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Red Dirt Royalty - Brennende Leidenschaft (7in1)

hier erhältlich:

Heißblütig, draufgängerisch und verflucht sexy: Die Barron Brüder, Söhne eines einflussreichen Öl-Tycoons aus Oklahoma City, wissen, was sie wollen. Um es zu bekommen, müssen sie sich jedoch erst einmal gegenüber ihrem dominanten Vater behaupten - und auf ihrer Suche nach der wahren Liebe für das kämpfen, was ihnen am wichtigsten ist.

Sieben Brüder, sieben aufregende Romane von Silver James. Jetzt erstmals in einem Band!


  • Erscheinungstag: 28.09.2020
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1008
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745752670
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Silver James

Red Dirt Royalty - Brennende Leidenschaft (7in1)

1. KAPITEL

Chance Barron wusste immer, was er wollte. Und im Moment wollte er die attraktive Blondine an der Hotelbar.

Es war Ende März. Ein Blizzard hatte den Flughafen Chicago O’Hare lahmgelegt. Laut Wettervorhersage sollte der Sturm am Morgen vorbei sein. Dann würde er die erste Maschine zurück nach Oklahoma City nehmen. In der Zwischenzeit konnte er sich um die Frau kümmern, die die Martinis hinunterkippte wie Wasser. Von dort, wo er saß, war sie nur von der Seite sehen. Kinn und Hals bildeten ein elegantes Profil. Die rote Jacke und die schwarze Hose waren modisch – und trotz des Schnees trug sie Stiefel mit unglaublich hohen Absätzen.

Sie bestellte noch einen Martini. Er sah zu, wie ihre schlanken Finger mit dem Plastikspieß spielten. Ihre vollen Lippen schlossen sich um die reife Olive – und ließen eine ganze Reihe erotischer Bilder vor Chances geistigem Auge ablaufen. Er unterdrückte ein Stöhnen. Ein One-Night-Stand wäre jetzt genau das Richtige. Vielleicht würde ihn das in eine entspanntere Stimmung bringen für das bevorstehende Treffen mit seinem alten Herrn.

Cyrus Barron. Gedanken an seinen Vater drängten sich immer zu den unpassendsten Momenten auf. Wahrscheinlich, weil der Mann eine solche Naturgewalt war. Öl, Land und Rinder. Politik und Medien. Ganz gleich, welchen Bereich man wählte, Cyrus Barron war überall eine große Nummer. Zu schade, dass seine Sympathiewerte nicht mithalten konnten. Er hielt seine Söhne an der kurzen Leine, und Chance war keine Ausnahme. Er hatte zwar seine eigene Anwaltskanzlei, aber die Familie war sein größter Mandant. Obwohl er mit dem Zuchtbetrieb nichts zu tun hatte, hatte sein Vater ihn auf die Suche nach einem Hengstfohlen geschickt – einem Fohlen, das es in Illinois eindeutig nicht gab.

Die Bedienung kam zu ihm, auf den Lippen ein spürbar interessiertes Lächeln. Er lehnte ihr Angebot eines weiteren Drinks ab und reichte ihr eine Fünfzig-Dollar-Note. „Der Rest ist für Sie.“ Er erhob sich und ging zur Bar – nur um feststellen zu müssen, dass die Unbekannte inzwischen verschwunden war.

„Verdammt!“ Aber weit konnte sie nicht gekommen sein. Er würde sie finden und ein flammendes Plädoyer dafür halten, sich in dieser kalten Nacht gegenseitig zu wärmen.

Cassidy Morgan stand am Fenster der Hotellobby. Dicke Schneeflocken trieben vorbei – sie kam sich vor wie in einer überdimensionalen Schneekugel. Für einen Moment schloss sie die Augen.

„Ich schaffe es nicht mehr rechtzeitig, oder?“, fragte sie leise in ihr Handy.

„Nein, Babygirl.“ Baxter – Boots – Thomas hielt nichts davon, um den heißen Brei herumzureden. „Die Ärzte wissen nicht, wie er es überhaupt so lange geschafft hat.“

Sie hörte das leise Piepen der Monitore im Hintergrund. Die Resignation in der Stimme des ältesten Freundes ihres Vaters war unverkennbar.

„Hältst du ihm das Telefon ans Ohr? Ich weiß, er kann mich nicht hören, aber …“ Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen.

„Okay“, hörte sie Boots’ gedämpfte Stimme.

Zögernd begann sie, zu ihrem Vater zu sprechen. Sprach von Erinnerungen. Schließlich brach ihre Stimme, und sie weinte nur noch. Als ihre Mutter an einer Lungenentzündung gestorben war, war Cassie gerade drei Jahre alt gewesen – zu klein, um den emotionalen Schmerz bewusst zu registrieren. Aber jetzt? Dieser Schmerz war schlimmer als alles, was sie je durchlebt hatte. Sie wollte bei ihm sein. Wollte seine Hand halten, während er ging. Er war immer für sie da gewesen. Und sie hatte ihn immer wieder enttäuscht.

Plötzlich glaubte sie die Stimme ihres Vaters zu hören: „Cowgirls weinen nicht, Baby. Aufstehen und weitermachen!“

Sie hörte ihn scharf einatmen. Und dann nichts mehr. Der große starke Bär von einem Mann, der ihr Vater gewesen war, lebte nicht mehr.

„Bist du okay, Babygirl?“ Boots war wieder in der Leitung.

Cass fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Verdammt, nein, sie war nicht okay. Aber sie musste sich zusammenreißen. Musste sich kümmern. Ob sie es wollte oder nicht. „Ich bin so bald wie möglich da, Onkel Boots. Ich stecke hier fest, bis der Blizzard vorbei ist. Ich konnte nicht einmal zurück in mein Apartment, deswegen verbringe ich die Nacht hier im Hotel am Flughafen.“ Sie schluckte, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. „Rufst du das Bestattungsinstitut für mich an? Damit sie ihn abholen und … Ich … Sie sollen mit der Einäscherung warten, bis ich da bin. Ich … ich muss ihn noch einmal sehen. Um mich zu verabschieden. Okay?“

„Natürlich, Babygirl. Ich kümmere mich darum.“

„Ich liebe dich, Onkel Boots.“

„Ich liebe dich auch, Babygirl.“

Sie ließ das Handy in die Tasche gleiten. Verdammt! Verdammt, Verdammt! Sie wollte nicht weinen. Nicht in der Öffentlichkeit. Hatte sie das nicht von ihrem Dad gelernt? Cowgirls weinen nicht. Aber verdammt, sie war kein Cowgirl mehr. Cass lehnte ihre Stirn an die kalte Scheibe.

Sie hatte die Ranch vor zehn Jahren verlassen. Mit großen Träumen. Träumen von einem Leben in der großen Stadt, wo die Sterne am Himmel hinter den Lichtern der Wolkenkratzer verblassten. Wo das Geräusch des Verkehrs klang wie ein fernes Gewitter.

Das Leben auf der Ranch war hart. Es begann früh am Morgen und endete spät am Abend. Ständige Sorgen um das Wetter – entweder war es zu heiß oder zu kalt, es regnete zu viel oder zu wenig. Dazu kamen Krankheiten, die eine Herde innerhalb kürzester Zeit dahinraffen konnten. Dann der Gipfel der Härte: das Rodeo. Ihr Vater hatte es geliebt. Und auch sie hatte es geliebt. Damals, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.

Cass wollte nicht nach Hause fahren. Wollte nicht Abschied nehmen müssen von dem Mann, an dem sie alle anderen Männer maß. Ganz gleich, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Ganz gleich, wie sehr er von ihr enttäuscht gewesen war – er hatte sie immer geliebt. Und nun war er nicht mehr da.

Sie beschloss, ins Bett zu gehen – auch wenn sie noch einen weiteren Martini hätte vertragen können. Nicht dass es helfen würde. Alkohol konnte den Schmerz nicht beseitigen, nur vorübergehend betäuben wie eine Spritze beim Zahnarzt. Und ähnlich fühlte sich ihr Herz an in diesem Augenblick – wie eine pochende Wunde. Verursacht von ihrem Egoismus. Seit einem Jahr war sie nicht mehr zu Hause gewesen. Und nun war es zu spät.

Cass drehte sich um – und prallte gegen eine muskulöse Brust.

„Vorsicht!“

Der Mann packte sie bei den Oberarmen und gab ihr Halt. Sie hob den Kopf. Registrierte ein markantes Kinn, den Schatten eines Bartes und braune Augen. Sein dunkles Haar, das ihm in die Stirn fiel, war gerade lang genug, um den Kragen seines Hemdes zu berühren.

„Es tut mir leid, ich habe Sie nicht gesehen.“ Es bestürzte sie, wie atemlos ihre Stimme selbst in ihren eigenen Ohren klang. Es war die Überraschung. Nichts weiter.

„Kein Problem. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

Sie wich einen Schritt zurück. „Mich können Sie nicht erschrecken, Mister.“ Erst jetzt nahm sie ihn richtig wahr. „Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Haben wir uns schon einmal gesehen?“

„Daran würde ich mich erinnern.“ Er streckte die Hand aus, als wolle er sich vorstellen – aber in diesem Moment ließ die Erkennungsmelodie einer alten Fernsehshow sie beide zusammenfahren. Sein Handy.

Frustriert murmelte er etwas, das so klang wie „Verdammt, entschuldigen Sie mich“.

Cass trat beiseite, um etwas mehr Abstand zwischen sich und den Fremden zu bringen. Für einen Moment fragte sie sich, ob er ein Stalker war. In der Bar war ihr ein Mann aufgefallen, der sie zu beobachten schien. War es derselbe Mann gewesen? Sie hatte ihn nicht genau erkennen können, da er im Schatten gesessen hatte.

Er setzte ein Lächeln auf, doch weiter kam er auch dieses Mal nicht – jetzt meldete sich das Handy mit dem Klang einer schrillen Sirene. Einige Gäste des Hotels sahen irritiert zu ihnen herüber.

„Das hört sich wahrlich nach einem Notfall an“, bemerkte Cass trocken.

Chance griff in die Jackentasche. Irgendeiner seiner Brüder hatte die verdammten Klingeltöne umprogrammiert – er hätte ihn umbringen können! „Was ist?“, knurrte er unwirsch in den Hörer.

„Komme ich ungelegen?“

Chance sah das Grinsen seines Bruders förmlich vor sich. „Du kommst immer ungelegen, Cord. Sag dem alten Herrn, dass ich hier in Chicago feststecke, bis dieser Blizzard vorbei ist.“ Er hörte kaum auf die Antwort seines Bruders, weil er sich ganz auf die junge Frau konzentrierte. Irgendetwas in ihrem Ausdruck hielt ihn gefangen. Etwas, das er nicht gleich benennen konnte. Trauer vielleicht?

„Chancellor! Hörst du mir überhaupt zu?“

„Nein.“ Nicht einmal der Gebrauch seines vollen Namens konnte seine Aufmerksamkeit auf sich lenken.

„Das solltest du aber. Der Alte will, dass du sofort nach Hause kommst. Er wollte sogar eine seiner Maschinen schicken, aber die Piloten haben sich wegen des Wetters geweigert. Er ist stinksauer, aber er kann sie ja nicht alle entlassen.“

Chance seufzte. Der Jähzorn seines Vaters war legendär. Seine Neigung, Angestellte bei dem kleinsten Anlass fristlos zu feuern, sorgte dafür, dass es ständig juristische Probleme gab. Und das war dann sein Ressort. Es war seine Pflicht, diese Dinge auszubügeln, wie Cyrus Barron fand – Teil des Preises dafür, den er für das Privileg zu zahlen hatte, zu einer der reichsten und mächtigsten Familien Oklahomas zu gehören. Und er zahlte diesen Preis, weil es seine unbestreitbaren Vorzüge hatte, ein Barron zu sein.

„Ich habe einen Platz in der ersten Maschine morgen früh. Hast du eine Ahnung, worum es geht?“

„Es scheint irgendein Megaproblem zu sein. Der Alte hat schon Spuren in den Teppich getreten vom vielen Hin- und Herrennen. Dabei murmelt er ständig etwas vor sich hin von einem alten Bastard, der glaubt, ihm entkommen zu können, indem er einfach stirbt. Das Ganze garniert mit jeder Menge Flüche. Er hatte eine Karte auf dem Konferenztisch liegen. Ich nehme an, er will irgendetwas kaufen und wird kein Nein akzeptieren.“

„Und was ist daran neu?“

Cord begriff den rhetorischen Charakter der Frage nicht und erging sich lang und breit in einer Antwort, die Chance nur als Hintergrundrauschen wahrnahm. Seine Aufmerksamkeit galt wieder der jungen Frau. Sein Instinkt riet dringend zur Flucht. Die Trauer in ihrem Blick verhieß nichts als Ärger und Komplikationen. Mit seinem Vater auf dem Kriegspfad konnte er sich weder das eine noch das andere leisten. Er schaltete innerlich wieder um auf die Stimme seines Bruders.

„Nicht genug damit, dass Clay Senator ist. Der Alte will, dass Chase sich im nächsten Jahr um das Amt des Gouverneurs bewirbt.“

Das war ein Thema, das eindeutig nicht für fremde Ohren bestimmt war. Er kehrte der jungen Frau den Rücken zu und trat ein wenig beiseite. „Chase soll in die Politik gehen? Mein Gott, der Alte scheint den Blick für die Wirklichkeit zu verlieren!“

„Wir wollen dankbar sein, dass er im Moment weder Pläne für dich noch für mich hat, Bruder.“

Chance drehte sich um und sah seine Pläne des Abends gerade im Fahrstuhl verschwinden. Er hatte noch ihren Duft in der Nase – Mandel, Orange und eine Spur Zitrone. Ein Duft, so einzigartig wie die ganze Frau. Frustriert konzentrierte er sich wieder auf die Stimme seines Bruders.

„Der Alte ist wütend, Chance. So habe ich ihn noch nie erlebt. Nicht einmal, als Tammy mit dem Vorarbeiter durchgebrannt ist.“

Chance verdrehte die Augen. Tammy war Ehefrau Nummer sechs gewesen. Oder sieben? Halb so alt wie sein Vater und mit einer Figur wie Dolly Parton. Irgendwann hatte sie ein Auge auf den Vorarbeiter der Ranch geworfen und ihn überredet, mit ihr durchzubrennen. Sie drohte, sich mit irgendwelchen Familiengeschichten an die Boulevardpresse zu wenden, um für einen Skandal zu sorgen. Als Anwalt der Familie hatte Chance die Aufgabe, eine finanzielle Einigung mit ihr zu erzielen, um den Ärger abzuwenden. Ihre Tinte unter der Vereinbarung war noch nicht trocken, als er schon für seinen Vater die Scheidung einreichte.

„Was zum Teufel ist los, Cord? Du hast mich gerade um eine heiße Nacht gebracht. Ich hoffe, es gibt einen guten Grund für den Aufstand des Alten.“

„Sagt der Name Ben Morgan dir etwas?“

Chance überlegte einen Moment. „Vage. Ein alter Rodeo-Reiter, oder?“

„Genau der. Der Alte und Morgan sind bei paarmal aneinandergeraten, einmal wegen einer Frau.“

„Ach Gott, nein – welche der Stiefmonster war es?“

„Keine. Das Ganze liegt schon Ewigkeiten zurück. Bevor er Mom geheiratet hat.“

Chance rieb sich die Stirn. „Verdammt, Cord – ich weiß, dass der Alte nachtragend ist, aber so lange? Das wäre doch absurd!“

„Wem sagst du das?“ Cord stöhnte theatralisch. „Du kannst es dir nicht vorstellen! Wie konnte Morgan es wagen zu sterben, bevor der Alte ihn vernichten konnte?! Im Moment interessiert ihn nicht einmal, dass du dieses verdammte Fohlen nicht gefunden hast.“

„Nun sag nur nicht, dass die Sache mit dem Fohlen derart wichtig war!“

„Du weißt, wie er es hasst zu verlieren. Die gute Nachricht ist doch, dass er im Moment von diesem Problem abgelenkt ist. Es gibt da irgendeinen juristischen Mist mit diesem Ben Morgan. Der Alte will, dass du dich darum kümmerst. Ich dachte, ich warne dich vor, damit du weißt, was auf dich zukommt.“

„Danke. Ich werfe gleich mal den Laptop an und mache ein paar Nachforschungen.“

„Ich maile dir die Einzelheiten. Und Chance? Tut mir leid, dass ich dir die Nacht verdorben habe.“

„Das hört man!“

Chance ließ das Handy in der Jackentasche verschwinden. Diese ganze Reise war eine einzige Katastrophe. Sein Blick glitt zur Bar. Die Bedienung würde über kurz oder lang Feierabend machen … Erstaunlicherweise war sein Interesse an ihr nach dem Kontakt mit der blonden Unbekannten plötzlich erloschen – zumindest für diesen Abend. Kurz entschlossen begab er sich zum Fahrstuhl. Er hatte einiges zu erledigen.

2. KAPITEL

Cass löste den Gurt, als die Durchsage kam, der Abflug werde sich verspäten. Offenbar ließ irgendein Passagier auf sich warten. In der Economy war alles besetzt, also musste es sich um jemanden aus der Ersten Klasse handeln.

Sie schloss die Augen. Nach Hause zu fahren war immer schwer – deswegen hatte sie es so lange vermieden, obwohl Boots sie immer wieder gedrängt hatte zu kommen. Und nun war ihr Dad nicht mehr da – und so vieles war ungesagt geblieben zwischen ihnen. Sie schluckte ihre Schuldgefühle hinunter. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Vater verstanden hatte, was sie ihm hatte sagen wollen …

Endlich war die Maschine bereit zum Abflug. Cass drückte ihre Füße gegen den Boden und verschränkte die Finger im Schoß. Sie flog nicht gern. Besonders Start und Landung waren ihr ein Gräuel. Sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen, und konzentrierte sich darauf, ruhig zu bleiben. Aus irgendeinem Grund musste sie an den Mann aus dem Hotel denken. Er hatte nach Leder und Regen an einem heißen Tag gerochen. Eine merkwürdige Kombination, die Erinnerungen an ihre Kindheit weckte. Erinnerungen an das Leben auf der Ranch und an die Rodeo-Arenen.

Er hatte ein modisches weißes Hemd getragen wie ein Banker, aber dazu eine eng sitzende Jeans. Und Stiefel. Sie runzelte die Stirn. Nicht dass Menschen in Chicago keine Westernstiefel getragen hätten. Einige von ihnen trugen sie sogar in echt, nicht nur als modisches Accessoire.

Ihr Magen machte einen Satz, als die Maschine abhob. Eine Durchsage informierte über Wetter und Flughöhe, aber Cass konnte es kaum verstehen, weil ihre Ohren wie blockiert waren. Um sich abzulenken, dachte sie wieder an die kurze Begegnung vom Vorabend.

Unter anderen Umständen hätte sie sich von dem Mann vielleicht auf einen Drink einladen lassen. Er war unglaublich sexy. Die Hände kräftig und gleichzeitig zart. Sie war nicht klein, aber er überragte sie noch um einiges. Er hatte etwas an sich, das ihr heiß werden ließ. Schon seit Ewigkeiten hatte kein Mann sie mehr derart fasziniert. Plötzlich fiel ihr wieder der Anlass für ihren Flug ein.

Es tut mir leid, Daddy! Sie entschuldigte sich in Gedanken für ihr unangebrachtes Interesse an dieser Zufallsbekanntschaft. Und nicht nur dafür. Sie kämpfte mit den Tränen. Aber sie durfte nicht weinen. Nicht hier. Nicht jetzt!

In Gedanken hörte sie wieder die leise Stimme ihres Vaters. Cowgirls weinen nicht.

Sie war schon seit zehn Jahren kein Cowgirl mehr. Seit sie von zu Hause fortgegangen war, um das College zu besuchen. Und anschließend hatte sie dann den Job in Chicago angenommen. Seither war sie nur wenige Male auf der Ranch gewesen. Sie hasste die Hitze und den Staub. Hasste den Geruch von Pferdemist.

Sie würde die Ranch verkaufen, würde Boots irgendwo gut unterbringen und dann so schnell wie möglich nach Chicago zurückkehren. Das hätte auch ihr Vater von ihr erwartet. Sie hatte ihm oft genug gesagt, sie werde nicht zurückkommen. Werde die Ranch nicht übernehmen.

Der Passagier vor ihr schob seinen Sitz so weit zurück, dass der Kaffee, den die Stewardess gerade gebracht hatte, aus dem Becher schwappte. Der Mann zu ihrer Rechten am Fenster schnarchte. Sein Kopf drohte auf ihre Schulter zu fallen. Sie konnte ihm gerade noch ausweichen, stieß dabei aber die Frau zu ihrer Linken an, was ihr einen eisigen Blick eintrug. Cass verdrehte die Augen. Blieb nur zu hoffen, dass dieser Höllenflug bald zu Ende war.

Sie trank den restlichen Kaffee und reichte der vorbeigehenden Stewardess den leeren Becher und die vollgesogene Serviette. Eine Sardine in der Büchse konnte sich nicht beengter fühlen. Um die Realität auszublenden, schloss sie die Augen. Gedanken an den attraktiven Cowboy vom Vorabend schwirrten ihr durch den Kopf. Sie war sicher, ihn von irgendwo her zu kennen. Da sie nicht viel fernsah, verwarf sie den Gedanken, er könne Schauspieler sein. Konnte sie ihn vom College her kennen? Oder vielleicht noch von der High School? Sie hatte kein gutes Gedächtnis für Gesichter, aber dieser Mann hatte irgendetwas an sich, das vage Erinnerungen wachrief.

Als sie nicht weiterkam, gab sie es schließlich auf. Sie klappte das Tischchen hoch und schloss den kleinen Riegel mit mehr Schwung als nötig. Dann streckte sie die Beine aus und stieß energisch mehrmals mit den Zehen von unten an den Sitz vor ihr. Der Fluggast drehte sich empört zu ihr herum, und sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihm wie eine Zweijährige eine Grimasse zu schneiden. Ihr war alles einerlei. Nach ein paar Sekunden wandte der Mann sich kopfschüttelnd wieder ab, und da er seinen Sitz ein wenig höher stellte, hörte sie auf, dagegenzukicken.

Erinnerungen an ihren Vater kamen hoch und trieben ihr erneut Tränen in die Augen. Vergebens versuchte sie, sie zurückzuhalten. Sie war eine schreckliche Tochter. Ihr Vater war gestorben, und sie hatte es nicht einmal geschafft, rechtzeitig bei ihm zu sein und sich zu verabschieden. Boots hatte sie seit Monaten gebeten zu kommen, und sie hatte es immer wieder hinausgeschoben. Ihr Vater war zu stolz gewesen, selbst anzurufen. Und sie zu stolz, um nachzugeben. Jetzt war es zu spät.

Cass fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Dabei stieß sie mit dem Ellenbogen gegen ihre Nachbarin. Die Frau atmete hörbar ein und beugte sich ein wenig zur Seite. Ihre Miene sprach Bände.

Plötzlich riss der letzte Faden mühsam gezügelter Selbstbeherrschung. „Entschuldigen Sie, dass ich weine!“ Cass machte sich nicht die Mühe, ihre Stimme zu senken. „Mein Vater ist letzte Nacht gestorben, und ich konnte nicht bei ihm sein. Ich bin auf dem Weg nach Hause, um ihn zu beerdigen. Falls mein Weinen Sie zu sehr behelligt, setzen Sie sich doch woanders hin!“

Das allgemeine Gemurmel rundum verstummte abrupt. Cass spürte, dass sie rot geworden war – ein Erbe ihrer Mutter. Sie wurde immer rot, wenn sie wütend wurde, weinte oder zu sehr lachte.

Ihre Sitznachbarin sah sie fassungslos an.

Cassie hatte noch eine Fortsetzung ihrer Tirade auf der Zunge, hielt sie aber doch zurück. Stattdessen verschränkte sie die Arme vor der Brust und starrte mit eisiger Miene geradeaus.

Chance nippte an seinem Kaffee und überflog die Informationen auf dem Bildschirm seines Laptops. Er fand alles Mögliche über seinen Vater. Der Alte tat so, als sei er mit dem legendären goldenen Löffel geboren, aber die Wahrheit sah anders aus. Als junger Mann hatte er auf den Ölfeldern und auch als Rancher gearbeitet. Nebenher hatte er sich als Reiter beim Rodeo Geld verdient.

