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Paranormal - 2-teilige Serie von Kat Martin

hier erhältlich:

DER DUFT DER ROSEN

Bitte helfen Sie mir! Elizabeth Conners reagiert höchst misstrauisch, als eine Klientin ihr erzählt, dass sie von dem Geist eines kleinen Mädchens heimgesucht wird. Nacht für Nacht rät es ihr, so schnell wie möglich zu fliehen. Bevor noch ein Mord geschieht. Zögerlich beschließt Elisabeth, sich das Phänomen aus der Nähe anzuschauen. Und tatsächlich, seltsame Dinge geschehen auf Harcourt Farm: Der Fußboden knarrt, trotz sommerlicher Hitze wird es plötzlich eiskalt, und in der Luft liegt der tödliche Duft von Rosen. Sollten die Warnungen des kleinen Mädchens wirklich ernst zu nehmen sein? Was für ein fürchterliches Verbrechen geschah vor vielen Jahren hier, in diesen Wänden? Der einzige, der Elizabeth darüber Auskunft geben kann, ist Zach Harcourt. Und während die beiden sich immer tiefer in die Geschichte des Hauses und ihre wachsenden Gefühle füreinander verstricken, ist ihnen der Mörder schon längst auf der Spur.

ENGELSLIEDER

Ein kleines Mädchen wird in einen Wagen gezerrt: Schweißgebadet erwacht die junge Lehrerin Autumn aus ihrem entsetzlich realen Traum. Wer ist dieses Kind? Und hat sie etwas gesehen, das erst noch geschehen wird? Oder ist es schon zu spät? Eine weitere Vision bringt sie auf Ben McKenzies Spur, Unternehmer und passionierter Gipfelstürmer. Auf der Suche nach dem Extremen sucht er das Vergessen, seit seine kleine Tochter Molly vor sechs Jahren spurlos verschwand. Autumn sieht Bens Misstrauen, als sie ihm von ihrem Traum erzählt, spürt seine hilflose Wut - und denkt trotzdem nicht daran, aufzugeben! Sie muss ihn davon überzeugen, dass Molly noch lebt. Und die Zeit drängt. Denn Autumn hat noch einen Traum gehabt - in dem ein junges Mädchen brutal ermordet wurde.


  • Erscheinungstag: 10.12.2015
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765224
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Kat Martin

Paranormal - 2-teilige Serie von Kat Martin

Kat Martin

Der Duft der Rosen

Roman

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch
in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Scent Of Roses

Copyright © 2006 by Kat Martin

erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Stefanie Kruschandl

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-227-8

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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PROLOG

Sie schreckte hoch. Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Sie horchte dem merkwürdigen Geräusch nach, das sie aus ihrem tiefen, aber ruhelosen Schlaf geweckt hatte.

Da. Da war es wieder. Ein fernes, seltsames Knarren, wie das einer Diele. Sie hob den Oberkörper leicht an und lauschte angestrengt. Das Geräusch hatte sich verändert, war zu einem eigenartigen Stöhnen geworden. Es klang ein bisschen wie der Wind, aber es konnte nicht der Wind sein. Denn draußen war die Luft ruhig und warm, die Sommernacht stockdunkel und still. Sie lauschte auf das Zirpen der Grillen im nahe gelegenen Feld, doch die gaben merkwürdigerweise keinen Laut von sich.

Es begann erneut. Ein merkwürdiges Knarren, dann ein Stöhnen. Es ähnelte keinem Geräusch, das sie jemals in diesem Haus gehört hatte. Mit klopfendem Herzen setzte sie sich auf und lehnte sich an das Kopfteil des Bettes. Während sie unverwandt auf die Tür starrte, überlegte sie, ob sie ihren Mann wecken sollte. Doch Miguel musste früh raus. Seine Tage waren lang und anstrengend. Was auch immer sie gehört hatte, es entsprang sicher ihrer Einbildung.

Ihre Ohren lauschten angestrengt in die Stille, lauschten und lauschten, doch das Geräusch kam nicht wieder. Sie musste sich fast zwingen zu atmen. Es war plötzlich fürchterlich stickig im Schlafzimmer geworden. Sie konnte kaum noch Luft holen, es war als ob ein schweres Gewicht auf ihrer Brust läge. Ihr Herz schlug nun noch schneller und härter, sodass sie jeden einzelnen Schlag hinter dem Brustbein spürte.

Madre de Dios, was ist los?

Sie atmete erneut tief ein, sog die stickige Luft in ihre Lungen und stieß sie langsam wieder aus. Sie ermahnte sich selbst, ruhig zu bleiben. Es ist nichts … nur eine Sinnestäuschung. Nichts außer der warmen mondlosen Nacht und der Stille. Sie atmete wieder ein. Wieder aus und wieder ein, tiefe, angestrengte Atemzüge, die sie beruhigen sollten. Ihre wachsende Furcht konnten sie jedoch nicht lindern.

Und dann roch sie es. Den schwachen Duft von Rosen. Der Duft zog immer mehr auf sie zu, schien sich um sie zu legen und sie zu erdrücken. Seine Intensität steigerte sich, bis er zu einem widerlichen und unerträglich süßen Gestank wurde. Auf den Feldern um das Haus blühten das halbe Jahr über Rosen, doch ihr Duft war sanft und leicht und angenehm. Ganz und gar nicht wie dieser stickige Geruch, der in der Luft hing: der Gestank von verfaulenden Blumen.

Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Maria wimmerte. Ihre Hand zitterte, als sie nach ihrem Mann tastete, der seelenruhig neben ihr schlief. Doch sie hielt inne. Sie wusste, dass er schlecht wieder einschlafen könnte, und sie wusste, wie nötig er seinen Schlaf hatte. Reglos hoffte sie, ihn allein durch die Kraft ihrer Gedanken wecken zu können.

Ihr Blick huschte ruhelos durch den Raum, immer auf der Suche nach dem Ursprung der Geräusche und des Gestanks und zugleich voller Angst, was sie finden mochte. Doch es war nichts zu sehen. Nichts, das die Panik erklären konnte, die in ihr aufstieg und mit jedem angsterfüllten Herzschlag größer wurde.

Der Hals war ihr wie zugeschnürt. Sie schluckte und streckte die Hand nach Miguel aus. Genau in diesem Moment wurde der Geruch schwächer. Der Druck auf ihrer Brust ließ nach. Allmählich wurde auch die Luft wieder leicht. Sie nahm einen tiefen, reinigenden Atemzug und dann noch einen und noch einen. Draußen vor dem Fenster hörte sie das Zirpen der Grillen. Erleichtert ließ sie sich gegen das Kopfteil des Bettes sinken.

Es war also doch nichts. Nur die heiße trockene Nacht und ihre Einbildung. Miguel wäre ärgerlich gewesen. Er hätte ihr vorgeworfen, sich wie ein Kind aufzuführen.

Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihren Bauch. Sie war kein Kind mehr. Sie war neunzehn Jahre alt und trug selbst ein Kind in sich.

Sie blickte hinüber zu ihrem Mann und wünschte, dass sie ebenso tief schlafen könnte wie er. Doch ihre Augen blieben offen, ihre Ohren alarmbereit. Sie redete sich zu, dass sie keine Angst mehr zu haben bräuchte.

Doch sie wusste, dass sie für den Rest der Nacht keinen Schlaf mehr finden würde.

EINS

Elizabeth Conners saß hinter ihrem Schreibtisch. Ihr Büro in der psychologischen Gemeinschaftspraxis für Familienberatung war gemütlich eingerichtet mit dem Eichenschreibtisch und dem dazugehörigen Stuhl, den beiden Aktenschränken aus Eiche, zwei weiteren Stühlen und dem dunkelgrün bezogenen Sofa an der einen Wand.

Eichenholzgerahmte Stadtansichten aus dem neunzehnten Jahrhundert schmückten die Wände, und auf dem Schreibtisch stand eine grüne Glaslampe. Der Raum wirkte zwanglos und ein wenig altmodisch. Das Büro war aufgeräumt und ordentlich. Bei den zahlreichen Patienten, die sie betreute, musste sie einfach gut organisiert sein.

Elizabeth blickte auf den Stapel Akten auf ihrem Schreibtisch. Jede von ihnen war ein Fall, den sie derzeit betreute. Sie arbeitete seit zwei Jahren in der kleinen Gemeinschaftspraxis in San Pico, Kalifornien. Sie war hier geboren und aufgewachsen. San Pico lag nahe dem südwestlichen Ende des San Joaquin Valley und war stark landwirtschaftlich geprägt.

Elizabeth hatte ihren Abschluss an der San-Pico-Highschool gemacht. Sie erhielt ein Teilstipendium, das ihr half, ihren Lebensunterhalt während des Colleges zu bestreiten. Sie studierte Psychologie im Hauptfach an der University of California in Los Angeles und machte ihr Diplom in Sozialpädagogik. Wie schon zu Highschool-Zeiten verdiente sie sich als Kellnerin etwas dazu.

Vor zwei Jahren war sie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt, einen ruhigen Ort, in dem ihr Vater und ihre Schwester lebten. Doch inzwischen war ihr Dad gestorben, und ihre Schwester hatte geheiratet und war fortgezogen. Elizabeth war nach Hause gekommen, um sich von einer schmutzigen Scheidung zu erholen. Das ruhige Leben weit weg von der Großstadt hatte ihr geholfen, die Depressionen zu überwinden, unter denen sie seit dem Ende ihrer Ehe mit Brian Logan litt.

Anders als das hektische und betriebsame Santa Ana, wo sie vorher gearbeitet hatte, war San Pico ein Städtchen mit ungefähr dreißigtausend Einwohnern, etwa die Hälfte davon Latinos. Elizabeths Familie hatte 1907 zu den Gründern der Stadt gehört; damals waren sie noch Farmer und Milchbauern gewesen. Elizabeths Eltern besaßen einen kleinen Lebensmittelladen namens Conners' Grocery, doch nach dem Tod ihrer Mutter verkaufte ihr Vater das Geschäft. Er setzte sich zur Ruhe, als Elizabeth die Schule beendet hatte.

Sie griff nach der obersten Akte, um sich auf die für den Abend geplante Sitzung bei den Mendozas vorzubereiten. Die Akte erzählte eine Geschichte von Alkoholmissbrauch und Gewalt in der Familie, eingeschlossen einen Fall von Kindesmisshandlung. Doch seit die Mendozas regelmäßig an der Familienberatung teilnahmen, schien die Gewalttätigkeit abgenommen zu haben.

Elizabeth glaubte inbrünstig daran, dass die Sitzungen Familien dabei halfen, sich auf andere Art und Weise auseinanderzusetzen als durch körperliche Gewalt.

Über die Akte gebeugt, schob sie sich eine widerspenstige Strähne ihres kastanienbraunen Haars hinter das Ohr. Wie alle Conners war sie von schlankem Wuchs, etwas größer als der Durchschnitt. Doch anders als ihre Schwester hatte sie die leuchtend blauen Augen ihrer Mutter – was bedeutete, dass sie bei jedem Blick in den Spiegel an Grace Conners dachte und sie vermisste.

Ihre Mutter war einen elenden Krebstod gestorben, als Elizabeth gerade fünfzehn Jahre alt gewesen war. Beide hatten sich sehr nahegestanden. Die schweren Monate, in denen sie ihre Mutter erst gepflegt und dann verloren hatte, hatten ihr Großes abverlangt.

Elizabeth seufzte, als sie den letzten Eintrag in den Unterlagen las. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück. Sie hatte niemals vorgehabt, in ihre Heimatstadt zurückzukehren, in der es so flach und staubig und die meiste Zeit des Jahres zu heiß war.

Doch manchmal hatte das Schicksal andere Pläne, und so war sie also hier gelandet. Sie wohnte in einem gemieteten Apartment in der Cherry Street und arbeitete als Familienberaterin. Und auch wenn ihr das Leben in dem kleinen Städtchen nicht sonderlich gefiel, fühlte sie sich mit ihrer Arbeit doch sehr wohl.

Sie dachte an die bevorstehende Sitzung, als sacht an die Tür geklopft wurde. Sie schaute auf. Einer der Jungs, die sie beriet, kam herein. Raul Perez war siebzehn Jahre alt und freigestellt vom Jugendarrest, zu dem man ihn bereits zum zweiten Mal verurteilt hatte. Streitlustig, mürrisch und schwierig, war er doch auch klug und mitfühlend und loyal gegenüber seinen Freunden und den Menschen, die er liebte. Und besonders gegenüber seiner geliebten Schwester Maria.

Seine Besorgnis um andere war der Grund, warum Elizabeth zugestimmt hatte, ihn ohne Honorar zu beraten. Raul hatte Potenzial. Er konnte etwas aus sich machen, wenn man ihn richtig motivierte … und wenn sie ihn davon überzeugen könnte, dass sein Leben niemals besser werden würde, solange er Alkohol und Drogen zu sich nahm.

Die Folge waren Einbrüche gewesen, wie das so oft bei Jugendlichen wie Raul vorkam. Sie brauchten Geld, um Drogen zu kaufen, und sie taten alles, um es zu bekommen.

Doch Raul war seit über einem Jahr clean, und er hatte ihr versichert, dass das so bleiben sollte. In seinen tiefen dunklen Augen lag etwas, das Elizabeth glauben ließ, dass er die Wahrheit sagte.

“Raul. Komm rein.” Ihr Lächeln war warm. “Schön, dich zu sehen.”

“Gut sehen Sie aus”, sagte er, höflich wie immer.

“Danke.” Sie fand, dass sie heute tatsächlich gut aussah in ihrer beigen Baumwollhose und der türkisfarbenen kurzärmeligen Seidenbluse. Ihr Haar, das sie offen trug, umrahmte in weichen Wellen ihr Gesicht.

Raul setzte sich auf einen der beiden Stühle, während Elizabeth ihn nach seinem Teilzeitjob bei Sam Goodie fragte. Dort verrichtete er Hausmeister- und Botendienste, bis Ritchie Jenkins wieder auf dem Damm war, der am Ende der Main Street einen Motorradunfall gehabt hatte. In einer Woche war der Job vorbei, und wenn Raul bis dahin nicht etwas anderes fand, musste er auch tagsüber wieder in den Arrest.

“Wie gefällt dir denn bislang die Arbeit?”

Er zuckte die Achseln. “Ich mag die Musik, außer wenn sie Country und Western spielen.” Raul war nur etwa eins fünfundsiebzig groß, doch er war stämmig und muskulös. Schon in seiner Kindheit war er immer kräftig gewesen für sein Alter. Er hatte glänzendes glattes Haar und dunkle Haut, die nur von einem Totenkopf-Tattoo auf seiner rechten Hand und seinen blau tätowierten Initialen unter seinem linken Ohr verunstaltet wurde. Die Initialen waren eine Amateurarbeit, vermutlich aus der Schulzeit. Sie nahm an, dass der Totenkopf während seines letzten Arrests entstanden war.

Elizabeth lächelte Raul ermutigend zu. “Ich habe aufregende Neuigkeiten für dich.”

Er musterte sie argwöhnisch. “Was für welche denn?”

“Du bist bei Teen Vision angenommen worden.”

“Teen Vision?”

“Ich erwähnte es vor einigen Wochen. Erinnerst du dich?”

Er nickte und blickte sie unverwandt an.

“Da die Farm eine ziemlich neue Einrichtung ist, haben sie nur Platz für fünfundzwanzig Jugendliche. Doch es haben sich ein paar Lücken ergeben, und deine Bewerbung gehörte zu denen, die akzeptiert wurden.”

“Ich habe keine Bewerbung eingereicht”, sagte er finster.

Sie lächelte. “Ich weiß, dass du das nicht getan hast. Ich habe es getan.”

Er runzelte die Stirn. Kein gutes Zeichen. Die Jugendlichen, die am Resozialisierungsprojekt von Teen Vision teilnahmen, waren aus freien Stücken dort. Wenn er nicht bereit war, sich darauf einzulassen, würde ihm der Aufenthalt nichts bringen.

“Das Programm dauert ein Jahr. Man muss zwischen vierzehn und achtzehn Jahren alt sein, und man muss sich einverstanden erklären, die ganzen zwölf Monate zu bleiben. Andernfalls nehmen sie einen nicht auf.”

“Ich komme in sechs Monaten auf Bewährung frei.”

“Du musst dein Leben ändern, damit du nicht wieder im Gefängnis landest.”

Raul schwieg.

“Du würdest nächste Woche anfangen. Während deines Aufenthalts werden Unterkunft und Verpflegung vollständig übernommen. Sie zahlen dir sogar ein kleines Gehalt für die Arbeit auf der Farm.”

Raul grunzte. “Ich weiß, wie viel Farmarbeiter verdienen. Meine Familie hat so ihren Lebensunterhalt bestritten.”

“Dies ist etwas anderes, als ein Wanderarbeiter zu sein, Raul. Du hast mir selbst gesagt, dass du die Farmarbeit liebst. Du könntest einen Beruf erlernen, während du dort bist, und du könntest deinen Schulabschluss machen. Wenn das Jahr vorüber ist, kannst du einen Vollzeitjob in der Landwirtschaft übernehmen, oder was du auch immer tun willst. Etwas, das dir mit der Zeit dein eigenes Auskommen sichert.”

Er runzelte die Stirn. “Ich muss darüber nachdenken.”

“In Ordnung. Aber ich denke, dass du einen Blick auf die Einrichtung werfen solltest, bevor du eine Entscheidung triffst. Wärst du bereit, das zu tun, Raul?”

Er straffte die Schultern und blickte sie noch immer unverwandt an. “Ich würde es mir gern anschauen.”

“Das ist großartig. Denk daran, ein Ort wie dieser erfordert ein besonderes Engagement. Dort geht man hin, um sein Leben zu ändern. Du musst das wirklich wollen. Du musst noch einmal von vorn anfangen wollen.”

Raul sagte eine Weile gar nichts. Ebenso wenig wie Elizabeth, die ihm Zeit zum Nachdenken geben wollte.

“Wann würden wir es uns ansehen?”

Sie erhob sich von ihrem Stuhl. “Musst du heute Nachmittag arbeiten?”

Er schüttelte den Kopf. “Erst morgen wieder.”

“Gut.” Elizabeth umrundete den Schreibtisch und ging an ihm vorbei zur Tür, die sie lächelnd öffnete. “Warum dann nicht gleich?”

Die Teen-Vision-Farm befand sich auf einem 60.000 Quadratmeter großen flachen und trockenen Gelände direkt am Highway 51, ein paar Meilen zur Stadt hinaus. Das fruchtbare Stück Boden war von Harcourt Farms gespendet worden, dem größten Landwirtschaftsunternehmen im San Pico County.

Bis vor vier Jahren hatte Fletcher Harcourt die Farm geleitet. Nach einem beinahe tödlichen Unfall, der das Gehirn des Familienpatriarchen in Mitleidenschaft gezogen und ihn im Rollstuhl zurückgelassen hatte, hatte sein ältester Sohn Carson das Unternehmen übernommen. Er leitete nicht nur den Betrieb, sondern hatte auch die einst einflussreiche Position seines Vaters in der Gemeinde inne. Carson war beliebt und großzügig. Das hübsche weiß verputzte Haus mit den Schlafräumen und die anderen Gebäude von Teen Vision waren zweifellos zu einem großen Teil Carsons Spenden zu verdanken.

Elizabeth war Carson Harcourt seit ihrer Rückkehr nach San Pico mehrere Male begegnet. Er war groß, blond und attraktiv. Nach mehreren kurzen Beziehungen blieb er mit siebenunddreißig unverheiratet, auch wenn er sich mit seinem bedeutenden Vermögen und seiner sozialen Position sicher jede Frau in der Stadt hätte aussuchen können.

Als sie ihren neuen perlweißen Acura durch das Tor von Teen Vision steuerte, war Elizabeth kaum überrascht, als sie Carsons silbernen Mercedes Sedan vom Parkplatz fahren sah. Er bremste, als er an ihr vorbeifuhr, wobei er jede Menge Staub aufwirbelte. Als ob er davon nichts bemerkt hätte, ließ Carson das Fenster herunter und schenkte ihr das berühmte Harcourt-Lächeln.

