „Leute miteinander verkuppeln – das geht nie gut aus. Guckst du keine Realityshows?“

„Nein“, antwortete sie. „Genauso wenig wie du. Warum magst du Charity nicht?“

Er musterte die Frau, um die es gerade ging. Obwohl sie ein Date hatte, war sie wie eine konservative Lehrerin gekleidet. Ein schlichtes, bis oben zugeknöpftes Kleid. Der weite Schnitt und die Kastenjacke zeigten keine einzige Kurve. Hatte sie so wenig Selbstbewusstsein, oder meinte sie, etwas verstecken zu müssen?

Er musste feststellen, dass er wissen wollte, was von beidem zutraf. Aber noch viel mehr wollte er jeden einzelnen Knopf langsam öffnen und die weiche, warme Haut darunter enthüllen. Und zu allem Ärger musste er sich eingestehen, dass er mit ihr reden wollte. Einfach nur reden.

Daraus wird nichts, erinnerte er sich. Sex zu haben war eine sichere Sache. Aber sich emotional auf jemanden einlassen? Auf keinen Fall.

„Ich finde sie okay“, sagte er.

„Aber?“

„Sie ist nicht mein Typ.“

„Du hast doch gar keinen Typ. Denn das hieße, dass du wählerisch wärst.“

Er zog die Augenbrauen hoch.

Marsha seufzte. „So habe ich das nicht gemeint. Aber seit Angelique hast du nichts Ernstes mehr gehabt. Ihr seid mehr als zwei Jahre geschieden. Es ist langsam an der Zeit, nach vorn zu sehen.“

Sein mangelndes Interesse an Verabredungen hatte nichts mit Angelique zu tun, doch das würde er Marsha nicht sagen.

„Ich weiß es zu schätzen, dass du dich um mich sorgst, aber es geht mir gut.“

„Das stimmt nicht. Du bist einsam. Und versuch nicht, mir was anderes vorzugaukeln. Ich bin alt, und du musst mich respektieren.“

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