Und er hatte eine Frau namens Colleen geliebt, bevor er Alice, die spätere Mutter seiner Söhne, kennengelernt und geheiratet hatte. Durfte man den Zeitungen der Zeit Glauben schenken, hatte Cyrus sogar ein paar Tage im Gefängnis verbracht. Das war nach einer riesigen Schlägerei auf einer Rodeo-Veranstaltung in Fort Worth gewesen. Dabei hatte er Ben Morgan ins Krankenhaus gebracht und seine Karriere als Rodeo-Reiter beendet. Kurz darauf hatte Colleen ihm den Laufpass gegeben und Ben geheiratet. Aber Cyrus Barron war nicht der Mann, der seinen Hass auf Ben vergaß. Immer wieder warf er ihm Steine in den Weg, um ihn zu vernichten. Aber Morgan ließ sich nicht beirren. Er baute sich eine Existenz auf, um seiner Frau etwas bieten zu können – zunächst machte er sich einen Namen als Händler für Rodeo-Pferde, dann auch als Pferdetrainer.

Chance rieb sich den schmerzenden Nacken. Sein Vater war kein Mensch. Das Objekt seines Hasses war tot, und nicht einmal jetzt konnte er Ruhe geben. Cord hatte am Morgen eine E-Mail geschickt. Offenbar hatte Ben Morgan einen Kredit bei einer kleinen Bank aufgenommen und als Sicherheit eine Hypothek auf seine Ranch aufgenommen. Diese Bank war unlängst von Barron Enterprises aufgekauft worden. Der Alte wollte, dass Chance sich die Kreditunterlagen besorgte. Da er Ben Morgan nun nicht mehr mit seinem Hass verfolgen konnte, wollte er seinen Feldzug offensichtlich gegen seine Erben fortsetzen und eine Möglichkeit suchen, den Kredit sofort fällig zu stellen.

Typisch sein Vater! Chance musste ihm zugestehen, dass er seinen Gegnern immer mehrere Schritte voraus war. Er selbst hatte den Kauf der Bank seinerzeit für Unsinn gehalten, da der Aufwand in keinem Verhältnis zum Gewinn zu stehen schien. Aber Cyrus bestand auf seinem Willen, sodass Chance schließlich ein paar Experten an Bord holte, die sich mit den Regularien der Übernahme einer Bank auskannten. Der Alte wollte die Bank. Also bekam er die Bank. Und jetzt wusste Chance, wieso.

Er schloss den Laptop und hielt seinen Becher zum Nachfüllen hin, als die Stewardess mit der Kanne vorbeikam.

„Wissen Sie, ich habe gelegentlich Zwischenlandungen in Oklahoma City“, flüsterte sie mit einem vielsagenden Lächeln. Chance sah auf. Sie mochte Ende zwanzig sein. Die Uniform zeigte Rundungen an all den richtigen Stellen. Die Frau war genau sein Typ. Sehr weiblich. Aber noch während er ihr Lächeln erwiderte, erschien ein anderes Gesicht vor seinem geistigen Auge. Sein Herz machte einen Satz. Er wusste nicht einmal ihren Namen, und schon verfolgte sie ihn!

„Tut mir leid, dies ist nur eine kurze Geschäftsreise für mich“, log er. Und während er ihre Enttäuschung registrierte, fragte er sich, was in ihn gefahren war. Wieso lehnte er ein derartiges Angebot ab?

Es war unwahrscheinlich, dass er der Unbekannten je wieder über den Weg laufen würde. Aber hatte er nicht einen Bruder, der Privatdetektiv war und Barron Security leitete? Er würde Cash auf sie ansetzen. Eine Nacht mit ihr, das war alles, was er wollte. Dann hatte er sie wieder aus dem Kopf, da war er sicher.

Er rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her – froh, dass der kleine Tisch und der Laptop seinen Zustand kaschierten. Er wusste nicht, wieso diese Frau ihm so unter die Haut gegangen war, aber genau das hatte sie getan – sie saß fest wie eine Klette unter dem Sattel.

Nach der Landung gehörte er zu den Ersten, die die Maschine verließen. Da er kein Gepäck aufgegeben hatte, konnte er gleich durchgehen zum Parkdeck. Angenehme Märzwärme empfing ihn. Keine Spur von dem Blizzard, der den Norden heimgesucht hatte. Chance registrierte es voll Dankbarkeit. Er hasste Kälte. Hitze natürlich auch. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er irgendwo gelebt, wo das ganze Jahr über eine angenehme Temperatur von zwanzig Grad herrschte.

Nachlässig warf er Tasche und Laptop auf den Beifahrersitz, bevor er seinen schwarzen Audi R8 die Rampe hinunter zum Ausgang rollen ließ. Er stoppte gerade lange genug, um an der Schranke seine Gebühren zu zahlen, dann gab er Gas, ohne auf die Wagen der anderen Spuren zu achten. Das Geräusch bremsender Reifen und ein empörtes Hupen ließen ihn nach links schwenken und einen Aufprall in letzter Sekunde vermeiden. An der nächsten Ampel warf er einen flüchtigen Blick auf den alten Pick-up auf der Nebenspur. Dann sah er genauer hin. Der alte Mann am Steuer sagte ihm nichts, aber die Frau daneben … Ja, das war sie! Die blonde Unbekannte aus dem Hotel! Sie hatte das Fenster heruntergelassen. Die Empörung, die in ihrem Blick brannte, hätte die Metallic-Legierung seines Audis zum Schmelzen bringen lassen können.

Seine Scheiben waren dunkel getönt. Es war also unwahrscheinlich, dass sie ihn erkennen konnte. Als die Ampel umsprang, beschleunigte er nicht wie gewohnt, sondern wartete, bis er sich hinter den Pick-up schieben konnte. Er merkte sich das Nummernschild. Nun hatte er etwas in der Hand, worauf er Cash ansetzen konnte.

Die Welt sah doch gleich ganz anders aus!

„Hast du den Idioten gesehen? Der hat seinen Führerschein wohl aus der Baumschule!“

„Die Leute hier haben etwas mehr Tempo drauf, Babygirl. Ist ja nichts passiert.“ Boots spuckte aus dem Fenster.

„Der Kautabak ist nicht gut für dich, Onkel Boots.“

„Das ist das einzige Laster, das mir geblieben ist, Cassie, und ich werde nicht ewig leben. Lass mir dieses Vergnügen.“

Sie schwieg. Die alte Pferdedecke, die auf dem Sitz lag, kratzte durch ihren Pullover hindurch. Sie hatte die schwere Jacke gleich ausgezogen, als sie den Terminal verlassen hatte. Verglichen mit den Temperaturen in Chicago fühlten sich die zehn Grad in Oklahoma City schon fast sommerlich an. Der Australian Shepherd, der neben ihr auf dem Sitz lag, gähnte. Geistesabwesend kraulte Cass ihm das Fell.

„Dein Leben möchte ich haben, Buddy. Den ganzen Tag nichts anderes tun als in der Sonne schlafen oder Eichhörnchen jagen. Du brauchst dich nicht um die blöden Menschen zu kümmern. Kannst sie einfach wegbeißen oder anpinkeln.“

„Gib acht, was du sagst, Cassidy Anne Morgan! Ich möchte nicht, dass du den armen Hund verdirbst.“

„Yessir!“ Sie lachte leise.

Einige Minuten vergingen im Schweigen. Ein paarmal räusperte sich der alte Mann, sagte aber nichts. Erst ein paar Blocks später, als sie wieder an einer roten Ampel hielten, sah er zu Cassie hinüber. „Ich werde ihn vermissen“, sagte er leise.

Cass presste die Lippen aufeinander, aber sie verlor den Kampf gegen ihre Tränen. Erneut rollten sie ihr über die Wangen. Schweigend reichte Boots ihr ein verblichenes rotes Taschentuch.

„Wieso hast du es mir nicht gesagt?“

„Was, Cassie? Ich habe dich oft genug gebeten, nach Hause zu kommen.“

„Du hättest sagen sollen, dass er stirbt.“

„Ich habe dir gesagt, dass es ihm nicht gut geht.“

„Da ist ja wohl ein Unterschied zwischen nicht gut gehen und sterben!“ Die Empörung ließ ihre Tränen versiegen.

„Genau so ein Unterschied wie zwischen zu stolz sein, sich zu versöhnen, und zu beschäftigt sein, sich Gedanken um seinen Daddy zu machen.“

Er hat angefangen.“ Sie wand sich innerlich. Das klang wie ein schmollendes Kleinkind. Aber es stimmte. Ihr Dad hatte sich von Anfang an gegen alle ihre Pläne gesträubt. Wieso ein College und nicht die Ranch? Und wenn schon ein College, wieso dann nicht eines in der Nähe? Sie hatte sich nur über seinen Willen hinwegsetzen können, weil sie dank ihrer guten Zensuren problemlos ein Stipendium bekam. Zwar musste sie nebenher jobben, um über die Runden zu kommen, aber das machte ihr nichts aus. Anschließend bekam sie eine Anstellung bei der Chicago Mercantile Exchange, einer der größten und ältesten Börsen der Welt. Der Job machte sie nicht reich, aber auf jeden Fall musste sie nicht in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett, um den Stall auszumisten oder stundenlang Tiere zu suchen, die es nicht schafften, bei Unwetter von allein in den Stall zu kommen.

Cass sah zu Boots hinüber. Er sagte kein Wort, aber seine Wangen waren nass von Tränen und die Hände, mit denen er fest das Steuer umklammerte, verrieten seine Anspannung. Spontan legte Cass ihre Hand auf die des alten Mannes.

„Du hast recht, Onkel Boots.“

„Ach, weißt du … Ihr beiden seid euch so verdammt ähnlich. Beide halsstarrig bis zum Geht-nicht-mehr! Aber er hat dich geliebt. Und er war stolz auf dich.“

„Nein.“ Cass schüttelte den Kopf. „Nein, das war er nicht. Ich habe ihn enttäuscht. Ich bin nicht auf der Ranch geblieben. Ich habe nicht geheiratet. Habe ihm keine Enkelkinder geschenkt. Ich habe nichts von dem getan, das er sich von mir gewünscht hat.“

„Er wollte nur eines: dass du glücklich bist, Babygirl.“

Cass war sicher, dass Boots sich irrte. Sie war nichts als eine Enttäuschung gewesen für ihren Dad, und zwar von dem Tag an, an dem sie achtzehn geworden war und bei einer Rodeo-Veranstaltung in Denver auf dem Rücksitz eines Pick-ups ihre Unschuld verloren hatte. Danach hatte sie beschlossen, nie wieder zu reiten.

Boots parkte den Wagen vor dem Bestattungsunternehmen. Keiner von ihnen stieg aus. Am liebsten hätte Cass ihn gebeten, einfach weiterzufahren. Aber sie wusste: Sie würde es ewig bereuen, wenn sie jetzt nicht Abschied nahm von ihrem Vater.

„Okay.“ Sie holte tief Luft. „Lass uns gehen.“

Sie hakte sich bei Boots unter. „Wir schaffen das, oder?“

Er strich ihr über die Hand. „Du weißt ja, was dein Daddy immer gesagt hat.“

Sie atmete tief durch. „Cowgirls weinen nicht. Aufstehen und weitermachen. Du glaubst nicht, wie ich das immer gehasst habe!“

Er lachte leise.

Minuten später stand sie an der Bahre ihres Vaters. Sein Gesicht war im Laufe der vergangenen Jahre hagerer geworden, das Haar spärlicher. Seine Züge wirkten wächsern. Cass schluckte. Das war nicht ihr Vater. Er war voller Leben gewesen. Voller Lachen. Sie streckte die Hand aus, wollte ihn berühren und konnte es doch nicht.

„Oh, Daddy.“ Tränen drohten sie zu ersticken. „Ich vermisse dich so. Es tut mir leid. Alles tut mir leid. Verzeihst du mir?“

Chance saß auf dem Parkplatz in seinem Wagen und machte sich Notizen, während er mit seinem Bruder Cash sprach. „Ben Morgan hat also eine Tochter.“ Eine Erbin machte die Sache komplizierter. Sein Vater wollte, dass er den Kredit sofort fällig stellte. Bei Zahlungsverzug fiel die Ranch automatisch an die Bank und konnte zwangsversteigert werden. Er schien es unter allen Umständen vermeiden zu wollen, dass die Erben eine Chance hatten, die in Kürze fällige Kreditrückzahlung zu leisten. „Hast du einen Namen?“

„Cassidy. Ich habe jemanden auf sie angesetzt. Oh, da fällt mir ein – ich habe die Information zu dem Nummernschild, das du mir genannt hast. Der Wagen gehört einem Baxter Thomas.“

Irgendetwas klingelte. „Woher kenne ich den Namen?“

„Keine Ahnung, Chance. Soll ich seine Finanzen überprüfen lassen?“

„Nein, gib ihn einfach bei Google ein. Mal sehen, was dabei herauskommt.“ Er wartete angespannt, während er das Klacken der Tasten über sein Handy hörte.

Cash stieß einen leisen Pfiff aus. „Das ist ja interessant. Baxter Thomas ist auch Boots Thomas.“

„Der Rodeo-Clown?“ Heute nannte man diese Männer Stierkämpfer, was dem Charakter ihrer Arbeit in der Arena angemessener war. Sie lenkten den Stier ab, wenn der Rodeo-Reiter in Schwierigkeiten war. Boots Thomas war eine Legende. Jeder, der einmal etwas mit Rodeo zu tun gehabt hatte, kannte seinen Namen.

„Genau der. Dem Bericht nach waren er und Ben Morgan Partner in einer Firma, die Pferde für das Rodeo lieferte.“ Cash pfiff noch einmal. „Und es kommt noch dicker. Cassidy Morgan war früher einmal ein Champion-Cowgirl. Sie hat vor zehn Jahren aufgehört – nach dem Sieg in der Denver Stock Show. Das war in dem Jahr, als du mit Cord zusammen dort das Team-Roping gewonnen hast.“

„Das ist ja unglaublich!“ Hatte er sie beim Rodeo gesehen? Wahrscheinlich nicht, sonst hätte er sich an sie erinnert. Er hatte seine Rodeo-Karriere nach dem Sieg beendet. Auf Wunsch seines Vaters sollte er Jura studieren, und da blieb ihm keine Zeit mehr für Rodeo. Oder Cowgirls. Aber wie war das jetzt? Boots Thomas, der Fahrer des Pick-ups, war der Partner von Ben Morgan gewesen. Und neben ihm hatte die blonde Unbekannte gesessen. Konnte es sein, dass sie die Tochter von Morgan war …?

„Chance? Hast du mir zugehört?“

Nein, das hatte er nicht. „Was?“

„Übermorgen wird ein Gedenkgottesdienst für Ben Morgan im Pleasant Hills Funeral Home abgehalten. Es wäre doch ein richtiger Coup, der Erbin dort die Kündigung des Kredits zu überreichen.“

„Mein Gott, Cash – du bist schon genau so ein Ekel wie der Alte! Wann ist die Feier?“

„Um zehn Uhr morgens. Wieso? Hast du etwa doch die Absicht, dort aufzutauchen?“

Er zog es vor, seine Motive nicht zu hinterfragen, als er sagte: „Es könnte keine schlechte Idee sein hinzugehen. Einfach um ein Gefühl für die Angelegenheit zu bekommen.“ Beruflich. Seine Absicht war rein beruflich. Aber er konnte seinen Job machen, ohne sich wie der letzte Mensch zu benehmen – auch wenn sein Vater die Absicht hatte, der trauernden Tochter seines Erzfeindes das Erbe unter den Füßen wegzuziehen. Er glaubte nicht an Zufälle, aber die Wahrscheinlichkeit wuchs, dass seine geheimnisvolle Unbekannte Cassidy Morgan war.

Chance ließ den Motor an und fuhr nach Hause. Ihm blieb genügend Zeit, die Papiere fertig zu machen. Zuerst einmal wollte er duschen und sich umziehen – er fühlte sich plötzlich so schmutzig.

Cassie trug Schwarz – eine schwarze Jacke, dazu einen schwarzen Rock und schwarze Pumps – und kam sich völlig fehl am Platze vor. Alle anderen waren in farbenfroher Westernkleidung gekommen. Der Raum ähnelte einer bunten Patchworkdecke – vertraut und warm, wie die Menschen, die sich hier versammelt hatten. Die kleine Kapelle war bis auf den letzten Platz gefüllt. Alte Rodeo-Reiter waren gekommen, Nachbarn und viele Freunde, die sich im Laufe eines Lebens gefunden hatten. Der Tod war ein Teil dieses Lebens. Ihr Dad hatte einmal gesagt, Anzüge seien für Hochzeiten und Beerdigungen, aber nirgendwo stünde, dass sie schwarz sein müssten. Daran hätte sie denken sollen.

Der vordere Teil des Raums wirkte wie eine bunte Blumenwiese. Sie kannte den Pfarrer nicht, aber er schien alles über ihren Dad zu wissen. Seine kurze Trauerrede zeichnete ein lebendiges Bild des Toten. Als er fertig war, lud er alle ein, ein paar Worte zu sagen oder eine Erinnerung zu teilen.

Jemand räusperte sich. Stühle wurden gerückt, mit schweren Schritten kam ein kräftiger Mann mit zotteligem Bart und Tabakpfriem im Mund nach vorn und ergriff das Wort.

„Es ist ungefähr vierzig Jahre her, da hat Ben Morgan mir das Leben gerettet. Wir waren noch grün hinter den Ohren. In unseren Zwanzigern. Es war beim Fort Worth Rodeo. Ich hing auf dem Stier fest, Red Devil. Boots war der Clown und Ben der Pick-up-Reiter. Boots lenkte Devil ab, und Ben sprang von seinem Pferd und packte den Stier bei den Ohren. Er zwang ihn so lange in die Knie, bis die anderen mich frei schneiden konnten. Das Nächste, was ich wusste, war: Ich saß auf dem Hintern im Dreck, und Ben flog durch die Arena. Der verdammte Stier brach Ben drei Rippen, aber er stand einfach wieder auf und machte weiter. Er war ein Teufelskerl. Er wird uns fehlen.“

Ein zustimmendes Gemurmel begleitete den Mann zurück zu seinem Platz. Als Nächstes trat eine ältere Frau an das Mikrophon. Vorher reichte sie Cassie die Hand und strich Boots kurz über die Schulter. Dann lächelte sie in die Runde. „Die meisten von euch kennen mich ja. Für die anderen: Ich bin Nadine Jackson, mir gehört das Four Corners. Bevor Ben krank wurde, ist er fast jeden Tag bei mir zum Essen gewesen. Als er nicht mehr kommen konnte, haben wir die Verbindung durch Boots gehalten. Ben hatte nicht viel, aber wenn jemand es nötiger hatte als er, dann hatte er immer einen Dollar übrig oder ein Essen. Meine Enkeltochter hat ihn den Louis-L’Amour-Cowboy genannt.“

Sie machte eine Pause, bis sich das leise Gelächter im Raum gelegt hatte. „Sie ist erst acht, deswegen bin ich froh, dass sie weiß, wer Louis L’Amour ist. Und sie hat recht. Ben hätte der Held eines dieser Bücher gewesen sein können. Er hat immer nur das getan, was er für richtig hielt. Ich bin stolz darauf, dass er mein Freund war.“

Nadine wandte sich an Cassie. „Und du, Honey? Du warst sein Stolz und seine Freude. Er konnte nicht aufhören, von dir zu reden. Von deinen Trophäen, die du als Cowgirl gewonnen hast. Von deinen guten Zeugnissen in der Schule. Von deinem College-Abschluss. Mein kleines Mädchen hat das College geschafft, Nadine, sagte er immer. Sie hat etwas aus sich gemacht.

Cassie hatte das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Der Schmerz war einfach überwältigend. Tränen brannten ihr hinter den Lidern, und sie musste einen Kloß hinunterschlucken.

„Ich habe nur noch eines zu sagen“, fuhr Nadine fort. „Das Four Corners ist heute offiziell geschlossen. Aber ich gehe mal davon aus, dass die arme Cassie nicht darauf eingerichtet ist, diese Menschenmenge bei sich zu Hause zu bewirten, deswegen könnt ihr alle zu mir kommen, eine Kleinigkeit essen und euch gemeinsam an Ben erinnern.“

Als sonst niemand vortrat, warf der Pfarrer Cassie einen fragenden Blick zu. Einen Moment lang saß sie wie benommen da, sammelte ihre Gedanken. Boots drückte ihr leicht die Hand. Schließlich hauchte sie ihm einen Kuss auf die Wange und erhob sich. Vom Podium ließ sie ihren Blick über die Menge gleiten, fasziniert von den freundlichen, offenen Gesichtern der Menschen, die die Freunde ihres Vaters gewesen waren.

Eine Bewegung in der Tür erregte ihre Aufmerksamkeit. Für einen Moment stockte ihr der Atem, als sie glaubte, den Mann zu erkennen, der da gerade hinausging. Nein, unmöglich. Das konnte nicht der Mann sein, den sie in Chicago im Hotel kennengelernt hatte. Sie spürte einen kalten Schauer über ihren Körper laufen. So etwas wie eine ungute Vorahnung.

„Daddy …“ Sie musste sich räuspern, bevor die Stimme ihr wieder gehorchte. „Daddy kannte jede Menge Redensarten, die meisten aus den Büchern von Louis L’Amour.“ Sie lächelte in Nadines Richtung. „Wir haben ein ganzes Regal voll davon zu Hause, und ich bekam diese Redensarten ständig zu hören. Eine war: Sollte, könnte, hätte – das ist das Tor zum Bedauern. Und kein Mensch sollte ein Leben voller Bedauern führen.“

Sie presste die Lippen aufeinander, bevor sie fortfuhr: „Ich hätte eine bessere Tochter sein sollen. Hätte ich es sein können? Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher, Daddy würde nicht wollen, dass ich dem nachtrauere, was vielleicht hätte gewesen sein können. Er lebte und liebte sein Leben. Wir können sein Andenken am besten ehren, indem wir das Gleiche tun.“ Ihr Blick fiel auf die Urne. „Schwer zu glauben, dass so wenig bleibt von einem so großen Mann. Aber das war nur sein Körper, sein Geist war immer frei. Niemand konnte ihm etwas anhaben – weder im Leben noch im Tod.“

Sie bemerkte, dass Boots zur Tür sah. Was war los? Sein Ausdruck verriet, dass ihm etwas nicht behagte. Sie würde ihn später danach fragen.

„Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid“, beendete sie ihre kleine Ansprache. „Vielen Dank, dass ihr die Freunde meines Vaters gewesen seid. Und ich danke dir, Nadine, dass du uns alle ins Four Corners einlädst. Meine Kochkünste halten sich tatsächlich in Grenzen.“

Cass trat vom Mikrophon zurück und fühlte sich augenblicklich umarmt von Boots. Sofort waren sie umgeben von anderen, sodass sie keine Chance hatte, sich zu vergewissern, ob die Phantasie mit ihr durchgegangen war. Hatte sie sich den Mann nur eingebildet? Sie spürte wieder diesen kalten Schauer. Hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Verstohlen ließ sie den Blick durch den Raum gleiten, konnte die Quelle ihres Unbehagens aber nirgends entdecken. Es blieb nur das Gefühl … verfolgt zu werden.

„Ich muss nach draußen, Onkel Boots.“

Sie schob sich durch die Menge hinaus, raus in den frischen Frühlingsmorgen. Und immer noch mit dem Gefühl, einen Stalker in der Nähe zu haben.

Ein Mann mit einem schwarzen Stetson fiel ihr ins Auge. Er ging über den Parkplatz zu einem großen Ford Pick-up. Breite Schultern, schmale Hüften, eine gut sitzende Jeans. Konnte es der Mann aus Chicago sein? Der Schauer, der sie jetzt überlief, hatte nichts mit Angst zu tun …

Chance floh. Was um alles in der Welt hatte ihn geritten, an dieser Gedenkfeier teilzunehmen? Wem wollte er etwas vormachen? Wenn er ehrlich war, ging es doch nur um die Frau. Cassidy Morgan. Sie übte eine magische Anziehungskraft auf ihn aus. Und jetzt wusste er, wo er sie finden konnte.

Als sie am Mikrophon von ihrem Vater gesprochen hatte, hatte ihre Miene ihn an ihren Ausdruck im Hotel in Chicago erinnert. Wahrscheinlich hatte er sie getroffen, unmittelbar nachdem sie die Todesnachricht erhalten hatte. Unabhängig davon – er wollte sie. Schlicht und ergreifend. Auch wenn diese Situation alles andere als einfach war.