“Hallo, Elizabeth! Was für eine nette Überraschung. Sieht so aus, als ob ich genau zur falschen Zeit wegfahre.”

“Nett, dich zu sehen, Carson.” Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf ihren Passagier. “Das ist Raul Perez. Ich hoffe, er nimmt bald am Programm teil.”

“Tatsächlich?” Carson beugte den Kopf, um einen Blick auf Elizabeths Schützling zu werfen. “Die machen ihre Sache hier gut, mein Junge. Du solltest die Chance ergreifen.”

Raul sagte nichts. Elizabeth hatte nichts anderes erwartet.

“Dieser Ort …” Sie ließ den Blick schweifen und betrachtete die Gruppe von Jungs, die das Feld umgruben, und die beiden lachenden Teenager, die Korn in einen Trog schütteten, um die vier Hereford-Rinder zu füttern. “Das war sehr großzügig von dir, Carson.”

Er zuckte mit den Schultern. “Harcourt Farms gibt der Gemeinde gern etwas zurück.”

“Jemand anderes hätte ein solches Projekt vielleicht nicht unterstützt.”

Er lächelte und blickte hinüber zu den Feldern, bevor er sie wieder ansah. “Ich muss los. Ich habe einen Termin mit ein paar Gewerkschaftlern in der Stadt.” Er beugte wieder den Kopf, um den Jungen neben ihr anzusehen. “Viel Glück, mein Junge.”

Raul starrte nur vor sich hin, und innerlich seufzte Elizabeth über die scheinbare Teilnahmslosigkeit.

“Ach, eins noch”, sagte Carson. “Ich hatte sowieso vor, dich anzurufen. Ich wollte mit dir über die Teen-Vision-Benefizgala am Samstagabend sprechen. Ich hoffte, du würdest mich begleiten.”

Sie war überrascht. Carson war immer freundlich zu ihr gewesen, aber auch nicht mehr. Vielleicht hatte er ihr Interesse an Teen Vision bemerkt? Auch wenn sie bislang noch niemals auf der Farm gewesen war, wusste sie um die wunderbare Arbeit, die dort geleistet wurde, und glaubte fest an das Projekt.

Sie taxierte ihn. Seit ihrer Scheidung hatte sie sich kaum verabredet; Brians Untreue hatte sie argwöhnisch werden lassen. Dennoch: Mit einem intelligenten, attraktiven Mann einen Abend zu verbringen, könnte Spaß machen.

“Das tue ich gern, Carson. Danke für die Einladung. Soweit ich mich erinnere, wird um Abendgarderobe gebeten?”

Er nickte. “Ich rufe dich an. Dann kannst du mir sagen, wie ich zu dir nach Hause komme, damit ich dich abholen kann.”

“Wunderbar, das klingt gut.”

Er lächelte und winkte, ließ das Fenster hochfahren und fuhr fort. Elizabeth sah ihm einen Moment im Rückspiegel nach, trat dann aufs Gas und fuhr durch das Tor auf einen der Parkplätze im staubigen Parkbereich.

“Wir sind da.” Sie lächelte Raul an, der aus dem Fenster zu der Gruppe junger Männer schaute, die auf dem Feld arbeiteten. In der Ferne wirbelte ein Traktor eine Staubwolke auf, und auf einem Hügel standen Milchkühe, die auf das Abendmelken warteten.

Raul wirkte nervös und jünger als seine siebzehn Jahre, als er die Beifahrertür öffnete und in die Nachmittagshitze hinauskletterte. Sam Marston, der Direktor von Teen Vision, kam vom Haus aus auf sie zu.

Sam war durchschnittlich groß und normal gebaut. Ein Mann in den frühen Vierzigern, der rasch eine Glatze bekommen hatte. Die spärlichen Resthaare trug er rasiert. Er sprach leise, strahlte aber dennoch eine gewisse Autorität aus. Er winkte zur Begrüßung, während er auf sie zukam.

“Willkommen bei Teen Vision.”

“Danke.” Sie war Sam Marston bereits begegnet, seit sie in die Stadt zurückgezogen war, und kannte seine bemerkenswerte Arbeit mit straffälligen Jugendlichen. “Ich weiß, dass Ihre Zeit begrenzt ist. Für einen offiziellen Rundgang kann ich ja später noch einmal kommen.”

Er verstand, was sie sagen wollte. Dass er nämlich die Zeit mit Raul verbringen sollte. “Sie sind jederzeit willkommen”, erwiderte er lächelnd und wandte seine Aufmerksamkeit dem Jungen zu. “Du musst Raul Perez sein.”

“Ja, Sir.”

“Ich bin Sam Marston. Lass mich dich ein wenig herumführen, und ich erzähle dir dabei ein bisschen über Teen Vision.” Ohne Rauls alarmierten Gesichtsausdruck zu beachten, legte Sam ihm eine Hand auf den Rücken und schob ihn leicht vorwärts.

Elizabeth beobachtete, wie die beiden sich entfernten, und lächelte. Sie betete darum, dass Raul dem Ort eine Chance geben und die Farm seine Rettung würde, so wie sie das schon für viele andere Jungen gewesen war.

Als sie in den Schatten eines Obstbaumes wechselte, von wo aus sie die Jungen auf dem Feld beobachten und auf Sam warten wollte, erblickte sie einen weiteren Wagen, einen dunkelbraunen Jeep Cherokee, der durch das Tor fuhr und direkt neben ihrem Wagen hielt.

Ein großer schlanker Mann in ausgeblichenen Jeans und einem dunkelblauen T-Shirt stieg aus. Sein Haar war sehr dunkel und seine Haut tief gebräunt. Er hatte breite Schultern, schmale Hüften und einen flachen Bauch. Als er auf sie zukam, erkannte sie den Teen-Vision-Slogan, der in weißen Buchstaben auf seinem T-Shirt prangte: Nur du kannst deine Träume wahr werden lassen. Die kurzen Ärmel gaben den Blick auf seinen kräftigen Bizeps frei.

Dennoch konnte sie sich nicht vorstellen, dass er als Berater auf der Farm arbeitete. Sein Haarschnitt wirkte zu teuer, sein ausgreifender Schritte zu entschieden, wenn nicht gar aggressiv. Sogar der Schnitt seiner Jeans kündete von Stil und Geld. Elizabeth musterte ihn von ihrem Platz unter dem Baum aus. Obwohl er eine Sonnenbrille trug und sie sein Gesicht nicht erkennen konnte, kam er ihr doch irgendwie bekannt vor.

Sie fragte sich, wo sie ihm schon begegnet sein könnte. Wenn es so war, würde sie sich mit Sicherheit an ihn erinnern. Er ging an ihr vorbei, als ob sie gar nicht da wäre, den Blick unverwandt nach vorn gerichtet. Sein Ziel war die halb fertige Scheune, wo mehrere ältere Jungen eifrig herumhämmerten. Der dunkelhaarige Mann ging zu ihnen und begann ein Gespräch. Wenige Minuten später streifte er einen Werkzeuggürtel über und machte sich an die Arbeit.

Elizabeth sah ihm eine Weile zu. Offensichtlich verstand er etwas von dem, was er da tat. Sie fragte sich noch immer, wer er war. Sie wollte sich nach ihm erkundigen, doch als Sam und Raul wieder zurückkamen, glühte das Gesicht des Jungen, und er lächelte so strahlend, dass sie ihr Vorhaben vergaß.

“Du wirst es also tun?”, fragte sie und strahlte ihn an.

Er nickte. “Sam sagt, dass er mir dabei helfen wird, herauszufinden, welche Arbeit mir am meisten liegt. Er sagt, ich darf das tun, was mich am meisten interessiert.”

“Oh Raul, das ist ja wunderbar!” Sie hätte ihn gern umarmt, doch sie musste professionell bleiben, und außerdem wäre es ihm vermutlich nur peinlich gewesen. “Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr mich das freut.”

“Er kann am Samstag hier einziehen”, sagte Sam. “Wir helfen ihm mit dem ganzen Papierkram, der notwendig ist.” Formell gesehen stand Raul noch bis zum nächsten Jahr unter Vormundschaft des Jugendamtes, und die Papiere würden die entsprechenden Stellen durchlaufen müssen.

“Das klingt großartig.” Elizabeth wandte sich an Raul. “Ich kann dich mit zurücknehmen, wenn du möchtest.”

“Sí, das wäre gut.” Raul verfiel selten in seine Muttersprache, eigentlich nur wenn er nervös oder verärgert war. Doch er lächelte. Nervosität konnte also manchmal auch etwas Gutes sein.

“Deine Schwester wird sich so freuen.”

Sein Lächeln wurde breiter. “Maria wird glücklich sein. Und Miguel vermutlich auch.”

“Ja, sie werden sich beide über deine Entscheidung freuen.”

Sie verabschiedeten sich von Sam, der ihr jederzeit eine persönliche Führung über die Farm versprach, und gingen in Richtung des Wagens.

Sie war sehr zufrieden mit dem Verlauf des Nachmittags. Doch als ihr Blick auf Raul fiel, bemerkte sie, dass sein Lächeln verschwunden war.

“Was ist los, Raul?”

“Ich bin nervös. Ich möchte das hier richtig machen.”

“Das wirst du. Du hast viele Menschen, die dir helfen werden.”

Dennoch entspannte er sich nicht. Sie wusste, er machte sich Sorgen, dass er irgendwie versagen würde. Es waren die Misserfolge, hatte sie gelernt, an die sich die meisten dieser jungen Latinos erinnerten, und diese Misserfolge prägten ihr Leben. Doch Raul hatte auch viele Fähigkeiten. Er war seit einem Jahr drogenfrei geblieben, und nun wollte er sich für ein Jahr dem Teen-Vision-Programm verpflichten.

“Wirst du deine Schwester heute Abend sehen? Ich kann mir vorstellen, wie aufgeregt sie sein wird.”

Statt zu lächeln, runzelte Raul die Stirn. “Ich werde vorbeigehen und ihr die Neuigkeiten erzählen.” Er blickte Elizabeth von der Seite an. “Ich mache mir Sorgen um sie.”

“Warum? Ich hoffe, es gibt keine Probleme mit ihrer Schwangerschaft?” Obwohl Maria erst neunzehn war, war es bereits ihre zweite Schwangerschaft. Letztes Jahr hatte sie eine Fehlgeburt erlitten. Elizabeth wusste, wie viel ihr und Miguel dieses Baby bedeutete.

“Es geht nicht um das Baby. Es ist etwas anderes. Maria will mir nicht sagen, was.” Seine dunklen Augen ruhten auf ihrem Gesicht. “Vielleicht können Sie mit ihr sprechen. Vielleicht würde sie Ihnen dann sagen, was los ist.”

Das hörte sich nicht gut an. Obwohl Marias Mann der typische Latino-Macho war, der den Mann als unbestrittenes Familienoberhaupt betrachtete, schien das Paar doch glücklich zu sein. Hoffentlich hatten die beiden keine Eheprobleme.

“Ich spreche gern mit ihr, Raul. Sag ihr, sie soll mich im Büro anrufen, und wir vereinbaren einen Termin.”

“Das werde ich ihr sagen. Aber warten Sie nicht darauf, dass sie anruft.” Mehr sagte Raul nicht.

Elizabeth setzte sich hinter das Steuer und zuckte zusammen, als die Hitze des roten Ledersitzes an ihre Haut drang. Sie warf einen letzten Blick auf die Scheune. Zwar standen erst zwei Seiten des Gebäudes, doch sie machten gute Fortschritte. Sie musterte die Gruppe, die noch immer fleißig hämmerte. Der dunkelhaarige Mann war fort.

Raul schnallte sich auf dem Beifahrersitz an, und Elizabeth fuhr los. Auf der Rückfahrt schien der Junge meilenweit fort zu sein, und sie fragte sich, ob ihn die Gedanken an seine neue Zukunft beschäftigten oder die Sorge um seine Schwester.

Elizabeth nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit bei dem kleinen gelben Haus zu halten, in dem Miguel Santiago und seine hübsche Frau wohnten. Sie würde mit Maria reden, sich erkundigen, was los war, und herausfinden, ob sie etwas tun konnte.

ZWEI

Es war spät und die Nacht schwarz wie Tinte. Nur die schmale Mondsichel erhellte die Dunkelheit mit ihrem dünnen Lichtstrahl. Der Geruch frisch gemähten Heus und umgegrabener Erde hing in der Luft. Im Haus schaltete Maria Santiago den Fernseher aus, der auf einem kleinen Holztisch an der Wand ihres spärlich möblierten Wohnzimmers stand.

Das Haus war nicht groß. Es hatte nur zwei Zimmer und ein Bad. Es war erst vier Jahre alt. Es war solide gebaut, gelb verputzt und mit einfachen Dachschindeln versehen. Vor ihrem Einzug waren alle Zimmer frisch gestrichen worden. Der beige Teppichboden sah noch fast wie neu aus.

Maria hatte das Haus vom ersten Moment an geliebt. Mit dem Garten und den Zinnienbeeten vor der Veranda schien es ihr der hübscheste Ort zu sein, an dem sie jemals gelebt hatte. Miguel mochte es ebenfalls und war stolz, dass er seiner Frau und ihrem Kind solch ein Heim bieten konnte.

Miguel wünschte sich sogar noch mehr als Maria ein Kind. Abgesehen von Maria und Raul hatte er kaum Familie, jedenfalls nicht in der Nähe. Die meisten seiner Verwandten lebten weiter nördlich im San Joaquin Valley bei Modesto.

Marias Mutter war gestorben, als sie vierzehn war, und ihren Vater hatte sie niemals kennengelernt. Als ihre Mutter noch lebte, hatte sie ihr erzählt, dass er sie verlassen hätte, als Raul geboren wurde, und dass ihn seitdem niemand mehr gesehen hätte.

Ohne ihre Eltern oder irgendjemand anders, der für sie sorgte, hatten sich Maria und Raul einem Paar namens Hernandez angeschlossen, Wanderarbeitern, die von Farm zu Farm übers Land zogen. Zu einem ihrer Jobs gehörte die Mandelernte auf der Harcourt-Farm, und dort hatten Maria und Miguel sich kennengelernt. Maria war noch keine fünfzehn gewesen und ihr Bruder erst dreizehn. Miguel Santiago wurde ihre Rettung.

Sie heirateten einen Tag nach ihrem fünfzehnten Geburtstag, und als die Wanderarbeiter weiterzogen, blieben sie und Raul bei Miguel auf der Farm. Obwohl er kaum genug zum Leben verdiente, gab es genug zu essen, und Raul konnte zur Schule gehen. Das erste Jahr nahm er gewissenhaft am Unterricht teil, doch weil ihm die anderen Kinder weit voraus waren, rebellierte er bald und weigerte sich, weiter den Unterricht zu besuchen.

Er fing an, lange wegzubleiben und sich mit zwielichtigen Typen herumzutreiben. Schließlich brachte er sich in Schwierigkeiten und wurde in ein Pflegeheim gesteckt. Am Ende landete er in einer Jugendstrafanstalt. Doch jetzt würde er bald bei Teen Vision dabei sein.

Es schien, als ob ein Wunder geschehen wäre.

Ein Weiteres war vor zwei Monaten geschehen, als Marias Mann zu einem der vier Vorarbeiter auf der Farm befördert worden war. Er hatte eine Gehaltserhöhung bekommen, und ihm wurde das Haus zur Verfügung gestellt.

Ein sehr hübsches Haus, dachte Maria erneut, als sie den Gürtel ihres Bademantels löste und ihn über einen Stuhl warf. In ihrem kurzen weißen Nylon-Nachthemd, das sich über ihrem immer größer werdenden Bauch spannte, ging sie zu Bett und wünschte, dass Miguel nach Hause käme. Doch er arbeitete oft spät in den Feldern, und sie hatte sich eigentlich daran gewöhnt.

Nur in letzter Zeit wurde sie ängstlich, wenn er nicht nach Hause kam und es immer später wurde.

Sie warf einen Blick auf das Bett mit seiner komfortablen Matratze in Übergröße. Es war größer als alles, worin sie vorher geschlafen hatte.

Sie sehnte sich danach, unter die Decke zu schlüpfen, ihren Kopf auf das Kissen zu legen und langsam in den Schlaf zu gleiten. Sie war so müde. Ihr Rücken schmerzte, und die Füße brannten. Bestimmt würde sie heute Nacht schlafen und nicht wieder aufwachen, bis Miguel nach Hause kam. Bestimmt würde das, was ihr letzte Woche und vorletzte Wochen widerfahren war, heute Nacht nicht passieren.

Es war nach Mitternacht und das Haus völlig still, als sie den hübschen gelben Überwurf zurückzog, sich hinlegte und die dünne Bettdecke bis unters Kinn zog.

Sie konnte die Grillen im Feld hören, und das rhythmische Zirpen beruhigte sie. Das Kissen unter ihrem Kopf fühlte sich weich an. Ihr offenes schwarzes Haar kitzelte ihre Wange, als sie ihre Lage veränderte, und die Augen fielen ihr zu.

Eine Zeit lang döste sie friedlich, ohne das merkwürdige Knirschen und Stöhnen oder die leichte Veränderung der Atmosphäre zu bemerken. Dann wurde die Luft dichter, stickiger, und das beruhigende Zirpen der Grillen hörte abrupt auf.

Maria riss die Augen auf. Sie starrte zur Decke hinauf. Ein schweres Gewicht auf ihrer Brust schien sie niederzudrücken. Sie hörte das merkwürdige Stöhnen und das Knarren, das nicht vom Wind stammen konnte. In der Dunkelheit des Schlafzimmers stieg ihr der erstickende Geruch von Rosen in die Nase, und ihr wurde übel.

Der Verwesungsgestank hüllte sie geradezu ein, schien sie auf die Matratze zu drücken und ihr die Luft aus den Lungen zu pressen. Sie wollte sich aufsetzen, konnte sich aber nicht bewegen. Sie versuchte zu schreien, doch kein Laut entwich ihrer Kehle.

Oh Madre de Dios! Muttergottes, beschütze mich!

Sie hatte solche Angst! Sie verstand nicht, was hier vor sich ging. Sie wusste nicht, ob das, was sie fühlte, real war, oder ob sie ihren Verstand verlor. Ihre Mutter hatte an einem Tumor gelitten, der letztlich zu ihrem Tode führte. Kurz vor ihrem Ende hatte sie fantasiert, wirres Zeug geredet und sich Dinge eingebildet.

Was geschah nur mit ihr?

Sie drehte sich im Bett herum und versuchte sich aufzusetzen, doch ihr Körper blieb wie festgefroren auf dem Bett liegen. Etwas schien in ihren Geist einzudringen und ihre Gedanken zu besetzen, bis sie an nichts anderes mehr denken konnte als an die Worte, die ihn ihrem Kopf kreisten.

Sie wollen dein Baby, flüsterte eine leise Stimme in ihrem verängstigten Gehirn. Sie nehmen dir dein Baby, wenn du nicht fortgehst.

Maria schluchzte auf. Panik erfüllte sie. Sie sehnte sich nach Miguel, betete, dass er nach Hause käme und sie rettete. Leise betete sie zu Gott, dass er ihn ihr zurückbrächte, bevor es zu spät wäre.

Doch Miguel kam nicht.

Stattdessen verebbte die leise Stimme allmählich in der Stille, als ob sie niemals da gewesen wäre, und der betäubende Rosenduft verflog in der Dunkelheit. Lange noch lag sie da und hatte Angst, sich zu bewegen, Angst vor dem, was womöglich passieren würde.

Maria schluckte. Sie versuchte die Arme anzuheben, und stellte fest, dass ihre Glieder ihr wieder gehorchten. Mit zur Decke gerichtetem Blick lag sie da und atmete tief durch, während ihre Hände zitterten. Sie bebte am ganzen Körper. Ihr Herz schlug wie nach einem kilometerlangen Dauerlauf. Zögernd streckte sie die Beine aus. Sie bewegte die Arme und kreuzte sie über der Brust, um das Zittern zu unterdrücken. Unsicher setzte sie sich auf. Das lange schwarze Haar fiel ihr über die Schultern bis fast zur Taille. Sie zog die Beine an den Körper, strich das Nachthemd darüber und ließ ihr Kinn auf die Knie sinken.

