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P.I.D. - Die komplette Serie

hier erhältlich:

P.I.D. 1 - IM VISIER DER VERGANGENHEIT

Juliette Jennings steht ganz oben auf der Todesliste eines skrupellosen Killers. Plötzlich selbst des Mordes beschuldigt, will sie nur noch eins: die Hilfe ihres großen Bruders. Ein riesiger Fehler, wie sie bald erkennt. Wenn sie ihn retten will, muss sie von der Bildfläche verschwinden! Doch Nate Cooper, ehemaliger Army Sergeant und bester Freund ihres Bruders, macht all ihre Pläne zunichte. Er besteht darauf, sie in Sicherheit zu bringen. Trotz der Zweifel an ihm und seiner Organisation P.I.D. hat Juliette keine Wahl: Sie muss ihr Leben in die Hände eines Fremden legen!

P.I.D. 2 - GEFÄHRLICHE HINGABE

An der Seite von Juliette könnte Nate Cooper den Himmel auf Erden erleben - und dabei fast vergessen, dass sie unter Mordverdacht steht und eine kaltblütige Killerin ihr Leben zu zerstören droht. Für den ehemaligen Elite-Soldaten und die P.I.D. zählt jetzt nur noch eins: das perfide Spiel der Frau zu durchschauen, bevor es zu spät ist ...

P.I.D. 3 - ENTFESSELTE SCHULD

Mic Thorne kämpft täglich gegen das Böse dieser Welt - und gegen die Bilder seiner Vergangenheit. Vor Jahren fiel seine Frau einem brutalen Serienmörder zum Opfer. Als nun die neue Mandantin Anna Catalano auftaucht und das Team der P.I.D. bittet, die Unschuld ihres Vaters zu beweisen, stürzt Mics mühsam geflicktes Leben erneut in sich zusammen, nicht nur, weil die atemberaubende Anna eine große Sehnsucht in ihm auslöst ...

P.I.D. - VERBORGENE ERINNERUNG

Ohne Gedächtnis, dafür aber mit Verfolgern auf den Fersen - komplizierter könnte Ryans Lage kaum sein. Wie falsch er damit liegt, muss Ryan schon bald feststellen: Nach einer waghalsigen Flucht aus dem Krankenhaus findet er sich in einem Wochenendhaus wieder. Zusammen mit der attraktiven Krankenschwester Sylvie und einem Haufen Fragen, deren Antworten er nicht kennt. Doch nicht nur seine unklare Identität lässt ihm keine Ruhe ...

P.I.D. 4 - FATALE TRÄUME

Gleich zwei dramatische Nachrichten muss Trevor O’Neill verkraften: Nicht nur, dass seine Ex gestorben ist, sie hat ihm auch die gemeinsame Tochter Trisha verschwiegen! Wahrscheinlich hätte er nie von ihr erfahren, wenn das kleine Mädchen nicht knapp einer Entführung entkommen wäre. Nur widerwillig bittet daher dessen Tante Grace Trevor und sein Team um Hilfe. Doch nicht nur Trevors Beschützerinstinkt ist geweckt, als er einen Blick auf die temperamentvolle Schönheit Grace wirft ...

P.I.D. 5 - HIMMEL IN GEFAHR

P.I.D.-Mitglied Karsten muss seinen schwierigsten Undercover-Einsatz bestehen. Er schleust sich in das Jugendzentrum Fort Heaven ein, um die junge Sozialarbeiterin Olivia zu beschützen, denn sie schwebt in großer Gefahr! Das Verschwinden ihrer Kollegin und guten Freundin Camille ist nur eine von vielen mysteriösen Entführungen im Umfeld von Fort Heaven. Als sich zwischen dem charmanten Karsten und Olivia ein heftiges Knistern entwickelt, bedroht dies das ganze Team ...

P.I.D. 6 - ZORN DES PHOENIX

Für P.I.D.-Leader Derek Collier bricht eine Welt zusammen. Ein Mitglied seines Teams wurde im Einsatz für das FBI grausam gefoltert und getötet. Seine letzte Nachricht: ein Hilfeschrei an seine Kollegen. Sofort beginnt Derek zu ermitteln. Unerwartete Unterstützung erfährt er dabei von Agent Patricia Perkins, die Job und Leben riskiert, um den grausamen Mord zu rächen. Doch Patricia hütet ein Geheimnis, das der aufflammenden Beziehung zwischen Derek und ihr den Garaus machen könnte ...


  • Erscheinungstag: 10.06.2019
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 2255
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745751017
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Andrea Bugla

P.I.D. - Die komplette Serie

PROLOG

Es war ein Fehler.

Ein Riesenfehler!

Und der könnte sowohl Naomi als auch sie das Leben kosten.