Sein Handy klingelte. Er drückte den Knopf der Freisprechanlage. „Was ist?“

„Wow! Reiß mir doch nicht gleich den Kopf ab!“

„Was willst du, Cord?“

„Cash und ich haben das Fohlen gefunden, das der alte Herr haben will. Du wirst es nicht glauben, wo!“

„Verdammt! Was soll ich machen – das Pferd suchen oder einer Frau, die gerade ihren Vater beerdigt hat, die Ranch abjagen?“

„Einen Moment mal, Bruder. Das klingt ja fast so, als würdest du so etwas wie ein Gewissen entwickeln!“

Chance hielt am Straßenrand – gleichzeitig fahren und reden, das funktionierte nicht, wenn er wütend war. „Okay, Cord – sag mir, wo der verdammte Gaul ist.“

„Direkt hier. Vor unserer Nase! Ben Morgan hat das Fohlen schon vor Monaten gekauft.“

Chance richtete sich auf. „Die Ranch und alles, was dazugehört, gehört der Bank, sobald die Hypothek wirksam wird. Das Fohlen auch?“

„Das weiß ich noch nicht, aber Cash ist an der Sache dran. Ich halte dich auf dem Laufenden. Unser alter Herr will, dass du den Kredit sofort fällig stellst …“

„Unser Erzeuger ist mit Abstand das Letzte, Cord.“

Sein Bruder verabschiedete sich mit einem trockenen: „Sag mir was Neues!“

Chance starrte aus dem Fenster. Ein Gedanke ließ ihn nicht los: Wenn unser Vater das Letzte ist – was sind dann wir, großer Bruder?

3. KAPITEL

Cass betrat die Veranda. Nichts hatte sich verändert. Eine Flut von Erinnerungen rollte über sie hinweg.

Im Haus wird nicht gerannt.

Knall nicht die Türen.

Nein, du darfst das kleine Stinktier nicht hereinbringen.

Boots hatte es sich in seinem alten Sessel bequem gemacht. Buddy lag zu seinen Füßen. Der zweite Sessel hatte immer ihrem Vater gehört. Wie oft hatte sie abends am Küchentisch ihre Hausaufgaben gemacht und durch das offene Fenster die beiden Männer miteinander sprechen gehört? Sie zog sich einen dritten Sessel heran.

„Was bedrückt dich, Cassie?“

Sie suchte nach den richtigen Worten. Aber es gab keine Möglichkeit, ihre Nachricht abzumildern. Daher platzte sie einfach heraus: „Ich werde die Ranch verkaufen.“ Als Boots schwieg, zwang sie sich fortzufahren: „Ich brauche das Geld nicht. Nicht wirklich. Ich finde, wir sollten etwas für dich und Buddy kaufen, näher an der Stadt. Etwas, wo du dein Alter genießen kannst.“

Sie holte kurz Luft und sprach gleich weiter: „Es ist am besten so, glaub mir. Ich habe mein Leben in Chicago. Meinen Job. Meine Freunde. Ich wüsste auch gar nicht, wie ich mit der Ranch fertigwerden sollte und … und …“ Sie sah ihm in die Augen und verstummte. „Sag doch etwas, Onkel Boots. Sitz nicht einfach so da und sieh mich an, als hätte ich plötzlich zwei Köpfe.“

„Du kannst die Ranch nicht verkaufen.“

„Doch, das kann ich. Sie gehört mir.“ Plötzlich hielt sie inne. Vielleicht irrte sie sich. Vielleicht hatte ihr Vater die Ranch Boots vermacht. „Oder nicht?“

„Gewissermaßen.“

„Was soll das heißen?“

„Du bist Bens Erbin, aber die Ranch ist verschuldet.“

„Wie bitte? Was hat Daddy gemacht, Onkel Boots?“

„Er musste einen Kredit aufnehmen, um die Rechnungen für die Ärzte und die Medikamente bezahlen zu können. Die Rückzahlung ist bald fällig.“

Sie rieb sich die klopfenden Schläfen. „Wie viel ist es?“

„Sehr viel.“

„Wie viel ist viel, Onkel Boots?“ Hier ging es um Geld. Damit kannte sie sich aus.

„Mehr als das, was dein Daddy auf dem Konto hat. Mehr als das, was ich gespart habe. Und falls du nicht irgendwo ein Vermögen gewonnen hast, ist es mehr als das, was du hast.“

„Was hat er sich denn dabei gedacht?“, entfuhr es ihr.

„Er musste die Ärzte bezahlen.“

Der Vorwurf, den sie aus Boots’ Worten hörte, tat weh, aber sie hatte es nicht besser verdient. „Ich habe es nicht so gemeint. Aber wenn Dad einen Kredit aufgenommen hat, muss er einen Plan für die Rückzahlung gehabt haben. Er hielt nichts von Schulden.“

„Kälber.“

„Kälber?“

„Bevor er seine Diagnose bekam, hat er eine Herde von fünfhundert Mastkälbern günstig gekauft. Sie waren den ganzen Winter draußen auf der Weide. Gib ihnen noch ein paar Wochen, und sie werden Top-Preise bringen. Damit kannst du den Kredit tilgen und die verbliebenen Rechnungen vom Krankenhaus zahlen. Es bleibt sogar noch ein kleines Kapital für einen Neustart.“

„Für einen Neustart? Hat Dad wirklich geglaubt, ich käme zurück, um zu bleiben? Wenn er nicht mehr da ist? Wieso sollte ich das tun?“ Sie schluckte und setzte rasch hinzu: „Nicht dass ich dich nicht liebe, Onkel Boots.“

„Komm mit.“ Er erhob sich und ging langsam die Stufen hinunter, Buddy dicht auf seinen Fersen.

Cass fiel ein, dass Boots noch älter war als ihr Vater. Er musste auf die siebzig zugehen. Sie folgte ihm in die Scheune. Boots machte das Licht an, aber es blieb dämmrig. Wiehern war zu hören. Einige Pferde steckten ihre Köpfe neugierig über die halbhohen Türen ihrer Boxen. Sie erkannte das Lieblingspferd ihres Vaters, Red. Ein großer Rotfuchs mit einer weißen Blesse auf der Stirn.

Cass trat an die Box. Der Hengst wieherte leise und streckte ihr den Kopf hin. Sie hob die Hand, und seine weichen Lippen fuhren suchend über ihre Handfläche. „Ich bringe dir nachher eine Karotte“, versprach sie und klopfte den Hals des Tieres, bevor sie sich wieder Boots zuwandte. „Du wolltest mir Red zeigen?“

Er schüttelte den Kopf und deutete auf eine Box auf der anderen Seite. „Hier ist Bens letztes Geschenk für dich.“

Chance klopfte, aber niemand machte ihm auf. Da bemerkte er die offene Scheunentür und ging langsam hinüber. Diese ganze Angelegenheit war ihm zuwider, er musste sie möglichst schnell hinter sich bringen. Aber sein Herz machte einen Sprung bei dem Gedanken, Cassidy wiederzusehen.

Er betrat die Scheune und blieb wie angewurzelt stehen.

Cassidy lehnte an der Tür einer Pferdebox und sprach leise mit dem alten Mann neben ihr. Sie sah verdammt gut aus in Jeans und Stiefeln. Das karierte Flanellhemd, das sie in den Bund der Jeans gesteckt hatte, zeigte mehr von ihren natürlichen Kurven, als es verbarg. Sein ganzes Blut schien plötzlich eine Etage tiefer zu sinken.

Der Alte öffnete die Box, und sie gingen beide hinein.

Chance atmete ein paarmal tief durch und zog seine Jeans zurecht. Dann ging er weiter, um zu sehen, was sich in der Box befand.

„Das ist ja ein Prachtfohlen!“

Cassidy fuhr herum. „Sie!“

Er heuchelte die Unschuld. „Ich?“

„Sie! Aus Chicago!“

Er hielt die Hände hoch. „Schuldig. Und ich muss zugeben, das Schicksal ist mir heute sehr gnädig. Ich hätte nicht erwartet, Sie wiederzusehen.“

„Was machen Sie in Oklahoma?“

Er fand ihre empörte Miene einfach hinreißend. Aber an der Frau gab es ohnehin nichts, was er nicht auf die eine oder andere Weise attraktiv fand. Das schien ein Fluch zu sein, der auf allen Barrons lastete – sie dachten alle mit dem falschen Körperteil, sobald es um eine schöne Frau ging.

„Ich lebe hier. Was haben Sie in Chicago gemacht?“

„Ich lebe dort!“

„Und was machen Sie jetzt hier?“ Es machte ihm Spaß, sie zu reizen. Cassies Miene wurde noch grimmiger. Ihre Wangen waren rot geworden. Ob das auch passierte, wenn sie sexuell erregt war? Die Frage stellte sich ihm ganz automatisch – und belegte wieder einmal den Fluch, der über seiner Familie lag.

Sie konterte mit einer Gegenfrage: „Wo waren Sie heute Morgen? Bei der Gedenkfeier?“

Sie hatte ihn gesehen, genau wie er es vermutet hatte. Verdammt! Nun, dann hatte er keine Wahl. „Ja. Wieso?“

„Entschuldigen Sie, wenn ich das ein wenig … merkwürdig finde. Zuerst versuchen Sie, mich in einem Hotel in Chicago anzumachen. Dann folgen Sie mir hierher und erscheinen auf der Beerdigung meines Vaters. Da stimmt doch etwas nicht!“

„Wow, Darling!“ Sie ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen und er musste zugeben, dass es ihm gefiel. Sehr sogar.

„Nennen Sie mich nicht so! Ich kenne nicht einmal Ihren Namen.“

„Chance – Chancellor …“

„Also, Mr. Chance Chancellor – Sie können einfach kehrtmachen und wieder gehen. Ich weiß nicht, wer Sie sind und wieso Sie mir folgen, und ehrlich gesagt interessiert es mich auch nicht. Gehen Sie und kommen Sie nie wieder!“

Er überlegte rasch. Sie hatte ihn unterbrochen, bevor er sich richtig vorgestellt hatte. Und offensichtlich wusste sie immer noch nicht, dass er ein Barron war. Er war sich nicht sicher, ob ihm das etwas ausmachte. Okay, es machte ihm etwas aus, aber gleichzeitig vereinfachte es die Sache auch. So konnte er herausfinden, was er wissen wollte, bevor sie überhaupt begriff, was gespielt wurde. „Immer ruhig Blut, Mädchen. Ich kann das erklären.“

„Ach, wirklich? Ich bin kein Mädchen!“

Nein, sie war eindeutig eine Frau. Ihre Augen blitzten wie zwei Aquamarine in der Mittagssonne. Er trat ein wenig beiseite, um die Wirkung zu verbergen, die sie auf ihn hatte. Dies war wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um daran zu denken, wie er sie ins Bett bekommen könnte. Er musste behutsam vorgehen, wenn er ihr Vertrauen gewinnen wollte. Aus irgendeinem Grund war ihm das sehr wichtig.

Nein, er brauchte nicht ihr Vertrauen, er brauchte ihre Kooperation. Er hatte in seiner beruflichen Laufbahn schon weitaus heiklere Situationen gemeistert. Er würde mit ihr ins Bett gehen, um sie dann endlich aus dem Kopf zu bekommen. Dann konnte er gehen und seinem Vater die Ranch auf dem Silbertablett präsentieren. Das war der Plan, und daran musste er sich halten. Es wäre nicht klug, seinen alten Herrn gegen sich aufzubringen – nicht, wenn Cyrus Barron sich etwas so in den Kopf gesetzt hatte wie die Übernahme dieser verdammten Ranch.

Chance atmete tief durch. Der staubig-süßliche Geruch des Heus vermischte sich mit dem Geruch nach Pferden und Leder. Und darüber lag ein Hauch von Cassidys Duft – Mandel und Orange mit einer Spur von Zitrone.

„Raus aus meinem Stall! Sofort!“

Chance schüttelte sich innerlich wie ein Hund, der aus dem Wasser kommt. Er musste wieder klar denken. Keine Ablenkungen! Den Blick fest auf das Ziel gerichtet! Aber als sie so dastand, die Arme in die Seiten gestemmt, die Stirn unheilvoll gerunzelt und das Kinn vorgereckt, da begriff er, dass sie ihn immer ablenken würde. Und das machte ihn nervös. Sehr nervös. Keine Frau war ihm je derart unter die Haut gegangen wie diese. Er verzog bewusst die Lippen zu einem Lächeln und beobachtete die Wirkung, die es auf sie hatte – die Pupillen weiteten sich leicht, die Nasenflügel bebten, die Brust hob und senkte sich etwas mehr. Okay, er konnte sie also auch ablenken. Beruhigend zu wissen. Damit war das Spiel etwas ausgeglichener.

Ein lautes Räuspern unterbrach ihr stummes Kräftemessen. Chance erkannte Boots sofort. Würde der alte Mann auch ihn erkennen? Von allen Barrons tauchte Chance am wenigsten in der Öffentlichkeit auf. Konnte er weiter als Mr. Chancellor durchgehen?

„Was wollen Sie?“ Boots sah ihn herausfordernd an.

Cass bemerkte, wie der Fremde zur Box blickte. Sie spürte förmlich, wie seine Gedanken rasten. Er war wirklich sexy, aber sie traute ihm gerade so weit, wie sie ihren Kühlschrank werfen konnte.

„Ich bin hier, um mir Bens Fohlen anzusehen.“

„Ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind. Woher kannten Sie Ben?“

Sie konzentrierte sich auf Boots. Sein Ton blieb höflich, aber sein Misstrauen war förmlich greifbar.

„Ich habe ihm geholfen, das Fohlen zu finden. Mir gehört sein Halbbruder. Derselbe Vater, aber die Mutter ist eine meiner Stuten. Ich hatte überlegt, dieses Fohlen auch zu kaufen, habe dann aber Abstand genommen, um keine zu nahen Blutlinien aufzubauen.“

Cass ließ ihren Blick von einem Mann zum anderen wandern. Sie vertraute Boots und war gern bereit, ihm die Unterhaltung zu überlassen. In der Zwischenzeit konnte sie sich Mr. Chance Chancellor etwas genauer ansehen. Groß. Breitschultrig. Mit einer Vorliebe für gut sitzende Jeans und modische Hemden. Fast wie ein Model. Aber seine Stiefel waren gut eingetragen, wenngleich auf Hochglanz poliert. Und den schwarzen Stetson trug er, als wäre er damit auf die Welt gekommen.

Wenn er sich so in der Rodeo-Szene zeigte, ließ er mit Sicherheit eine Reihe gebrochener Herzen zurück. Der Hut bedeckte das Haar, aber sie erinnerte sich daran, dass es dunkel war und lang genug, um gerade über den Rand des Kragens zu fallen. Und seine Augen! Braun. Nein, bernsteinfarben. Blitzend, wenn das Licht richtig fiel. Sein Gesicht? Wie gemeißelt – eine andere Beschreibung fiel ihr dazu nicht ein. Seine Wangenknochen waren vielleicht eine Spur zu kantig, aber an sich ließ sich nur ein Fazit ziehen: atemberaubend. Ein absolut umwerfender Mann.

Eine vage Erinnerung regte sich wieder. Irgendwoher kannte sie ihn, sie wusste nur nicht, wo sie ihn unterbringen sollte. Irgendwann würde es ihr einfallen. Sie wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen, als das Objekt ihrer Überlegungen plötzlich ihre Hand nahm und sie drückte.

„Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen, Miss Morgan.“

„Cass“, korrigierte sie ihn automatisch. „Alle nennen mich Cass.“

Unwillkürlich sog sie seinen Duft ein. Ein Duft von Leder und Regen … Sie spürte ein leichtes Prickeln in sich aufsteigen. Die berühmten Schmetterlinge im Bauch. Oder vielleicht auch etwas tiefer. Dieser Mann war ein reines Sexpaket, das ließ sich nicht leugnen. Aber wieso war sie eigentlich so nett zu ihm?

„Bis Sie uns bewiesen haben, dass Sie wirklich ein Freund meines Vaters waren, können Sie weiter Miss Morgan zu mir sagen.“

Er lachte. Der Klang rollte durch die Scheune, bis sogar Buddy herbeikam, um zu sehen, was los war. Der Hund beschnüffelte die Stiefel des Mannes, knurrte leise – und hob ein Bein.

„Buddy, nein!“ Cass hätte vor Scham im Boden versinken mögen.

Boots erlöste sie. „Der Hund hatte schon immer ein gutes Gespür für Menschen“, bemerkte er trocken. Dabei sah er Chance durchdringend an. Einen Moment lang fragte Cass sich, ob er mehr wusste als sie. Ihr Blick flog von einem Mann zum anderen, und die Anspannung stieg spürbar um ein paar Grad.

„Ich glaube, es ist besser, Sie gehen jetzt, Mr. Chancellor.“

Er tippte leicht an die Krempe seines Stetsons. „Dann also bis ein andermal, Miss Morgan – wenn Sie nicht so im Stress sind. Nochmals: mein Beileid.“ In der Tür hielt er kurz inne. „Wir sehen uns wieder, Cassidy Morgan.“

War das eine Drohung? Oder ein Versprechen?

4. KAPITEL

Chance saß in seinem Büro und starrte aus dem Fenster, ohne etwas wahrzunehmen. Er war mit seinen Gedanken bei Cassidy. Wollte sie wiedersehen. Aber nicht, um ihr irgendwelche juristischen Dokumente zu überreichen.

Was hatte diese Frau an sich, das ihn so faszinierte? Sie drängte sich in seine Gedanken. Tanzte durch seine Träume. Und blieb ihm doch ein Rätsel. Er sollte die Finger von ihr lassen. Sein alter Herr würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er erfuhr, dass er in Bezug auf Cass einen anderen Wunsch hegte als den, sie zu vernichten.

Verdammt! Er wollte ihre Stimme hören. Falls jemand aus der Familie ihn fragte, was er von ihr wolle, könnte er immer noch behaupten, er müsse weitere Erkundigungen einziehen. Bisher wusste niemand, was er wirklich dachte. Oder fühlte.

Chance scrollte durch seine Telefonliste bis zum Buchstaben M. Nicht zum ersten Mal blieb sein Finger über dem Namen Cassidy Morgan hängen. Er hätte nichts lieber getan als sie anzurufen, hielt sich aber immer in letzter Sekunde davon ab – und das nicht, weil er sich Sorgen machte, was seine Familie sagen könnte. Wichtiger war: Was würde Cassidy sagen? Wie konnte er ihr erklären, dass er die Nummer ihres Handys hatte? Einmal hatte er die Festnetznummer der Ranch angerufen, hatte aber wieder aufgelegt, noch bevor sich jemand gemeldet hatte.

Schließlich gab er auf und ließ das Handy in der Jackentasche verschwinden. Er würde einfach zu ihr fahren.

Er musste nach dem Fohlen sehen, da es ja bald im Stall der Barrons stehen würde. Das war ein guter Vorwand. Außerdem hatte er Cass gesagt, sie würden sich wiedersehen. Er musste zugeben, dass ihre Reaktion auf sein Versprechen – ein rasches Durchatmen und ein Blitzen in den Augen – ihm gefallen hatte. Ein Barron hielt seine Versprechen, oder? Genau. Zu ihr zu fahren war auch eine Frage der Familienehre.

Cassidy beugte sich vor und beobachtete, wie der Pick-up über die unebene Auffahrt zur Ranch holperte. Von Buddy abgesehen war sie allein. Der Hund war zurückgeblieben, als Boots früh am Morgen fortgefahren war, um einiges zu erledigen. Boots war überrascht gewesen, als der Hund nicht zu ihm in den Wagen sprang, hatte dann aber nur die Schultern gezuckt und war losgefahren. Cassidy hatte den Morgen damit verbracht, die Ställe auszumisten und einige Telefonate zu erledigen.

Der für sie zuständige Bankbeamte schien sich stets verleugnen zu lassen. Und sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte keine Firma finden, die bereit gewesen wäre, ihre Herde in die Stockyards nach Oklahoma City zu bringen. Die Stockyards waren der zentrale Anlaufpunkt – dorthin wurden alle Tiere geliefert, um in Auktionen verkauft und anschließend per Bahn oder Lkw in die Schlachthöfe transportiert zu werden.

Und nun hielt Mr. Chancellor vor ihrem Haus. Buddy bellte wütend, als die Tür auf der Fahrerseite aufging. Seit Cass den Mann das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie sich bemüht, sich selbst davon zu überzeugen, dass er nicht halb so sexy war, wie sie ihn in Erinnerung hatte.

Fast hätte sie darüber jetzt hysterisch gelacht.

„Was wollen Sie?“ Cass musste schreien, um Buddys Bellen zu übertönen.

Ihr Besucher umging die Versuche des Hundes, ihn vom Haus fernzuhalten, und lächelte gewinnend. „Kann ein Mann eine Dame nicht einfach so besuchen?“

„Ich bin keine Dame, und ich glaube nicht eine Sekunde lang, dass Sie irgendetwas einfach so tun.“

Er drückte sich mit einer dramatischen Geste eine Hand auf das Herz. „Sie tun mir weh, Gnädigste.“

Cass rollte nur die Augen.

„Lassen Sie mich hier in der Sonne stehen, oder darf ich heraufkommen und mich setzen?“

„Komm, Buddy.“ Der Hund gehorchte ihr sofort, ließ Chance aber nicht aus den Augen. Cass setzte sich auf den Platz ihres Vaters, während Buddy ungefragt auf Boots’ Sessel sprang. Manchmal schien der Australian Shepherd fast menschlich. Sie kraulte ihn und ignorierte dabei den Mann, der die Stufen zur Veranda heraufkam.

„Wieso sind Sie wirklich hier, Mr. Chancellor?“

„Die meisten nennen mich einfach Chance.“

Sein Lächeln hatte eine geradezu fatale Wirkung auf ihre Hormone. „Okay. Also noch einmal: Wieso sind Sie hier … Chance?“

„Kann ich ehrlich sein?“

„Das weiß ich nicht. Können Sie das?“

Die Frage war kritisch! Er versuchte abzulenken, indem er ihr vielsagend zuzwinkerte. „Vor Gericht muss sich niemand selbst belasten. Sie wissen ja, im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt.“

„Und in welchem Zustand befinden wir uns?“

„Sagen Sie es mir, Cassidy.“

„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“

„Welche?“

„Sie sind ein Mann, also wissen wir, Sie können nicht ehrlich sein. Bleibt die andere Frage: Wieso sind Sie hier?“

„Oh, da muss ich doch im Namen aller Männer Einspruch einlegen!“ Er setzte sein charmantestes Lächeln auf: „Ich bin gekommen, um Sie zu sehen.“

„Wozu?“

„Weil ich Sie zum Essen einladen möchte.“

„Zum Essen!“

„Ich gehe davon aus, Sie haben nicht gescherzt, als Sie sagten, Ihre Kochkünste seien begrenzt. Also möchte ich Sie zum Essen einladen. In ein Restaurant.“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, und er konnte nicht verhindern, dass sein Blick der Bewegung folgte.

„He! Wo haben Sie denn Ihre Augen?!“

Er lachte leise. „Tut mir leid. Ein Mann ist machtlos, wenn der Anblick derart verführerisch ist.“

Sie schnaubte verächtlich.

„Es ändert nichts daran, dass ich Sie gern einladen würde.“

„Wie … zu einem Date? Einem richtigen Date?“

„Gibt es auch falsche Dates?“ Wieder verdrehte sie die Augen, und er wusste nicht, ob er Fortschritte machte bei ihr oder nicht. „Natürlich ein richtiges Date. Mit allem Drum und Dran. Ein nettes Restaurant und hinterher vielleicht ins Kino. Oder wir könnten nach Bricktown fahren und in irgendeinen Club gehen …“ Besser nicht. Dort würde man ihn erkennen. Überhaupt würde man ihn fast überall erkennen. Er brauchte sofort einen Plan B. „Oder wir könnten zu mir gehen, eine Pizza bestellen und uns ein Spiel der Cubs ansehen.“

„Die Cubs? Machen Sie Witze?“

„Okay – dann die White Sox?“

„Wieso glauben Sie, ich könnte ein Fan von denen sein?“

„Vielleicht, weil Sie in Chicago leben?“

„Ja, aber dennoch bin ich lebenslanger Fan der Cardinals.“

„Wirklich? Sie mögen Baseball?“

„Nur, wenn die Cardinals spielen.“

„Heißt das, Pizza bei mir und ein Cards-Spiel?“ Die Idee gefiel ihm. Unter den Umständen sollte es kein Problem sein, sie ins Bett zu bekommen – und genau das hatte er fest vor.

Sie schüttelte den Kopf. „Für wie billig halten Sie mich?“ Sie musterte ihn abschätzend. „Wieso sollte ich überhaupt mit Ihnen ausgehen?“

„Ich fand Sie gleich attraktiv, als wir uns in Chicago begegnet sind. Daran hat sich nichts geändert.“ Am liebsten hätte er sie geküsst, aber er fasste sich in Geduld. Die Zeit würde kommen – früher oder später.

Sie überlegte. „Essen in einem netten Restaurant und anschließend eine Bar, in der wir die Cards sehen können.“ Herausfordernd sah sie ihn an.

Er musste lachen. Für einen kurzen Moment erwog er, den Firmenjet zu mobilisieren und mit ihr nach St. Louis zum Spiel zu fliegen. Als Miteigentümer der Arena hatte Barron Entertainment dort eine Loge, aber er kam nur selten dazu, sie zu nutzen. Wenn er es jetzt täte, flog er auf. Also nickte er zustimmend. „Einverstanden. Soll ich Sie um fünf abholen? Das Spiel fängt um halb acht an.“ Er erhob sich.