Es war ein Albtraum, sagte sie zu sich selbst. Der gleiche Traum, den du schon zuvor hattest.

Marias Augen füllten sich mit Tränen. Sie schlug eine Hand vor den Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken, und versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass sie recht hatte.

Zachary Harcourt öffnete die Vordertür jenes Hauses, das einst sein Zuhause gewesen war. Es war ein großes weißes zweigeschossiges Holzhaus mit je einer Veranda vorn und hinten, ein eindrucksvolles Haus, das in den Vierzigerjahren gebaut und über die Jahre umgestaltet und verbessert worden war.

Die stuckverzierten Decken waren hoch, damit sich die Hitze nicht staute, und teure Damastvorhänge rahmten die Fenster ein. Die Böden waren aus Eiche und immer glänzend poliert. Zach ignorierte das scharfe Klirren seiner Arbeitsschuhe, als er den Flur entlang zu jenem Raum schritt, der einst das Arbeitszimmer seines Vaters gewesen war. Es war ein durch und durch herrschaftlicher Raum in dunklem Holz und mit Regalen an den Wänden, in denen ledergebundene Bücher mit Goldprägung standen.

Der große Eichenschreibtisch, an dem sein Vater immer gesessen hatte, dominierte noch immer den Raum. Doch nun saß sein älterer Bruder Carson in einem teuren Ledersessel dahinter.

“Ich sehe, du hältst noch immer nichts vom Anklopfen.” Carson wandte sich ihm zu, wobei eine Hand auf den Papieren auf dem Schreibtisch ruhte. Die Feindseligkeit in seinem Blick war nicht zu übersehen. Zacharys Augen zeigten die gleiche Abneigung.

Die Männer waren etwa gleich groß, fast eins neunzig, doch der zwei Jahre ältere Carson war in Schultern und Brust breiter gebaut, mehr wie sein Vater. Er war blond und hatte blaue Augen wie seine Mutter, wohingegen Zach, sein unehelicher Halbbruder, schlanker war und das fast schwarze leicht wellige Haar von Teresa Burgess geerbt hatte, der langjährigen Geliebten seines Vaters.

Es ging das Gerücht, dass Teresa eine spanische Großmutter gehabt hatte, doch dem hatte sie immer widersprochen. Und auch wenn Zachs Haut dunkler war als Carsons und seine Wangenknochen höher und ausgeprägter, hatte er dennoch keine Ahnung, ob er nun Latino-Blut in sich hatte oder nicht.

Eines aber war gewiss: Zach hatte die gleichen goldgesprenkelten braunen Augen, aus denen ihn auch sein Vater ansah und die ihn eindeutig als Sohn Fletcher Harcourts und damit als Carsons Bruder auswiesen – sehr zum Verdruss von Carson.

“Ich brauche nicht anzuklopfen”, sagte Zach. “Falls du es vergessen haben solltest, was du ja gern tust, dieses Haus gehört noch immer unserem Vater, was bedeutet, dass es ebenso sehr meines ist wie deines.”

Carson gab keine Antwort. Nach dem Unfall, der Fletcher Harcourt in den Rollstuhl gebracht und sein Gedächtnis zerrüttet hatte, war sein ältester Sohn zum Verwalter der Farm und aller Angelegenheiten des Vaters bestimmt, eingeschlossen seiner gesundheitlichen Belange. Dem Richter war die Entscheidung leichtgefallen, da Zach jünger und vorbestraft war.

Mit einundzwanzig hatte Zach wegen fahrlässiger Tötung zwei Jahre in der Justizvollzugsanstalt Avenal absitzen müssen. Er war verurteilt worden, weil er betrunken Auto gefahren und dadurch ein Mann zu Tode gekommen war.

“Was willst du?”, fragte Carson.

“Ich möchte wissen, wie es mit der Benefizgala steht. So wie ich deine zupackende Art kenne, nehme ich an, dass alles bereit ist.”

“Alles unter Kontrolle. Ich habe gesagt, dass ich dabei helfe, Geld für dein kleines Projekt zu sammeln, und das tue ich auch.”

Vor zwei Jahren hatte Zach seinen Stolz heruntergeschluckt und sich an Carson gewandt mit der Idee, ein Camp für Teenager mit Drogen- und Alkoholproblemen zu eröffnen. Als Jugendlicher war er einer dieser Teenager gewesen, die immer Ärger hatten, die immer im Clinch lagen mit ihren Eltern und dem Gesetz.

Doch die zwei Jahre im Gefängnis hatten sein Leben verändert. Und er wollte den Jungs, die nicht so viel Glück gehabt hatten wie er, ebenfalls eine Chance geben.

Nicht dass er sich damals für glücklich gehalten hätte.

Trotzig und wütend war er gewesen. Er hatte allen außer sich selbst die Schuld daran gegeben, was mit ihm geschehen und was aus seinem Leben geworden war. Aus Langeweile hatte er begonnen, sich mit Jura zu beschäftigen – und weil er hoffte, so seine Strafe zu verkürzen. Es schien ihm zu liegen. Er holte seinen Highschool- und den College-Abschluss nach. Dann ging er nach Berkeley und schrieb sich an der Juristischen Fakultät ein.

Beeindruckt von seinem Veränderungswillen, half ihm sein Vater mit dem Schulgeld, sodass Zach mit dem Geld aus einem Teilzeitjob auskam. Zach hatte es auf diese Weise geschafft, die Schule als einer der Besten seines Jahrgangs abzuschließen. Die Zulassungsprüfung als Anwalt bestand er mit Bravour, und Fletcher Harcourt ließ seine Beziehungen spielen, damit Zach trotz seiner Strafakte als Anwalt arbeiten konnte.

Zach war inzwischen ein erfolgreicher Anwalt geworden. Er war Partner in einer Kanzlei in Westwood, besaß ein Apartment mit Meerblick in Pacific Palisades und fuhr ein brandneues BMW-Cabrio und den Jeep, mit dem er immer ins Tal kam.

Er führte ein privilegiertes Leben und wollte etwas von dem Erfolg zurückgeben, den er errungen hatte. Bis zu jenem Tag vor zwei Jahren hatte er seinen Bruder niemals um etwas gebeten – und er hatte sich geschworen, das auch niemals wieder zu tun. Carson und seine Mutter hatten Zach das Leben schwer gemacht, seit sein Vater ihn mit nach Hause gebracht und angekündigt hatte, ihn adoptieren zu wollen.

Das böse Blut zwischen ihnen würde immer bestehen, doch Harcourt Farms gehörte Zach ebenso sehr wie Carson. Und auch wenn sein Bruder das Unternehmen führte, gab es dennoch jede Menge Land. Das Gelände, das er für das Camp gewählt hatte, war der perfekte Ort.

Zach erinnerte sich an den Tag, als er zu seinem Bruder gekommen war, erinnerte sich an sein Erstaunen, als Carson so bereitwillig auf seinen Vorschlag einging.

“Nun, da hattest du ja tatsächlich mal eine gute Idee”, hatte Carson gesagt.

“Soll das heißen, dass Harcourt Farms das Gelände stiften wird?”

“Genau. Ich werde dir sogar helfen, das Geld aufzubringen, um das Projekt zu verwirklichen.”

Zach hatte mehrere Monate gebraucht, bis er begriff, dass sein Bruder wieder einmal den Spieß umgedreht hatte. Das Projekt wurde Carsons Projekt, obwohl vor allem Zachs Geld in der Stiftung steckte, und die ganze Stadt befand sich nun in Carsons Schuld.

Zach war das inzwischen egal. Mit Carson als Wortführer kam laufend Geld herein. Genug, um das Projekt am Laufen zu halten, und sogar genug, um zu expandieren. Je mehr Jungen geholfen werden konnte, desto besser, dachte Zach. Er hielt sich gern im Hintergrund. Und unter Carsons statt unter seinem Namen würde die Benefizveranstaltung am Sonnabend vermutlich ein ganzer Erfolg werden.

“Ich wollte mich nur vergewissern”, sagte Zach und dachte an die Abendgesellschaft, an der er nicht teilnehmen würde. “Lass es mich wissen, wenn du mich brauchst.” Stattdessen würde er am Wochenende mit den Jungs von Teen Vision die Scheune weiterbauen, eine Beschäftigung, die ihm viel Freude bereitete.

“Bist du sicher, dass du nicht kommen möchtest?”, fragte Carson, obwohl Zach davon ausging, dass er das schwarze Schaf der Familie wohl als Allerletztes dabei haben wollte.

“Nein, danke. Ich will dir nicht in die Quere kommen.”

“Du könntest Lisa mitbringen. Ich komme mit Elizabeth Conners.”

Liz Conners. Sie war vier Jahre jünger als er. Er hatte sie einmal ziemlich heftig angebaggert, in dem Coffeeshop, in dem sie damals gearbeitet hatte. Das war noch, bevor er ins Gefängnis kam. Er war betrunken und high gewesen. Liz hatte ihn geohrfeigt – etwas, das keine andere Frau je getan hatte. Er hatte sie nie vergessen.

“Ich dachte, sie ist verheiratet und lebt irgendwo in Orange County.”

“Inzwischen ist sie geschieden und vor ein paar Jahren zurück in die Stadt gezogen.”

“Tatsächlich?” San Pico war der letzte Ort, an dem Zach wohnen wollte. Er kam nur, um seinen Vater zu besuchen und auf der immer größer werdenden Farm zu helfen. “Grüß sie von mir.”

Innerlich lächelte er bei dem Gedanken, dass er wohl der Allerletzte war, von dem Liz Conners gern hören würde. Irgendwie hatte er angenommen, dass Liz der Typ Frau war, die einen Mann wie seinen Bruder durchschauen würde. Auf der anderen Seite konnte man über den Geschmack anderer Menschen nicht streiten.

Carson erwiderte nichts, sondern wandte sich wieder seinen Papieren auf dem Schreibtisch zu. Zach verließ das Arbeitszimmer ohne Abschiedsgruß und ging zu seinem Wagen. Er war überrascht, dass Carson von Lisa Doyle wusste, und es gefiel ihm nicht besonders. Er wollte nicht, dass Carson überhaupt irgendetwas von ihm wusste. Er traute seinem Halbbruder nicht, hatte ihm nie getraut.

Was auch immer Carson glauben mochte – Lisa war wirklich nicht sein Typ. Doch sie mochte scharfen und zügellosen Sex ebenso wie Zach, und so schliefen sie seit Jahren hin und wieder miteinander.

Er musste sich nicht erst ein Hotelzimmer nehmen, wenn er in der Stadt war, und Lisa musste sich keinen Wildfremden aus der Bar mit nach Hause nehmen, wenn sie Sex haben wollte.

Es war ein gutes Abkommen, von dem sie beide profitierten.

Elizabeth sah auf, als es klopfte. Die Tür ging auf, und ihr Chef Dr. Michael James steckte seinen Kopf herein. Michael, knapp einen Meter achtzig groß und mit sandfarbenem Haar und haselnussbraunen Augen, war Doktor der Psychologie. Vor fünf Jahren hatte er die Praxis eröffnet. Elizabeth arbeitete seit zwei Jahren für ihn. Michael war verlobt und wollte eigentlich heiraten, doch seit Kurzem schien er Bedenken zu haben, und Elizabeth war sich nicht sicher, ob er die Hochzeit durchziehen würde.

“Wie ist es mit Raul gelaufen?”, fragte er, denn auch er war ein Unterstützer des Jungen. Raul hatte so eine Art, sich beliebt zu machen, auch wenn man auf den ersten Blick den Eindruck hatte, dass er das Gegenteil versuchte.

“Er hat sich entschieden, an dem Programm teilzunehmen.”

“Das ist großartig. Wenn er dann auch nur dabei bleibt.”

“Er war ziemlich aufgeregt, glaube ich. Natürlich könnte Sam selbst einer Kuh noch Milch verkaufen.”

“Dann waren Sie also beeindruckt von der Farm. Das dachte ich mir.”

“Das Projekt ist wirklich weit gediehen. Carson hat wunderbare Arbeit geleistet.”

“Ja, das hat er. Auch wenn ich den Eindruck habe, dass er das alles nicht ohne Eigennutz tut. Kürzlich hörte ich das Gerücht, dass er für einen Sitz im Repräsentantenhaus kandidieren will.”

“Ich kenne ihn nicht sehr gut, doch er scheint sich um die Gemeinde zu kümmern. Vielleicht wäre er ganz gut für den Job geeignet.”

“Vielleicht.” Doch Michael schien nicht ganz überzeugt.

Sie sprachen noch über dieses und jenes, bis Dr. James das Büro verließ und das Telefon klingelte. Als Elizabeth sich meldete, erkannte sie Raul Perez' Stimme.

“Ich rufe wegen meiner Schwester an”, sagte er ohne weitere Erklärung. “Ich sah sie heute Morgen, nachdem Miguel zur Arbeit gegangen war. Sie war sehr verstört. Sie versucht es zu verbergen, doch ich kenne sie zu gut. Irgendetwas stimmt nicht. Könnten Sie vielleicht irgendwann heute dort haltmachen?”

“Tatsächlich wollte ich sowieso nach ihr sehen. Ich fahre heute Nachmittag vorbei. Ist deine Schwester zu Hause?”

“Ich denke schon. Ich wünschte, ich wüsste, was los ist.”

“Ich werde versuchen, es herauszufinden”, versprach Elizabeth und fragte sich beim Auflegen, worum es sich handeln mochte.

Bei ihrem Beruf, in dem sie mit Gewalt in der Familie, Drogen, Raub und sogar Mord zu tun hatte, brauchte es schon einiges, um sie zu überraschen.

DREI

Es war nach fünf. Elizabeth schloss die Praxis und bahnte sich ihren Weg durch den Feierabendverkehr. Der war zwar nicht zu vergleichen mit der endlosen Schlange von dicht an dicht fahrenden Fahrzeugen auf den Freeways von L.A., mit denen sie in ihrer Zeit in Santa Ana zu kämpfen gehabt hatte, doch es war genug los, dass sie an der Hauptstraße zwei rote Ampelphasen abwarten musste.

Downtown war San Pico nur zehn Blocks lang, und einige der Läden trugen spanische Namen. Miller's Trockenreinigung an der Ecke hatte zusätzlich einen Waschsalon. Es gab eine JC-Penney-Filiale, mehrere Bekleidungsgeschäfte und ein paar Restaurants, darunter auch Marge's, wo sie während der Highschool gejobbt hatte.

Als sie daran vorbeifuhr, erblickte sie den Tresen und die pinkfarbenen Vinylmöbel. Auch nach zwanzig Jahren machte der Laden noch ein gutes Geschäft. Abgesehen vom Ranch House, einem Steakrestaurant am Rande der Stadt, war es der einzige Ort, an dem man anständig essen konnte.

Ein paar struppige Ahornbäume sprossen an den Seitenstreifen, die die Downtown-Straßen säumten. Es gab ein paar Tankstellen, einen Burger King, einen McDonald's und eine schäbige Bar namens The Roadhouse, dort wo der Highway 51 die Hauptstraße kreuzte. Als größter Segen für die Gegend hatte sich vor zwei Jahren der neue Wal-Mart entpuppt, der die Städter und einige angrenzende Gemeinden versorgte.

Elizabeth fuhr weiter die Hauptstraße hinunter und dann auf den Highway, der zu Harcourt Farms führte. Das kleine gelbe Haus, in dem Maria und Miguel Santiago lebten, lag etwas zurückgesetzt von der Straße in einem Bereich der Farm, wo sich drei weitere Vorarbeiterhäuser und ein halbes Dutzend Arbeiterhütten befanden sowie in einiger Entfernung das große weiße Herrenhaus.

Elizabeths Wagen rumpelte über ein paar stillgelegte Bahngleise. Sie parkte dicht an der Auffahrt und stieg aus ihrem Acura.

Sie hatte zwei Jahre gespart, um die Anzahlung für den Wagen leisten zu können, und er lag ihr am Herzen. Mit den roten Ledersitzen und dem holzverkleideten Armaturenbrett ließ er sie sich einfach jünger fühlen, sobald sie hinterm Steuer saß. Sie hatte den Wagen gekauft, weil sie fand, dass sie sich mit dreißig nicht so alt fühlen sollte, wie sie es oft tat.

Sie ging den gepflasterten Weg entlang. Im Blumenbeet blühten rote und gelbe Zinnien. Elizabeth klopfte an die Haustür, und kurze Zeit später öffnete ihr Maria Santiago.

“Miss Conners”, lächelte sie. “Was für eine nette Überraschung. Es ist schön, Sie zu sehen. Kommen Sie rein.” Maria war bis auf ihren sich vorwölbenden Bauch und die immer größer werdenden Brüste eine schlanke junge Frau. Ihr langes schwarzes Haar war wie üblich zu einem Zopf geflochten, der ihr bis über den Rücken reichte.

“Danke.” Elizabeth ging ins Haus, das Maria tadellos sauber hielt. Die junge Frau, die sich ebenso herausputzte wie das Haus, trug weiße knöchellange Hosen und eine weite blau geblümte Bluse.

“Miguel und ich wollten Ihnen danken für das, was Sie für Raul getan haben. Ich habe ihn noch nie so aufgeregt erlebt, auch wenn er sich natürlich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen.” Sie runzelte plötzlich die Stirn. “Er ist doch nicht in Schwierigkeiten? Das ist doch nicht der Grund, warum Sie hier sind?”

“Nein, natürlich nicht. Das hat gar nichts mit Raul zu tun. Außer dass Ihr Bruder sich Sorgen um Sie macht. Er hat mich gebeten vorbeizukommen.”

“Warum sollte er das tun?”

“Er glaubt, dass Ihnen etwas zu schaffen macht. Er weiß nicht, was es ist. Er hofft, dass Sie vielleicht mir davon erzählen.”

Maria blickte zur Seite. “Mein Bruder bildet sich was ein. Mir geht es gut, das sehen Sie ja.”

Mit ihren großen dunklen Augen, den klassischen Gesichtszügen und im sechsten Monat schwanger sah sie sehr hübsch aus. Elizabeth hatte Maria und Miguel über ihre Zuständigkeit für Raul kennengelernt und mochte sie beide, auch wenn Miguels Macho-Attitüde ihr manchmal auf die Nerven ging.

“Es ist heiß draußen”, sagte Maria. “Möchten Sie vielleicht ein Glas Eistee?”

“Das klingt wunderbar.”

Sie setzten sich an den hölzernen Küchentisch. Maria holte eine Plastikkanne aus dem Kühlschrank, warf ein paar Eiswürfel in zwei hohe Gläser und füllte sie mit dem kühlen Tee.

Sie stellte die Gläser auf den Tisch. “Möchten Sie Zucker?”

“Nein, er ist köstlich so.” Elizabeth nahm einen Schluck von ihrem Tee.

Maria rührte mit mehr Aufmerksamkeit als nötig in ihrem Glas herum. Elizabeth fragte sich, welches Problem sie beschäftigen mochte. Raul war ein kluger junger Mann. Ohne guten Grund hätte er sie nicht angerufen.

“Es muss schwer sein, den ganzen Tag so allein auf der Farm und so weit weg von der Stadt zu sein”, begann Elizabeth vorsichtig.

“Es gibt immer etwas zu tun. Bevor es so warm wurde, habe ich im Garten gearbeitet. Doch nun, da das Baby wächst, kann ich nicht mehr so lange in der Sonne bleiben. Doch es gibt Kleidung zu flicken, und ich muss Essen vorbereiten für Miguel. Seit wir in das Haus gezogen sind, kommt er zum Mittagessen nach Hause. Er arbeitet sehr hart.”

“Dann kommen Sie beide gut zurecht?”

“Sí. Wir kommen sehr gut zurecht. Miguel ist ein guter Mann. Er sorgt gut für mich.”