Aber hatte sie eine andere Wahl? Ihre Freundin war verletzt und brauchte dringend einen Arzt. So wie ihr Schädel pochte, könnte Juliette vermutlich selbst einen gebrauchen. Sie wusste nicht, ob sie mehr als eine Gehirnerschütterung hatte und wie lange es noch dauerte, bis sie in Ohnmacht fiel. Die Hitze, die sich zwischen den Kisten, Gerätschaften und Regalen staute, machte es auch nicht gerade besser.

Die Sorge um ihre Freundin überwog die Angst, dass ihre Kidnapper sie erwischten. Deshalb nutzte Juliette die erste Chance, die sich ihr bot.

Kaum war Carl für einen Moment hinter den großen Regalen verschwunden, um die Lage zu checken, sprang sie auf und huschte an Kurt vorbei. Dankbar dafür, dass Naomis Wimmern ihn ablenkte, tauchte sie in einem der Gänge unter. Natürlich blieb das nicht unbemerkt, doch fürs erste war sie frei.

So schnell und so leise wie möglich bewegte sie sich weiter durch die Regalschluchten – auch wenn alles in ihr danach drängte, sich sofort in der nächstbesten Lücke zu verstecken, als Kurt die Suche nach ihr aufnahm.

Keine vier Meter von der rettenden Tür entfernt kauerte sie sich kurz darauf zwischen zwei Kisten und lauschte den Schritten ihres Verfolgers. Er machte Lärm für drei, während er einen Gang nach dem anderen absuchte.

„Wenn ich das Hirn deiner Freundin nicht über den Boden verteilen soll, beweg deinen Arsch hierher, du blöde Schlampe!“, ertönte Carls eisige Stimme.

Juliette zweifelte keine Sekunde daran, wie ernst er es meinte. Für ihn zählte Geld – und nur das. Die Entscheidung über Leben und Tod eines Menschen war reine Formsache und beschäftigte ihn nicht weiter, nachdem er sie erst getroffen hatte. Seine Kaltblütigkeit machte ihn gefährlich – genau wie die extreme Nervosität seinen Kollegen in eine tickende Zeitbombe verwandelte, die jederzeit explodieren konnte. Kurt war es auch gewesen, der auf Naomi geschossen hatte. Und das nur, weil sie über eine Holzlatte gestolpert und ihm entgegen getaumelt war …

„Ich zähle bis drei!“, rief Carl.

„Juliette!“, hörte sie Naomi schreien. „Hau ab! Renn…“

Ein Klatschen – dem Geräusch nach eine Ohrfeige – unterbrach ihre Worte. Im nächsten Moment drang ein leises Wimmern an ihr Ohr.

Juliette schluckte und kämpfte die aufsteigenden Tränen zurück. Sie wusste, dass sie Naomi nur helfen konnte, wenn sie es hinaus schaffte. Immer wieder hatte sie Juliette leise dazu gedrängt, wenn möglich zu fliehen. Wäre sie erst mal frei, könne sie Hilfe holen.

Tja, liebe Freundin, wenn du mir da mal nicht zu viel zutraust, dachte Juliette unsicher. Es behagte ihr nach wie vor nicht, ihre Freundin zurückzulassen.

Sie sah abwechselnd in die Richtung, aus der sie gekommen war, und zum Ausgang. Es waren nur noch wenige Meter bis zu der Tür, hinter der ihre Rettung wartete. Zahllose Polizisten und andere Einsatzkräfte hatten sich schon vor der Lagerhalle versammelt. Es musste eine ganze Armee sein, wie Juliette aus den unzähligen blau-rot flackernden Lichtern schloss, die hinter den viel zu hohen und viel zu schmalen Fenstern tanzten. Juliette fuhr sich über die Stirn und zuckte zusammen, als Schweiß in der Platzwunde brannte. Die beginnende Mittagshitze hatte die Halle schnell in einen Ofen verwandelt.

„Eins!“

„Werfen Sie die Waffen weg und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!“, rief eine weitere Stimme – diesmal von draußen und zweifellos durch ein Megafon verstärkt.

Nur einen Gang von Juliette entfernt schepperte etwas laut zu Boden. Vielleicht hatte sich einer der beiden von dem plötzlichen Polizeibefehl ablenken lassen und ist dabei gegen eine Kiste gelaufen? Juliette konnte ihren erschreckten Aufschrei gerade noch zurückhalten. Der Puls schlug ihr bis zum Hals und hämmerte erbarmungslos gegen ihre Schädeldecke.

Sie musste hier weg, ehe die Männer sie aufspürten!

„Zwei!“

Verdammt, was wenn er ernst machte? Sicher hatte er nicht den Auftrag, sie zu ermorden – sonst wären sie längst tot. Doch Carl machte nicht gerade den Eindruck, sich auf Biegen und Brechen ans Drehbuch zu halten.