„Sie gehen?“ Cass schien irritiert.

„Es ist ja alles besprochen.“ Ihr Ausdruck änderte sich. Er hätte die Trauer in ihrem Blick übersehen, hätte er sie nicht genau beobachtet.

„Dann will ich Sie nicht aufhalten.“ Sie stand nicht auf, um sich zu verabschieden.

„Können Sie Kaffee kochen?“, fragte er plötzlich.

Sie sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

„Sie haben gesagt, dass Kochen nicht Ihr Ding ist. Heißt das, dass Sie Stammgast bei Starbucks sind, oder können Sie auch selbst einen guten Kaffee machen?“

„Natürlich kann ich das.“

„Dann beweisen Sie es mir!“

„Ha! Ich habe gerade eine Kanne gemacht, bevor Sie gekommen sind.“ Bevor er etwas sagen konnte, war sie im Haus verschwunden.

Minuten später kehrte sie mit einem Tablett zurück, auf dem zwei Becher, Zucker, Milch und eine Thermoskanne standen. „Ich nehme an, Sie trinken Ihren Kaffee schwarz, aber ich brauche immer Milch und Zucker.“

Er probierte von dem Kaffee. „Der ist gut“, lobte er. „Aber woher weiß ich, dass Sie ihn wirklich selbst gemacht haben?“ Er liebte es, sie auf die Palme zu bringen, und sie tat ihm den Gefallen prompt.

„Sie werden einfach mein Wort dafür nehmen müssen“, beschied sie ihm eisig.

Die meisten Frauen ließen sich von seinem Familiennamen beeindrucken. Cass kannte ihn glücklicherweise nicht. Sie würde ihn hassen, wenn sie herausfand, dass sein Vater ihr die Ranch nehmen wollte. Aber das konnte warten – zuerst ein Mal wollte er sie in seinem Bett haben, um sie endlich aus dem Kopf zu bekommen.

Während ihr Gespräch dahinplätscherte, zogen im Westen Wolken auf. Die steigende Temperatur spielte mit den weißen Kumuluswolken, bis sich eine richtige Gewitterfront gebildet hatte. Es war schwül geworden.

„Komisch, der Wetterbericht hat nichts von einem Gewitter gemeldet“, bemerkte Cass und betrachtete kritisch den Himmel. „Ich bin gleich zurück. Sie können mit ins Haus kommen, wenn Sie möchten.“

Er wusste nicht, was er eigentlich erwartet hatte, aber sicher nicht das. Die Möbel mochten neu gewesen sein, als Cass noch ein Kind gewesen war. Nun wirkten sie etwas schäbig. Ein alter Röhrenfernseher, ein Bücherregal. Ein Gestell, auf dem offenbar gerade ein Sattel repariert wurde. Ein altes Ledersofa und zwei Sessel im Halbkreis um einen Tisch.

Cass stellte den Fernseher an. Sie fand einen Wetterbericht. Und richtig: Der Moderator gab eine Gewitterwarnung für diese Gegend.

„Sieht nicht gut aus.“

Sie nickte. „Das kommt genau in unsere Richtung. Ich hole die Pferde herein.“

„Ich helfe Ihnen.“

„Nein, nein, nicht nötig. Buddy und ich kommen klar.“

„Cass, ich kenne mich aus mit Pferden. Ich kann Ihnen helfen.“

Sie zuckte nur die Schultern und eilte hinaus. Dabei schlug sie die Fliegentür hinter sich zu. Verblüfft sah Chance den Hund an. „Womit haben wir das denn verdient, Junge?“ Buddy gab ein kurzes Bellen von sich, was als Äquivalent eines hilflosen Schulterzuckens durchgehen mochte.

„Was ist? Kommt ihr zwei?“, rief Cass ungeduldig. Wie um die Dringlichkeit zu unterstreichen, donnerte es.

„Nun aber los, Junge!“ Chance öffnete die Tür, und der Hund sauste zu Cass. Blitze zuckten über den Himmel. Donnerschläge folgten. Die Pferde liefen unruhig auf der Weide auf der anderen Seite des Stalls.

„Mach das Scheunentor auf!“, rief Cass, aber der Wind riss ihre Worte fort. Sie deutete auf das Tor und Chance nickte. Sie kletterte über den Zaun, während Buddy sich unter der untersten Zaunlatte hindurchzwängte.

Chance lief zur Scheune und schob das Tor auf gut geölten Rollen beiseite. Die Türen der Pferdeboxen standen offen, der Boden war mit frischem Stroh bedeckt. Er beobachtete, wie Cass und der Hund die Pferde zusammentrieben. Sie wirkten wie ein gut eingespieltes Team.

Die ersten dicken Regentropfen fielen. Er trat hinaus, wollte helfen – bis ihm einfiel, dass er unter Umständen nur Probleme bereitete, indem er die Pferde verschreckte. Cass musste sich beeilen, aber er wusste, dass diese Arbeit ihre Zeit brauchte. Sie und der Hund bewegten die kleine Herde meisterhaft, aber das Unwetter kam rasch näher.

Und dann öffnete der Himmel seine Schleusen. Innerhalb von Sekunden war Cass bis auf die Haut durchnässt. Die Pferde sahen das offene Tor. Chance konnte gerade noch beiseitespringen, als sie auch schon an ihm vorbeidrängten, Buddy dicht auf ihren Fersen.

Cass sah aus, als sei sie gerade aus dem Pool gekommen. Das Haar klebte ihr am Kopf, und unter dem dünnen T-Shirt zeichneten sich die Konturen eines spitzenbesetzten BHs ab.

Chance schloss das Tor, und das Licht in der Scheune wurde noch dämmriger. Während seine Augen sich daran gewöhnten, sah er, dass die Pferde mit ein wenig Hilfe von Buddy ihre Boxen aufsuchten. Cass schob die Riegel der Türen hinter ihnen zu. Chance kam ihr von der anderen Seite entgegen. Erst jetzt fand Cass Zeit, das Licht einzuschalten. Er wünschte, sie hätte es nicht getan. Er konnte den Blick nicht von ihren Kurven wenden – und begann, sein Hemd aufzuknöpfen.

„Einen Moment mal, Cowboy! Was zum Teufel machen Sie da?“

„Sie sind nass.“

„Ja, und?“

„Ich bin trocken.“

„Und?“

„Entweder freuen Sie sich sehr, mich zu sehen, oder Ihnen ist kalt.“

Ein Blick auf ihre Arme zeigte ihr, was er meinte: Sie hatte vor Kälte eine Gänsehaut.

„Ich biete Ihnen mein Hemd an.“ Er zog es aus und reichte es ihr. Amüsiert beobachtete er, wie sich ihre Pupillen weiteten und ihre Lippen sich leicht öffneten. Er hatte den Eindruck, dass ihr gefiel, was sie sah. Zumindest fuhr sie sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. Die Geste blieb nicht ohne Wirkung in seinen Jeans.

„Hier!“ Er wedelte mit dem Hemd, aber sie schien es nicht zu bemerken. Sein Lächeln wurde noch breiter, während er sich vorbeugte und ihr das Hemd um die Schultern legte. „So ist es doch besser.“

„Danke …“

Seine Lippen waren nah an ihren. Wenn sie einmal tief Luft holte, würden sich ihre Brustwarzen an seine nackte Brust drücken. Seine Finger verhakten sich in ihrem Haar, als er ihr eine nasse Strähne aus dem Gesicht schob. Und dann atmete sie einmal tief durch. Die erwartete Auswirkung traf ein …

Seine Lippen fanden ihre. Er hielt ihren Kopf fest, während seine Zunge über die Konturen ihrer Lippen fuhr, bis sie sich ihm öffneten. Sie schmeckte nach Café au lait. Er hatte den wahnwitzigen Wunsch, mit ihr nach New Orleans zu fliegen, um Krapfen dazu zu holen. Gleich nachdem er sie um den Verstand geküsst und sie den Rest des Nachmittags geliebt hatte …

Sie drückte sich an ihn. Er spürte, dass sie ein Schauer überlief. Unwillkürlich legte er einen Arm um ihre Taille und zog sie fester an sich. Sie rieb sich an ihm und schien zu schnurren, wie eine zufriedene Katze, während ihre Zungen sich ein heißes Duell lieferten. Er beobachte sie, während sie die Augen geschlossen hatte, offenbar ganz verloren in ihren Gefühlen. Das gefiel ihm. Sie sollte ganz ihm gehören.

Cass war genauso sexy, wie er sie aus Chicago in Erinnerung gehabt hatte. Nun tat er, was er schon im Hotel hatte tun wollen: Er legte seine Hände um ihren runden Po. Es war, als wäre sie für ihn gemacht. Seine Erregung wuchs.

„Ich will dich.“

„Ach, wirklich?“ Sie stieß gegen seine Erektion und lachte leise. „Das wäre mir gar nicht aufgefallen.“

Er biss die Zähne zusammen. „Ich hätte nicht gedacht, dass du damit spielst, Cass.“

Sie schob ihn ein wenig von sich. „Ich spiele nicht, Chance – nicht mit Sex.“

„Und mit der Liebe?“

Verblüfft sah sie ihn an.

Und er war mindestens ebenso erstaunt. Wo waren diese Worte plötzlich hergekommen? Er wusste es nicht, war aber neugierig auf ihre Antwort.

„Was ist schon Liebe?“

„Ganz schön zynisch, oder?“

„Richtig. Und du, Chance? Ich möchte wetten, die Frauen stecken dir pausenlos ihre Telefonnummern in deine engen Jeans. Bei dir geht es doch nur und ausschließlich um Sex.“

Sie wich einen Schritt zurück, aber nicht so weit, als dass er sie nicht noch hätte berühren können. Aber stattdessen schob er die Daumen in die vorderen Taschen seiner Jeans und wartete ab. Das Blitzen in ihren Augen verriet ihm, dass sie gerade erst in Fahrt kam, und er war gespannt, wie weit sie gehen würde.

„Du hast in dem Hotel in Chicago versucht, mich anzumachen. Du wusstest, du würdest mich nie wiedersehen. Du warst nur auf einen One-Night-Stand aus. Mehr nicht.“

Sie stieß ihm einen Finger gegen die Brust – um ihn gleich darauf zurückzuziehen, als habe sie sich verbrannt. Er musste an sich halten, um eine unbewegliche Miene zu wahren, denn im Stillen konnte er sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.

„Ich möchte wetten, du hast noch von keiner Frau ein Nein gehört.“

Natürlich nicht. Ich bin ein Barron. Sie wollen allein schon wegen meines Namens mit mir schlafen. Er wusste selbst nicht, wieso der Gedanke ihn irgendwie irritierte.

„Ich möchte wetten, niemand schlägt dir irgendetwas ab. Du … du hast so eine arrogante Art, als ob … als ob dir die ganze Welt gehört. Als ob alles, was du anfasst, zu Gold wird.“

Genau so ist es. Ich bin ein Barron, Baby. Es liegt in der Familie.

„Männer wie dich gibt es wie Sand am Meer. Das Aussehen reicht für ein Model, aber ansonsten ist da nicht viel.“

Wie Sand am Meer vielleicht nicht, Darling, es sei denn der alte Herr hätte uns noch ein paar Brüder vorenthalten.

„Also wieso bist du hier? Wieso kommst du immer wieder?“

„Heißt das, du gehst heute Abend nicht mit mir aus?“ Er sah, wie sie rot wurde, und trat einen Schritt auf sie zu. Ja, er war auf der Jagd, und sie war seine Beute.

„Was hat das denn mit dieser Diskussion zu tun?“

„Diskussion? Das kam mir eher wie ein Vortrag vor, Cassidy. Wieso ich hier bin? Ich bin vorbeigekommen, weil ich dich zum Essen einladen wollte und deine Telefonnummer nicht habe. Wieso ich immer wieder zurückkomme? Weil du eine verdammt attraktive Frau bist und ich dich gern näher kennenlernen würde. Ist das so schwer zu glauben?“

Weitere mögliche Antworten schwirrten ihm durch den Kopf, aber die eine behielt er für sich: Ich komme immer wieder, weil mein Vater dich ruinieren will und ich meine Probleme damit habe.

Sie musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. „Erwarte ja nicht, dass ich im Dreieck springe vor Begeisterung. Ich traue dir nicht, Mr. Nenn-mich-einfach-Chance.“

Cass fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, und mehr brauchte es nicht. Chance zog sie an sich. Er küsste sie. Heiß und voller Verlangen. Einen Moment lang widersetzte sie sich, dann erlahmte ihr Widerstand. Er spürte das Klopfen ihres Herzens. Ihr Puls jagte ebenso wie seiner.

Wie von selbst legten sich ihre Arme um seine Schultern. Ohne den Kuss zu unterbrechen, drückte er sie mit dem Rücken an die Mauer. Er schob sein Hemd von ihren Schultern, spürte die Spitze des BHs unter ihrem T-Shirt.

„Du hast zu viel an“, stöhnte er und zog ihr das T-Shirt über den Kopf, bevor ihre Lippen sich wieder fanden. Seine Hand fuhr über ihren Schenkel, und genau wie er es erhofft hatte, schob sie ihr Knie an seinem Bein hoch. Er umfasste ihren Po, und ehe er es sich versah, hatte sie ihre Beine um seine Hüften geschlungen. Für einen Moment verschlug es ihm den Atem, als ihr intimster Körperteil sich an sein Glied schmiegte.

Chance unterbrach den Kuss und lehnte seine Stirn an ihre. „Du bist so unglaublich heiß, Baby, aber verdammt, ich möchte dich in einem Bett lieben.“

Erstaunt öffnete sie die Augen und sah ihn an.

Zum Teufel! Er konnte wirklich nicht mehr klar denken. „Unser erstes Mal … ich möchte, dass alles richtig ist. Ich könnte dich hier im Stehen nehmen, aber ich möchte es langsam angehen lassen. Ich möchte sehen, wie du in meinen Armen dahinschmilzt, bevor ich zu dir komme. Ich möchte dich berühren und dich küssen, möchte herausfinden, wie oft ich dich kommen lassen kann, bevor du mich anflehst, aufzuhören.“

Was zum Teufel machte sie hier? Cass konnte nicht mehr klar denken. Wollte sie das hier überhaupt? Ihr feuchter BH klebte an ihren empfindlichen Brustwarzen, aber das Gefühl löste keine Irritation aus, sondern Wogen des Verlangens in genau dem Körperteil, der sich jetzt an Chances Jeans rieb. Er war genauso angeturnt wie sie, was eindeutig ein Plus war. Die Dinge, die er ihr sagte, ließen ihr Herz rasen. Ihr Verstand misstraute ihm, aber ihrer Lust war das einerlei. Er war sexy und heiß auf sie. Sein Körper versprach vieles, und das Warten brachte sie um. Geduld war noch nie ihre starke Seite gewesen.

„Halt den Mund und küss mich!“

„Yes, Ma’am!“

„Du redest schon w…“

Er küsste ihre Worte fort. Sie spürte seine Erektion. Wären sie nackt gewesen, hätte sie ihn jetzt geritten, hart und schnell. Sie schob ihre Zunge in seinen Mund und ließ zu, wie er ihren Kopf mit sanftem Nachdruck zurückbog, um eine Spur heißer Küsse über ihren Hals zu ziehen hinunter zu ihren Brüsten. Cass stöhnte auf. Sie genoss es, seine Hände zu fühlen, und drückte ihre Beine noch fester um ihn.

„Ich möchte dich schmecken … dich berühren“, keuchte er.

„Du redest zu viel …“

„Ich glaube, hier sollte viel mehr geredet und viel weniger berührt werden.“

Entsetzt warf Cass einen Blick über Chances Schulter. Boots stand in der Tür, die Hände in die Seiten gestemmt, die Miene völlig ausdruckslos. Chance stöhnte. Sie tippte ihm auf die Schulter. „Hallo! Jemand zu Hause? Wir haben Gesellschaft!“

Chance warf einen Blick zur Tür. Dann grinste er. „Er hat kein Gewehr dabei – ich glaube, wir sind sicher.“

„Lass mich runter, Chance!“

„Ich weiß nicht, ob es dir schon aufgefallen ist – aber du bist diejenige, die ihre Beine um meine Hüften geschlungen hat, Darling.“

„Oh …“ Betreten rutschte sie mit den Füßen auf den Boden. Ihre Knie drohten nachzugeben, aber mit einer galanten Bewegung hielt Chance sie bei den Armen, bis sie ihr Gleichgewicht gefunden hatte.

Ihr Gesicht war puterrot, als sie den alten Mann endlich ansehen konnte. „Tut mir leid, Onkel Boots. Ich … ich hatte nicht erwartet, dass du vor dem Ende des Unwetters zurückkommst.“

„Das Unwetter ist schon eine Weile vorbei, Cassidy.“

„Ich bin nass geworden, als ich die Pferde hereingeholt habe. Chance hat mir sein Hemd angeboten.“

Dieses Hemd lag jetzt auf dem Boden, zusammen mit ihrem T-Shirt. Boots’ Blick sprach Bände. Cass atmete tief durch. Sie war kein Kind mehr! „Wenn du nichts dagegen hast, treffen wir uns in ein paar Minuten im Haus.“

Boots sah auf die Uhr und bedachte sie beide dann mit einem scharfen Blick. „Fünf Minuten. Sonst komme ich zurück. Mit Winnie.“

Chance sah Cass fragend an und flüsterte: „Wer ist Winnie?“

„Seine Winchester.“

„Oh … Wir kommen sofort, Sir!“, rief er Boots nach.

Cass musste ein Kichern unterdrücken. „Beruhige dich, er wird dich nicht zwingen, mich zu heiraten.“ Als sie seinen konsternierten Blick sah, setzte sie hinzu: „Das war ein Witz, Chance.“

„Mich zu heiraten wäre ein Witz?“

Cass ließ sich gegen die Mauer sinken. Dass er so betroffen reagierte, hätte sie nie für möglich gehalten. Offenkundig war dieser Mann es gewohnt zu bekommen, was auch immer er haben wollte. „Nein, natürlich nicht.“ Er machte ihr Angst. Wieso wirkte er so verletzt? Und gleichzeitig zornig? Sie hatten noch nicht einmal ein Date gehabt – knutschen in der Scheune zählte nicht.

„Früher wurden die Männer mit vorgehaltener Schrotflinte zur Heirat gezwungen, wenn sie eine Frau in andere Umstände gebracht haben, das ist es, was ich gemeint habe. Wir – heiraten? Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt. Außerdem – nur weil ich mich von meinem Job habe beurlauben lassen, heißt das nicht, dass ich nicht nach Chicago zurückgehe, sobald ich das mit der Ranch geregelt habe.“

Er stützte sich mit beiden Händen neben ihrem Kopf ab. „Was soll das heißen?“

„Ja, was glaubst du denn? Mein Leben ist in Chicago, Chance. Ich habe dort einen guten Job. Meine Freunde.“ Sie zuckte die Schultern. „Ich bin kein Cowgirl.“

„Das mit mir wäre also nur ein One-Night-Stand für dich?“

Sie runzelte die Stirn, als er ihr ihre eigenen Worte zurückgab. Seine Haltung verwirrte sie. „Ich glaube, du verrennst dich da in etwas, Chance. Ja, zwischen uns ist etwas, aber es ist nur Sex. Wir kennen uns nicht gut genug, als dass es irgendetwas anderes sein könnte.“

Er drückte sich an sie. Sie holte tief Luft und tauchte unter seinem Arm hindurch, um in die Sattelkammer zu verschwinden. Als sie wieder herauskam, trug sie einen Anorak. Sie hob ihr T-Shirt auf und warf Chance sein Hemd zu. „Ich werde um fünf fertig sein, falls du noch an deiner Einladung festhältst. Falls nicht, ist das okay.“

Mit einem letzten Rest an Würde ging sie zurück ins Haus. Sie hörte Boots in der Küche. Rasch ging sie in ihr Zimmer, um zu duschen und sich umzuziehen. Dann konnte sie ja vielleicht auch wieder klar sehen. Im Moment war ihr völlig schleierhaft, was da gerade passiert war.

Chance sah Cassie nach. Was zum Teufel war über ihn gekommen? Er war kein besitzergreifender Typ, und One-Night-Stands waren ihm von allen Affären die liebsten. Keine Bindung, keine Verpflichtungen. Und wieso war ausgerechnet er jetzt derjenige, der sich an eine Beziehung klammerte? Wie Cass gesagt hatte – sie kannten sich kaum. Verdammt! Er musste nur einmal mit ihr schlafen, dann würde er sie aus dem Kopf bekommen. So einfach war das.

Oder auch nicht. Er musste endlich an seinen Job denken, nicht an die sexy Frau, die ihn um den Verstand brachte. Außerdem: Was spielte es für eine Rolle? Sie würde ohnehin wieder nach Chicago gehen.

Er setzte sich ans Steuer, warf den Motor aber nicht gleich an, sondern starrte auf das Fenster, hinter dem er Cassies Schlafzimmer vermutete. Das Haus war nicht groß, hatte weniger Wohnfläche als sein Apartment. Die Möbel waren alt und verwohnt. Geliebt.

Und da war seine Antwort. Das Haus war erfüllt von Liebe. Die Art Liebe, die er und seine Brüder immer vermisst hatten. Cassie war drei gewesen, als ihre Mutter starb, aber ihr Daddy hatte sie geliebt. Und ihr Onkel Boots. Zum ersten Mal im Leben war Chance eifersüchtig. Es würde etwas dauern, sich an dieses Gefühl zu gewöhnen.

Er fuhr los. Er hatte über vieles nachzudenken.

Cassie wartete, bis Chance fortgefahren war, ehe sie ihre Stiefel und die nassen Jeans abstreifte. Der Mann war ein Spieler. Das spürte sie. Eine erotische Wanderdüne, so nannte ihre beste Freundin in Chicago Männer wie ihn. Wanderte von einem Bett ins nächste. Das Letzte, was sie im Moment brauchte oder wollte, war eine Affäre mit einem Cowboy aus Oklahoma, auch wenn er einen knackigen Hintern hatte und ein Lächeln, das den Südpol zum Schmelzen bringen konnte. Cowboys wollten Cowgirls, und das war sie nicht mehr.

Ihr Blick glitt durch das Zimmer. Ihr Zimmer. Nichts hatte sich hier geändert, seit sie vor zehn Jahren fortgegangen war. Pokale und Preise standen auf den Regalen, dazu ein paar gerahmte Fotos. Auf einem war sie mit Barney zu sehen, ihrem ersten Pferd. Stolz hielt sie ihren Meisterschaftsgürtel in die Kamera. Sie war noch so klein gewesen, dass sie nicht einmal ohne Hilfe in den Sattel gekommen war. Ein anderes Foto zeigte sie auf einem Pferd hinter ihrem Vater, die Arme um seine Taille geschlungen. Auf einem dritten Foto hielt sie einen Sattel hoch, den sie gewonnen hatte.

Es klopfte an der Tür. Rasch warf sie sich ihren Bademantel über. „Komm rein, Onkel Boots.“

„Wir müssen reden, Babygirl.“

Cass nickte. „Kann ich zuerst noch duschen?“

Er verschwand wieder Richtung Wohnzimmer.

Kurze Zeit später setzte sie sich zu ihm. Sie spürte sein Unbehagen. Nervös strich sie sich das Haar zurück.