“Ich bin sicher, dass er das tut. Trotzdem, ich nehme an, dass er oft lange arbeitet, sodass Sie allein zu Hause sind. Ist das der Grund, warum Sie nicht gut schlafen?” Es war ein Risiko. Sie riet ins Blaue hinein, und falls sie falsch riet, konnte das die junge Frau noch vorsichtiger machen.

“Warum … warum glauben Sie, dass ich nicht gut schlafe?”

“Sie sehen müde aus, Maria.” Elizabeth umfasste ihre Hand, die auf dem Küchentisch lag. “Was ist los? Sagen Sie mir, was nicht in Ordnung ist.”

Die junge Frau schüttelte den Kopf, und Elizabeth sah, dass sie mit den Tränen kämpfte. “Ich bin mir nicht sicher. Irgendetwas geht hier vor sich, aber ich weiß nicht, was.”

“Irgendetwas? Was meinen Sie?”

“Etwas sehr Böses. Ich habe Angst, Miguel davon zu erzählen.” Sie entzog Elizabeth ihre Hand. “Ich glaube … ich glaube, ich werde vielleicht so krank wie meine Mutter.”

Elizabeth runzelte die Stirn. “Ihre Mutter hatte einen Tumor, oder? Meinen Sie das?”

“Sí, einen Tumor, ja. In ihrem Gehirn. Bevor sie starb, fing sie an, Dinge zu sehen, die nicht da waren, und Stimmen zu hören, die nach ihr riefen. Vielleicht passiert mir das gerade auch.” Sie beugte sich vor, legte die Hände um ihren gewölbten Bauch und brach in Tränen aus.

Elizabeth setzte sich auf ihrem Stuhl zurück. Es wäre möglich, vermutete sie, doch es konnte jede Menge anderer Erklärungen geben. “Es ist alles in Ordnung, Maria. Sie wissen, dass ich Ihnen helfe, soweit es in meiner Macht steht. Sagen Sie mir, warum Sie glauben, dass Sie ebenso wie Ihre Mutter einen Tumor haben.”

Maria sah auf. Ihre Hände bebten, als sie sich die Tränen von den Wangen wischte. “In der Nacht … wenn Miguel arbeitet, höre ich manchmal Geräusche. Es sind schreckliche Geräusche, ein Knarren und Seufzen und ein Stöhnen, das klingt wie der Wind, doch die Nacht ist ganz ruhig. Die Luft im Schlafzimmer wird ganz stickig und so schwer, dass ich kaum atmen kann.” Sie schluckte. “Und dann ist da der Geruch.”

“Der Geruch?”

“Sí. Es riecht nach Rosen, aber so intensiv, dass ich Angst habe zu ersticken.”

“San Pico ist berühmt für seine Rosen. Sie züchten sie hier seit mehr als vierzig Jahren. Gelegentlich müssen Sie sie riechen.” Sie griff erneut nach der Hand der jungen Frau und fühlte, wie kalt sie war und wie sie zitterte. “Sie sind schwanger, Maria. Wenn eine Frau ein Kind erwartet, geraten ihre Gefühle manchmal ziemlich durcheinander.”

“Ist das so?”

“Ja, manchmal ist das so.”

Maria blickte verlegen zur Seite. “Ich bin nicht sicher, was da passiert. Manchmal … manchmal scheint es so real. Manchmal glaube ich …”

“Glauben Sie was, Maria?”

“Dass … en mi casa andan duendes.”

Elizabeth sprach einigermaßen Spanisch; sie musste die Sprache wegen ihrer Arbeit beherrschen. “Sie denken, in Ihrem Haus spukt es? Das können Sie nicht glauben.”

Maria schüttelte den Kopf, erneut stiegen ihr die Tränen in die Augen. “Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich weiß nur, dass ich nachts sehr viel Angst habe.”

Genug Angst, dass sie nicht schlafen konnte.

“Aber Sie haben nicht tatsächlich einen Geist gesehen.”

Maria schüttelte den Kopf. “Ich habe ihn nicht gesehen. Ich habe nur seine Stimme gehört in meinem Kopf.”

“Hören Sie, Maria. In Ihrem Haus spukt es nicht. Es gibt keine Geister.”

“Was ist mit Jesus? Jesus ist zurückgekommen von den Toten. Man nennt ihn den Heiligen Geist.”

Elizabeth lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie hatte es schon mit Hunderten von ungewöhnlichen Problemen zu tun gehabt, doch dies war etwas Neues.

“Jesus ist was anderes. Er ist Gottes Sohn, und er spukt nicht in Ihrem Haus. Glauben Sie wirklich, dass da ein Geist in Ihrem Schlafzimmer ist?”

“Da ist ein Geist … oder ich sterbe wie meine Mutter.” Maria fing wieder an zu weinen.

Elizabeth erhob sich. “Nein, das werden Sie nicht”, sagte sie fest und konnte damit Marias Tränen für den Moment stillen. “Sie werden nicht sterben. Doch um sicherzugehen, dass Sie keinen Tumor haben, werde ich einen Termin in der Klinik für Sie ausmachen. Dr. Zumwalt kann eine Computertomografie vornehmen lassen. Falls irgendwas nicht in Ordnung sein sollte, wird er das daraus ersehen können.”

“Wir haben nicht das Geld, um das zu bezahlen.”

“Die Gemeinde wird das übernehmen, wenn Dr. Zumwalt die Untersuchung für nötig hält.”

“Wird es wehtun?”

“Nein. Sie machen nur eine Aufnahme vom Inneren Ihres Kopfes.”

Maria erhob sich. “Sie müssen mir versprechen, es nicht Miguel zu sagen.”

“Ich werde es Ihrem Mann nicht sagen. Das hier bleibt zwischen Ihnen und mir.” Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was Miguel Santiago sagen würde, wenn er davon hörte, dass seine junge Frau glaubte, in ihrem Haus spuke es.

“Werden wir morgen zu der Klinik fahren?”

“Ich rufe Sie an, sobald ich einen Termin habe. Dann hole ich Sie ab und bringe Sie höchstpersönlich dorthin.”

Maria gelang ein klägliches Lächeln. “Danke.”

“Raul wird mich fragen, ob es Ihnen gut geht.”

“Sagen Sie ihm, ich wäre okay.”

Elizabeth seufzte. “Ich sage ihm, dass ich Sie zu einem Check-up bringe. Nur um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist mit Ihnen.”

Sie nickte und warf einen Seitenblick in Richtung Schlafzimmer. “Bitten Sie ihn, es nicht Miguel zu sagen.”

Carson Harcourt hielt vor dem zweigeschossigen Apartmentgebäude, stieg aus dem Mercedes und ging zu Apartment B. Die Gegend war ruhig, die Nachbarschaft eine der sichersten in der Stadt. Er war nur wenige Minuten zu spät dran und nahm an, dass Elizabeth sowieso noch nicht fertig war.

Das waren Frauen nie.

Er klopfte kurz an die Tür und wunderte sich, als eine ausgehbereite Elizabeth Conners ihm öffnete.

Carsons Blick wanderte über ihr bodenlanges dunkelblaues paillettenbesetztes Kleid, und er ertappte sich dabei, wie er lächelte. Seine spontane Einladung zu der Benefizveranstaltung entpuppte sich als genialer Einfall. Natürlich hatte er bemerkt, dass sie hübsch war. Er hatte geahnt, dass sie in etwas anderem als diesen langweiligen, wenn auch professionellen Kostümen weitaus mehr hermachen würde.

“Du siehst hinreißend aus”, sagte er und meinte es auch so. Sie war ein bisschen größer als der Durchschnitt und schmal gebaut. Während er ihr figurbetontes Kleid bewunderte, bemerkte er, dass sie schöne volle Brüste hatte, seidige Schultern, eine schmale Taille und schön geschwungene Hüften.

Ich hätte das schon früher tun sollen, schalt er sich selbst.

“Danke für das Kompliment. Du siehst selber ganz flott aus, Carson.”

Er lächelte. Er sah immer gut aus im Smoking. Das Schwarz betonte seine blonden Haare und blauen Augen, und mit dem einen geschlossenen Knopf kamen seine breiten Schultern gut zur Geltung. Er war erst seit wenigen Minuten an der Luft, doch schon schwitzte er unter dem weißen Hemd.

“Lass uns gehen. Im Wagen ist es kühler.”

Elizabeth nickte und hakte sich bei ihm ein. Carson führte sie zu seinem Wagen und half ihr beim Einsteigen. Die Klimaanlage arbeitete auf vollen Touren, sobald er den Schlüssel in der Zündung umdrehte. Es war lange her, dass er Zeit gehabt hatte für weibliche Gesellschaft. Er blickte kurz hinüber zu Elizabeth und dachte, dass es vielleicht an der Zeit wäre, das zu ändern.

Die Benefizveranstaltung war in vollem Gange, als sie ankamen. Carson führte Elizabeth durch die wogende Menge, während er hier und da lächelnden Gesichtern zuwinkte. Er hielt an einer Bar und orderte ein Glas Champagner für Elizabeth und einen Scotch mit Soda für sich selbst. Sie hielten Small Talk mit einigen Gästen, darunter Sam Marston, dem Leiter von Teen Vision, sowie Dr. und Mrs. Lionel Fox, zwei der größten Förderer der Organisation, beide Highschool-Betreuer.

“Elizabeth! Ich wusste nicht, dass du auch hier sein würdest!” Das war Gwen Petersen. Sie war mit ihrem Mann Jim da, Bereichsleiter der Wells Fargo Bank. Offenbar war sie eine gute Freundin von Elizabeth.

“Ich hatte auch nicht vor zu kommen, bis Carson so nett war, mich einzuladen. Ich wollte dich anrufen. Aber ich hatte einfach so viel zu tun.”

Gwens Blick wanderte von Elizabeth zu Carson und blieb an ihm haften, als ob sie die beiden als Paar abschätzen wollte. Dann lächelte sie.

“Oh, was für eine nette Idee.” Sie war klein und grazil, mit roten Haaren und einem attraktiven Gesicht. Sie und ihr Mann hatten zwei kleine Jungs, wenn er sich richtig erinnerte, und das tat er meistens.

Carson erwiderte das Lächeln. “Ja, das war eine sehr gute Idee.”

Gwens Blick richtete sich wieder auf ihre Freundin. “Ich rufe dich Anfang der Woche an. Wir müssen unbedingt zusammen Mittag essen.”

Elizabeth nickte. “Okay, das machen wir.”

Der offizielle Teil sollte gleich beginnen. Carson geleitete Elizabeth an den weiß gedeckten Haupttisch und setzte sich neben sie.

Der Trubel verebbte allmählich, als auch die letzten Gäste Platz genommen hatten. Die Benefizveranstaltung wurde im Bankettraum des Holiday Inn abgehalten, wo fast alle örtlichen Großveranstaltungen stattfanden.

Carson stellte Elizabeth den anderen Gästen am Tisch vor. Einige von ihnen kannte sie schon, und sie machten freundlich Konversation, während das Dinner serviert wurde. Es bestand aus dem üblichen Gummihuhn in einer mattbraunen Bratensoße, gestampften Kartoffeln und viel zu lange gekochtem Brokkoli. Es folgte das Dessert, eine annehmbare Mousse au Chocolat, die seinen Appetit stillen konnte, den er nach dem unbefriedigenden Mahl noch verspürte.

Dann begannen die Reden. Sam Marston sprach über den Fortschritt, den sie mit der Jugendfarm machten. John Dillon, einer der Highschool-Betreuer, schloss an mit einer Erörterung der Chancen, die die Farm für Jugendliche in Schwierigkeiten bot. Carson wurde als Letzter aufgerufen und erhielt viel Applaus.

Er strich seine Smokingjacke glatt, als er hinter das Sprechpult trat. “Guten Abend, meine Damen und Herren. Es ist sehr erfreulich, solch eine fantastische Beteiligung für so ein wertvolles Projekt zu sehen.” Mehr Applaus. Er hatte schon allein das Geräusch immer gemocht. “Sam hat Ihnen einiges über die Farm erzählt. Lassen Sie mich etwas über die Jungen bei Teen Vision erzählen.”

Er begann mit einer kurzen Geschichte über einige der Jugendlichen, die an Teen Vision teilgenommen hatten. Als er fertig war mit den Tragödien, die einige der jungen Männer erlebt hatten, und der Beschreibung, wie Teen Vision ihr Leben veränderte, blieb es völlig still im Saal.

“Sie waren in der Vergangenheit alle sehr großzügig. Ich hoffe, dass Sie die Farm auch weiterhin unterstützen. Heute Abend nehmen wir Spenden entgegen. Geben Sie Ihren Scheck einfach nur am Tisch neben der Tür ab, und Mrs. Grayson wird Ihnen eine Quittung für die Steuer ausstellen.”

Alle applaudierten heftig, und Carson setzte sich wieder neben Elizabeth.

“Du warst wunderbar”, sagte sie, und ihre schönen blauen Augen leuchteten. “Du hast sehr treffend geschildert, was diese Jungen durchgemacht haben.”

Er zuckte die Achseln. “Es ist ein sehr lohnenswertes Projekt. Ich bin froh, wenn ich irgendwie helfen kann.”

Lächelnd sah sie zu ihm auf. Er mochte das an einer Frau, wenn sie einen Mann schätzte und ihn das auch wissen ließ. Und er mochte es, wie sie in diesem Kleid aussah – sexy und dennoch elegant, nicht zu bombastisch. Wenn sie ein wenig mehr Geld für ihre üblichen Kostüme ausgab, würde sie auch darin gut aussehen.

“Die Band fängt an”, sagte er. “Warum tanzen wir nicht?”

Elizabeth lächelte. “Mit Vergnügen.” Sie erhob sich und ging voraus zur Tanzfläche. Carson beobachtete ihren Gang und lächelte anerkennend. Sexy, aber nicht zu aufreizend, außerdem hatte sie ein gutes Namensgedächtnis, wie er bemerkt hatte, und war auch angenehm in der Konversation.

Interessant.

Ein langsames Lied begann. Er zog sie in seine Arme, und ihre Hände schlangen sich um seinen Nacken. Sie bewegten sich zu der Musik, als ob sie schon ein Dutzend Mal zusammen getanzt hätten, und er mochte die Art, wie ihre Körper zueinanderpassten.

“Du bist ein sehr guter Tänzer”, sagte sie.

“Ich tue mein Bestes.” Er dachte an die Tanzstunden, zu denen ihn seine Mutter als Junge geschickt hatte. Wie sie es ihm versprochen hatte, zahlte sich die Mühe jetzt aus, auch wenn er damals jede Minute gehasst hatte. “Ich habe schon immer gern getanzt.”

“Ich ebenfalls.” Elizabeth ließ sich leicht führen und sorgte auf diese Weise dafür, dass er besser aussah, als er es normalerweise tat. Ihre Taille war schmal und ihr Körper fest unter seinen Händen. Er hatte sie schon immer attraktiv gefunden. Es überraschte ihn selbst, dass er ihr vorher nicht mehr Beachtung geschenkt hatte.

Auf der anderen Seite hatten seine politischen Ambitionen bislang der fernen Zukunft gegolten. Das hatte sich kürzlich verändert.

Das Lied endete. Carson folgte Elizabeth, die die Tanzfläche verließ. Beide stoppten unvermittelt, als ihnen einen dunkelhaariger Mann in den Weg trat.

“Ach. Sieh mal einer an, wer da ist”, sagte Carson gedehnt, als er seinem Bruder in die goldgesprenkelten braunen Augen sah. Die Zeiten änderten sich, doch einige Dinge änderten sich nie. Dazu gehörten auch seine Gefühle für Zach oder besser gesagt, deren Abwesenheit.

Elizabeth blickte von Carson zu dem Mann, der dicht an dicht vor ihm stand, mit dunklen Haaren und ebensolchen Augen. Er war unglaublich attraktiv. Und plötzlich traf sie die Erkenntnis, dass sie diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Auch wenn sein Gesicht hinter der dunklen Sonnenbrille nicht zu erkennen gewesen war, handelte es sich doch um denselben Mann, den sie bei Teen Vision an der Scheune hatte arbeiten sehen. Und nun wusste sie auch, warum er ihr so bekannt vorgekommen war.

“Ich dachte, du würdest nicht kommen”, sagte Carson mit einer Schärfe in der Stimme, die vorher nicht da gewesen war. Elizabeth wusste, warum. Der Mann, der vor ihr stand, war Carsons Halbbruder.

“Ich habe meine Meinung geändert.” Zachary Harcourts Blick wanderte zu ihr, und er zeigt ein strahlendes Lächeln, bei dem sich seine weißen Zähne gegen seine dunkle Haut abhoben. “Hallo, Liz.”

Ihr ganzer Körper versteifte sich. “Hallo, Zach. Es ist lange her.” Aber nicht lange genug, dachte sie, als sie sich daran erinnerte, wann sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sich erinnerte, wie betrunken und aufdringlich er gewesen war, seine Pupillen unnormal groß von irgendwelchen Drogen, die er genommen hatte. Sie war damals in der Highschool gewesen und hatte im Marge's gearbeitet. “Ich wusste nicht, dass du wieder in San Pico bist.”

“Bin ich nicht. Nicht offiziell. Obwohl ich gehört habe, dass du hier jetzt lebst.”

“Ich bin seit einigen Jahren wieder zurück.” Sie sagte nicht, dass sie ihn draußen bei Teen Vision gesehen hatte, doch insgeheim zweifelte sie an Carsons Urteilsvermögen. Warum ließ er einen Mann wie seinen Bruder in die Nähe dieser leicht zu beeindruckenden Jungendlichen?

“Nette Party”, sagte Zach, während er die Frauen in ihren Abendkleidern und die Männer in den Smokings betrachtete. “Jedenfalls, wenn man Gummihuhn mag und eine Band, die normalerweise an Veteranen-Abenden spielt.”

“Dies ist San Pico, nicht L.A.”, sagte Carson steif und rückte seine Fliege zurecht. “Wir sind hier, um Geld zusammenzubekommen, falls du das vergessen hast.”

“Nach dieser ergreifenden kleinen Rede, die du gehalten hast – wie könnte ich das vergessen? Gute Arbeit, übrigens.” Zachs Smoking sah teuer aus, Stoff und Schnitt wirkten italienisch. Armani oder vielleicht Valentino, Designer, die Kleidung für Männer machten, die ebenso schmal und athletisch gebaut waren wie Models.

Sie fragte sich, woher er das Geld hatte, um sich solche Kleidung zu kaufen. Vielleicht war er zum Drogendealer aufgestiegen. Immerhin hatte er nicht mehr diesen benommenen Blick eines Abhängigen.

“Mrs. Grayson wird deinen Scheck gern entgegennehmen”, stichelte Carson.

Zach zog eine seiner schmalen, fast schwarzen Brauen hoch. “Ich bin sicher, sie würde auch deinen nehmen.”

Carson warf ihm einen warnenden Blick zu. Die beiden Brüder hatten nie viel füreinander übrig gehabt, und das schien sich nicht geändert zu haben. “Du hattest doch vor, nicht zu kommen. Warum hast du deine Meinung geändert?”

Die dunklen Augen wanderten zu Elizabeth. “Ich wollte ein paar alte Freunde begrüßen.”

VIER

Zach beobachtete, wie Liz Conners wieder mit seinem Bruder tanzte. Sie sah besser aus, als er sie in Erinnerung hatte, ein bisschen größer und mit attraktiven Rundungen. Sie hatte ihn nicht vergessen, so viel stand fest. Ihre hübschen blauen Augen wurden kalt wie Stahl, wenn ihr Blick auf ihn fiel, was nicht allzu oft geschah.

Es war die Erinnerung an diese Augen, die ihn dennoch zu der Veranstaltung hatte kommen lassen. Er stand damals sehr auf Elizabeth Conners, doch sie zwar zu klug, um ihn überhaupt eines zweiten Blickes zu würdigen. Sie hatte recht daran getan, sich von ihm fernzuhalten. Abgesehen davon, dass er jedem Rock nachjagte, war er ein Loser auf dem direkten Weg nach unten gewesen. Zach war neugierig, wie sehr Liz Conners sich verändert hatte.

Ganz erheblich, dachte er, während er ihre graziösen Bewegungen auf der Tanzfläche verfolgte. Sie war selbstbewusster als damals in der Highschool und noch attraktiver. Und noch immer schien sie ihre Gefühle nicht verbergen zu können. Er las aus jedem ihrer Blicke, die sie ihm zuwarf, ihre Abneigung heraus.

Zach lächelte beinahe. Wie erwartet, hatte sein Interesse an Liz seinen Bruder verärgert. Vielleicht war das der wahre Grund, warum er gekommen war. Er fragte sich, wie lange die beiden schon miteinander ausgingen, wie ernst es zwischen ihnen war. Er fragte sich, ob Liz Conners mit seinem Bruder schlief, und registrierte überrascht, dass ihm der Gedanke nicht behagte.

Sie lachte wegen irgendeiner Bemerkung von Carson, und er erinnerte sich an ihr Lachen vor über zehn Jahren, als sie in dem Coffeeshop gearbeitet hatte. Es war ein sehr feminines Lachen, kristallklar und viel wärmer als ihre Augen.

Zach wandte sich von dem tanzenden Paar ab und ging in Richtung Tür. Die Neugier hatte ihn hierhergebracht. Er hatte seinen Assistenten in sein Apartment schicken müssen, damit er ihm den Smoking nach San Pico brachte, um noch rechtzeitig zu der Benefizveranstaltung zu kommen.

Er war absichtlich spät eingetroffen, sodass er das Dinner und sämtliche Reden außer der seines Bruders verpasste. Widerwillig gab er zu, dass Carson seinen Job gut gemacht hatte. Die Spenden würden noch höher ausfallen, als er zu hoffen wagte.

Es ärgerte ihn, seinem Bruder etwas schuldig zu sein, doch wenn er an die Jungen auf der Farm dachte, war es das wert.

“Hallo, Hübscher. Ich wusste nicht, dass du in der Stadt bist.” Madeleine Fox stand vor ihm, und ihre langen manikürten Finger umfassten den schwarzen Satinaufschlag seines Smokings. Sie trug ihre Haare derzeit rot, was ihr ziemlich gut stand.

“Ich bin nur fürs Wochenende herübergekommen. Montag muss ich wieder in L.A. sein.”

“Da bleibt immer noch ein Sonntag, oder?”

“Ich arbeite draußen auf der Farm.”

Während der Highschool war er mit Maddie ausgegangen. Sie galt als wildestes Mädchen in der Stadt. Inzwischen war sie gezähmt – weitgehend. Verheiratet mit einem Arzt. Doch immer wenn sie ihn sah, sagte sie Hallo, und die Einladung in ihren stark geschminkten blauen Augen war nicht zu übersehen.

Sie fuhr mit dem Finger sein Revers hinunter. “Falls du dich langweilst, weißt du ja, wie du mich findest.” Sie hatte ihm einen Zettel mit ihrer Handynummer gegeben, als er sie vor ein paar Wochen an der Tankstelle traf.

“Ich werde es mir merken.” Er rang sich ein Lächeln ab und ging weiter. Das konnte er als Letztes gebrauchen, sich mit einer verheirateten Frau einzulassen. Sein Ruf als schwarzes Schaf hing ihm in San Pico sowieso noch an. Am besten verhielt er sich unauffällig, und das hieß, dass er sich abgesehen von Lisa Doyle von den Frauen der Stadt fernhielt.

Elizabeth hatte erst am Dienstag einen Termin für Maria mit Dr. Zumwalt am San Pico Community Hospital vereinbaren können. Dr. Zumwalt war ein sehr sachlicher, ernsthafter Mann, groß gewachsen und mit eisengrauem Haar. Er verstand die Ängste der jungen Frau, wollte aber keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen.

Elizabeth saß mit Maria in seinem Sprechzimmer, einem angenehm eingerichteten Raum, an dessen Wänden mehrere in Gold gerahmte Urkunden hingen.

Zumwalt ergriff den Stift auf seinem Schreibtisch. “Bevor wir weitermachen, Maria, möchte ich ein paar Dinge abklären. Zuerst möchte ich wissen, ob Sie regelmäßig zu Ihrer Frauenärztin gehen.”

“Ich bin alle drei Wochen dort”, sagte Maria.

“Und Ihr Hormonspiegel ist normal, die Blutuntersuchungen zeigen nichts Ungewöhnliches?”

Die schwarzhaarige junge Frau schüttelte den Kopf. “Dr. Albright sagt, dass alles wunderbar läuft.”

“Das ist gut. Dann lassen Sie uns über diese Halluzinationen sprechen, die Sie haben. Sie sagten, Sie hören Stimmen in Ihrem Kopf. Ist das so richtig?”

Maria nickte. “Eigentlich nur eine Stimme, eine sehr leise. Sie ist hoch und dünn, wie die eines Kindes.”

“Ich verstehe.” Er kritzelte etwas auf das Blatt Papier auf seinem Klemmbrett. “Und manchmal, sagen Sie, haben Sie das Gefühl, kaum atmen zu können.”

Sie schluckte. “, das stimmt.”

“Ich denke nicht, dass Sie sich beunruhigen müssen, Maria. Höchstwahrscheinlich ist dies nur eine Angstneurose. In einigen Fällen können die Symptome sehr extrem sein. Auf der anderen Seite sollte man bei der Vorgeschichte Ihrer Mutter kein Risiko eingehen. Wir werden zuerst die Computertomografie machen. Wenn wir das kleinste Anzeichen dafür finden, dass etwas nicht in Ordnung ist, folgt eine Kernspintomografie.”

Zwanzig Minuten später folgte Maria in einem weißen Krankenhausnachthemd, das sie im Rücken zuhielt, einer Krankenschwester, die sie den Flur entlang in einen Raum voller Maschinen führte. Elizabeth wartete draußen, während die technischen Assistenten die Computertomografie durchführten und Maria rieten, sich zu entspannen und die Augen zu schließen während der Prozedur.

Sie tat es natürlich nicht, und während sie auf dem Tisch lag, begannen ihre Hände zu zittern, und bald bebte ihr ganzer Körper. Mit besorgtem Gesicht und einigen beruhigenden Worten holte die Schwester sie aus der Röhre, gab ihr ein leichtes Beruhigungsmittel und wartete auf die Wirkung. Nach einiger Zeit war die Computertomografie endlich fertig, doch die Bilder würden nicht vor nächster Woche ausgewertet sein.

Als Elizabeth in der Halle wartete, bis Maria sich wieder angezogen hatte, kam der Arzt zu ihr.

“Ich glaube, Maria sollte eine Therapie beginnen, solange wir auf die Resultate warten. Wie ich sagte, haben wir es vermutlich mit einer Angstneurose zu tun oder vielleicht einer Form von Paranoia. Vielleicht kann Dr. James ein paar Sitzungen mit ihr abhalten.”

Elizabeth hielt das für eine gute Idee. “Ich werde mit ihm darüber sprechen. Ich bin sicher, dass er gern mit ihr sprechen wird. Sie benachrichtigen uns, sobald die Ergebnisse da sind?”

“Die Schwester wird Sie anrufen.”

“Danke.”

Im gleichen Moment trat Maria zu ihnen, die nun wieder ihre Hose und ihre Umstandsbluse trug. Sie wirkte besorgter als vorher.

“Sie dürfen sich keine Sorgen machen, Maria”, sagte Elizabeth. “Die Untersuchung ist vorbei, und bis wir das Ergebnis haben, sind Sorgen sinnlos.”

Sie seufzte. “Sie haben recht. Ich werde versuchen, nicht darüber nachzudenken, auch wenn mir das schwerfällt.”

“Da ist noch etwas.”

“Und zwar?”

“Dr. Zumwalt meint, dass Sie etwas Beratung brauchen könnten. Es ist möglich, dass Sie unter irgendeiner Art von Stress leiden, die diese Halluzinationen verursacht. Ich werde dafür sorgen, dass Sie mit Dr. James sprechen können. Vielleicht findet er heraus, was mit Ihnen nicht stimmt.”

Maria nickte, doch Elizabeth merkte, dass ihr der Vorschlag nicht sonderlich gefiel. Es war eine Sache zu glauben, dass man einen Gehirntumor hatte, doch etwas ganz anderes, in Erwägung zu ziehen, dass man vielleicht ein psychisches Problem haben könnte.

“Wenn wir fertig sind, würde ich gerne nach Hause fahren”, sagte Maria. “Miguel wird sich fragen, wo ich bin, wenn ich ihn nicht erwarte.”

Als sie sah, wie Marias Nervosität wieder zunahm, fragte sich Elizabeth, ob ihr Problem nicht doch mit ihrem dominanten Ehemann zu tun hatte. Falls ja, konnte ein Gespräch mit ihm vielleicht helfen.

Doch das würde nicht geschehen. Jedenfalls noch nicht. Elizabeth seufzte, als sie die Halle entlang hinaus in den heißen Julisonnenschein gingen.

Kurz vor der Mittagspause kehrte Elizabeth ins Büro zurück, in der Hand eine Papiertüte mit einem kalorienarmen Sandwich und einer Cola light. Sie stellte die Tüte auf ihren Schreibtisch, als das Telefon klingelte.

“Elizabeth? Hier ist Carson. Ich wollte dir für den unterhaltsamen Abend danken.”

“Mir hat er auch gefallen, Carson.”

“Wie wäre es dann, wenn wir das wiederholen? Am Samstag in einer Woche gebe ich eine kleine Dinnerparty. Mit Vertretern des Nominierungskomitees der Republikaner. Sie kommen mit ihren Frauen. Ich dachte, du würdest sie vielleicht gern kennenlernen. Ich weiß, dass sie dich mögen würden.”

Also stimmte es. Er wollte sich um ein Amt bewerben. Elizabeth hatte sich nie für Politik interessiert, wenn man davon absah, dass sie bei den Wahlen den Kandidaten wählte, der ihr für die Aufgabe am besten geeignet schien. Dennoch war es ein schönes Kompliment, zu einem solchen Anlass eingeladen zu werden.

“Das klingt nach einem interessanten Abend. Ich bin allerdings parteilos. Ich hoffe, das macht keinen Unterschied.”

Er lachte. Ein tiefes, sehr männliches Lachen. “Immerhin bist du nicht Demokratin. Ich hole dich um 19 Uhr ab.”

Er beendete das Gespräch, und Elizabeth legte den Hörer auf. Carson war attraktiv und intelligent. Sie hatten sich gut amüsiert bei der Benefizveranstaltung. Doch statt Carsons Bild stieg vor ihrem geistigen Auge das dunkle Gesicht seines Bruders auf.

Zachary Harcourt hatte schon immer gut ausgesehen. Mit vierunddreißig aber war er noch attraktiver als zehn Jahre zuvor. Doch er wirkte nun irgendwie anders, dunkler, markanter. Er war kein Junge mehr, sondern ein Mann. Ein Mann, der wusste, was er wollte. Er hatte im Gefängnis gesessen, das wusste sie.

Sie fragte sich erneut, was er dort draußen bei Teen Vision tat, und schwor sich, Carson beim nächsten Mal danach zu fragen.

Es war Freitag, und Rauls erste Woche bei Teen Vision neigte sich dem Ende zu. Elizabeth wollte sehen, wie es ihm ging, und heute hatte sie endlich die Zeit, um Sams Angebot eines Rundgangs anzunehmen.

Als sie ihren glänzenden, noch fast neuen Acura an einer staubigen Ecke geparkt hatte, stieg sie aus und ging auf den Bürotrakt neben dem Schlafgebäude zu. Sam musste gesehen haben, dass sie kam. Sie hatte vorher angerufen, also hatte er vielleicht Ausschau nach ihr gehalten. Er lächelte breit, als er ihr entgegenkam und sie begrüßte, bevor sie die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte.

“Ich bin so froh, dass Sie kommen konnten.” Er umschloss ihre Hand und drückte sie herzlich.

“Das bin ich auch. Ich hätte schon viel früher hier herauskommen sollen.”

“Sie hatten keinen Grund, das zu tun. Nicht bis Raul kam.” Er führte sie ins Büro und zeigte ihr die Räumlichkeiten. “Wir haben sechs Vollzeitbetreuer. Es sind, egal zu welcher Zeit, immer mindestens zwei Leute vor Ort.”

Er zeigte ihr die Schreibtische der Betreuer und das winzige Badezimmer. Dann führte er sie in den kleinen Konferenzraum mit dem Tisch und den dunkelblau gepolsterten Stühlen – ein Zimmer, in dem die Betreuer sich mit den Jungen zu einem Gespräch zurückziehen konnten. Danach geleitete er sie nach draußen.

“Raul ist draußen auf der Weide. Er kann gut mit Tieren umgehen.”

“Er hat eine sehr sanfte Seite, auch wenn er alles tut, um sie zu verbergen.”

Sam nahm sie mit in das Schlafgebäude, zeigte ihr den Fernsehbereich und eines der Zweibettzimmer oben. “Jeder Junge hat ein bestimmtes Maß an Privatsphäre, doch wir erlauben keine geschlossenen Türen, und mehrmals am Tag gibt es zufällige Zimmerkontrollen.”

Im dritten Gebäude war die Kantine untergebracht. Der große Saal bot Platz für die ganze Gruppe. In der Küche war alles aus Edelstahl und tadellos sauber. Sie sah zwei Jungen darin arbeiten.

“Wir haben einen Vollzeitkoch, doch die Jungs übernehmen den Putzdienst und helfen bei den Vorbereitungen. Wir wechseln die Aufgaben, damit keiner benachteiligt wird oder anfängt sich zu langweilen.”

“Sie machen hier wirklich eine wunderbare Arbeit, Sam.”

Er lächelte geschmeichelt. Sie gingen hinaus, wo die neue Scheune gebaut wurde. Als sie zu der Gruppe Jungen blickte, die gerade an der dritten Wand rumhämmerten, verlangsamten sich ihre Schritte.

“Was macht Zachary Harcourt hier? Ich halte es für keine gute Idee, einen Mann wie ihn in die Gesellschaft leicht beeinflussbarer Teenager zu lassen.” Ihr Blick klebte an seinem nackten Oberkörper, an dem sich jedes Mal die kräftigen, sehnigen Muskeln abzeichneten, wenn er einen weiteren Nagel einschlug.

Sam folgte ihrem Blick und begann zu lachen.

“Was ist daran lustig? Zachary Harcourt hat zwei Jahre wegen fahrlässiger Tötung im Gefängnis gesessen. Er war betrunken und hatte Drogen genommen, und er hat einen Mann getötet. Nach seiner teuren Kleidung zu urteilen, ist er noch immer in illegale Geschäfte verstrickt.”

Sam lächelte noch immer. “Ich schließe daraus, dass Sie Zach nicht allzu sehr mögen.”

Sie dachte an den Tag, an dem er sie vor den Augen der Stammkunden gedemütigt hatte. Wie er sie gegen die Wand gedrängt und versucht hatte, sie zu küssen. Wie seine Hand ihr Bein hochgefahren war und versucht hatte, sich unter den blöden pinkfarbenen Rock ihrer Uniform zu schieben. “Zachary Harcourt war niemals zu etwas gut. Und ich glaube, das hat sich nicht geändert.”

Sams Lächeln erlosch. “Warum gehen wir nicht hinüber in den Schatten? Es gibt da ein paar Dinge über Teen Vision, die Sie wissen sollten.”

Er führte sie in den Schatten eines großen Ahornbaumes mit dickem Stamm, der unweit der Scheune stand. “Den Zachary Harcourt, den Sie vor Jahren kannten, gibt es nicht mehr. Er starb in der Zeit, die er im Gefängnis verbrachte. Als er herauskam, trat ein neuer Mann an seine Stelle. Das ist der Mann, den Sie dort arbeiten sehen.”

Ihr Blick wanderte hinüber. Zachs schlanker Körper glänzte vor Schweiß, was seine Muskeln noch betonte. Er hatte verblüffend breite Schultern, die sich zu einer schmalen Taille verjüngten. Die abgetragenen Jeans saßen hüfttief und bedeckten lange Beine, die zweifellos ebenso sehnig waren wie der Rest seines Körpers. Möglich, dass sie Zachary Harcourt nicht mochte, doch sie musste zugeben, dass er einen unglaublich attraktiven Körper hatte.

“Seit die Farm ihren Betrieb aufnahm, arbeitet Zach hier mindestens zwei Wochenenden im Monat. Er hat sich der Aufgabe verschrieben, Teen Vision aufzubauen. Verstehen Sie? Zachary ist der Mann, der es gegründet hat.”

“Wie bitte?”

“Genau so ist es. Inzwischen leben wir größtenteils von Spendengeldern, doch am Anfang hat Zach einen großen Teil seines eigenen Geldes eingebracht.”

“Aber ich dachte, dass Carson …”

“Zach will das so. Carson ist ein hoch angesehener und wichtiger Mann in San Pico. Mit seiner Unterstützung konnte Teen Vision schneller wachsen, als das ohne seine Hilfe möglich gewesen wäre.”

Sie blickte zurück zu Zach, der sich umgedreht hatte und sie direkt anzuschauen schien. Für einen Moment blieb ihr die Luft weg. Rasch blickte sie fort. “Wie ist Zachary Harcourt zu so viel Geld gekommen?”

“Nicht so, wie Sie denken. Als Zach im Gefängnis war, begann er sich mit Jura zu befassen. Er wird der Erste sein, der zugibt, dass er hoffte, so irgendwie rauszukommen. Doch er entdeckte, dass es ihn faszinierte und er gut darin war, und das gab ihm zu denken. Als er aus dem Gefängnis kam, war er bereit, sein Leben zu verändern. Er ging arbeiten, machte sein Juraexamen und bestand die Zulassungsprüfung. Sein Vater schaffte es mit seinem Einfluss, dass die Vorstrafe außer Acht gelassen wurde. Zach ist heute Partner von Noble, Goldman und Harcourt, einer sehr renommierten Anwaltskanzlei in Westwood.”

Elizabeth überdachte diese neuen Informationen. Sie konnte es kaum glauben. Sie blickte zurück zur Scheune und sah, wie Zach Harcourt mit dem gleichen ausgreifenden Schritt wie beim letzten Mal auf sie zukam. Seine Augen fixierten sie, und wieder blieb ihr fast die Luft weg.

Als Zach vor ihr stand, zeigte sich ein leichtes Lächeln auf seinem schmalen dunklen Gesicht. “Miss Conners. Willkommen bei Teen Vision.”

Sie wollte seinen Blick erwidern, doch ihre Augen wanderten unwillkürlich hinunter zu seiner schweißbedeckten Brust. Sein dichtes schwarzes Brusthaar mündete in einem schmalen Streifen, der sich seinen Bauch hinunterzog und unter der Jeans verschwand. Er war muskulös gebaut, schlank und sehnig. Sie musste sich zwingen, ein plötzliches und unerwünschtes Prickeln ihrer Haut zu ignorieren.

“Tut mir leid”, sagte Zach, der ihrem Blick folgte. “Ich wusste nicht, dass wir Gesellschaft bekommen würden. Ich werde mein Hemd holen.”

Elizabeth sah ihn eindringlich an. “Mach dir keine Umstände. Ich muss sowieso gleich los. Ich kam vorbei, um nach Raul zu sehen.”

Zach wandte sich um und blickte in Richtung der Weide. “Ich hole ihn.”

“Ich gehe”, sagte Sam. “Ich möchte kurz mit Pete sprechen, und die beiden sind zusammen dort.”

“Pete?”, wiederholte sie, an Zach gewandt, als Sam losging.

“Pedro Ortega. Er möchte lieber bei seinem amerikanischen Namen genannt werden. Er und Raul haben eine vorsichtige Freundschaft aufgebaut.”

“Er ist ein guter Junge … Raul, meine ich.”

“Aber sicher. Mit einigen rauen Kanten, aber das haben sie alle, wenn sie hierher kommen.”

“Raul ist anders. Er ist etwas Besonderes.”

Er hob eine seiner dunklen Augenbrauen. “Wenn er dich für sich eingenommen hat, muss er das sein.”