„Hast du immer noch vor, die Ranch unter den Hammer zu bringen?“

Unter den Hammer bringen? Das klang furchtbar – und war absolut nicht das Thema, das sie im Moment erwartet hatte. „Ich bin kein Rancher, Onkel Boots. Wir werden etwas für dich finden, wo du mit Buddy leben kannst.“

„Es geht hier nicht um mich, Cassie. Es geht um dich. Um das Erbe, das dein Daddy dir hinterlassen hat. Und darum, was und wer du eigentlich bist.“

Sie seufzte. „Ich bin kein Cowgirl, Onkel Boots. Das bin ich nicht mehr, seit ich fortgegangen bin aufs College.“

„Dann sag mir doch, wieso du die Pferde hereingeholt hast, als das Unwetter kam.“

„Weil jemand es tun musste.“

„Hätte ein Stadtmädchen sich deswegen nass regnen lassen?“

„Nur weil ich wusste, was zu tun war, heißt das doch nicht, dass ich diese Ranch betreiben möchte.“

Boots lehnte sich zurück und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen. „Ben hat ein Fohlen gesucht. Ein ganz besonderes Fohlen. Für dich.“ Er hob abwehrend die Hand, als sie etwas sagen wollte. „Hör mir einfach zu, Cassidy. Dein Daddy wusste, dass du nicht hierbleiben wolltest. Er wusste, dass du dir den Wind um die Nase wehen lassen musstest. Er hat ja früher dasselbe gemacht. Er ist viel herumgekommen, bis er deine Mom kennengelernt hat. Sie hatte hier Wurzeln geschlagen. Tiefe Wurzeln. Und dann kamst du. Da war für ihn klar, dass er bleiben würde. Er hat diese Ranch aufgebaut, Zaunpfahl für Zaunpfahl. Mit eigenen Händen. Es gab eine Zeit, da hat die Morgan-Baxter Rodeo Company alle großen Rodeos ausgestattet. Calgary, Las Vegas, Denver. In einem Jahr haben wir es sogar bis zum Madison Square Garden geschafft. Dein Vater hatte einen Namen, Babygirl. Aber er wollte nicht, dass du ein Cowgirl wirst.“

Sie vergaß für einen Moment vor Erstaunen, den Mund zu schließen. „Das ist mir neu!“

Boots lachte leise. „Er wollte mehr für dich. Er wollte, dass du Pferde trainierst. Oder züchtest. Schon als Kind hattest du ein gutes Gespür für Pferde. Aber er wusste auch, dass du seine Wanderlust geerbt hast, wie er es nannte. Also hat er einfach abgewartet, bis sie sich legt. Und dann fand er dieses Fohlen. Double Rainbow.“

Doppelter Regenbogen. Der Name ließ Erinnerungen in ihr aufsteigen. Sie und ihr Dad in seinem alten Pick-up. Er hatte ihr erklärt, dass ihre Mom nicht mehr wiederkommen würde. In dem Moment hatte sich vor ihnen am Himmel ein doppelter Regenbogen gezeigt. Und sie waren ihm gefolgt. Immer weiter. Fasziniert. Bis der Bogen schließlich verschwunden war – am Himmel, nicht aus ihrer Erinnerung. Verwirrt sah sie Boots an. „Er hat das Fohlen wegen dieses Namens gekauft?“

Boots lachte. „Du solltest deinen Vater besser kennen. Der kleine Kerl hat einen Stammbaum, der bis auf Leo zurückgeht.“ Er sah sie abwartend an.

Sie überlegte. Leo … „Einen Moment mal, der Leo? Der legendäre Deckhengst?“

Boots nickte. „Genau. Der Kleine geht direkt auf den Leo zurück.“

„Meine Güte!“ Cass war sprachlos. Leo hatte die besten Rennpferde gezeugt, darunter viele Rodeo-Champions. Ihre Gedanken wirbelten wirr durcheinander. Allen festen Absichten zum Trotz ging sie die Möglichkeiten durch, die ein solches Pferd bot. Aber nein! Sie musste an Chicago denken. Ihr Leben war in der Stadt, nicht auf der Ranch. Oder?

Plötzlich kam ihr ein ganz anderer Gedanke. Sie beugte sich vor. „Wie viel hat er für das Fohlen gezahlt? Ich … ich kann mir nicht einmal im Traum vorstellen, was es wert ist!“

„Dein Daddy war ein geborener Pferdehändler, Babygirl.“

„Und das heißt …?“

„Er hatte eine der besten Sammlungen von Rodeo-Memorabilia außerhalb des Western-Heritage-Museums. Wie der Zufall es will: Docs früherer Besitzer war ein Sammler.“

„Wer ist Doc?“

„Das Fohlen. Es wird Doc genannt – die ersten beiden Buchstaben von Double Rainbow: DR – das steht doch kurz für Doctor oder Doc.“

„Du lieber Himmel, darauf wäre ich ja nie gekommen!“ Sie lachte. „Und was war das für eine Sammlung?“

„Wir hätten es wohl nicht so genannt, aber der Dachboden und die Scheune waren bis oben hin voll mit Sachen. Dein Daddy konnte einfach nichts wegwerfen. Docs erster Besitzer kam mit einem großen Pferdeanhänger von Illinois hierher. Er brachte das Fohlen und nahm im Tausch dafür die Sachen, die dein Vater im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Ben fand, dass es ein guter Deal war.“ Seine Augen wurden feucht. „Ich glaube, er wollte uns nur nicht zumuten, das alles aufräumen zu müssen.“

Boots mied Cassies Blick. „Dein Daddy wollte dir etwas hinterlassen, Babygirl. Ein richtiges Vermächtnis. Eine Möglichkeit, deine Wurzeln zu finden. Und er hoffte, du würdest diese Wurzeln hier schlagen.“ Er räusperte sich. „Dieses Fohlen war sein ganz besonderes Geschenk für dich. Nun liegt es bei dir, Cassidy Anne. Was wirst du daraus machen?“ Er zwinkerte ihr zu. „Und was machst du mit dem jungen Bock aus der Scheune?“

Chance hielt auf dem Hof und blieb noch einen Moment hinter dem Steuer sitzen. Irgendwie fühlte er sich wie ein Junge vor seinem ersten Date. Dass Boots sie am Nachmittag in der Scheune überrascht hatte, störte ihn nicht weiter, wohl aber die Art, wie der Alte ihn angesehen hatte. Er hatte ihn erkannt, daran hatte er keinen Zweifel. Blieb nur die Frage, wieso er es Cass noch nicht gesagt hatte. Er musste dringend mit Boots Thomas unter vier Augen sprechen.

Sein Handy machte sich bemerkbar. Barron Security. Es war Cash.

„Was ist?“, knurrte Chance statt einer Begrüßung.

„Ich habe weiter wegen des Fohlens recherchiert, das der Alte haben will.“

Chance rieb sich die Stirn. Über den Problemen mit der Übernahme der Ranch einerseits und den Gedanken an die Frau, die er damit ruinieren sollte, andererseits hatte er das Fohlen fast vergessen. „Hat das nicht Zeit bis morgen?“

„Du bist doch gerade auf der Ranch von Ben Morgan, oder?“

„Verdammt, Cash – spionierst du mir nach?“

„GPS in einem Smartphone ist doch sehr praktisch.“

Für einen Moment verschlug es Chance die Sprache. Aber was sollte ihn in dieser Familie noch wundern? Seufzend kam er auf das eigentliche Thema zurück. „Was ist mit dem Fohlen?“

„Ich habe gerade die Unterlagen von der American Quarter Horse Association bekommen, die alle reinrassigen Pferde registriert. Die Eigentumsrechte an dem Fohlen sind übertragen worden. An Cassidy Morgan.“

Chance überlegte. Er hatte ihr Gesicht gesehen, als Boots ihr das Fohlen gezeigt hatte. Sie war eindeutig überrascht gewesen.

„Wer hat die Registrierung unterschrieben?“

„Der vorherige Besitzer – an ihrer Stelle.“

„Das heißt, sie weiß vielleicht gar nichts von ihrem Glück.“

„Sag mal, wieso verteidigst du sie eigentlich? Lass mich raten: Sie ist hübsch und …“

„Halt den Mund, Cash.“

„Dann sag mir doch, wieso du bisher nichts unternommen hast wegen des Kredits und der Pfandsicherung?“

„Kontrollierst du mich?“

„Ich tue nur, was der Alte mir aufträgt, großer Bruder. Und das solltest du auch tun. Er will die Ranch und das Fohlen. Cassidy Morgan hat beides. Du hast schon genug Zeit vertan. Jetzt kannst du mit einem Schlag zwei Probleme lösen. Ganz einfach!“

Einfach? Wenn es um Cassidy Morgan ging, war nichts einfach. Überhaupt war nichts im Leben mehr einfach. So wie früher. Er hatte Rodeos reiten und sich um die Viehzucht der Familie kümmern wollen. Aber sein Vater hatte andere Vorstellungen gehabt. Jeden seiner Söhne hatte er in den Beruf gesteuert, in dem er ihn haben wollte. Ach was, gesteuert. Er hatte befohlen, und seine Söhne hatten zu gehorchen, ob es ihnen gefiel oder nicht. Er bekam immer, was er wollte.

Er sah eine Bewegung auf der Veranda. Boots war an das Geländer getreten und sah zu ihm herüber. „Ich muss los, Cash.“

„Dann mach deinen Job, Chance.“

Auf halbem Weg zum Haus kam Boots ihm entgegen. Er wirkte wie eine Bulldogge, die im Begriff ist, ihr Terrain zu verteidigen.

„Eins will ich dir sagen, Junge …“

Chance musste eine scharfe Antwort hinunterschlucken. Niemand nannte ihn Junge, nicht einmal sein Vater. „Und?“ Er sah den Alten abwartend an.

„Wenn du dem Mädchen wehtust, bekommst du es mit mir zu tun – ich werde dich fertigmachen, das darfst du mir glauben.“

Chance fuhr zurück. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass das Gespräch diese Richtung nehmen würde.

„Ich habe dich gleich erkannt, Chance Barron, als du auf der Gedenkfeier aufgetaucht bist. Und ich kenne die Geschichte zwischen ihrem Daddy und deinem.“

„Und wieso haben Sie Cass nichts davon gesagt?“

„Weil ich noch nicht ganz begriffen habe, worauf du aus bist. Nach allem, was ich heute Nachmittag gesehen habe, könntest du ja Gefühle für sie haben. Ich muss dich ja nicht mögen, und ich muss dir nicht vertrauen.“ Boots sah zum Haus. „Du solltest ihr sagen, wer du wirklich bist. Sie ist genau wie ihr Vater – sie kann Lügen nicht ausstehen.“

„Ich habe nicht gelogen.“ Er hatte nur nicht die ganze Wahrheit gesagt. Oder stand er hier unter Eid? Er zuckte die Schultern. „Spielt es eine Rolle, Mr. Thomas? Sie geht ja ohnehin bald zurück nach Chicago.“

„Vielleicht.“

Chance fragte sich, was es mit dieser Antwort auf sich haben mochte. Als Anwalt war er es gewohnt, der Gegenpartei immer einen Schritt voraus zu sein. Seit er Cass kennengelernt hatte, schien er den Ereignissen hinterherzulaufen. „Soweit ich weiß, will sie zurück in ihren Job. Ihre Firma wird sie ja nicht ewig beurlauben.“

In diesem Moment kam Cass aus dem Haus. Er sah sie an wie hypnotisiert. Augenblicklich war das Gespräch mit Boots vergessen. Ihr blondes Haar leuchtete wie gesponnene Seide, und das Licht, das aus dem Haus kam, umgab sie wie ein Heiligenschein. Es war das erste Mal, dass er sie so betont weiblich gekleidet sah – abgesehen von den hochhackigen Stiefeln in Chicago. Der Rock umschmeichelte ihre Hüften und betonte ihre langen Beine. Das türkisfarbene Top war mehr als dazu angetan, seine Phantasie anzuregen. Ohne weiter auf Boots zu achten, trat Chance auf sie zu.

„Wow! Du siehst toll aus!“

Sie lachte leise. „Ich freue mich auch, dich zu sehen, Cowboy.“

Es freute sie tatsächlich, ihn zu sehen. Wann hatte ein Mann sie eigentlich das letzte Mal so angeturnt? Ihre Brust hob sich, als sie tief durchatmete. Allein der Gedanke an seinen Kuss ließ ihren Puls schneller gehen. Als sie den Blick hob, bemerkte sie, dass Chance eine ganze Weile schon ihre Brüste ansah. Sie räusperte sich – und schuldbewusst sah er auf. Es kostete sie einige Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.

Er gab ihr das Gefühl, sexy und begehrenswert zu sein. Als sie schließlich neben ihm im Auto saß und den Gurt anlegte, beugte sie sich absichtlich etwas vor. Und ja, er genoss den Anblick, das bemerkte sie wohl.

„Wohin fahren wir?“, fragte sie.

Ihr Outfit hatte eindeutig den gewünschten Effekt, denn er musste sich einen Moment besinnen. Schon in der Scheune war sie bereit gewesen, mit ihm zu schlafen. Jetzt war sie mehr als bereit, diesen Weg nach dem Essen weiterzuverfolgen.

„Wie wäre es mit dem Old Chicago?“ Er sah sie fragend an.

Sie seufzte gespielt dramatisch. „Dafür hätte ich mir ja keine Mühe machen müssen.“

„Wir könnten auch nach Bricktown fahren. Da du länger nicht zu Hause warst, würde es dich wahrscheinlich überraschen, was sich dort alles verändert hat.“

„Hast du etwas Bestimmtes im Sinn?“

Er lachte leise. „Bei Toby Keith’s gibt es die besten Steaks.“

„Und das ist deine Vorstellung von einem tollen Date?“

„Du hast noch nicht gesehen, wie groß die Steaks sind.“

„Okay, dann auf zu Toby’s. Ich komme um vor Hunger.“

Chance hatte nicht übertrieben – das Steak war fast so groß wie der Teller und schmeckte hervorragend. Anschließend schlug er einen Spaziergang am Bricktown Canal vor. Cass sah fasziniert, wie die alten Fabrikgebäude renoviert worden waren. Zahlreiche Besucher schoben sich über die Straße. Auf dem Kanal sah man Wassertaxis mit Touristen, die Erklärungen der Fremdenführer drangen übers Wasser zu ihnen herüber.

Chance hatte Cassies Hand genommen. Sie spürte prickelnde Erregung in sich aufsteigen. Der Mann turnte sie an, keine Frage, aber da war noch etwas. Etwas, das tiefer ging. Wenn sie daran dachte, mit ihm zusammen zu sein, dann war es mehr als … Sex. Sie wollte mit ihm schlafen. Wollte das Band erkunden, das sich zwischen ihnen zu entwickeln schien.

Als Cass aufsah, bemerkte sie, dass Chance sie beobachtete. Sie bedauerte, dass man ihr jede Gefühlsregung sofort ansah. Er drückte ihre Hand und zog sie näher an sich. Mitten auf dem Gehsteig blieben sie stehen und zwangen die Passanten, einen Bogen um sie zu machen. Es war ihr einerlei.

Sie war noch nie verliebt gewesen. Hatte keine Ahnung, wie es sich anfühlte. Lust? Ja, die kannte sie. Diese Stichflamme, die so schnell zwischen Mann und Frau aufkommen und ebenso schnell wieder verlöschen konnte. Bei diesem Mann hingegen war es weniger eine Stichflamme als ein großes Feuer, das seine Hitze verbreitete. Cass sah auf, und er hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen.

Sie sahen sich in die Augen. Ignorierten die Bemerkungen der Passanten. Sie wollte sich in seinem Blick verlieren – trotz des Unbehagens, das immer noch im Hintergrund lauerte. Ihre Eltern hatten einander geliebt, und die Welt ihres Dads war eingestürzt, als ihre Mom starb. Obwohl sie damals erst drei Jahre alt gewesen war, erinnerte sie sich noch heute an seine Trauer. Und fragte sich, ob das vielleicht der Grund war dafür, dass sie bisher keinen Mann in ihr Herz gelassen hatte.

Konnte dies der Mann sein, bei dem es anders war? Sie kannte ihn kaum, erkannte aber, dass es etwas gab, das sie verband. Nicht dass sie an Seelenverwandtschaft oder so etwas geglaubt hätte. Aber die Beziehung ihrer Eltern war tief und fest gewesen. Liebe auf den ersten Blick, wie ihre Mutter in ihrem Tagebuch geschrieben hatte.

Chance ließ sie nicht aus den Augen. Fasziniert beobachtete er das Spiel der Emotionen, das sich auf ihren Zügen zeigte. Die Zeit schien stehenzubleiben, und er hatte Angst, irgendetwas zu tun, was den Zauber des Augenblicks brechen könnte. Am liebsten hätte er das Lächeln, das sie ihm schenkte, in eine Schachtel getan, um es für immer aufzubewahren. Es war mehr wert als alles, was sich im Banktresor seiner Familie befand.

Eine Gruppe junger Leute schob sich an ihnen vorbei. „Habt ihr kein Zuhause?“, feixte einer der Männer.

Der Zauber war gebrochen. Chance brachte Cassie zurück zum Parkplatz und hielt ihr die Tür seines Pick-ups auf. Als sie saß, hauchte er ihr einen Kuss auf die Lippen.

„Jetzt oder nie, Darling. Zu dir oder zu mir?“

„Zu dir.“ Kein Zögern. Sie wollte ihn. Wollte seine Hände auf ihrer nackten Haut spüren, und sie wollte ihn erkunden, wollte ihn küssen. Überall. Für einen Moment vergaß sie zu atmen.

„Also zu mir.“

Cass nahm die Fahrt kaum wahr. Als sie durch die Tiefgarage gingen, registrierte sie neben seinem Pick-up vage einen teuren, schwarzen Sportwagen. Wortlos betraten sie den Fahrstuhl, wortlos fuhren sie hinauf ins Penthouse. Chance brauchte eine Weile, bis er die Tür aufgeschlossen hatte.

Er stieß die Tür hinter ihnen mit dem Fuß zu. Packte Cass bei den Armen, um sie an sich zu ziehen – nicht rau, aber doch mit Kraft. Ihre Brüste wurden gegen die harten Muskeln seiner Brust gedrückt, während seine Lippen ihre fanden, voller Verlangen und dabei doch von unendlicher Zärtlichkeit.

„Möchtest du jetzt die Cards sehen?“, murmelte er.

„Wen? Was?“ Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, wollte es auch nicht. Wollte sich nur den Gefühlen hingeben, die seine Zärtlichkeiten in ihr weckten. Ohne ihre Lippen voneinander zu lösen, waren sie inzwischen im Schlafzimmer gelandet. Wie benommen sah Cass zu, wie die Skyline der Stadt vor dem Fenster verschwand, als Chance einen Knopf drückte und die Vorhänge sich schlossen. Für einen Moment wunderte sie sich über die Technik, aber dann versiegte jeder klare Gedanke.

Wie im Fieber zogen sie sich aus. Knöpfe. Reißverschlüsse. Achtlos fallen gelassene Kleidungsstücke. Endlich waren sie beide nackt. Verschlangen einander mit glühenden Blicken. Für einen Moment senkte Cass die Lider. Sie hatte alles andere als eine Modelfigur. Sie hatte Kurven. Dann schalt sie sich. Sie war eine Frau, kein Kleiderständer. Auch wenn Hollywood etwas anderes vorgab, war sie glücklich mit ihrem Körper.

Sie hob den Blick und sah Chance an. Sah das unverhohlene Verlangen in seinen Augen. „Du bist noch schöner, als ich es mir hätte träumen lassen“, flüsterte er und kam auf sie zu. Als er sie in den Arm nahm, spürte sie seine Erektion, die hart gegen ihren Bauch drückte, und rieb sich daran.

„Mach weiter so, und wir werden nicht lange etwas davon haben“, murmelte er und ließ sich mit ihr auf das Bett fallen. „Du zuerst.“ Er beugte sich über sie und drückte ihre Beine auseinander. Schob ihre Knie nach oben. Einen Moment lang genoss er lustvoll ihren Anblick, und sie bezwang das Verlangen, ihre Schenkel zu schließen. Dann streckte er sich aus, seinen Kopf zwischen ihren Schenkeln.

„Meins“, flüsterte er.

Cass hob sich ihm entgegen, als sie seine Zunge spürte. Sie war so erregt, dass sie nicht lange brauchen würde, um abzuheben. Seine Finger liebkosten sie, während Lippen und Zunge ein teuflisches Spiel trieben, das sie bald vor Lust keuchen ließ. Sie stöhnte. Wimmerte. Wand sich unter seinen Berührungen, bis seine Hände ihre Schenkel packten, um sie festzuhalten, während er sein Spiel genussvoll fortsetzte.

Schließlich hob er den Kopf. „Komm für mich, Baby. Zeig mir, wie es für dich ist, Cass.“ Er schob einen Finger in sie. Zog ihn wieder heraus. Hinein. Heraus. Ließ seine Zunge folgen.

„Nein … nein … nein …“

„Ja …“

Sie ertrug es nicht länger. Schloss die Augen und ließ Woge auf Woge der Lust über sich hinwegrollen.

Cass hätte lachen und weinen mögen, als sie wieder zu sich kam. Noch nie hatte sie einen Höhepunkt erlebt, der sie so erschüttert hatte. Chance zog eine Spur aus Küssen über ihren Bauch und zwischen ihren Brüsten hindurch hinauf zu ihren Lippen. Zärtlich drückte er sie an sich, während ihr Gefühlssturm sich langsam legte.

„Ich hätte gefragt, ob es gut war für dich, aber ich glaube, die Antwort kenne ich bereits.“

„Es war unglaublich …“ Sie hatte Mühe, Worte zu finden.

Er lachte. Es klang tief, kehlig – und glücklich. Sie legte den Kopf an seine Schulter und ließ die Finger durch das Haar auf seiner Brust gleiten. Eine Weile lagen sie schweigend beieinander, bis Cass ihr Bein über seine Hüfte gleiten ließ. Unwillkürlich ließ sie ihre Hand an seinem Körper hinabgleiten und umfasste sein Glied.

Er stöhnte auf. „Wenn du mich jetzt berührst, halte ich es nicht mehr lange aus.“

Sie lachte leise. „Dann bist du mir also ausgeliefert?“

Mit einer einzigen Bewegung rollte er sich auf sie. „Ich möchte in dir sein. Spielen können wir später“, murmelte er.

„Nicht ohne Kondom …“

Er zog die Schublade des Nachttisches auf und holte ein kleines Päckchen heraus. „Möchtest du …?“ Er sah sie fragend an.

Sie schüttelte den Kopf.

Er grinste, riss die Hülle mit seinen Zähnen auf und streifte das Kondom über. Cass hatte diesen Teil des Liebesspiels nie als sexy gefunden, aber ihn dabei zu beobachten erregte sie – und das, was dann kam, erregte sie noch mehr. Unter dem Spiel seiner Hände keuchte und stöhnte sie. Sie hob sich ihm entgegen.

„Komm, Cowboy!“

„Yes, Ma’am.“

Er füllte sie ganz aus. Dann zog er sich ein wenig zurück. Sie schlang ihre Beine um seine Hüften, wollte ihn in sich behalten. Sie fand seinen Rhythmus und passte sich ihm an. War nur noch Gefühl. Irgendwann spürte sie, wie er kam.

Und kam zur selben Zeit.

Völlig erschöpft lagen sie schließlich auf den zerwühlten Laken und kamen erst allmählich wieder zu sich. Cass öffnete die Augen. Chance sah so aus, wie sie sich fühlte – unwillkürlich musste sie lachen.

„Es war unglaublich“, seufzte sie.

„Yeah …“

„Gesprochen wie ein wahrer Höhlenmensch!“

„Wäre es noch besser gewesen, hätte ich es vermutlich nicht überlebt, Baby.“

Sie stützte sich auf einen Ellenbogen. „Du hast noch nicht alles gehabt, Cowboy.“ Lasziv fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen und beobachtete, wie er fasziniert der Bewegung folgte. Dann tippte sie mit der Zungenspitze gegen ihre Oberlippe und seufzte genießerisch: „Warte es nur ab. Die Nacht ist noch jung.“

5. KAPITEL

Cass kam langsam zu sich. Sie genoss es, Chances Arme um sich zu fühlen, aber sie musste nach Hause. Seit sie wieder auf der Ranch war, hatte sie es sich angewöhnt, einen Teil der Arbeit zu übernehmen, um Boots das Leben ein wenig zu erleichtern. Er war älter als ihr Vater, und wenn er auch gesund und munter war, ließ sich sein Alter nicht leugnen. Er musste nicht mehr unbedingt Heuballen stemmen oder die Boxen ausmisten. Und davon abgesehen: Sie wollte ihm nicht unbedingt auf die Nase binden, dass sie die Nacht mit Chance verbracht hatte. Vorsichtig ließ sie sich aus dem Bett gleiten und huschte auf Zehenspitzen hinüber ins Bad. Sie schloss die Tür hinter sich, bevor sie das Licht anmachte.

Das Bild, das sie im Spiegel sah, war das einer Frau nach intensivem Liebesspiel. Die Lippen waren leicht geschwollen, eine Wange gerötet von seinen Bartstoppeln und ihr Haar wirkte, als sei ein Sturm hindurchgefahren. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und benutzte ihren Zeigefinger als Zahnbürste. An dem Haar ließ sich so schnell wohl nichts ändern. Rasch schaltete sie das Licht aus und öffnete die Tür.

Chance stand vor ihr. „Du bist früh auf.“

„Es tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken. Aber da du nun schon einmal wach bist – ich muss nach Hause, okay?“

„Nein, nicht okay. Wieso?“ Er musterte sie forschend.

„Die Arbeit wartet.“

Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wolle er den letzten Rest Schlaf fortwischen. „Arbeit?“

„Die Pferde und Rinder müssen gefüttert und die Ställe ausgemistet werden. Du bist doch ein Cowboy.“ Ihr Blick glitt zum ersten Mal bewusst durch das luxuriös eingerichtete Zimmer. „Angeblich zumindest. Hast du schon einmal auf einer Ranch gearbeitet?“

Er kratzte sich die Brust. Eine lässige Geste, die ihren Blick fesselte. Sein Duft stieg ihr in die Nase. Nach Moschus. Leder. Und etwas Sauberem. Wie frische Wäsche an der Leine an einem heißen Sommertag. Der Gedanke hätte sie fast auflachen lassen. Niemand duftete nach Sonnenschein.

„Wir können noch zusammen duschen – das spart Zeit und Wasser.“

„Du glaubst wirklich, wir sparen damit Zeit?“

„Ich liebe es nass und wild“, bemerkte er statt einer Antwort und schob sie zurück ins Badezimmer. Ehe sie es sich versah, stand sie mit ihm unter der Dusche und genoss den warmen Wasserstrahl. Chance griff nach dem Duschgel. Als sie schließlich fertig waren, war sie sauber, befriedigt und hatte weiche Knie. Bei ihm war es nicht anders. Zu diesem Spiel gehörten nun mal zwei.

Cass verteilte das frische Stroh in Docs Box und wandte sich um. Chance stand in der Tür und beobachtete sie. „Siehst du etwas, das dir gefällt, Cowboy?“

„Mmm-hmm.“

Cass musste zugeben, dass er sie überrascht hatte. Er setzte sie nicht einfach vor der Ranch ab, sondern bestand darauf, ihr zu helfen. Während sie im Haus verschwand, um sich rasch umzuziehen, ging er in die Scheune und entließ die Pferde mit Buddys Hilfe auf die Weide, damit sie die Boxen reinigen konnten.

„Das ist ja eine Überraschung, dich hier zu sehen.“

Cass sah zur Tür. Boots stand dort, seine Miene vollkommen undurchdringlich.

„Guten Morgen, Mr. Thomas.“

„Du bist ziemlich spät nach Hause gekommen, Cassidy Anne.“

Warum fühle ich mich eigentlich schuldig? fragte Cass sich, als ihr bewusst wurde, dass sie seinem Blick ausgewichen war. Und warum ignoriert er Chance derart? So konnte es nicht weitergehen. Sie hob den Kopf und sah ihm fest in die Augen. „Die Arbeit ist getan. Ist noch Kaffee da?“

„Jawohl. Aber ich dachte, ihr könntet etwas Kräftigeres gebrauchen. Frühstück im Four Corners. Geht auf mich.“

Sie sah zu Chance hinüber. Sein Ausdruck verwirrte sie. Er lächelte Boots an, aber sein Lächeln wirkte fast feindselig. Sie wollte die Einladung ablehnen, schließlich konnte sie auch selbst ein Rührei machen, aber in diesem Moment knurrte ihr Magen. Laut und vernehmlich. Chance lachte leise.

„Also ins Four Corners. Ich wasche mir nur rasch die Hände.“

Er verschwand in der Sattelkammer. Dort nahm er sich etwas mehr Zeit als nötig, um seine Gefühle zu sortieren. Boots Thomas traute ihm nicht, aber warum? Der alte Cowboy wusste, wer er war. Wusste er auch, was er eigentlich von Cassie wollte? Er starrte in den kaputten Spiegel über dem Waschbecken. Was wollte er denn von Cassie? Seinem Vater und seinen Brüdern hatte er versichert, sein Kontakt zu ihr sei rein beruflich. Aber in der vergangenen Nacht war es etwas völlig anderes geworden.

Er war dabei, sich in die Frau zu verlieben. Das musste ein Witz sein! Chance Barron verliebte sich nicht. Das Leben mit seinem Vater hatte ihn davon überzeugt, dass es keine Liebe gab. Lust vielleicht. Ja, bestimmt sogar. Aber Liebe? Mit Cassidy Anne Morgan?

Er hörte, wie Cass die Scheune verließ. Kurze Zeit später folgte er ihr. Boots ging zur Beifahrerseite. Als er die hintere Tür öffnete, sprang Buddy mit einem Satz auf den Rücksitz.

„Nein, Buddy!“ Entsetzt rannte Cass zum Pick-up und versuchte, den Hund hinauszuziehen. „Du kannst nicht mitkommen.“

„Das ist okay“, sagte Chance beschwichtigend.

„Aber Chance, das sind Ledersitze!“

„Ja und?“

„Ja und?“ Sie sah ihn verblüfft an. „Dann lass mich wenigstens eine Decke holen.“

„Das ist schon okay, Cass. Steig einfach ein. Ich habe Hunger.“

Buddy schien seinen Sieg zu feiern. Er setzte sich hinter Chance, bellte einmal und sah sehr zufrieden aus mit sich und der Welt.

Während der Fahrt grübelte Chance vor sich hin. Hoffentlich erkannte ihn niemand im Four Corners. Sein Bruder Clay war als Senator ständig in der Öffentlichkeit, und auch Chase erschien jede Woche auf irgendeinem Titelblatt. Chance und die Zwillinge Cord und Cash hielten sich im Hintergrund. Auch wenn Chance Chef der Anwaltskanzlei war, überließ er öffentliche Auftritte lieber seinen Mitarbeitern. Mit etwas Glück konnte es ihm gelingen, unerkannt zu bleiben.

Seit der Gedenkfeier für ihren Vater war Cass nicht mehr im Four Corners gewesen. Sie spürte Chances Hand auf ihrem Rücken, als sie hineingingen. Die anderen Gäste sahen zu ihnen herüber, und viele grüßten. Boots steuerte einen Tisch am Fenster an. Nadine erschien mit Keramikbechern und einer Kaffeekanne.

Chance nahm neben Cassidy Platz, und als sein Schenkel ihren berührte, ließ er ihn dort. Während sie frühstückten, lauschte Cass dem Gespräch der beiden Männer und beobachtete ihre Mienen. Chance wirkte freundlich und entspannt. Boots war zunächst abweisend, aber allmählich entspannte auch er sich. Sie spürte förmlich den Moment, als seine Einstellung zu Chance kippte.

Irgendwann kam Nadine zu ihnen und setzte sich neben Boots auf die Bank, um am Gespräch teilzunehmen. Cass verbarg ihr Lächeln hinter einer Serviette. Es war unverkennbar: Nadine stand auf Boots, und wenn sie nicht alles täuschte, ging es ihm ebenso. Soweit sie wusste, hatte Boots nie geheiratet, und jetzt fragte sie sich, wieso. Ihr Lächeln ging unwillkürlich über in ein Gähnen, obwohl sie mehrere Becher Kaffee getrunken hatte.

„Ich glaube, wir sollten das Mädchen jetzt nach Hause bringen, damit sie schlafen kann, Mr. Thomas.“

„Nenn mich Boots, Junge.“

Cass hatte das Gefühl, als sei ihr eine Last von den Schultern gefallen. Sie würde es nicht länger rechtfertigen müssen, wenn Chance da war oder sie mit ihm verabredet war. Ihr schwindelte bei der Vorstellung. Würde es denn weitergehen? Oder war die vergangene Nacht ein One-Night-Stand gewesen? Er war geblieben, um ihr bei den Morgenarbeiten zu helfen, und auch jetzt schien er es nicht eilig zu haben fortzukommen. Erneut fragte sie sich, was er wohl beruflich machte. Was auch immer es war: Es schien gut Geld einzubringen, seinem Apartment und dem Wagen nach zu urteilen.

Beide Männer griffen nach der Rechnung, aber Chance war schneller. Nachdem alles erledigt war, erhob er sich und reichte Cass die Hand, um ihr aus der Bank zu helfen. Anschließend ließ er ihre Hand nicht los. Es wurde schwierig, sich so an den anderen Tischen vorbeizuschlängeln, aber das war Cass einerlei. An sich stand sie nicht darauf, ihre Gefühle in der Öffentlichkeit zu zeigen, aber bei diesem Mann war alles anders. Als sie nach draußen kamen, sprang Buddy auf sie zu. Er bellte und wedelte wie wild mit dem Schwanz.

Cass musste lachen. „Du riechst nach Schinken, Hund! Wer hat dich denn verwöhnt?“

Boots stieg mit dem Hund hinten ein, und Cass setzte sich neben Chance. Es schien die natürlichste Sache der Welt, dass er auch während der Fahrt ihre Hand hielt – und sie vor Boots küsste, als sie vor der Ranch hielten.

„Bis bald, Darling“, flüsterte er ihr zu.

Cass widerstand der Versuchung zu fragen, wann das sein würde. Sie wollte nicht klammern. Deshalb lächelte sie nur und murmelte: „Du weißt, wo du mich finden kannst, Cowboy.“

Chance hatte es sich in einem der Sessel am Konferenztisch bequem gemacht, aber seine lässige Haltung stand im Gegensatz zu seinem Unbehagen. Drei seiner Brüder saßen ihm gegenüber, der vierte war per Video zugeschaltet. Cord war der Einzige, der ihm in die Augen sehen konnte. Chase war mit seinem Smartphone beschäftigt, und Cash sah gelangweilt aus dem Fenster.

„Sieht so aus, als wolltet ihr euch einmischen.“

Als der Älteste ergriff Clay das Wort. „Das muss nicht sein, Chance.“ Er seufzte. „Ich stecke bis über beide Ohren in der Budgetplanung. Ich habe wirklich keine Zeit für diesen Kleinkram.“

„Kleinkram?“ Chase sah von seinem Smartphone auf. „Du nennst diesen jahrzehntelangen Feldzug des Alten Kleinkram, Clay?“

„Ehrlich gesagt, ja. Du hast es lange genug hinausgezögert, Chance. Stell den Kredit endlich fällig, lass diese verdammte Ranch zwangsversteigern, und das war’s dann.“

„Du vergisst eines, Clay – da ist eine attraktive Frau involviert. Unser Bruder Chance denkt zurzeit nicht ganz klar.“

Chance warf Chase einen wütenden Blick zu. „Du musst gerade reden. Wie oft haben wir dich aus irgendwelchen Schwierigkeiten mit Frauen herauskaufen müssen?“

Chase zuckte die Schultern und wandte sich wieder seinem Smartphone zu. „Wie auch immer. Aber ich stecke mitten in den Verhandlungen für einen großen Grundstücksdeal, und ich habe keine Lust, ständig hin- und herzujetten, bloß weil der Alte Amok läuft.“

Cash räusperte sich. „Ich weiß, du magst die Frau, Chance. Meine Güte, du bist fast jeden Abend bei ihr gewesen, seit du aus Chicago zurück bist. Ich wette, sie ist gut im …“

Ehe er zu Ende sprechen konnte, war Chance aufgesprungen und packte ihn beim Hemd. „Halt den Mund, Cash! Ich weiß, dass du mir nachspioniert hast. Und damit ist jetzt Schluss. Ab heute. Hörst du? Ich kümmere mich um die Angelegenheit. Auf meine Weise. Und zu meiner Zeit.“

„Irrtum.“ Cyrus Barron stand in der Tür. „Du wirst es so machen, wie ich es dir sage. Und zu meiner Zeit.“

Chance ließ Cash los und wandte sich seinem Vater zu. Er spürte Zorn in sich aufsteigen. „Wieso ist das Ganze so wichtig?“

„Weil ich es sage.“ Cyrus blieb am Kopf des Tisches stehen. Er starrte seinen mittleren Sohn an – mit einer Miene, als sei er in einen Hundehaufen getreten. „Der alte Bastard ist gestorben, bevor ich mit ihm glattziehen konnte, also regle ich die Sache mit seiner Brut.“

Chance musste der Versuchung widerstehen, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen – oder in das Gesicht seines Vaters. Er suchte nach den richtigen Argumenten. Wenn der Alte den Fall so wichtig nahm, hatte er keine Chance.

„Cassidy Morgan hat vor, die Ranch zu verkaufen und nach Chicago zurückzugehen. Sie hat eine Herde Angus-Rinder. Sobald die verkauft sind, kann sie die letzten Rechnungen ihres Vaters zahlen. Wir brauchen ihr nur ein Angebot zu machen, und sie wird uns die Ranch verkaufen.“ Er ließ sich von dem durchdringenden Blick seines Vaters nicht in die Knie zwingen.

Cyrus beugte sich vor und stieß seinem Sohn einen Finger gegen die Brust. Es kostete Chance seine ganze Selbstbeherrschung, diesen Finger nicht zu brechen.

„Ben Morgan hat mich hintergangen und mir etwas Wichtiges genommen. Damals habe ich mir geschworen, ihn zu ruinieren. Es mag vierzig Jahre gedauert haben, aber ich werde meine Rache bekommen. Jetzt setz dich und halt den Mund, Chancellor. Du warst immer der Schwächste aus dem ganzen Wurf.“ Er wandte sich dem Monitor zu. „Clayton, sieh zu, dass der Senat das Gesetz über die Pipelines durchbringt.“

Chance ließ sich in den Sessel sinken. Er war kein kleiner Junge mehr. Er öffnete den Mund, um den Streit mit seinem Vater fortzuführen, schloss ihn aber wieder, als Cord ihm unter dem Tisch einen Tritt vor das Schienbein versetzte.

„Ich habe ein paar Telefonate geführt“, fuhr der Alte fort. „Damit sollte die Sache klar sein. Vermassele es nicht, Clayton.“

„Nein, Sir. Werde ich nicht.“

Cyrus wandte sich seinen anderen Söhnen zu und sah daher die Grimasse auf Clays Gesicht nicht. Chance registrierte sie, bevor der Blick seines Vaters wieder bei ihm hängen blieb.

„Morgans Brut wird keine Chance bekommen, die Rinder zu verkaufen.“ Er lachte gehässig. „Wir werden ihr die Ranch nehmen, und ihr bleibt nichts als ein Berg von Schulden. Morgans offene Rechnungen an das Krankenhaus belaufen sich auf über fünfzigtausend Dollar. Wir lassen die Ranch zwangsversteigern und setzen sie und den alten Bastard Boots Thomas auf die Straße.“

Chance spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Was zum Teufel ritt den Alten? Cass hatte nichts zu tun mit dieser absurden Fehde. Aber sein Vater war fest entschlossen, sie zu ruinieren. Er spürte, dass da noch mehr kommen würde. Und richtig. Sein Vater maß ihn mit einem kalten Blick.

„Sieh zu, dass die Sache geregelt wird, Chance. Ich habe dich nicht ohne Grund Anwalt werden lassen. Stell den Kredit fällig! Ich will die Zwangsversteigerung.“ Die Lippen des Alten verzogen sich zur Parodie eines Lächelns. „Alles kommt unter den Hammer – bis auf Double Rainbow. Das Fohlen wird mir gehören.“ Cyrus wandte sich wieder den anderen zu. „Und was habt ihr Idioten wieder für Mist gebaut?“

Chance hörte nicht weiter zu. In ihm kochte es. Er fing den nachdenklichen Blick von Cord auf und sah seinen Bruder an. Sie waren ihrem Vater alle sehr ähnlich. Früher war Chance einmal stolz darauf gewesen, jetzt hatte er seine Zweifel. Wieso bemühte er sich so sehr, die Achtung seines Vaters zu gewinnen? Um Liebe konnte es nicht gehen. Cyrus Barron liebte nur die Macht und das Geld.

„Blut hält zusammen, Jungs. Niemand hilft einem Barron außer ein anderer Barron. Dem Rest der Welt sind wir egal – warum sollten wir uns also um den Rest der Welt kümmern? Nur die Familie zählt. Merkt euch das!“

Schweigen trat ein, nachdem der Alte gegangen war. Sogar das Klingeln der Telefone draußen in den Büros war verstummt. Chase erhob sich und kehrte den anderen den Rücken zu.

„Alle Klarheiten beseitigt?“ Er stöhnte dramatisch, als seine Brüder leise lachten. „Gut zu wissen, dass noch Leben da ist nach dieser Dampfwalze.“ Er wandte sich an Chance. „Tu uns allen einen Gefallen. Beende die Sache mit der Morgan-Tochter und zieh die Versteigerung durch. Keine Frau der Welt ist es wert, dass wir uns den Zorn des Alten zuziehen.“

Chance sah von einem zum anderen. „Und ihr habt da keine Skrupel?“

„Seit wann so edel, Chance?“, ließ sich Clay gereizt vom Monitor vernehmen. „Ich habe keine Zeit für diesen Unsinn. Tu, was der Alte will!“ Der Bildschirm wurde schwarz.

Cash und Chase, die Zwillinge, gingen schweigend hinaus. Nur Cord und Chance blieben zurück.

„Was ist?“, fuhr Chance seinen älteren Bruder an.

„Mann, dich hat es wirklich erwischt.“ Cord schüttelte den Kopf. „Du musst die Frau vergessen.“

„Wieso? Sag mir, wieso wir sie vernichten sollten!“

Cord seufzte. „Weil der Alte es so will. Und was er will …“

„… bekommt er auch. Ja, ja. Das sagen wir schon unser ganzes Leben lang, Cord. Aber wer sagt, dass das richtig ist?“

„Niemand behauptet, dass es richtig ist. Aber er ist nun einmal so. Er stampft jeden in den Boden, der sich ihm in den Weg stellt. Und diesmal ist es eben die Frau, auf die du stehst.“

Wenn Blicke töten könnten, hätte Cord diesen Moment nicht überlebt.

Chance nahm ein paar Magentabletten. Vom Fenster seines Büros aus sah er die Skyline von Oklahoma City. Sah Gebäude, Parks und den Fluss. Eine Maschine startete in der Ferne vom Will Rogers International Airport. Hinter ihm ging die Tür auf. Erst als er hörte, dass sich jemand in einen der Stühle vor seinem Schreibtisch fallen ließ, drehte er sich herum.

„Mir ist nicht danach, mit dir zu reden.“

„Okay. Dann sag nichts. Ich möchte ohnehin, dass du mir zuhörst.“

„Hast du unten nicht schon genug gesagt?“

„Nein.“ Cord schüttelte den Kopf. „Ich habe das gesagt, was der Alte hören will.“

Chance machte ein finsteres Gesicht. Vielleicht konnte er so seine Verzweiflung kaschieren. „Du machst also, was der Alte will?“ Als Cord schwieg, ließ Chance sich in seinen Sessel sinken. Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. „Verdammt!“

„Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?“

„Was erwartest du, Cord? Lass uns die Plätze tauschen, wenn du glaubst, dass es so einfach ist. Lass mich die Ranch und die Oil Company leiten. Du kannst dich um den juristischen Kram kümmern. Kannst einer jungen Frau das Genick brechen, obwohl sie nur eines will: das Richtige tun. Setz dich an meinen Platz und mach die schmutzige Arbeit für den Alten.“

„Wow! Du könntest ja doch so etwas wie ein Gewissen haben!“

„Was weißt du schon?!“

Cord lehnte sich ungerührt zurück und legte die Füße auf den Tisch. „Erzähl mir von ihr.“

„Was gibt es da zu erzählen?“

„Sie muss ja irgendetwas an sich haben, wenn du so auf sie abfährst.“

„Sie ist süß und witzig, und sie will kein Cowgirl sein.“

„Und sie muss sexy sein.“

„Ja, das auch.“

„Ich habe herausgefunden, woher ich sie kenne.“

Chance fuhr auf. „Du kennst sie?“

„Beruhige dich! Ich kenne sie, aber nicht so, wie du denkst.“ Er lachte. „Sie war das Championship Cowgirl bei der Denver Stock Show in dem Jahr, in dem wir das letzte Mal teilgenommen haben. Sie sah klasse aus in ihren engen Jeans, war aber viel zu jung für mich.“

Chance versuchte, sich zu entspannen. „Als du mich in Chicago angerufen hast, versuchte ich gerade, sie anzumachen. Ich wusste zu der Zeit nicht, wer sie ist. Das habe ich erst hier erfahren. Sie will einfach die Ranch verkaufen, die Schulden ihres Vaters zahlen und zurück in ihr altes Leben.“ Nach Chicago. Ohne mich.

„Verdammt! Dich hat es ja noch schlimmer erwischt, als ich dachte!“

„Halt doch den Mund!“

„Was willst du tun? Wenn sie herausfindet, dass Barron hinter ihren Problemen steckt, wird sie dich hassen.“

„Ist es zu viel verlangt, zu hoffen, dass sie es nicht erfährt? Zumindest, bis ich sie mir aus dem Kopf geschlagen habe.“

„Du willst sie dir aus dem Kopf schlagen? Das glaubst du doch selbst nicht!“

Chance seufzte. „Unser Vater ist das Letzte!“

„Wo du recht hast, hast du recht.“

Cass betrachtete den Haufen Rechnungen. Ganz gleich, wie sie es drehte und wendete, sie konnte das Geld nicht aufbringen. Sie musste die Rinder verkaufen, und zwar schnell.

Noch einmal rief sie jeden Viehtransporteur an, den sie in den Unterlagen ihres Vaters fand. Sobald sie ihren Namen gesagt hatte, war die Antwort immer gleich.

„Tut mir leid, aber wir sind komplett ausgebucht.“

„Nein, wir haben keine Wagen frei.“

„Tut mir leid.“

Alle bedauerten. Oder auch nicht. Auf jeden Fall wollte niemand den Auftrag annehmen. Sie rief die Firma an, mit der ihr Vater seit Jahren zusammengearbeitet hatte.

„Es tut mir leid, aber ich kann nichts für Sie tun. Es ist eine Schande. Ich habe viel von Ihrem Dad gehalten.“

„Ich kann nicht glauben, dass jeder Viehtransporteur in der Umgebung ausgebucht ist.“

Der Mann am anderen Ende der Leitung räusperte sich. Seine Nervosität war spürbar – und weckte Cassies Neugier. „Sie haben gar keinen anderen Auftrag, oder?“ Er räusperte sich noch einmal, sagte aber nichts. „Wieso? Wenn Sie so viel von meinem Dad gehalten haben, wieso können Sie dann diesen Transport nicht für mich übernehmen?“

„Es hat nichts mit Ihnen zu tun.“

„Was ist es dann?“

„Ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Es tut mir leid. Die Dinge sind nun einmal, wie sie sind, und manchmal hat man keine Wahl. Bitte, rufen Sie mich nicht wieder an.“ Er legte auf.

Verblüfft sah Cass den Hörer an. „Was war das denn?“

Boots sah von der Zeitung auf. „Ich habe befürchtet, dass das passieren würde.“

„Was meinst du? Hast du eine Ahnung, was los ist, Onkel Boots?“

„Das ist eine lange Geschichte, und ich bin mir nicht sicher, aber ich habe den Verdacht, dass Cyrus Barron hinter allem steckt.“

Den Namen kannte jeder, dennoch vergewisserte sie sich. „Der von Barron Oil?“

„Und Barron Land and Cattle Company.“

„Und Barron Entertainment?“ Ihre Stimme hob sich hysterisch.

„Genau der.“

„Was sollte er dagegen haben, dass ich fünfhundert Rinder verkaufen will?“

„Ich habe dir ja gesagt, es ist eine lange Geschichte. Es gibt da etwas, was du über die Barrons wissen solltest …“

In diesem Moment sprang Buddy auf und stürzte mit lautem Gebell nach draußen. Eine gedämpfte Stimme war zu hören, dann Schritte auf der Veranda und ein Klopfen an der Tür.

„Darf ich hereinkommen?“

„Komm rein, Chance.“

Sie klang resigniert, und Chance spürte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog. Er sah den Stapel Papiere, den sie vor sich liegen hatte, und blickte zu Boots. „Ist alles okay?“

„Nein.“

Am liebsten hätte Chance sie in seine Arme gezogen. Sie wirkte wie geschlagen. „Was ist passiert?“

„Ich kann keine Firma finden, die meine Rinder zum Markt bringt.“

„Es ist Frühling. Im Moment wollen alle ihre Rinder transportieren lassen“, sagte er vorsichtig.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht. Sie haben nur für mich keine Wagen frei.“

Chance mied ihren Blick. „Das … das kann doch nicht sein.“

„Du hast mit diesen Firmen nicht gesprochen. Hast die lahmen Ausreden nicht gehört. Ich bin doch nicht paranoid.“ Sie trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. „Ich habe jede einzelne Firma angerufen, die mein Dad in seinen Unterlagen hatte.“ Sie strich sich frustriert das Haar aus der Stirn. „Ich verstehe das nicht. Ich meine … Dad hatte einen guten Ruf. Er hat seine Rechnungen immer bezahlt. Ich bringe nicht einmal den Bankmenschen dazu, mich wegen des Kredits, von dem ich dir erzählt habe, zurückzurufen.“

Sie packte die Rechnungen und schwenkte sie. „Die sind vom Krankenhaus und vom Beerdigungsinstitut. Ich kann sie nicht bezahlen, bevor ich nicht die Rinder verkauft habe. Und wie soll ich das machen, wenn ich sie nicht zur Auktion bringen kann?“ Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. „Und das ist noch nicht alles.“ Ungeduldig wischte sie die Tränen fort.