“Was soll das heißen?”

“Das heißt, dass du schon immer klug warst und selbst damals in der Highschool eine bestimmte Art hattest, in den Leuten das zu sehen, was sie wirklich waren. Das weiß ich aus eigener Erfahrung.”

Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. “Das ist schon lange her.”

“Ich schulde dir eine Entschuldigung dafür, wie ich mich an jenem Tag bei Marge's aufgeführt habe. Ich war damals kein besonders netter Kerl.”

“Aber du bist es jetzt?”

Als er lächelte, blitzte das Weiß seiner Zähne in seinem attraktiven Gesicht. “Das denke ich zumindest gern.”

“Mir gefällt, was du hier für diese Jungen tust.”

“Ich war einst einer von ihnen.”

Ihr Blick fiel auf das Tattoo auf seinem rechten Arm, eine eingerollte Schlange mit den rot geschriebenen Worten born to be wild darunter.

“Ich dachte daran, es entfernen zu lassen”, sagte er. “Doch ich ließ es bleiben, um mich selbst daran zu erinnern, wie anders mein Leben hätte ausgehen können.”

Elizabeth betrachtete ihn argwöhnisch. Zach hörte sich überzeugend an, doch Carson schien ihm nicht zu trauen, und sie wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen.

“Da kommt Raul”, sagte sie erleichtert, als sie den Jungen auf sich zukommen sah – breitschultrig und fast so groß wie Sam, doch mit viel mehr Gewicht. “Es war nett, mit dir zu sprechen.”

“Ich schulde dir noch was für jenen Tag im Coffeeshop. Vielleicht kann ich es wiedergutmachen.”

Wohl kaum. “Tut mir leid, ich fürchte, ich bin ausgebucht. Aber danke für das Angebot.”

Zachs Mundwinkel zuckte leicht. “Ich weiß jetzt wieder, was ich an dir mochte, Elizabeth Conners. Du hast keine Scheu zu sagen, wie es ist.”

Elizabeth antwortete nicht. In der Highschool war sie auf der Hut gewesen. Und nach Brian war sie das noch viel mehr. Sie wandte sich Raul zu und ging mit ihm zu einem Picknicktisch im Schatten eines anderen Baumes, wo sie sich hinsetzen und reden konnten.

Sie war froh, den Jungen zu sehen und die Begeisterung in seiner Stimme zu hören. Nur ein einziges Mal schweiften ihre Gedanken von dem Gespräch zu dem dunklen, geheimnisvollen Mann ab, der zu seiner Arbeit an der Scheune zurückgekehrt war.

FÜNF

Das Ergebnis von Marias Computertomografie war am Montag da. Ein Anruf aus der Praxis von Dr. Zumwalt brachte die Neuigkeit, dass es keinerlei Anzeichen für eine Läsion, eine Blutung, einen Tumor oder eine andere Abnormität gab. Man könne natürlich einige weitere Untersuchungen vornehmen, doch der Doktor sei der festen Überzeugung, dass das Problem im mentalen und nicht im körperlichen Bereich liege.

“Dann werden Sie Mrs. Santiago diesen Befund mitteilen?”, fragte Elizabeth die Arzthelferin. Ein Vorteil ihres Jobs war der direkte Draht zu den Ärzten. Sie hatte sich nach Marias Untersuchungsergebnissen erkundigt, um im Ernstfall bei ihr sein zu können.

“Ich werde sie gleich anrufen.” Die Frau legte auf, und Elizabeth atmete erleichtert auf. Das Gefühl währte nur kurz. Was auch immer mit Maria nicht stimmte, war noch immer da. Zumindest schien es psychische und nicht physische Ursachen zu haben. Sie hoffte, dass Dr. James ihr würde helfen können.

Sobald Michaels Patient das Büro verlassen hatte, ging Elizabeth zu ihm hinein. “Kein Gehirntumor”, sagte sie nur, denn sie hatte ihn auf dem Laufenden gehalten und sich für den Fall des Falles seine Hilfe zusichern lassen.

“Ich habe eine Terminabsage heute Nachmittag. Frag sie, ob sie gegen drei Uhr vorbeikommen kann.”

“Danke, Michael.”

Er fuhr sich mit der Hand durch das sandfarbene Haar. “Ich mag die Santiagos. Sie sind hart arbeitende und wirklich gute Menschen. Ich weiß, dass es nicht leicht für sie war.”

Weder für Maria, die mit fünfzehn geheiratet hatte, noch für Raul, der jahrelang immer wieder in Schwierigkeiten gesteckt hatte. “Nein, das war es nicht. Ich frage, ob ihr der Termin passt.”

Am Nachmittag traf Maria pünktlich mit dem verbeulten blauen Pick-up ihres Mannes ein. Elizabeth ging in den Empfangsraum, um sie zu begrüßen, und sie nahmen auf dem dunkelbraunen Ledersofa Platz. Der Raum war klein, aber gemütlich eingerichtet mit dem zum Sofa passenden Polstersessel, einem Kaffeetisch aus Eiche und einer funkelnden Messinglampe. Auf dem Tisch lag ein Stapel Magazine: Redbook, Better Homes and Gardens und ein paar zerlesene Ausgaben von Family Circle.

“Wie geht es Ihnen?”, fragte Elizabeth Maria, die schützend ihre Hand über den Bauch hielt.

“Sehr gut. Ein bisschen müde, das ist alles.” Sie sah hübsch aus heute in ihrer pinkfarbenen Hose und einer gestreiften Umstandsbluse. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden.

“Haben Sie besser geschlafen?”

Maria seufzte. “Wenn Sie wissen wollen, ob ich wieder Stimmen gehört habe, nein, das habe ich nicht. Außerdem war Miguel vor der Schlafenszeit abends immer zu Hause.”

“Dann haben Sie wenigstens schlafen können. Warten wir ab, was Dr. James zu der ganzen Sache sagt.”

Maria erhob sich. “Gehen Sie … gehen Sie mit mir hinein?”

“Ich denke, dass er lieber mit Ihnen allein sprechen möchte.”

“Bitte!”

Als Elizabeth aufsah, sah sie Michael James im Türrahmen stehen.

“Das ist okay, Maria. Wenn Miss Conners Zeit hat, kann sie sich gern eine Zeit lang dazusetzen.”

Maria warf Elizabeth einen hoffnungsvollen Blick zu. Die nickte, und zu dritt betraten sie Michaels Büro. Maria setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, und Michael nahm auf der anderen Seite auf seinem Ledersessel Platz. Er setzte eine Schildpattbrille auf und überflog die Akte auf seinem Schreibtisch.

Als er fertig war, nahm er die Brille wieder ab und legte sie nieder. “Miss Conners hat mir ein wenig von Ihren Erlebnissen erzählt, Maria. Ich bin sicher, dass sie sehr irritierend waren.”

Maria blickte zu Elizabeth, und der Doktor begriff, dass sie das Wort nicht verstand.

“Ich bin sicher, dass es Sie sehr durcheinandergebracht haben muss”, verbesserte er sich. “Solche Erlebnisse sind zwangsläufig sehr schwierig.”

Maria nickte. “Sí. Ich hatte große Angst.” Sie presste die Hände im Schoß zusammen.

“Bevor wir eingehender darüber sprechen, möchte ich mit einigen einfachen Dingen beginnen. Ich habe hier zwei kurze Tests, denen ich Sie unterziehen möchte. Beantworten Sie jede Frage einfach nur mit Ja oder Nein, dann wissen wir, wo wir stehen.”

Sie nickte und schien Haltung anzunehmen. Dr. James setzte die Brille wieder auf und las in der nächsten Viertelstunde Fragen von einem Blatt Papier ab, Fragen nach den Symptomen einer Depression.

“Okay, Maria, es geht los. Haben Sie sich in den letzten Wochen besonders viel Sorgen über die Arbeit, Ihre Familie oder Geld gemacht?”

Maria schüttelte den Kopf. “Nein. Miguel kommt in seinem Job gut voran, und Raul macht sich ebenfalls sehr gut.”

“Haben Sie das Interesse an Dingen verloren, die Sie sonst gern gemacht haben?”

“Nein. Ich bin zu Hause sehr beschäftigt, um alles für das Baby vorzubereiten.”

“Haben Sie ein Gefühl von Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit?”

“Nein.”

“Haben Sie das Interesse an Sex verloren?”

Leichte Röte färbte ihre Wangen. “Miguel ist ein sehr starker Mann, doch jetzt, da das Baby kommt …” Sie blickte fort. “Dennoch begehre ich ihn.”

Elizabeth unterdrückte ein Lächeln, und Michael blickte wieder auf das Papier vor sich. “Weinen Sie oft?”

“In letzter Zeit ein wenig, aber nur, weil ich Angst habe.”

Michael machte sich eine Notiz. “Sind Sie leicht zu verärgern und unduldsam mit anderen Menschen?”

“Nein, ich denke nicht.”

“Denken Sie viel über den Tod oder das Sterben nach?”

Maria schüttelte den Kopf. “Meistens denke ich an mein Baby. Der Arzt sagt, dass es ein Junge wird.”

Mit einem Seitenblick zu Elizabeth legte Dr. James den Fragenbogen beiseite und griff nach einem anderen Papier. “Dies ist ein Test zur Feststellung einer Angstneurose. Beantworten Sie einfach nur wieder jede Frage.”

Maria nickte und setzte sich ein wenig aufrechter hin.

“Haben Sie manchmal den Eindruck, dass die Dinge um sie herum fremd, irreal, diffus und irgendwie von Ihnen losgelöst sind?”

“Sí … nachts … wenn ich allein bin.”

“Haben Sie das Gefühl, dass Sie sterben oder dass etwas Schreckliches geschehen wird?”

“Sí, und das macht mir Angst.”

“Haben Sie Schwierigkeiten beim Atmen? Oder das Gefühl, dass Sie ersticken?”

“Das habe ich schon erlebt … ja.”

Er machte sich wieder Notizen. “Leiden Sie unter Brustschmerzen, Benommenheit oder Schwindelanfällen, bei denen Sie zittern?”

“Sí, aber nur wenn die Angst kommt.”

“Hatten Sie schon das Gefühl, dass Ihre Beine weich wie Gummi werden und ihren Dienst versagen?”

“Es war etwas anders. Das letzte Mal, als die Stimmen kamen, konnte ich meine Beine nicht bewegen. Ich konnte mich im Bett nicht bewegen, konnte nicht aufstehen.”

Dr. James runzelte die Stirn. “Haben Sie Herzrasen gehabt oder das Gefühl, dass Ihr Herz ein, zwei Schläge aussetzt?”

“Oh, sí. Mein Herz schlägt dann so schnell, dass es mir förmlich aus der Brust springt.”

Der Doktor legte das Papier beiseite und nahm seine Brille ab. “Nach Ihren Antworten zu urteilen, Mrs. Santiago, zeigen Sie die klassischen Symptome einer Angstneurose. Was Sie fühlen, geschieht nicht wirklich. Doch Stress lässt es so erscheinen.”

“Dann sind die Stimmen nicht real?”

“Nein. Doch Sie müssen sich keine Sorgen machen. Wenn wir die Ursache Ihrer Angst entdeckt haben, werden die Stimmen verschwinden.”

Dr. James sah zu Elizabeth, die das Stichwort aufgriff und sich erhob. “Dr. James wird Ihnen helfen, Maria. Sie müssen nur mit ihm sprechen und ihm von Ihren Ängsten erzählen. Seien Sie aufrichtig mit sich und Ihrer Vergangenheit.” Elizabeth drückte ermutigend die Schulter der jungen Frau. “Wenn Sie das tun, wird es nicht lange dauern, bis Sie sich besser fühlen.”

Elizabeth verließ das Zimmer und schloss die Tür sachte hinter sich. Es sah so aus, als ob Maria eindeutig an einer Angstneurose litt. Michael James war gut. Bald würde er die Ursache dafür entdecken. Wenn das Problem erst einmal offenlag, würden die Symptome vermutlich verschwinden.

Erleichtert kehrt Elizabeth in ihr Büro zurück. Dennoch fragte sie sich, was die Angstattacken der jungen Frau ausgelöst haben mochte.

Vielleicht ihre Heirat. Miguel Santiago war neunundzwanzig, zehn Jahre älter als seine Frau.

Er war nicht beleidigend, nur dominant, was Maria bis jetzt nichts auszumachen schien. Sie war in dem Glauben erzogen worden, dass der Ehemann Herr im Haus sei, und dies Verständnis schien die Grundlage für ihre erfolgreiche Ehe zu sein.

Nach dem, was Elizabeth in Michaels Büro gehört hatte, hatte sie nun ihre ersten Zweifel.

“Was soll ich anziehen?” Die Woche war vorüber. Es war Samstagnachmittag und heiß, wie so oft in San Pico. Die Sonne knallte durch das Schlafzimmerfenster in Elizabeths Apartment in der Cherry Street.

“Das schwarze Cocktailkleid”, sagte Gwen Petersen und ließ sich auf die Bettkante vor dem Spiegelschrank plumpsen. “Eindeutig.” Das Zimmer war schlicht eingerichtet, mit einem preiswerten Doppelbett, das Elizabeth direkt nach dem College gekauft hatte. Die Wände waren fast nackt.

Elizabeth hatte niemals vorgehabt, nach San Pico zurückzukehren, und in den zwei Jahren, seit denen sie wieder hier war, hatte sie wenig unternommen, um es sich im Apartment gemütlich zu machen.

“Carsons Haus ist sehr elegant”, fuhr Gwen fort, “und er wird für das Dinner einen Catering-Service beauftragen. Ich habe bei einer solchen Gelegenheit vor gar nicht allzu langer Zeit mal bei ihm gearbeitet. Du solltest auf jeden Fall etwas Hübsches anziehen.”

Gwen musterte die Kleider, die auf dem Bett ausgebreitet waren: ein rotes Chiffonkleid mit weit schwingendem Rockteil, ein hellblaues Etuikleid mit züchtigem Ausschnitt und kurzen Ärmeln sowie ein schlichtes schwarzes Etuikleid. “Das Schwarze ist perfekt, klassisch und gleichzeitig sexy.”

“So ähnlich dachte ich auch. Ich habe mich darin immer gut gefühlt. Normalerweise trage ich die Perlen meiner Mutter dazu.”

“Perfekt.” Gwen erhob sich, nahm den Bügel mit dem schwarzen Kleid und hielt es Elizabeth an. “Gut, dass du noch immer in die Kleider passt, die du aus L.A. mitgebracht hast. In San Pico findest du so etwas mit Sicherheit nicht.”

Das knapp knielange Etuikleid war aus schwarzem Seidenkrepp und hatte einen tiefen Rückenausschnitt.

“Vermutlich nicht. Aber wie oft braucht man hier schon Kleider wie diese?”

“Wenn du ernsthaft beginnst, dich mit Carson Harcourt zu verabreden, dann wirst du alles brauchen, was du hast. Und noch viel mehr.”

“Ich habe kein ernsthaftes Date mit Carson. Ich kenne den Mann ja kaum.”

“Es wäre aber nett, oder? Wenn ihr zwei zusammenkämt? Carson hat eine Menge Geld und genießt hohes Ansehen in der Gemeinde. Allgemein hält man ihn für einen guten Fang.”

“Ich will aber weder Carson fangen noch irgendeinen anderen Mann. Ich hatte bereits einen Mann, und der eine war mehr als genug.”

Gwen hielt sich das Kleid an und betrachtete sich im Spiegel. Es war ihr ein bisschen zu lang, doch das Schwarz ließ ihren hellen Teint und das kurze rote Haar leuchten. “Nicht alle Männer sind wie dein Ex, weißt du. Jim ist ein großartiger Ehemann.”

“Ja, das ist er. Jim ist einer unter tausend. Unglücklicherweise habe ich keine Zeit, weitere neuntausendneunhundertneunundneunzig Männer abzuarbeiten, um einen wie ihn zu finden.”

Gwen lachte. “So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Es gibt eine Menge netter Männer da draußen.”

“Mag sein.” Elizabeth griff nach einem Schuhkarton mit schwarzen High Heels. “Ich hatte einfach nicht das Glück, sie zu erwischen. Außerdem braucht nicht jede Frau einen Mann, um glücklich zu sein. Ich habe meine Karriere. Ich habe Freunde wie dich und Jim. Ich habe ein sehr brauchbares Leben, und so möchte ich es auch beibehalten.”

“Was ist mit Kindern? Ein Baby ist ein sehr guter Grund, um sich einen Mann zu suchen. Außer du bist eine von diesen modernen Frauen, die schwanger werden und das Kind allein aufziehen wollen.”

“So modern bin ich nun auch wieder nicht, glaub mir.”

Als sie ihre College-Liebe Brian Logan geheiratet hatte, hatte sie sich sehnlichst Kinder gewünscht. Doch Brian sagte immer, es sei zu früh. Sie müssten erst ihre Karriere vorantreiben. Sie hätten nicht genug Geld. Er wäre noch nicht bereit, Vater zu werden.

Schließlich hatten sie sich scheiden lassen, bevor sie überhaupt hatte schwanger werden können. Und nun, mit dreißig, tickte ihre biologische Uhr ziemlich laut. Sie hatte ihren Mädchennamen wieder angenommen und hasste den Gedanken, jemals wieder unter der Fuchtel eines Mannes zu stehen. Insofern war die Chance groß, dass sie niemals ein Baby haben würde.

“Ich hätte gern Kinder”, sagte Elizabeth, “aber nicht, bevor ich einem Mann über den Weg laufe, der sich zur Langstrecke bekennt. Keine weitere Scheidung. Nicht mit mir. Und wir beide wissen, dass solche Männer rar gesät sind. Es ist das Risiko einfach nicht wert.”

Gwen widersprach ihr nicht. Sie kannte Elizabeths Standpunkt, und keine noch so lange Diskussion konnte ihn ändern.

“Du, ich muss mich beeilen.” Gwen griff nach ihrer Handtasche. “Ruf mich morgen an und lass mich wissen, wie es gelaufen ist.” Sie grinste. “Ich habe noch immer Hoffnung für dich, Liz, ob dir das passt oder nicht.”

Elizabeth lachte. “Ich rufe dich an. Versprochen. Aber mach dir nicht zu große Hoffnungen. Es ist nur ein Date, mehr nicht.”

“Genau das ist es. Bis dahin.” Gwen verließ das Zimmer, und kurz darauf hörte Elizabeth, wie die Wohnungstür geschlossen wurde. Die beiden Frauen kannten sich seit der Highschool. Seit Elizabeths Rückkehr nach San Pico war ihre Freundschaft noch enger geworden.

Das war das Einzige, was ihr an der hässlichen kleinen Stadt gefiel: die netten Menschen. Gwen Petersen war einer davon. Ein Bild von Carson Harcourt, groß, blond und gut aussehend, stieg vor ihrem inneren Auge auf. Carson schien ebenfalls nett zu sein. Sie war nicht ganz immun gegen den Gedanken, einen Mann in ihrem Leben zu haben. Der heutige Abend könnte interessant werden.

SECHS

Elizabeth durchquerte das Wohnzimmer, um die Tür zu öffnen. Carson stand auf der kleinen Veranda und wirkte zwanglos elegant in seiner braunen Sommerhose und dem hellblauen Hemd. Das dunkelblaue Sakko trug er über dem Arm.

“Fertig?”

“Lass mich noch meine Tasche holen.” Sie griff nach dem schwarzen Stofftäschchen, das zu ihren High Heels passte, und schloss die Wohnungstür hinter sich ab. Carson führte sie zu seinem silberfarbenen Mercedes.

“Du siehst übrigens hinreißend aus”, sagte er, als er ihr die Wagentür aufhielt. “Tolles Kleid.”

“Ich wusste nicht genau, was ich anziehen soll. Glücklicherweise habe ich aus meiner Zeit in L.A. eine recht nette Garderobe. Mein Exmann war ambitionierter Börsenmakler, der wollte, dass seine Frau den richtigen Eindruck hinterlässt.”

“Die meisten Frauen von hier fahren nach L.A. zum Einkaufen.”