Chance gab seinen inneren Kampf auf. Er zog sie in seine Arme. „Was ist noch?“

„Ich …“ Sie schluckte. „Mein Boss hat angerufen. Wenn ich nicht morgen früh wieder im Büro bin, bin ich entlassen. Ich muss meine Miete in Chicago bezahlen. Das Geld, das ich zurückgelegt hatte, habe ich fast komplett für die dringendsten Sachen hier ausgegeben, um die Zeit zu überbrücken bis zum Verkauf der Rinder.“

Chance biss die Zähne zusammen. Am liebsten hätte er irgendjemanden zusammengeschlagen. Seinen Vater. Ihren Boss. Sich selbst. Er war genauso schuldig wie die anderen. Hilflos ließ er die Arme sinken, als Cass ihn von sich schob.

„Ich reite aus.“ Und als er ihr folgen wollte: „Allein!“

Die Tür fiel hinter ihr zu. Vorwurfsvoll sah der Hund die beiden Männer an und winselte. Chance ließ ihn hinaus. Zu gern wäre er Cass auch gefolgt. Zu gern hätte er ihr versichert, alles werde gut. Aber solange sein Vater seinen Rachefeldzug nicht aufgab, würde nichts wieder gut werden für Cassidy Morgan.

„Du weißt, wer hinter diesen Problemen steckt?“

Chance weigerte sich, Boots in die Augen zu sehen. „Ich vermute es.“

„Hast du die Absicht, etwas dagegen zu unternehmen, Junge? Cass hält sehr viel von dir, das weißt du.“

Würde er etwas tun? Konnte er etwas tun? Er hatte das ganze Leben im Schatten seines Vaters gestanden. Als Anwalt der Familie war er für die Barrons vor Gericht gezogen. Hatte sie verteidigt. Hatte die Interessen von Cyrus Barron über alles gestellt. Cyrus hatte immer recht, und die ganze Welt hatte unrecht, wenn sie ihm nicht zustimmte.

Chance klopfte seine Jackentasche nach den Magentabletten ab, aber er hatte vergessen, sie ein zustecken. Hatte Cord recht? War er dabei, ein Gewissen zu entwickeln? Falls ja, war es ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt. Er musste sich heraushalten. Musste unbeteiligt bleiben. Er hatte die Absicht gehabt, mit Cass zu schlafen, um sie dann aus dem Kopf zu bekommen. Aber hier stand er nun in der Tür ihres Hauses und sah zu, wie sie fortlief, um ungesehen weinen zu können. Sein Vater würde sie vernichten. Und er konnte nur dabeistehen und zusehen.

„Ich muss gehen.“ Er trat hinaus auf die Veranda.

„Und ich dachte, du hättest so viel Mut wie sie.“

Chance konnte ihm nur recht geben. Cassidy Morgan hatte weit mehr Mut, als er je aufbringen würde. „Es tut mir leid, Boots.“ Ohne sich umzusehen, lief er die Stufen hinunter und über den Hof zu seinem Wagen. Er sah Cass auf ihrem Hengst aus der Scheune kommen und im Galopp aus seinem Sichtfeld verschwinden. Er hatte das Gefühl, ein Band aus Eisen lege sich um seine Brust und nehme ihm die Luft zum Atmen.

Er wusste, er war feige. Boots stand in der Tür und sah zu ihm herüber. Das Beste für ihn war zu gehen. Aus Cassies Leben zu verschwinden. Tun, was er tun musste, und anschließend zwei Wochen in Vegas verbringen – mit Frauen, Alkohol und Glücksspiel. Das Problem war nur: Die Aussicht auf andere Frauen reizte ihn nicht mehr. Blieben Alkohol und Glücksspiel. Weder das eine noch das andere konnte ihn wirklich locken.

„Es tut mir leid, Cassidy Morgan. Es tut mir leid, aber ich bin nicht der Mann, den du verdient hast.“

6. KAPITEL

„Nein!“ Cass sah Boots empört an. Sie saßen im Four Corners beim Frühstück.

„Du musst in Ruhe darüber nachdenken.“

„Nein, Boots. Da gibt es nichts nachzudenken. Ich werde dein Geld nicht nehmen.“

„Honey, dein Daddy war mein bester Freund. Er war mehr Familie für mich als irgendein anderer Mensch. Dasselbe gilt für dich. Und in einer Familie hilft man sich.“

Cass weigerte sich, ihn anzusehen. Sie hatte ihr Frühstück bisher nicht angerührt. „Sandra wird die Sachen, die ich behalten möchte, einpacken und herschicken. Der Rest wird verkauft. Die Wohnung habe ich gekündigt. Sobald ich die Kaution zurückbekomme, kann ich meine letzten Rechnungen bezahlen.“

„Du gehst nicht zurück nach Chicago?“

Sie hasste die Hoffnung, die sie in seiner Stimme hörte. „Im Moment kann ich mir Chicago nicht leisten, Onkel Boots. Nicht, bevor ich hier nicht alles geregelt habe.“ Sie sah auf. „Und ich werde dein Geld nicht nehmen. Daddy wollte, dass du dir keine Sorgen machen musst. Und das will ich auch.“

„Ich brauche nicht viel. Du bist genauso halsstarrig wie Ben. Musst immer deinen Kopf durchsetzen.“

Sie zuckte die Schultern und schwieg.

„Was ist? Ist mein Frühstück nicht mehr gut genug für dich, Miss Cassidy Anne?“ Nadine war mit der Kaffeekanne an ihren Tisch getreten. Sie musterte Cass besorgt. „Du siehst aus, als hättest du deinen besten Freund verloren. Glaub mir: Die Welt sieht gleich ganz anders aus, wenn du gut gefrühstückt hast.“

Cass seufzte schwer. „Ich fürchte, nicht einmal deine Buttermilchpfannkuchen können meine Probleme lösen.“

Nadine setzte sich neben sie. „Aber manchmal hilft es, darüber zu reden. Boots hat mir ein wenig von deinen Problemen erzählt. Es tut mir wirklich leid für dich. Ich weiß, dass dein Daddy das alles nicht erwartet hat. Er hat immer gut geplant. War allen anderen immer einen Schritt voraus. Das müssen wir auch sein.“

Einen Moment spürte Cass Zorn in sich aufsteigen. Wie konnte Boots ihre Probleme mit Fremden besprechen? Dann sah sie seine Miene und begriff, dass Nadine keine Fremde war. Nicht für Boots. Er liebte Nadine, und Nadine liebte ihn.

„Dein Daddy hatte viele Freunde. Er hat immer allen geholfen, wenn Not am Mann war. Ich bin sicher, sie würden sich gern revanchieren. Du musst uns nur sagen, was du willst.“

„Ich muss die verdammte Herde zur Auktion in die Stockyards bekommen.“ All der aufgestaute Frust der vergangenen Tage lag in diesen Worten.

Ein Mann vom Nebentisch sah herüber. „Dafür gibt es Viehtransporteure.“

„Das weiß ich auch – aber keiner will meinen Transport übernehmen.“

Der Mann kratzte sich den Hinterkopf. „Sie boykottieren dich?“

„Es sieht ganz so aus.“

„Das ist nicht fair.“

„Stimmt genau, aber das ändert nichts an meinem Problem. Ich kann unseren kleinen Viehwagen nehmen, aber damit kann ich immer nur ein paar Tiere transportieren. Wenn ich die Herde nicht als Ganzes verkaufen kann, verliere ich Geld. Und ich brauche viel Geld, um alles zu bezahlen.“ Sie wagte nicht daran zu denken, dass sie sich kaum noch das Tanken leisten konnte.

Fast alle Gäste sahen inzwischen zu ihr herüber und nahmen teil an dem Gespräch. Nur ein kleiner Junge starrte weiter auf den kleinen Fernseher an der Wand. Er zupfte seine Mutter am Ärmel. „Kann ich Cartoons sehen, Mommy?“

„Lieber Cartoons als einen Cowboy-Film mit John Wayne?“ Seine Mutter war erstaunt.

Der Junge ließ sich nicht beirren. „Aber … ich möchte Cartoons, Mom.“

Ein Mann mischte sich ein. „Deine Mom hat recht – ein Viehtreck mit John Wayne ist wirklich viel spannender.“

„Mom!“ Der Junge wurde ungeduldig.

Nadine holte die Fernbedienung. „Ich versuche mal, einen Sender mit Cartoons für dich zu finden. Einen Moment …“

Cass betrachtete die letzten Bilder des alten Schwarz-Weiß-Films, bevor Nadine weiterzappte und schließlich die gewünschten Cartoons fand. Sie starrte weiter auf den Bildschirm, ohne etwas zu sehen. Dann schüttelte sie den Kopf. „Unmöglich!“

Boots sah sie an. „Unmöglich? Was meinst du?“

„Ich … ach, nichts. Es war nur so eine verrückte Idee. So absurd, dass sie nie funktionieren würde.“

„Ich sehe, wie es in dir arbeitet. Nun sag doch, was du meinst …“

Nadine füllte ihre Becher nach. „Ist dir schon aufgefallen, Boots, dass sie genauso aussieht wie Ben, wenn er eine seiner verrückten Ideen hatte?“

„Wenn du uns nicht sagst, was es ist, können wir dir nicht helfen.“ Boots nippte an seinem Kaffee.

Cass sah von einem zum anderen. „Ein Viehtreck.“ Nadine und Boots tauschten einen fragenden Blick. Cass seufzte. „Habe ich nicht gesagt, dass es absurd ist? Wir können meine Herde nicht einfach von der Ranch zu den Stockyards treiben.“

„Wieso denn nicht?“

Genervt sah Cass an die Decke. „Weil zwischen der Ranch und den Stockyards halb Oklahoma City liegt. Ganz zu schweigen von ein paar großen Interstate Highways.“

Der Mann vom Nebentisch mischte sich ein. „Es könnte funktionieren. Das Ganze muss angemeldet werden, und Sie brauchen ein paar Genehmigungen. Die Polizei muss die Strecke in der Stadt sichern. Sie könnten Nebenstrecken nehmen, dann müssten Sie gar nicht so viele große Straßen kreuzen.“

Schweigend sah Cass den Mann an. Es schien ihm wirklich ernst zu sein.

„Hat jemand eine Karte?“ Ein anderer Mann setzte sich zu ihnen an den Tisch. „Wir könnten gleich mal die Route ausarbeiten.“

„Nein. Stopp! Boots und ich können nicht allein eine Herde von fünfhundert Rindern treiben. Das ist … wie weit? Zwanzig Meilen? Eine Herde schafft nicht mehr als fünf Meilen am Tag. Man müsste nachts irgendwo campieren. Die Tiere brauchen Futter und Wasser. Ich … Nein, danke. Ich danke Ihnen allen, aber ich … das geht nicht.“

Nach einer Weile wandten sich alle wieder ab. Cass trank ihren Kaffee, ohne zu merken, dass er weder Milch noch Zucker enthielt. Es musste einen anderen Weg geben. Sie musste ihn nur finden. Vielleicht sollte sie Chance anrufen. Er war nach ihrem Ausbruch vor einigen Tagen einfach verschwunden, hatte aber mehrfach Nachrichten auf ihrer Voice-Box hinterlassen und gefragt, wie es ihr ging. Er war ein Cowboy. Und smart. Vielleicht hatte er eine Idee, die weiterhelfen konnte.

Am späten Nachmittag schaltete sie ihr Handy aus, um Chance nicht noch eine weitere Nachricht auf die Voice-Box zu sprechen. Boots war bei den Pferden und Buddy lag neben ihr in der Sonne und döste. Cass betrachtete ihn nachdenklich. „Bin ich denn komplett verrückt?“, fragte sie ihn. „Die Rinder durch die Stadt treiben! Nein, ich muss das Problem anders lösen. Morgen gehe ich zur Bank und lasse mich nicht mehr abwimmeln. Ich bleibe so lange, bis der Manager bereit ist, mit mir zu sprechen.“ Sie beugte sich vor, um dem Hund das Fell zu kraulen.

Er fuhr hoch und leckte ihr das Kinn.

Cass seufzte. „Wie schön, dass es jemanden gibt, der mich liebt.“

„Wie schön, dass es jemanden gibt, der mich liebt.“ Chance schenkte seiner Sekretärin ein Lächeln. „Danke, dass Sie Überstunden machen.“

„Das tue ich so gut wie jeden Tag. Sie sollten sagen, was Sie wirklich meinen.“ Sie lachte leise. „Vielen Dank, Heidi, dass Sie mir den Stress mit der Familie abgenommen haben. Vielen Dank, dass ich mit niemandem sprechen musste.“

Er musste wider Willen mitlachen. Sie hatte natürlich recht, auch wenn er es nur ungern zugab. „Sie sind Gold wert, Heidi.“

„Das hätte ich doch gern schriftlich, damit ich etwas in der Hand habe, wenn es um die nächste Gehaltserhöhung geht.“ Sie schloss die Akte, auf die er seit einer Stunde starrte, ohne sie wirklich zu sehen. „Gehen Sie nach Hause, Boss! Oder gehen Sie aus. Tun Sie irgendetwas anderes, als hier zu sitzen und zu grübeln!“

Er lehnte sich zurück und drehte den teuren Kugelschreiber zwischen den Fingern. „Sie sind auf ihrer Seite.“

Sie lachte. „Natürlich bin ich das. Cyrus Barron ist ein Unmensch!“

„Sagen Sie mir etwas Neues!“

Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Sie sind neu, Boss. Die Art, wie Sie die Situation betrachten. Die Art, wie Sie darauf reagieren. Die Frau hat Sie wirklich erwischt. Sie haben sich verändert.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, das habe ich nicht. Sonst säße ich nicht hier mit diesen Papieren auf meinem Tisch.“

„Der alte Chance Barron hätte den Kredit nach einem Tag fällig gestellt und der Frau die Papiere auf der Gedenkfeier für ihren Daddy überreicht. Der alte Chance Barron würde nicht hier sitzen und darüber nachdenken, was für ein Idiot sein Vater ist, und dem alten Chance Barron wäre es einerlei, ob er genauso wird wie sein Vater.“ Sie seufzte. „Ich gehe jetzt, Boss. Bitte machen Sie das Licht aus.“

Chance ließ den Blick über die Skyline von Oklahoma City gleiten und hing seinen Gedanken nach. Das Telefon auf seinem Tisch klingelte, aber er ignorierte es. Es klingelte immer noch, als das Handy sich bemerkbar machte. Er brauchte nicht nach der angezeigten Nummer zu sehen – es war garantiert einer seiner Brüder, vielleicht waren es sogar zwei. Oder, noch schlimmer: Cassies Nummer.

Er hatte getan, was sie von ihm gefordert hatten – war auf Distanz zu ihr gegangen. Eine Zeit lang hörte er ihre Nachrichten ab, weil er sich danach sehnte, zumindest einen Hauch von Verbindung aufrechtzuerhalten. Dann musste er ihre Nachrichten löschen, ohne sie anzuhören, weil es ihm schier das Herz brach, ihre Stimme zu hören. Es kostete ihn seine ganze Selbstbeherrschung, nicht zu ihr auf die Ranch zu fahren.

Wieso musste er sich entscheiden zwischen seiner Familie und dieser wunderbaren Frau, die sein Herz gefangen hatte? Er kannte die Antwort, sobald er in den Spiegel sah. Er war ein Barron. Durch und durch. Verdammt! Und wenn eine Frau sich mit einem Barron einließ, konnte sie sicher sein, verletzt zu werden.

Cass trug dasselbe strenge Outfit, das sie zur Gedenkfeier ihres Vaters getragen hatte. Die Ärmel spannten ein wenig. Die harte körperliche Arbeit der vergangenen Wochen hatte ihren Körper bereits verändert – einige Rundungen waren verschwunden, stattdessen waren Muskeln erschienen. Auch nicht schlecht.

Eine Bürotür ging auf, und sie setzte sich auf, aber die Frau, die herauskam, ignorierte sie und ging nach vorn in den Kundenraum der Bank.

Cass ließ sich zurücksinken und fragte sich erneut, wieso sie sich das alles antat. Bedeutete ihr die Ranch etwas? Gefiel ihr das Leben dort? Nein und nochmals nein! Sie wollte an den Wochenenden ausschlafen. Wollte schick essen gehen. In einem Büro arbeiten und mit ihren Freundinnen den neuesten Promi-Klatsch austauschen – auch wenn das alles sie eigentlich nicht wirklich interessierte.

Eine andere Tür ging auf. Ein Mann kam heraus und ging davon. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Elf. Nun wartete sie schon zwei Stunden. Der für sie zuständige Kreditmanager hatte sie bereits an den Leiter der Filiale verwiesen. Der hatte keine Zeit für sie. Sicher ging er in die Mittagspause. Dann würde sie ihn abfangen.

Um vier Uhr hatte sie Hunger und Durst. Sie hätte dringend einen Waschraum aufsuchen müssen, wollte aber ihren Platz nicht aufgeben. Der Mann musste irgendwann nach Hause gehen. Das Telefon an der Rezeption klingelte. Die junge Frau nahm ab.

„Ja, Sir … Nein, Sir … immer noch da … will nicht gehen … Ja, Sir.“ Sie hielt die Sprechmuschel zu und wandte sich an Cass. „Mr. Leonard kann Sie heute nicht empfangen. Es ist am besten, Sie gehen nach Hause.“

„Ich bleibe – vielleicht fällt ja irgendeiner seiner Termine aus. Falls nicht, komme ich morgen wieder. Sagen Sie ihm, dass ich nicht aufgebe.“

Die junge Frau sprach leise in den Hörer. Am Ende des Korridors ging eine Tür auf. „Mr. Leonard gibt Ihnen zehn Minuten, nicht mehr.“

Cass sprang auf und rannte fast den Korridor hinunter. Leonard saß hinter seinem Schreibtisch und fühlte sich spürbar unwohl.

„Ich kann Ihnen nicht helfen“, beschied er ihr knapp.

„Woher wollen Sie das wissen? Ich habe ja noch gar nicht gesagt, was ich will.“

„Ich weiß, was Sie wollen, Miss Morgan. Ihr Vater schuldet der Bank zweihundertfünfzigtausend Dollar, zuzüglich Zinsen. Können Sie den Betrag heute oder zum Termin zahlen?“

„Nein, ich benötige einen Aufschub.“

„Ich habe die Angelegenheit weitergegeben an die Abteilung, die für Zwangsvollstreckungen zuständig ist. Es liegt nicht mehr in meinen Händen.“

Sie wollte gerade etwas erwidern, als die Bedeutung seiner Worte einsank. „Einen Moment mal … Zwangsvollstreckung? Aber der Kredit …“

„Nach unseren Bedingungen wird bei Überschreiten einer Zahlungsfrist sofort der komplette Kredit fällig. Wenn Sie willens und in der Lage sind, diese Zahlung fristgerecht zu leisten, können wir die Vorbereitung der Zwangsvollstreckung stoppen. Falls nicht …“

„Aber das können Sie doch nicht machen!“

„Es ist bereits alles veranlasst.“ Er faltete die Hände über seinem üppigen Bauch. „Wie gesagt, alles Weitere liegt nicht mehr in meiner Macht.“

„Aber …“ Es hatte Cass die Sprache verschlagen. Sie war wie benommen.

„Ihre Zeit ist um. Bitte, gehen Sie, Miss Morgan, sonst hole ich die Security und lasse Sie hinausbegleiten.“

„Aber …“

Er drückte einen Knopf. „Bitte schicken Sie die Security zu mir.“

Cass erhob sich. „Mein Vater hat Ihnen vertraut.“

Hoch erhobenen Kopfes verließ sie das Büro, dicht gefolgt von dem Security-Mann, der offenbar die Weisung hatte, sie bis zum Wagen zu begleiten.

„So viel also zur Freundlichkeit kleiner Banken!“, wütete sie, als sie mit Boots’ Pick-up vom Parkplatz rollte.

An der nächsten Ampel zog sie ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. „Komm schon, Chance. Nimm ab. Bitte …!“

Wieder nur die Voice-Box.

Wieso setzte sie überhaupt Hoffnung in den Kerl? Zuerst ging er mit ihr ins Bett, und dann hatte er keine Zeit mehr für sie. Auch gut. Sie brauchte ihn nicht. Sie brauchte überhaupt niemanden.

Hinter ihr wurde gehupt. Hastig gab sie Gas und konzentrierte sich auf das Fahren. Schließlich siegte der Hunger, und sie stoppte an einem kleinen Restaurant direkt am Highway. Es war nicht das Four Corners, aber der Duft, der aus der Küche kam, ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Sie bestellte Spare Ribs mit Pommes und suchte sich einen Platz am Fenster.

Als sie auch den Nachtisch noch mit Genuss verzehrt hatte, wurde ihr bewusst, dass dies das letzte Mal sein würde, dass sie sich einen solchen Luxus gönnte. Sie hatte weniger als tausend Dollar auf ihrem Konto. Die Ranch konnte gerade noch die Stromrechnung bezahlen.

Kein Job. Kein Einkommen. Der Kredit fällig. Keine Möglichkeit, ihn zu tilgen. Sie rieb sich die Stirn. Spielte das alles noch eine Rolle? Sie hasste doch die Ranch. Sie hasste Oklahoma. Sie konnte einfach fortgehen. Konnte Boots und Buddy verlassen und … Sie unterbrach sich. Nein, an Chance wollte sie jetzt nicht denken. Daran, ihn zu verlassen. Sie wollte sich nicht mit dem Wirrwarr der Gefühle befassen, den der Gedanke an ihn heraufbeschwor. Wieso hatte er auf ihre Anrufe nicht reagiert?

Cowgirls weinen nicht. Aufstehen und weitermachen!

Sie glaubte förmlich, die Worte ihres Vaters zu hören. „Oh, Daddy“, murmelte sie, „was soll ich nur machen?“ Ihr Blick glitt zum Fenster – und blieb an einem Foto hängen, das daneben hing. Es war schon ganz vergilbt und zeigte eine Gruppe von Cowboys zu Pferde. Cass beugte sich vor, um den Text zu lesen, der darunter stand. 1944 – Calvin Barron und seine Männer liefern eine Herde bei den Stockyards ab.

„Das war ein ganz besonderer Tag.“

Cass fuhr erschreckt herum. Ein alter schwarzer Mann mit einer fleckigen Schürze stand neben ihr und lachte. „Es war Krieg, und Benzin war knapp. Der alte Mr. Barron hatte eine Herde Rinder und keine Möglichkeit, sie zur Auktion zu bringen. Die Regierung brauchte die Rinder, um die Armee zu versorgen, aber die Rancher mussten sich etwas einfallen lassen, um sie in die Stockyards zu bekommen.“

Cass hörte gierig zu. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Plötzlich fiel ihr etwas auf. „Einen Moment mal – Sie sagten, der alte Mr. Barron?“

„Ja, Mr. Cal. Das war der Vater vom jetzigen alten Mr. Barron. Mr. Cal und seine Männer überlegten, wie sie die Rinder abliefern könnten. Und dann hatte einer die Idee, einen Viehtreck wie früher zu machen. Und das haben sie dann auch getan. Es hat fast zwei Wochen gedauert, aber wir haben die Herde von der Ranch am North Canadian River bis in die Stockyards gebracht. Die Zeitungen waren da und haben darüber geschrieben. Sogar jemand vom Radio kam aus dem Osten und hat die Leute interviewt.“

Cass sah ihn an. „Haben Sie wir gesagt? Heißt das, Sie waren dabei?“

Er deutete auf den Hintergrund des Fotos. Sie konnte mit Mühe einen Proviantwagen erkennen. Ein Farbiger stand daneben, und ein kleiner Junge winkte vorn vom Sitz.

„Mein Vater war der Koch, und ich durfte mitkommen. Das war ein ziemliches Abenteuer für einen kleinen Burschen.“

Cass lächelte und widerstand der Versuchung, ihm einen Kuss auf die Wange zu hauchen. „Danke.“

Er sah sie erstaunt an. „Wofür?“

„Für Ihr ausgezeichnetes Essen. Und dafür, dass Sie aus der Küche gekommen sind und mit mir geredet haben. Sie haben mir die Hoffnung gegeben, dass ich vielleicht tun kann, was getan werden muss. Ich muss jetzt los!“

Sie zahlte rasch und rannte dann zum Pick-up. Dort riss sie das Handy aus der Tasche. Ein paarmal atmete sie tief durch. Sie konnte es schaffen. Mit viel Hilfe. Sie wollte Chance noch eine … Chance geben. Sie lachte nervös über das Wortspiel. Bebte förmlich vor Vorfreude. Wieder kam die Voice-Box. Es war ihr einerlei. Sie sprudelte heraus mit ihrer Idee. Und merkte nicht, wie die Box sich automatisch wieder abschaltete.

7. KAPITEL

Chance brauchte seine ganze Willenskraft, um das Gespräch nicht anzunehmen. Aber er musste der Voice-Box einfach zuhören. Musste ihre Stimme hören, auch wenn es wehtat. Sie sprudelte über vor Begeisterung.