Die meisten Frauen von Männern mit Geld. Elizabeth lag nichts mehr an der Rolle, die sie als Brians Frau gespielt hatte, doch zugegebenermaßen war sie froh, die passende Kleidung für heute Abend zu haben.

Die Fahrt hinaus zur Farm dauerte nicht lang. Carson parkte den Wagen in einer makellosen riesigen Garage, führte sie aber zum Haupteingang, um hineinzugehen. Das große weiße Haus mit seiner großen Frontveranda wirkte vom Highway aus eindrucksvoll und sehr gepflegt. Nun sah sie, dass das Innere kürzlich renoviert worden war: ein neuer Anstrich, neue Vorhänge, neue Möbel in einer angenehmen Mischung aus gepolsterten Sofas und viktorianischen Antiquitäten. Das Eichenparkett verströmte einen Hauch von Eleganz und Charme. Die Stuckdecken waren hoch, und in der Eingangshalle hing ein antiker Kronleuchter.

Die Inneneinrichtung hatte ein Profi übernommen, da war sie sich sicher. Vermutlich ein Designer aus L.A.

“Es ist wunderschön, Carson. Wie aus Better Homes and Gardenss, nur einladender.”

“Danke. Ich wollte einen Ort schaffen, der gut aussieht, aber die Leute nicht abschreckt.”

Er führte sie in eines der zwei vorderen Wohnzimmer, wo eine Bar aufgebaut war. Ein junger Mann in schwarzer Hose und gestärktem weißen Hemd schenkte ihr ein Glas Schramsberg ein, ein ziemlich teurer kalifornischer Champagner aus dem Napa Valley.

Sie unterhielten sich, während Carson sie durchs Erdgeschoss führte. Er zeigte ihr auch die modernisierte Küche, in der das Catering-Personal hektisch arbeitete, und sein holzgetäfeltes Arbeitszimmer. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrten, hielt bereits eine schwarze Stretchlimousine vor dem Haus.

“Sieht so aus, als ob sie da sind. Drei der Paare sind mit einer zweimotorigen Queen Aire gekommen. Ich habe eine Limousine geliehen, um sie herzubringen. Eine weitere bringt die Castenados von L.A. hierher.”

“Ich gehe davon aus, dass du hier auf der Ranch eine Landebahn hast.”

Er nickte. “Sie ist nicht groß genug für einen Privatjet, doch für die meisten Kleinflugzeuge reicht sie völlig aus.”

“Fliegst du selbst?”

“Ich wollte Stunden nehmen, doch ich habe einfach keine Zeit.”

Sie gingen in die Eingangshalle, wo Carson die verglaste Haustür öffnete, um seine Gäste willkommen zu heißen. Das vierte Paar erschien nur wenige Minuten nach den ersten drei. Das Alter der Gruppe lag zwischen fünfunddreißig und sechzig. Alle machten sich miteinander bekannt, dann führte Carson die Gäste an die Bar, wo Drinks serviert wurden.

Elizabeth war froh, dass sie das schwarze Kleid gewählt hatte. Die anderen vier Frauen trugen ähnlich teure Garderobe. Zwei hatten paillettenbesetzte Hosenanzüge an, eine ein knielanges elfenbeinfarbenes Cocktailkleid, und die andere trug ein schlichtes schwarzes Etuikleid, das dem von Elizabeth ähnelte.

Sie unterhielten sich eine Weile, bis Carson Elizabeth eine Hand auf die Schulter legte. “Falls es den Ladies nichts ausmacht – es gibt da ein paar geschäftliche Dinge, die vor dem Essen zu besprechen sind. Es wird nicht allzu lange dauern.”

Er wartete ihre Zustimmung nicht ab, sondern drehte sich um und ging in Richtung Arbeitszimmer. Die vier Männer folgten ihm.

Elizabeth wandte sich den Damen zu und übernahm die Rolle der Gastgeberin. “Sind Sie zum ersten Mal in San Pico?”

“Keine von uns war bislang hier”, sagte die Frau im Cocktailkleid, Maryann Hobson, Ehefrau eines Baulöwen in Orange County. “Obwohl wir Carson natürlich schon seit einiger Zeit kennen.”

“Sein Haus ist sehr schön”, sagte eine der anderen Frauen, Mildred Castenado, eine große Frau mit spanischem Einschlag und von klassischer Schönheit. Ihre dunklen Augen schienen jedes Detail förmlich aufzusaugen.

“Ja, das ist es eindeutig”, stimmte Rebecca Meyers zu. Ihr Mann war Vorstand eines großen Pharmaunternehmens, und Becky, wie sie gern genannt werden wollte, schien eine intelligente Frau zu sein. “Mir gefällt vor allem, wie sie den Stuck herausgearbeitet haben.” Die Wände waren cremefarben gestrichen, die Stuckornamente dagegen ganz in Weiß gehalten.

“Kennen Sie Carson schon lange?”, fragte die vierte Frau, die silbergraues Haar, dünne Lippen und tiefe Linien um den Mund hatte. Betty Simino war die Älteste des Quartetts.

“Wir kennen uns seit einigen Jahren”, sagte Elizabeth, die den abschätzigen Blick aus Bettys blassblauen Augen nicht mochte. “Dies ist aber das erste Mal, dass ich in seinem Haus bin. Ich stimme Mildred zu. Es ist sehr hübsch.”

“Carson hat den Designer engagiert, den ich ihm empfohlen habe”, sagte Mildred stolz. “Anthony Bass. Ich finde, dass er seinen Job großartig gemacht hat.”

“Ja, das hat er.”

Die Konversation plätscherte weiter so dahin, leicht und meistens angenehm – abgesehen von einer Anspielung Mrs. Siminos auf die Beziehung zwischen Elizabeth und Carson, die gar nicht existierte.

Elizabeth ertappte sich dabei, wie sie auf die Tür des Arbeitszimmers starrte und sich fragte, wann Carson zurückkehren würde; und innerlich betete, dass es nicht mehr lange dauerte.

Carson musterte die Männer, die in den bequemen Ledermöbeln in seinem Arbeitszimmer Platz genommen hatten.

Walter Simino, stellvertretender Vorsitzender der republikanischen Partei in Kalifornien, stellte sein Whiskyglas auf dem Tisch vor dem Sofa ab.

“Sie wissen, warum wir hier sind, Carson. Die Frauen warten auf uns und das Essen ebenso. Ich sehe keinen Grund, um den heißen Brei herumzureden. Wir sind aus einem Grund hierher gekommen – um Sie zu überzeugen, bei den Parlamentswahlen zu kandidieren.”

Sie hatten die Möglichkeit ausführlich diskutiert, und er hatte lange über die Angelegenheit nachgedacht.

Carson beugte sich nach vorn und sah jeden der Männer eindringlich an. “Ich fühle mich sehr geschmeichelt. Das wissen Sie alle. Doch in die Politik zu gehen ist kein Schritt, den man auf die leichte Schulter nehmen darf. Man muss sich auf Jahre verpflichten, hat viele Kämpfe zu bestehen und jede Menge Arbeit vor sich.”

“Das ist richtig.” Das kam von Ted Meyers, dem Vorstandsvorsitzenden von McMillan Pharmaceutical Labs, einem großen Mann, dessen braunes Haar sich bereits lichtete. “Doch das, woran wir denken, wäre die harte Arbeit wert und würde vielleicht nicht so lange brauchen, wie Sie denken.”

“Wir sprechen über mehr als nur das Repräsentantenhaus, Carson.” Walter blickte ihn direkt an. “Ein Mann wie Sie, mit Ihrer Reputation, könnte den Sitz im Repräsentantenhaus gewinnen und bei der nächsten Wahl für den kalifornischen Senat kandidieren. Und von dort aus könnten Sie mit den richtigen Leuten im Hintergrund für den Kongress kandidieren. Sie haben das richtige Alter, Harcourt, Sie sind erst sechsunddreißig. Sie haben das richtige Aussehen und außerdem Charisma. Ihre Vergangenheit scheint blütenweiß zu sein, und Sie haben die Art von Verbindungen, die einen Mann ganz nach oben bringen kann.”

Daran hatte er auch schon gedacht. Seine Verbindungen reichten bis zu seiner Bruderschaft an der Universität zurück. Mit der richtigen Taktik und den richtigen Leuten hinter sich … Ein Bild des Weißen Hauses stieg in ihm auf, das er rasch beiseiteschob. Es war viel zu früh, um an so etwas zu denken. Doch genau wie Walter gesagt hatte, es gab keine Grenze für seine Karrieremöglichkeiten.

“Da ist nur eine Sache.” Paul Castenado wirkte etwas unbehaglich, und Carson wusste genau, wovon er sprach – von seiner Nemesis, die ihn seit seiner Kinderzeit verfolgte.

“Mein Bruder.”

“Richtig. Wir brauchen Zachary im Team. Es ist kein Geheimnis, dass zwischen Ihnen böses Blut herrscht. Es würde keinen guten Eindruck machen, wenn Ihr Bruder sich Ihrer Kandidatur entgegenstellen würde.”

Carson bemühte sich, gleichmütig zu klingen. “Ich kann nicht dafür garantieren, was Zach tun wird. Er ist unberechenbar. Das war er schon immer.”

“Mag sein”, sagte Walter. “Andererseits können wir ihn vielleicht mit der richtigen Motivation von unserem Standpunkt überzeugen. Aus diesem Grund bat ich Sie, ihn heute einzuladen.”

Und erstaunlicherweise hatte Zach angenommen. Carson gefiel das nicht. Kein bisschen. Doch die Männer hatten recht. Es machte sich nicht gut, wenn ein Familienmitglied eines Kandidaten dessen Wahlkampf nicht unterstützte. Auch wenn er und Zach nur Halbbrüder waren.

Während die anderen warteten, verschwand Ted Meyers kurz und kehrte wenige Minuten später mit Zach ins Arbeitszimmer zurück.

Walter deutete auf einen leeren Sessel, doch Zach wählte einen Stuhl, der sich näher an der Tür befand.

“Wie gewünscht bin ich hier”, sagte Zach. “Was kann ich für Sie tun, Gentlemen?” In der tiefen Stimme seines Bruders lag der leicht spöttische Unterton, den Carson schon immer verabscheut hatte.

“Danke, dass Sie gekommen sind, Zach.” Charles Hobson lächelte erfreut. Hobson war ein einflussreicher Baulöwe in Orange County und ziemlich gut bekannt mit Carsons Bruder. Durch seine Rechtsanwaltspraxis kannte Zach viele wichtige Leute in Südkalifornien. “Lassen Sie mich Ihnen die Herren hier vorstellen, dann sprechen wir über unser Anliegen.”

Ihr Anliegen, das erfuhr Zach wenige Minuten später, bestand darin, seine Unterstützung für seinen Bruder zu gewinnen, was für ihn später von Vorteil sein sollte. Ein Deal, bei dem eine Hand die andere wusch. Zach sollte die Kandidatur seines Bruders für das Parlament befürworten, und Carson würde seinen Einfluss geltend machen, um Zach zu einem Richteramt in L.A. County zu verhelfen. Sein Gehalt würde zwar nicht annähernd so hoch sein wie jetzt, doch die damit verbundene Macht wäre viel mehr wert.

Zumindest fanden das Walter Simino und der Rest des Komitees. Denn Tatsache war, dass er mit einem Richteramt viel Gutes tun konnte.

“Wenn Carson erst einmal gewählt ist”, sagte Simino, “wird er viel Einfluss haben. Und wenn Ihr Bruder nach der Amtszeit wieder antritt oder vielleicht sogar einen Sitz im Senat gewinnt, wird seine Macht noch größer. Er könnte Ihnen von enormer Hilfe sein, Zach. Wer weiß, vielleicht kommt irgendwann sogar ein Platz beim obersten Gerichtshof von Kalifornien für Sie infrage.”

Sie warfen einen mächtigen Köder aus. Nicht dass er wirklich an solche Zukunftsszenarien geglaubt hätte. Im weiteren Gespräch blieb Zach die meiste Zeit still. Während er zuhörte, dachte er über die politischen Ambitionen seines Bruders nach. Er hatte Gerüchte gehört und Carson nie darauf angesprochen. Nun da er hörte, dass die Gerüchte stimmten, überraschte ihn das irgendwie nicht.

Sogar hier im Raum stellte Carson das falsche Lächeln eines Politikers zur Schau.

Als sich eine Gesprächspause ergab, erhob sich Zach. “Ich habe genug gehört. Um ehrlich zu sein, weder Carson noch Sie können mir etwas anbieten, was auch nur von leisestem Interesse für mich wäre. Auch nicht der Gedanke an einen Sitz im Obersten Gerichtshof. Was seine Kandidatur angeht, kann ich meine Unterstützung nicht versprechen.”

Sein Bruder presste die Kiefer aufeinander.

“Auf der anderen Seite werde ich auch nichts tun, was ihm schadet. Und ich werde mich an nichts beteiligen, was als Opposition gegen seine Kandidatur aufgefasst werden könnte, und ich werde auch niemand anderen darin unterstützen. Das ist alles, was ich tun kann. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, Gentlemen.”

Er wandte sich zur Tür.

“Was ist mit dem Abendessen?”, fragte Carson. Er schien verdutzt, weil sein Bruder ging.

“Nein, danke. Aber es ist verdammt heiß draußen. Falls es Ihnen nichts ausmacht, werde ich noch einen Drink nehmen, bevor ich gehe.” Er verließ den Raum und ging zurück ins Wohnzimmer. Als er ins Haus gekommen war, hatte er Liz Conners an der Bar erspäht, die sich mit den Ehefrauen der Männer unterhielt.

Neugier führte ihn nun in ihre Richtung. Neugier, sagte er sich, und nicht mehr.

Ohne die Frauen zu beachten, ging er direkt an die Bar. “Eine Cola light mit Zitrone”, bestellte er bei dem jungen Mann.

“Kommt sofort.” Der Barmann schenkte das Glas ein und stellte es vor ihm auf den Tresen. Zach nahm einen Schluck und betrachtete Liz Conners. Da es gerade eine Gesprächspause gab, trennte sich Liz von der Gruppe. Er schlenderte zu ihr.

“Zachary Harcourt … ich muss sagen, ich bin ein bisschen überrascht, dich hier zu sehen.”

“Warum? Findest du nicht, dass ich der politische Typ bin?”

“Eigentlich nicht.”

“Da hast du recht. Tatsächlich gehe ich gleich wieder. Ich wollte nur kurz Hallo sagen, bevor ich verschwinde.”

Sie musterte ihn, als ob sie versuchte, seine Gedanken zu erraten. Eine dunkelbraune Augenbraue zuckte nach oben, als sie den Drink in seiner Hand bemerkte.

“Cola light”, erklärte er. “Ab und zu trinke ich Alkohol, aber nicht, wenn ich fahre. Ich war niemals süchtig oder alkoholabhängig. Ich war einfach nur dumm.”

“Dann bist du also wirklich geläutert.”

“Größtenteils. Ich hoffe allerdings, ich werde nie so ein Langweiler wie mein Bruder.”

Sie verzog kurz den Mund. Sie hatte einen hübschen Mund, dachte er. Volle, sanft geschwungene Lippen mit hübschem rosa Lippenstift.

“Ihr haltet nicht viel voneinander, nicht wahr?” Sie sah großartig aus, noch stilvoller als bei der Benefizveranstaltung. Er fragte sich, wie eine Familienberaterin sich so teure Kleidung leisten konnte. Aber vielleicht hatte sein Bruder sie ja gekauft.

“Ich versuche, überhaupt nicht an Carson zu denken. Wo wir aber schon dabei sind: Habt ihr zwei was miteinander?”

Sie nippte an ihrem Champagner. “Du meinst, ob wir uns verabreden?”

“Ich meine, ob du mit ihm zusammen bist. Schlaft ihr miteinander?”

Liz versteifte sich, wie er es erwartet hatte. Er wusste, dass er sie auf die Probe stellte. Doch aus irgendeinem Grund wollte er die Antwort wirklich hören.

“Weißt du, Zach, ich denke, du hast dich doch nicht so stark verändert, wie du glaubst.”

In mancher Hinsicht hatte sie vermutlich recht. “Vielleicht nicht.” Er nahm einen weiteren Schluck Cola. “Dann willst du es mir nicht sagen?”

“Meine Beziehung zu deinem Bruder geht dich nichts an.”

Er blickte zur Seite und versuchte, das Bild von Liz Conners in Carsons Bett aus dem Kopf zu bekommen.

“Wir sind Freunde”, gab sie schließlich nach. “Wir kennen uns kaum.”

Zach lächelte unwillkürlich. “Ach nein.”

“Okay, Zach. Ich weiß, dass ihr euch nicht gut versteht. Dich mit mir zu beschäftigen ist vielleicht deine Art, ihn zu provozieren, aber …”

“Mein Interesse an dir hat nichts mit Carson zu tun”, sagte er und war selbst überrascht, dass dies der Wahrheit entsprach. “Ich … ich weiß nicht. Ich dachte immer, dass du irgendwie anders wärst. Ich schätze, ich wollte wissen, ob das immer noch so ist.”

“Und? Ist es noch so?”

Aus dem Augenwinkel sah er, wie sein Bruder und die anderen Männer aus dem Arbeitszimmer kamen. “Ich weiß es nicht.” Er nahm einen letzten Schluck und setzte das Glas auf dem Tresen ab. “Das Abendessen wird dir schmecken. Carson engagiert für solche Anlässe die besten Köche von L.A.”

Er drehte sich um und ging in Richtung Tür. Für einen Augenblick glaubte er, dass Liz Conners hinter ihm herblickte. Doch das bildete er sich vermutlich nur ein.

Elizabeth wandte den Blick von Zach Harcourts großer, schlanker Figur ab, als er den Raum verließ. Noch immer fühlte sie ein leichtes Prickeln. Er hatte eine spezielle Art, ihr auf die Nerven zu gehen und sie herauszufordern, doch gleichzeitig sah er sie an, als ob er sie unglaublich attraktiv fände. Das ärgerte sie. Und machte sie neugierig.

Zach Harcourt mochte keine Probleme mehr mit Drogen oder Alkohol haben, doch er war ebenso lästig und anmaßend, wie er es früher gewesen war.

Dennoch konnte sie seine Attraktivität nicht leugnen. Er hatte etwas an sich, etwas Dunkles, Geheimnisvolles, das eine sexuelle Wirkung auf sie hatte. Frauen schienen die bösen Jungs immer zu mögen. Offensichtlich hatte sie die gleichen Instinkte.

Carson tauchte neben ihr auf, und ihr Blick wanderte zu ihm. Er musste bemerkt haben, wo sie hingeschaut hatte, denn sein Mund wirkte ein wenig verkniffen.

“Ich hoffe, mein Bruder hat dich nicht belästigt. Er kann manchmal ziemlich unausstehlich sein.”

Sie dachte an jenen lang zurückliegenden Tag vor Marge's. “Ich dachte, er ist ein anderer geworden.”

“Zach ist Anwalt. Was soll ich sagen?”

Sie lachte. Anwälte schienen bei niemandem beliebt zu sein. Sie fragte sich, ob Zach ein guter Anwalt war. Er schien ein bisschen zu freimütig und sarkastisch für einen Beruf, der so oft ein gewisses Maß an Finesse erforderte.

“Das Abendessen ist fertig”, sagte Carson. “Wollen wir ins Esszimmer vorgehen?”

“Gute Idee. Ich sterbe fast vor Hunger.” Elizabeth lächelte und beschloss, keinen weiteren Gedanken an Zachary Harcourt zu verschwenden.

Doch eine Stunde später dachte sie noch immer an ihn.

SIEBEN

Gott sei Dank endete der Abend schließlich doch noch. Auch wenn Elizabeth sich die meiste Zeit amüsiert hatte, war sie im Augenblick davon überzeugt, dass das Leben als Politikergattin ein Höllenjob sein musste.

Da Carson zum Essen Wein getrunken hatte, ließ er Elizabeth nach Hause chauffieren, nachdem die schwarze Limousine seine Gäste zur Landebahn gebracht hatte. Er begleitete sie bis zur Tür ihres Apartments. Sie dachte kurz daran, ihn hereinzubitten. Doch es war ein langer Abend gewesen. Sicher war er ebenso müde wie sie.

“Danke, Carson, für diesen vergnüglichen Abend.”

“Ich bin derjenige, der zu danken hat. Du warst wunderbar, Elizabeth. Du hast dafür gesorgt, dass sich alle wohlgefühlt haben. Ich hätte das ohne dich nicht geschafft.”

Bestimmt hatte er bereits Dutzende von Partys allein gemeistert, doch seine Worte schmeichelten ihr. “Es war ein gelungener Abend. Ich glaube, deine Gäste haben sich gut amüsiert.”

Er lächelte. “Das hoffe ich.” Er beugte sich vor und küsste sie sanft. Als Carson seine Lippen öffnete, schlang Elizabeth die Arme um seinen Nacken und erwiderte den Kuss. Es überraschte sie etwas, dass sie nicht mehr als ein angenehmes Gefühl empfand. Carson war ein gut aussehender Mann. Als er sie losließ und einen Schritt zurücktrat, verspürte sie jedoch kein Bedauern.

“Ich rufe dich an”, sagte Carson.

Elizabeth nickte nur. “Gute Nacht.”

Sie ging hinein und schloss die Tür hinter sich. Sie dachte an den Kuss und wunderte sich über ihre Reaktion. Es gab so etwas wie Chemie zwischen zwei Menschen, doch mit Carson schien sie die nicht zu haben.

Elizabeth dachte an das lästige Gespräch mit seinem Bruder und die Art, wie Zach sie angesehen hatte – als ob die Hitze in seinen dunklen Augen ihre Kleidung wegbrennen wollte. Das leichte Flattern in ihrem Bauch ignorierte sie.

Die Grillen zirpten in der warmen Sommernacht, und die Sterne glitzerten am schwarzen Nachthimmel wie winzige Diamanten. In L.A. konnte Zach sie nie sehen. Das kleine, staubige San Pico hatte also zumindest etwas Gutes.

Auf der Veranda angelangt, schloss Zach die Tür von Lisa Doyles großzügigem Anwesen auf. Es lag in einem der besseren Viertel der Stadt. Drei Schlafzimmer, Backsteinbau, Schindeldach, landschaftlich hübsch gelegen mit einem Pool im Garten. Sie hatte es sich während einer schmutzigen Scheidung als Abfindung von ihrem Exmann erschlichen. Es war bereits das zweite Mal gewesen, dass Lisa als Gewinnerin aus einer Schlammschlacht hervorging.

Ein guter Grund, Single zu bleiben, dachte Zach.

Das Wohnzimmer war dunkel, obwohl es noch nicht besonders spät war. Er wusste, dass sie im Schlafzimmer auf ihn warten würde. Ihr sexueller Appetit war kaum zu stillen, worüber er sich eigentlich nicht beschweren konnte. Außer dass sie nicht sehr wählerisch war, was nicht unbedingt für ihn sprach.

Während er auf dem Weg zum Schlafzimmer seinen Mantel auszog, dachte er, dass er eigentlich nicht hier sein wollte. Das Gefühl hatte ihn schon letzte Woche beschlichen, doch aus irgendeinem Grund erfasste es ihn heute Nacht mit einer besonderen Deutlichkeit.

Doch er hatte Lisa gesagt, dass er in der Stadt sein würde, und er hatte keinen echten Grund, nicht zu ihr zu gehen. Zumal sein kurzes Zusammentreffen mit Liz Conners ihm Lust auf heißen Sex gemacht hatte und er sicher sein konnte, dass er den nicht von Liz bekommen würde.

“Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr kommen”, sagte Lisa, als er das Schlafzimmer betrat. “Ich bin total scharf, Baby. Nimm mich!”

Sie trug einen roten Stringtanga und sonst nichts. Sie ging direkt auf ihn zu und zog seinen Kopf für einen Kuss nach unten. Zugleich tastete sie durch die Hose nach seinem Schwanz und rieb ihn, bis er steif war.

Dennoch schien er nicht richtig in Stimmung zu kommen. Irgendwie konnte er sich nicht mit einer weiteren Runde bedeutungslosem Sex anfreunden. Er rief sich selbst ins Gedächtnis, dass er es genau so wollte – keine Verpflichtungen, keine Gefühle.

Doch selbst als sie ihn zum Bett führte und langsam auszog, schweiften seine Gedanken zurück zu Liz Conners. Daran, wie hübsch sie heute ausgesehen hatte, wie sexy sie war, obwohl sie doch das genaue Gegenteil von Lisa darstellte. Er schüttelte den Kopf, um das Bild loszuwerden, und versuchte sich auf die umwerfende Blondine mit den grünen Augen und dem üppigen Körper zu konzentrieren, die hier vor ihm stand.

Seltsamerweise fiel ihm das nicht leicht.

Lisa konnte einen Mann mit ihren kleinen Raffinessen zum Wahnsinn treiben, doch Zach kannte sie inzwischen alle, und ihr Reiz war längst dahin.

Warum bin ich hier, fragte er sich, ohne dass ihm eine befriedigende Antwort einfiel.

“Was ist los, Baby? Zu müde?” Nackt stand er neben dem Bett. Lisa öffnete eines der kleinen Folienpäckchen vom Nachttisch, rollte ihm mit erstaunlichem Geschick das Kondom über und stieß ihn dann auf die Matratze, wo sie sich auf ihn setzte. “Entspann dich. Ich mach das schon.”

Er ließ sie gewähren. Er war zwar ein völlig anderer als früher, aber er war kein Heiliger. Zach schloss die Augen. Sie brachte sie beide zu einem gewaltigen Höhepunkt, doch als sie weitermachen wollte, wandte er sich ab.

“Ich brauche etwas Schlaf, Lisa. Tut mir leid.”

Lisa murmelte einen Fluch und rollte sich neben ihm zusammen. Zach lag da, doch so müde er auch war, er konnte dennoch nicht einschlafen.

Am Samstagmorgen fuhr Zach hinaus zu Teen Vision. Die Scheune hatte wirklich Gestalt angenommen. Es juckte ihn in den Fingern, den Hammer wieder zur Hand nehmen.

Die Jungs waren bereits seit dem frühen Morgen an der Arbeit. Auf der sechs Hektar großen Jugendfarm wurde viel angebaut, was jede Menge Arbeit und Fürsorge verlangte. Im Obstgarten wuchsen Pfirsiche, Aprikosen, Orangen, Zitronen, Mandeln und Pistazien. Auf zwei Hektar wurde Alfalfa angebaut, das als Viehfutter zum Einsatz kam.

Die Jungs hatten außerdem einen großen Gemüsegarten und bauten genug Mais an, um ihn in örtlichen Lebensmittelgeschäften zu verkaufen. Sie hatten Hühner, vier Milchkühe und vier Mastrinder. Die Farm war fast autark. Dass die Teenager den Betrieb am Laufen hielten, erfüllte sie mit viel Stolz. Zusätzlich zu ihren täglichen Pflichten nahmen sie an zahlreichen Unterrichtseinheiten teil, von denen sich einige mit den Konsequenzen von Drogen- und Alkoholmissbrauch beschäftigten. Zach selbst hielt darüber mehrmals im Jahr Vorträge. Seine Vergangenheit – und dass er so ehrlich damit umging – ermöglichte ihm eine spezielle Bindung zu den Jungen.

Bei seiner letzten Sitzung war Raul Perez nach dem Unterricht geblieben, um mit ihm zu sprechen. Er wollte wissen, ob er es nach Zachs Meinung irgendwann später auf ein College schaffen würde.

“Ich denke, dass du eine sehr gute Chance hast, Raul. Es wird viel Arbeit kosten, doch alles ist möglich. So viel kann ich dir jetzt schon sagen.”

Raul lächelte. Der Gedanke an harte Arbeit störte ihn offensichtlich nicht. Liz Conners konnte recht haben mit dem Jungen. Es schien etwas Besonderes an ihm zu sein, auch wenn Zach es nicht benennen konnte.

Als er aus dem Jeep stieg, sah er den Jungen über die Weide gehen. Ein großer, grimmig aussehender Teenager, der nur so lange hart wirkte, bis man ein bisschen tiefer grub. Dann erkannte man das gleiche Bedürfnis, das auch Zach als Junge gehabt hatte: die Sehnsucht nach jemandem, der einen liebt.

Zach wusste, dass Raul seinen Vater nicht kannte und seine Mutter gestorben war, als er zwölf war. Seine Schwester und ihr Mann waren die einzige Familie, die Raul hatte.

Zach hatte Eltern. Eine Art Eltern. Doch Teresa Burgess, seine Mutter, war viel zu beschäftigt damit gewesen, Fletcher Carson glücklich zu machen, als dass sie sich um ihren Sohn hätte kümmern können. Zach war neun gewesen, als seine Eltern ihre langjährige Beziehung beendeten und sein Vater das Sorgerecht für den Sohn einforderte.

Teresa hatte eingewilligt – für eine Gegenleistung. Sie hatte Zach wie ein Stück Vieh eingetauscht gegen ein neues Auto und das kleine Haus, das Fletcher für sie gekauft hatte. Seinen Sohn nahm er mit auf den Familiensitz auf Harcourt Farms. Doch damit begann für Zach ein Leben in der Hölle.

Zach ging weiter zum Geräteschuppen, um sein Werkzeug zu holen, als Raul ihm über den Weg lief.

“Brauchen Sie Hilfe?”, fragte der Junge.

“Ich dachte, du wolltest das Vieh füttern.”

“Habe ich schon erledigt. Die Milchkühe sind auch versorgt. Ich kann gut mit dem Hammer umgehen.”

Er konnte gut mit allem auf der Farm umgehen, das hatte Zach schon bemerkt. Und er schien die harte Arbeit wirklich zu genießen.

“In Ordnung. Je mehr Hilfe wir haben, desto schneller sind wir mit dem Ding fertig. Sam will das Alfalfa einlagern, bevor der Sommer vorbei ist.”

“Klingt gut.” Raul folgte Zach in den Schuppen, wo er sich ebenfalls Nägel und einen Hammer holte. Gemeinsam gingen sie zur Scheune. Für einen Moment wurde Raul langsamer. Sein Blick wanderte über die Felder zu den bunten Punkten in der Ferne.

“Was ist?”

“Die Rosen. Sie sind in dieser Jahreszeit so schön.” Auf 260 Hektar blühten die Rosen auf den Feldern, die an Teen Vision angrenzten. Von der Luft aus betrachtet war der Boden geradezu übergossen mit roten, gelben, pinkfarbenen und weißen Farbtupfern. Von Mai bis September trug der Wind den Blütenduft über die Felder, sodass er die ganze Luft erfüllte.

Zach hatte den Duft immer gemocht. Vielleicht gab es ja doch noch etwas, das für San Pico sprach.

ACHT

Maria konnte nicht schlafen. Miguel arbeitete wieder spät, und das Haus schien merkwürdig leer zu sein. Sie hatte einige Freundinnen gefunden, seit sie auf Harcourt Farms lebte, doch die meisten von ihnen waren mit ihren Männern zum nächsten Job weitergezogen. Ihre beste Freundin war Isabel Flores. Sie arbeitete für Mr. Harcourt und lebte im großen Haupthaus. Obwohl sie nur wenige Jahre älter war als Maria, hatte sie es schon zu Mr. Harcourts Haushälterin gebracht. Sie kümmerte sich um das Haus – und um seine anderen persönlichen Bedürfnisse.

Isabel arbeitete gern dort. Sie hatte Maria erzählt, dass Mr. Harcourt sich gut um sie kümmerte. Sie meinte damit nicht seine gelegentlichen Besuche in ihrem Bett. Tatsächlich genoss sie die. Und sie war vorsichtig. Auch wenn sie jeden Sonntagmorgen deswegen zur Beichte gehen musste, nahm sie die Pille, damit sie nicht von ihm schwanger wurde.

Maria setzte sich im Bett auf. Vielleicht sollte sie sich wieder anziehen und Isabel besuchen, um ihrer besten Freundin zu erzählen, was ihr widerfahren war. Sie würde ihr von den Untersuchungen berichten und von den Sitzungen mit Dr. James. Doch es war wirklich schon zu spät für einen Besuch, und Miguel würde bald nach Hause kommen.

Zumindest hoffte sie das. Sie dachte daran, ins Wohnzimmer zurückzugehen, um noch ein wenig fernzusehen, doch sie war müde. Nach ihrer Rückkehr von der Sitzung mit Dr. James hatte sie im Gemüsegarten gearbeitet, wo sie die Hitze zusätzlich erschöpft hatte. Nun war es spät, und sie wollte schlafen.

Sie legte sich wieder hin und zog die Bettdecke bis zum Kinn. Nun, da sie das Geschehene besser verstand, würde der Traum nicht wiederkommen. Sie schloss die Augen, doch die Minuten verstrichen, ohne dass sich der Schlaf einstellte.

Stattdessen wartete sie und lauschte auf den Klang von Miguels Arbeitsschuhen draußen vor der Tür. Weitere Minuten vergingen. Ganz allmählich wurden ihre Augenlider schwer. Ihr Körper entspannte sich auf der Matratze, und sie schlummerte ein.

Es war die Kälte, die sie weckte, ein eisiger Hauch, der ihr durch die Knochen fuhr. Sogar um diese späte Zeit war es warm draußen. Wie konnte in ihrem Schlafzimmer eine solche Kälte herrschen? Ihre Zähne klapperten. Sie zog die Decke über sich und griff nach dem dünnen gelben Überwurf, der am Fußende gefaltet lag.

Ihre Finger umklammerten den Stoff. Nun hörte sie auch die Geräusche … das gespenstische Stöhnen, das Quietschen und Knarren, als ginge jemand über die Dielen im Wohnzimmer. Der Duft von Rosen stieg ihr in die Nase. Er wurde stärker, verdichtete sich zu einem strengen, süßlichen Gestank, der ihr in die Nase stieg und ihre Kehle reizte.

Sie schluckte und saß vor Angst bewegungslos da, mit der Hand auf dem Überwurf. Ihr Blick wanderte ans Fußende des Bettes, und ihr ganzer Körper versteifte sich. Dort war etwas. Ein milchiges, verwaschenes Etwas, durch das sie fast hindurchsehen konnte und das vage an die Umrisse einer Person erinnerte.

Sie nehmen dir dein Baby, wenn du nicht fortgehst. Sie töten dein Baby.

Maria wimmerte. Dios mio! Ihre Nackenhaare stellten sich auf, und ihre Hand begann zu zittern. Die Knöchel wurden weiß, als sich die Finger in den Überwurf verkrampften.

Sie nehmen dir dein Baby. Sie töten dein Baby, wenn du nicht fortgehst.

Maria schloss die Augen, doch auch hinter ihren bebenden Lidern sah sie den Schatten. Ein Kind, vielleicht acht oder neun Jahre alt. Es schwebte und bewegte sich leicht am Fußende des Bettes. Ein kleines Mädchen, der Stimme nach zu urteilen, doch sie konnte nicht sicher sein.

Es ist nicht real, sagte sie sich und erinnerte sich daran, was Dr. James gesagt hatte. Es existierte nur in ihrer Vorstellung.

Sie wisperte ein leises Gebet, das die Gestalt vertreiben sollte, und ließ ihre Augen geschlossen, solange sie es wagte. Sie wiederholte das Gebet und rief verzweifelt die Muttergottes an. Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass ihr Gebet erhört worden war.

Die merkwürdigen Geräusche verstummten allmählich. Der strenge Geruch wurde schwächer und verwandelte sich in einen feinen, fast beruhigenden Duft. Von dem eisigen Hauch war nichts mehr zu spüren, die Temperatur war wieder normal.

Doch noch immer schlug ihr das Herz bis zum Hals und pochte gegen ihre Rippen. Ihre Hände waren klamm, der Mund fühlte sich trocken an. Sie zuckte zusammen, als ein anderes Geräusch an ihr Ohr drang, ein vertrautes Schlurfen auf der hinteren Verandatreppe und dann der Schlüssel, der ins Schloss fuhr.

Miguel war zu Hause.

Maria schloss die Augen. Entschlossen, nicht zu weinen, biss sie sich auf die bebenden Lippen.

Michael James saß hinter seinem Schreibtisch und lauschte der abenteuerlichen Geschichte, die die junge Latina ihm erzählte. Maria Santiago war in dieser Woche bereits zweimal bei ihm gewesen, doch keine dieser Sitzungen hatte sich als sonderlich erfolgreich erwiesen.

“Ich habe ihn gesehen, Dr. James. Letzte Nacht habe ich den Geist mit eigenen Augen gesehen. Un espectro. Ich bilde mir das nicht ein. Ich sah ihn mit meinen eigenen Augen.”

“Das war kein Geist, Maria. So etwas gibt es nicht. Sie hatten eine Panikattacke. Das ist nicht ungewöhnlich. Es gibt viele Menschen, die zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben Angstattacken erleiden. Normalerweise hätte ich Ihnen etwas verschrieben – eine kleine Dosis Xanax vielleicht, damit Sie sich entspannen, und etwas, damit Sie schlafen können. Doch in Anbetracht Ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft …”

“Ich brauche Ihre Medikamente nicht! Da ist ein Geist in meinem Haus, und all die dummen Fragen, die Sie mir stellen, werden ihn nicht vertreiben!”

Er achtete darauf, ruhig zu klingen. “Es gibt gute Gründe für diese Fragen, Maria. Wir versuchen Ihre Vergangenheit zu erforschen. Wir müssen wissen, ob Ihnen etwas in Ihrer Kindheit zugestoßen ist. Etwas, das nicht wichtig scheint, es jedoch ist. In Fällen wie diesen …”

“Nein! Sie fragen mich über meinen Vater aus. Hat er mich geliebt? Habe ich ihn geliebt? Ich sagte Ihnen, dass er uns verließ, als ich zwei Jahre alt war. Sie befragen mich zu meiner Mutter. Ich sage Ihnen, sie hat Raul und mich geliebt. Wir hatten kein Geld, und das Leben war hart, aber so schlimm war es nun auch nicht. Sie sagen, dass ich sehr durcheinander sein müsste, weil ich dieses Ding, das Sie Stress nennen, fühle. Aber ich sage, dass Miguel und ich uns auf das Baby freuen. Bevor dies alles begann, war ich niemals so glücklich. Sie sagen, dass ich vor etwas Angst habe, das ich nicht verstehe, und Sie haben recht!”

Ihre Hand ballte sich in ihrem Schoß zu einer Faust. “Da ist ein Geist in meinem Haus, und er fordert mich auf, fortzugehen. Er warnt mich, dass jemand mein Baby töten wird!”

Michael atmete einmal tief durch. “Genau. Vielleicht haben Sie zufällig die Antwort auf Ihre Probleme gefunden. Sie sind besorgt, dass Sie Ihr Kind verlieren könnten. Sie haben schon einmal ein Baby verloren. Vielleicht ist es die Angst um Ihr Kind, die solche Panikattacken verursacht.”

Maria erhob sich von ihrem Stuhl. Er sah, dass sie am ganzen Körper bebte. “Sie glauben mir nicht. Ich wusste es.” Sie wandte sich um und marschierte in Richtung Tür, wobei ihr gewölbter Bauch leicht auf- und abschwang.

Michael stand ebenfalls auf. “Maria, warten Sie eine Minute. Wir müssen darüber sprechen.”

Sie ging einfach weiter und gelangte in den kleinen Empfangsraum. Michael folgte ihr.

“Ich möchte mit Miss Conners sprechen. Sagen Sie ihr … sagen Sie ihr, dass Maria Santiago sie gern sehen würde.”

“Sie ist noch in einem Gespräch”, erwiderte die Empfangsdame Terry Lane. “Doch sie sollte in wenigen Minuten fertig sein.”

“Gut. Dann werde ich warten.” Maria ließ sich auf das Sofa sinken, wo sie mit geradem Rücken und vorgestrecktem Kinn sitzen blieb.

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