„… habe den Bankmenschen endlich getroffen … ein widerlicher Kerl. Er sagt, die Bank will die Ranch zwangsversteigern lassen, Chance. Aber das ist egal. Ich kann die Herde in die Stockyards bringen, ich weiß es. Du glaubst nicht, was passiert ist. Kennst du Cyrus Barron? Heute Abend habe ich durch Zufall etwas über ihn herausgefunden. Du glaubst es nicht! Sein Vater hat einen Viehtreck zu den Stockyards getrieben. In den vierziger Jahren. Während des Krieges. Ich kann …“ Der Automat schaltete sich ab.

Er konnte nicht atmen. Es fühlte sich an, als habe er eine Boa um die Brust, die ihm die Luft abschnürte. Einen Moment dachte er, sie hätte herausgefunden, wer sein Vater war. Als ihr begeisterter Wortschwall weiterging, versuchte er zuzuhören, aber er war wie benommen. Er drückte auf Wiederholung und konzentrierte sich.

Ein Viehtreck? Während des Krieges? Wovon redete sie? Und noch wichtiger – was hatte es mit ihr zu tun? Er griff nach dem Hörer und drückte eine Kurzwahltaste.

„Oh! Der Herr Bruder lässt sich herab, mit mir zu sprechen?“

„Halt den Mund, Cord. Cassidy weiß, dass die Bank die Ranch zwangsversteigern will.“

„Weiß sie auch, wieso?“

„Ich glaube nicht.“

„Du glaubst nicht?“

„Ich weiß es nicht, Cord, und es ist mir auch einerlei. Sie hat angerufen, richtig aufgeregt. Und so, wie sie den Namen des Alten gesagt hat, glaube ich nicht, dass sie etwas weiß. Aber ich brauche ein paar Informationen.“

„Worüber?“

„Irgendwoher hat sie eine völlig verrückte Sache aufgeschnappt. Weißt du etwas über einen Viehtreck, den der Alte mal gemacht hat?“

„Ist das dein Ernst? Der Alte soll Rinder getrieben haben?“

Chance hörte das Klacken der PC-Tastatur. „Nein, das war nicht unser alter Herr, sondern sein Vater. Cal. Es war in den Vierzigern. Es gibt einen großen Artikel darüber im Oklahoma Chronicle. Ich maile ihn dir. Um es kurz zu machen: Cal hatte eine große Herde Rinder, die er wegen Benzinmangels nicht abliefern konnte. Also hat er sie von der Ranch in die Stockyards getrieben. Die Sache erregte damals große Aufmerksamkeit. Dem Bericht zufolge wurde es sogar in der Wochenschau im Kino gezeigt. Barron, der letzte Cowboy. So in der Art. Auf jeden Fall lieferte er die Rinder ab und machte einen großen Reibach. Die Armee zahlte Top-Preise. Die Rinder wurden direkt in die Eisenbahnwaggons getrieben und in die Schlachthöfe nach Chicago gebracht. Wieso? Was hat das Ganze mit der Morgan-Sache zu tun?“

Chance starrte aus dem Fenster und stellte sich dieselbe Frage. „Ich weiß es nicht. Noch nicht. Ich halte dich auf dem Laufenden.“

„Gut, dass du wieder an Bord bist. Und nun mach die Papiere für die Zwangsversteigerung fertig. Der Alte will sie schnellstmöglich auf dem Tisch haben.“

Die Worte seines Bruders klangen in Chance nach. Gut, dass du wieder an Bord bist. War er das? Er musste Cass sehen. Herausfinden, was für einen haarsträubenden Plan sie hatte. Und dann würde er ihn ihr ausreden. Er würde ein paar Telefonate führen. Ihr einen neuen Job in Chicago besorgen. Der Gedanke ließ ihn innehalten. War es wirklich das, was er wollte?

Es wäre die einfachste Lösung. Sie würde zurückgehen nach Chicago, und ihre Beziehung, wenn man es denn so nennen konnte, wäre vorbei. Sie würde nie erfahren, dass seine Familie – dass er – sie betrogen hatte. Es gab nur ein Problem mit dem Plan: Er wollte nicht, dass sie ging. Er wollte, dass sie blieb. Wollte, dass sie ihn liebte.

So, wie er sie liebte.

So. Er hatte es zugegeben. Er liebte Cassidy Morgan. Er sollte es nicht. Er wollte es nicht. Aber er tat es. Ganz gleich, wie viele Anrufe er ignoriert hatte. Ganz gleich, wie lange er sich von ihr fernhielt, sein Herz war stärker.

Er hätte sich besser fühlen sollen nach diesem Eingeständnis. Aber er kam sich vor wie der größte Bastard des Planeten. Sie hatte einen besseren Mann verdient. Einen Mann, der ihrer würdig war.

Verdammt! Wie konnte mein Leben so kompliziert werden? Chance seufzte. Die Familie ist alles. Blut ist dicker als Wasser. All die Klischees, die sein Vater ihm und seinen Brüdern immer wieder eingehämmert hatte, gingen ihm durch den Kopf. Er wollte das Richtige tun. Aber was war richtig?

Boots schlurfte in die Küche und steuerte wortlos auf die Kaffeekanne zu. Erstaunt beobachtete Cass ihn. „Du wirkst etwas mitgenommen, Onkel Boots. Hattest du eine schlechte Nacht?“

Er murmelte etwas vor sich hin, und sie glaubte, Worte zu verstehen wie Kneipe und tanzen und diese verrückte Frau. Sie musste ein Lächeln unterdrücken. „Ja, ich verstehe. Es geht mich nichts an. Ich schlage vor, keiner stellt dem anderen Fragen, wenn es um das Privatleben geht.“

Er knurrte etwas Unverständliches und nippte an seinem Kaffee. Fragend sah er dabei auf die Karten, die sie vor sich ausgebreitet hatte. „Planst du eine Reise?“

„So etwas in der Art. Setz dich, wir müssen reden.“

„Du hattest kein Glück auf der Bank, nehme ich an?“

„Nein. Sie lassen die Ranch zwangsversteigern, falls ich den Kredit nicht fristgerecht tilge.“

Er sah sie eine ganze Minute lang schweigend an. „Und was hat es mit den Karten auf sich?“

Sie holte tief Luft. „Ich will die Rinder nach Oklahoma treiben. Es ist schon mal gemacht worden. Zugegeben, das ist siebzig Jahre her, aber Calvin Barron …“ Sie hätte den Ausdruck verpasst, der über seine Miene huschte, hätte sie ihn nicht so aufmerksam angesehen. „Was ist?“

„Nichts. Sprich weiter.“

Für einen Moment war sie irritiert, aber dann siegte die Begeisterung. „Ich brauche ein paar Genehmigungen der verschiedenen Counties, durch die die Route geht. Darum will ich mich heute kümmern. Es sei denn, du brauchst den Pick-up?“ Sie heuchelte die Unschuld. „Ich meine, falls du ins Four Corners möchtest oder so?“

„Nimm den verdammten Wagen“, knurrte er. „Ich muss heute Zäune flicken.“

Sie musste ihn einfach umarmen. „Das wird funktionieren, Onkel Boots. Ich weiß es!“ Der einzige Dämpfer für ihre Freude war, dass Chance sie immer noch nicht angerufen hatte. Sie schwankte zwischen Sorge und Ärger. Falls er sie abgehakt hatte, hätte er Manns genug sein sollen, es ihr direkt zu sagen. War es nicht wahrscheinlicher, dass ihm etwas passiert war? „Vielleicht hilft Chance mir dabei.“

„Ich hoffe es, Babygirl.“

Cass besah sich ihren Ärmel, während sie in der Nachmittagssonne zur Scheune ritt. Er war zerrissen, ihr Arm blutete. Sie hatte ein Stück Stacheldraht zu sehr gespannt, und als es gerissen war, hatte es sich um ihren Arm gewickelt. Eigentlich müsste sie ins Krankenhaus fahren und sich eine Tetanusspritze geben lassen.

Als sie sich der Scheune näherte, bewegte sich etwas auf dem Hof, und Buddy raste laut bellend los. Cass ließ Red in Trab fallen. Ihr Herz machte einen Satz, als sie den Mann sah, der ihr entgegenkam. Chance. Sie hatte ihn schon fast aufgegeben. Auf keinen ihrer Anrufe hatte er reagiert.

Er hielt sich eine Hand über die Augen und hob die andere zu einem zögernden Winken. Sie widerstand dem Drang, wild zurückzuwinken. Vor der Scheune ließ sie sich vom Pferd gleiten und bemühte sich, das Chaos der Gefühle zu ignorieren, das der Anblick dieses Mannes in ihr auslöste.

„Was für eine Überraschung, dich hier zu sehen.“ Sie war stolz auf sich. Nur ein Hauch Sarkasmus. Kein aufgeregtes Haspeln.

Er trat näher und streckte die Hand aus – sie war sich nicht sicher, ob er sie berühren oder die Zügel nehmen wollte. „Cass, wir sollten … Was ist das denn?“ Er packte ihren Arm und betrachtete ihn. „Was ist passiert?“

„Ich hatte einen Kampf mit dem Stacheldraht. Ich habe gewonnen.“

„Das sieht nicht gut aus. Du blutest.“

„Kein Drama. Es hat schon aufgehört.“

„Wir sollten ins Krankenhaus fahren.“

Wir sollten gar nichts. Falls es dir entfallen sein sollte – ich habe keinen Job mehr. Das heißt, auch keine Versicherung. Im Klartext: Ich kann die Rechnung für eine Spritze nicht bezahlen.“

„Wann war deine letzte Tetanusimpfung?“

„Vor so langer Zeit, dass ich eine neue brauche. Aber nicht im Krankenhaus. Ich kann mir keine fünfhundert Dollar für eine blöde Spritze leisten. Eine der Apotheken bietet einen Impfservice an. Dorthin werde ich fahren.“

„Geh ins Haus und wasch die Wunde aus. Ich bringe Red in die Box und komme dann nach.“

„Du brauchst mir nicht zu helfen, Chance. Ich kann allein zur Apotheke fahren.“

„Womit? Mit dem Trecker?“

Sie sah sich um. Boots’ Pick-up war fort. „Oh …“

„Nun mach schon. Ich komme gleich nach.“ Er griff nach den Zügeln.

Zwei Stunden später saß Cass mit ordentlich bandagiertem Arm Chance gegenüber im Four Corners.

„Soll ich dir das Steak schneiden?“, erbot er sich.

„Man hat mir nicht den Arm amputiert, Chance“, erklärte sie. „Ich komme sehr gut allein klar.“ Um es zu beweisen, schnitt sie ein Stück von dem Steak ab – und hatte Mühe, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen, der in ihrem Arm klopfte.

Chance ließ sie nicht aus den Augen.

„Was ist?“, fragte sie schließlich, nachdem die Bedienung ihre Teller abgeräumt hatte.

„Hm?“ Er schien abgelenkt, den Blick auf ihre Lippen gerichtet.

„Ich nehme an, du hast viel zu tun gehabt?“ Ihre Skepsis war zurück. Ehe sie den Ausdruck deuten konnte, der sich für einen Moment auf seinem Gesicht zeigte, hatte sich seine Miene wieder verschlossen. Mit dem Mann würde sie nie Poker spielen wollen. Als er seine Hand auf ihre legte, bemühte sich sie, das Verlangen zu ignorieren, das die Berührung in ihr auslöste. Sosehr sie sich einerseits über sein Schweigen ärgerte, so sehr schmolz sie dahin, wenn er sie so ansah.

„Das kann nicht dein Ernst sein, Cass.“

„Was meinst du?“ Sie sah ihn fragend an.

Er deutete auf den Aushang an der Tür. „Ein Viehtreck?“

Sie drehte sich um. Richtig. Der Flyer, mit dem sie um freiwillige Helfer warb, war gut sichtbar ausgehängt. Deswegen war Boots also unterwegs! Während sie sich wieder Chance zuwandte, wappnete sie sich für die bevorstehende Auseinandersetzung. Da hatte sie sich gefreut, ihn wiederzusehen, und jetzt verhielt er sich so? Sein Ton brachte sie auf die Palme.

„Wie sonst soll ich die Herde in die Stockyards bringen? Ich kann keine Firma finden, die bereit ist, den Transport zu übernehmen. Ich habe mit dem Manager der Stockyards gesprochen. Wenn ich die Tiere nicht alle auf einmal hinbringe, verliere ich viel Geld. Und im Moment kann ich es mir nicht leisten, auch nur auf einen Cent zu verzichten.“

Frustriert fuhr sie sich mit den Fingern durch das Haar. So viel also zu seinem Verständnis und dem Wunsch, ihr zu helfen. „Ich habe keine Zeit mehr, Chance. Das wüsstest du, wenn du deine Voice-Box abgehört hättest.“ Sie beobachtete, wie die arrogante Fassade, die er aufgesetzt hatte, bröckelte.

„Ich war beschäftigt, Cass. Es … es tut mir leid.“

„Beschäftigt?“ Sie konnte ihre Verbitterung nicht verbergen. „Das war ich auch. Ich halte mich mit letzter Kraft über Wasser. Ich habe eine Ranch am Hals, die ich nie wollte. Zurück in meinen Job kann ich nicht mehr. Wenn es zur Zwangsversteigerung kommt, kann ich nur noch Privatinsolvenz anmelden und ins Obdachlosenasyl gehen, bis ich wieder einen Job habe. Falls ich je einen bekomme …“

Er wollte protestieren, aber sie sprach einfach weiter. „Meine einzige Option ist zu kämpfen. Ich bin nicht paranoid, aber so langsam kommt das Ganze mir doch merkwürdig vor. Die Bank entschließt sich ohne eine Vorwarnung zur Zwangsversteigerung. Kein Viehtransporteur ist bereit, meine Herde zu übernehmen. Mein Job wird mir gekündigt.“ Sie zählte die Punkte an ihren Fingern ab.

„Die Nachfrage für Angus-Rinder ist im Moment perfekt. Daddy hat alles auf diese Karte gesetzt. Ich kann ihn nicht verraten und mich einfach davonmachen, auch wenn ich das gern täte.“

Sie musste eine Pause machen, um Luft zu holen. Erst jetzt registrierte sie das Mienenspiel, das sich auf Chances Gesicht zeigte. Es war eine Mischung aus Bewunderung, Trauer und etwas, das ihr fast wie ein Schuldgefühl erschien.

„Verdammt, Cassie. Ich … mag dich. Ich will nicht, dass du verletzt wirst.“

„Zu spät.“ Er wand sich unter ihrem schneidenden Ton, aber es war ihr einerlei. Sie war es leid, sich so einsam zu fühlen. „Hilf mir, Chance. Hilf mir, dieses Problem zu lösen.“

Als er schwieg, machte sie keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung. „Du hast die Wahl: Hilf mir oder geh, Chance.“ Als er weiter schwieg, zuckte sie die Schultern. „Alles klar. Danke für die Einladung zum Essen. Ich muss jetzt nach Hause. Ich habe noch viel vorzubereiten.“

Die Fahrt verlief in unbehaglichem Schweigen. Cass konnte gar nicht schnell genug aussteigen, als sie die Ranch endlich erreichten. Ohne sich umzusehen, eilte sie zur Scheune und hoffte, Chance verstand den Wink und verschwand.

Sie spürte, dass er ihr folgte, und tat ihr Bestes, ihn zu ignorieren. Jedes Mal, wenn sie glaubte, ihre Beziehung könne eine Zukunft haben, verpasste sein Verhalten ihr eine kalte Dusche. Gut. Damit konnte sie umgehen. Indem sie jeden weiteren Kontakt mit ihm mied. Sie würde nicht mehr an ihn denken. Würde nicht darauf hoffen, er könne ein Teil ihrer Zukunft sein. Sie konnte auf eigenen Füßen stehen, und genau das würde sie tun.

Cass stieg auf den Heuboden und zog einen Ballen an die Luke. Sie schob ihn über die Kante und wartete den Bruchteil einer Sekunde, bis sie „Vorsicht!“ rief. Sie kicherte, als Chance sich gerade noch im letzten Moment mit einem Sprung zur Seite retten konnte.

Als sie wieder unten war, schnitt sie den Ballen auf und verteilte das Heu in die Futterkrippen. Erstaunt registrierte sie, dass das Fohlen nicht kam, als sie es rief. Sie sah in die Box. Doc lag auf dem Stroh und rührte sich nicht.

„Doc?“ Sie pfiff. Nur das Zucken eines Ohrs verriet, dass er sie gehört hatte. Hastig rüttelte sie am Türschloss, um zu ihm zu eilen.

„Cass? Was ist los?“ Chance hielt ihre fliegenden Hände fest. „Warte, ich mache das.“

Einen Moment später war die Tür auf, und sie stürzte zum Fohlen. Zuerst streichelte sie ihm beruhigend den Hals, dann ließ sie die Hand über den Bauch gleiten. Oh, das sah nicht gut aus. Der Bauch war völlig hart und aufgebläht.

„Wir müssen ihn auf die Beine bringen.“ Sie erhob sich und zog an Docs Kopf, aber das Fohlen blieb liegen. „Chance, hilf mir!“ Ihre Stimme brach.

„Ganz ruhig, Cass! Lass mich nachsehen.“

Sie trat einen Schritt zurück. „Was ist mit ihm?“ Sie war einer Panik nahe.

„Ich glaube, er hat Koliken. Ich rufe den Tierarzt.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich … Es geht nicht. Ich kann den Arzt nicht bezahlen.“

„Das ist okay, Cass. Bleib hier bei Doc. Ich mache ein paar Anrufe.“

Cass kniete sich neben das Fohlen und sprach ihm beruhigend zu. Sie schien nicht mehr auf Chance zu achten, aber er hielt es dennoch für besser, die Scheune zu verlassen, bevor er die erste Nummer wählte. Sobald er die Information hatte, die er wollte, beendete er die Verbindung, bevor Cord ihm alle Gründe aufzählen konnte, die dagegensprachen, auf der Ranch zu sein.

Außerdem: Er hatte einen Grund – einen, den sogar sein Vater gutheißen würde. Schließlich wollte er das Fohlen haben. Falls Doc starb, wäre niemandem gedient. Er redete sich ein, das sei der einzige Grund, aus dem er jetzt den Tierarzt anrief. Er nannte seinen Namen, gab die Adresse der Ranch an und eine Beschreibung der Symptome des Fohlens. Und er garantierte die Zahlung.

Er hatte den Anruf gerade beendet, als Boots eintraf. Chance wappnete sich für eine Auseinandersetzung. Und er musste nicht lange warten.

„Was machst du hier?“, fuhr der alte Mann ihn an.

„Cass hat sich verletzt.“ Er hob beschwichtigend eine Hand. „Es ist nichts Ernstes. Sie hat sich am Stacheldraht den Arm aufgerissen. Ich war mit ihr in der Stadt, damit sie eine Tetanusspritze bekommt. Als wir zurückkamen, fand sie das Fohlen in seiner Box auf dem Boden. Ich habe den Tierarzt gerufen.“ Die Haltung des Alten blieb abweisend, und Chance hatte Mühe, ruhig zu bleiben.

„Du hast meine Frage nicht beantwortet: Wieso bist du hier?“

Ja, wieso war er hier? Weil er es nicht ohne sie aushielt? Weil sie einen wunden Punkt in seinem Herzen berührte? Er gab die einzige Antwort, die er hatte. „Ich weiß es nicht, Boots. Cass hat etwas an sich, etwas Besonderes. Ich musste sie einfach sehen.“

„Dein Daddy steckt hinter all ihren Problemen, oder?“

Wie Chance vermutet hatte, kannte Boots die Wahrheit. Er schwieg.

„Du lässt ihn damit durchkommen? Damit, dass er ihr so wehtut?“

Chance warf einen Blick über die Schulter und senkte die Stimme. Er war noch nicht so weit, Cassie die Wahrheit zu sagen. „Ich kann nichts machen, Boots. Mein Vater hat alle Karten in diesem Spiel.“

„Das ist ein Spiel für dich?“

Chance schüttelte den Kopf. „Nein, so habe ich das nicht gemeint. Verdammt. Aber hat Cyrus Barron je verloren?“ Chance hatte Mühe, Boots’ Blick standzuhalten.

„Ja, hat er. Sie hieß Colleen. Ein besserer Mann hat sie für sich gewonnen und sie geheiratet. Ihre Tochter ist jetzt dort in der Scheune.“

„Onkel Boots!“ Cass’ panischer Ruf ließ die beiden Männer auseinanderfahren. Boots war zuerst bei ihr.

„Alles wird gut, Babygirl. Chance hat den Tierarzt angerufen.“

„Wie sollen wir ihn bezahlen? Er wird Doc einschläfern, wenn wir für die Behandlung nicht aufkommen können.“

Ihre Angst schnitt Chance ins Herz. „Ich übernehme das, Cass. Mach dir keine Sorgen.“

„Woher willst du das Geld nehmen? Das könnte mehr als tausend Dollar kosten.“

Er schluckte die Antwort hinunter – dass er eine Kreditkarte ohne Limit hatte. Inzwischen verdiente er gut, aber auch zuvor er hatte sich nie Gedanken über Geld machen müssen.

„Ich komme dafür auf, Cass. Versprochen.“ Er sah an ihrer Miene, was kommen sollte, und kam ihr zuvor. „Wir werden später darüber sprechen, wie du es mir zurückzahlst. Es ist ein Darlehen. Okay? Im Moment wollen wir uns einfach nur um den kleinen Kerl kümmern. Alles andere hat Zeit.“

Boots sah grimmig drein, sagte aber nichts. Nachdem er einen langen Blick mit Chance getauscht hatte, wandte er sich an Cass. „Ich gehe ins Haus, um ein paar Sachen zu holen. Ich bin zurück, bevor der Tierarzt kommt.“ Der Blick, den er Chance zuwarf, sprach Bände. „Tu das Richtige, Junge.“

Cass wartete, bis Boots die Scheune verlassen hatte. „Wovon redet er, Chance?“

Er seufzte schwer und setzte sich ins Stroh, den Rücken gegen die Mauer gelehnt. „Es ist eine lange Geschichte, Cass…“

Sie musterte ihn mit gerunzelter Stirn. „Ich habe Zeit …“

Buddy legte sich neben Chance und ließ sich genüsslich den Kopf kraulen.

„Verräter.“ Cass murmelte das Wort nur leise, aber Mann und Hund schienen über sie zu lachen. „Wieso bist du heute zurückgekommen?“

„Ich bin nicht zurückgekommen. Ich … ich war in Gedanken nie fort, Cass. Aber ich habe einen Job. Und gewisse Verpflichtungen.“

Sie wurde rot. „Ich zahle dir das Geld zurück.“

Chance schüttelte den Kopf. „Das Geld meinte ich nicht.“

„Wieso traut Boots dir nicht?“

„Er hat seine Gründe.“ Er konnte sie nicht ansehen.

„Was für Gründe?“

„Ich möchte darüber im Moment nicht sprechen.“

Die Heftigkeit seines Tons erschreckte sie. Sogar Buddy hob erstaunt den Kopf. Doch sie ließ sich nicht beirren. „Aber ich möchte es. Vielleicht sollte ich dir auch nicht vertrauen.“

„Ja, vielleicht ist das so.“

Sein widerwilliges Eingeständnis schockierte sie, auch wenn seine versteinerte Miene nichts von dem verriet, was in ihm vorgehen mochte.

„Na prima.“ Sie fuhr fort, Hals und Schulter des Fohlens zu streicheln. Boots war kein misstrauischer Mensch. Er war klug und hatte ein gutes Gespür für Menschen und Tiere. Es gab keinen Zweifel daran, dass er etwas gegen Chance hatte. Von Anfang an. Und wenn sie ehrlich war, war sie selbst ja auch irritiert gewesen, als er plötzlich aufgetaucht war und sich für das Fohlen interessiert hatte.

Je länger sie darüber nachdachte, desto stärker wurde ihr Argwohn. Chance war aus der Scheune gekommen, als sie nach Hause geritten war. Wie lange war er dort gewesen? Hatte er etwas mit Doc angestellt? Er wollte unbedingt, dass sie ins Krankenhaus fuhr, um sich gegen Tetanus impfen zu lassen. Das hätte Stunden gedauert. Nachdem sie stattdessen zur Apotheke gegangen war, hatte er darauf bestanden, sie zum Essen einzuladen. Hatte er das getan, um sie absichtlich aufzuhalten? Sollte sie nach Hause kommen und das Fohlen tot vorfinden? Hatte er Doc vergiftet? Und dann seinen eigenen Tierarzt gerufen? Damit der Tierarzt den Job beenden konnte?

Sie starrte Chance an. Er hatte die Beine vor sich ausgestreckt und die Augen geschlossen. Aber sie bezweifelte, dass er schlief.

„Was hast du mit Doc gemacht?“

„Nichts.“ Chance rührte sich nicht.

„Du warst allein in der Scheune. Und Doc war in Ordnung, als ich fortging, um den Zaun zu reparieren.“

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