„Das Lagerhaus ist umstellt. Sie haben keine Chance. Sie haben eine Minute, um sich zu ergeben!“

„Carl? Ich finde sie nicht! Ich glaube, sie ist weg!“

Kurt stand keine zwei Meter von ihr entfernt und spähte in die Richtung seines Komplizen, der offenbar noch Naomi bewachte. Panisch riss Juliette den Kopf rum, um auszumachen, wo sich Kurt genau befand, und schlug dabei hart gegen die Ecke eines Regalbretts. Neuer Schmerz jagte wie ein Speer durch ihr Gehirn, nahm ihr einen Augenblick lang Sicht und Luft. Es kostete sie alle Körperbeherrschung, stillzuhalten und sich nicht zu verraten.

„Die Minute ist fast rum. Treffen Sie die richtige Entscheidung und geben Sie auf!“, rief der Polizist eindringlich in das Megafon.

„Verdammt! Sie kann nicht weit gekommen sein, du dämlicher Trottel. Finde sie!“, fluchte Carl.

Plötzlich schrie Naomi auf, ein Stuhl kippte um und Carl forderte sie barsch auf, sich zu bewegen.

Juliette beobachtete, wie Kurt sich ein letztes Mal umschaute und sich dann überraschend entfernte.

Das war ihre Chance – vielleicht die letzte, die sie bekommen würde. Wenn das schiefgeht, Naomi, verzeih mir.

Juliette schlüpfte aus ihrer Nische und rannte zur Tür.

Weit kam sie nicht. Es war ein einfacher Riegel, der ihr den Weg in die Freiheit versagte. Verrostet und leicht verbogen wollte er sich einfach nicht bewegen lassen. Verzweiflung wallte in ihr auf. Das durfte einfach nicht wahr sein. Juliette zog und drückte, stemmte sich gegen die Tür, während sie weiter am Riegel rüttelte. Aber dieses blöde Ding wollte sich einfach nicht rühren. In einem Anfall von Wut und Frust trat sie heftig gegen die Tür – und wusste bereits in diesem Moment, dass das eine blöde Idee gewesen war. Der Knall hallte durch die ganze Halle.

Sich innerlich für diese hirnrissige Aktion maßregelnd, suchte sie die im Halbdunkeln liegenden Gänge ab. Gebannt horchte sie nach jeder noch so kleinen Regung, und ein leiser Schrei entfuhr ihrer Kehle, als Kurts Stimme die Stille zerriss.

„Du kannst dich nicht ewig verstecken, du Miststück! Ich weiß genau, wo du steckst. Wenn ich bei dir bin, dann Gnade dir Gott!“

Er klang alles andere als selbstsicher. Offenbar ließ ihn die Warnung der Polizisten doch nicht so kalt, wie er sie das glauben lassen wollte. Aber eben diese Unruhe machte ihn gleichzeitig unberechenbar. Und er würde sie finden. „Ich habe die Schnauze voll! Komm raus jetzt! Glaub mir, wenn ich dich erst holen muss …“

Seine Schritte hallten durch das Gebäude. Er gab sich keine Mühe mehr, leise zu sein – nicht, dass er damit bisher viel Erfolg gehabt hätte. Juliette konnte geradezu vor sich sehen, wie er mal rechts und mal links abbog, während er kontinuierlich näher kam.

Von draußen war wieder die fremde Stimme zu hören. Diesmal klang sie gedämpfter, wenn auch nicht mit weniger Nachdruck. Wieder wurde Carl aufgefordert, sich zu ergeben. Juliette hörte, wie er trocken auflachte. Kurz darauf vernahm sie einen dumpfen Schlag von Metall auf Metall – direkt hinter der Tür – und die Stimmen der Polizisten verstummten.

Der Krach hier in der Lagerhalle nahm indes immer weiter zu. Juliette tastete blindlings hinter sich. Wenn sie irgendwas fände, das sie werfen könnte, um ihren Verfolger wenigstens für einen Moment in eine andere Richtung zu lotsen …

Wenn sie nur mit irgendetwas Lärm veranstalten könnte … In Filmen klappte das doch auch immer.

Sie fand eine Latte, die jedoch unter dem Regal eingeklemmt war. Juliette sah sich unruhig um. Schließlich fand sie einen Backstein, der zu klobig war, um ihn hoch und weit genug werfen zu können, und ein armlanges, zeitungsdickes Metallrohr. Während Juliette noch überlegte, wie sie nun die Aufmerksamkeit ihres Verfolgers von sich ablenken könnte, entdeckte sie auf dem Boden einige verstreute Schrauben. Schnell sammelte sie sie auf und sog heftig Luft ein, als sich die Spitzen in ihre Handflächen bohrten. Juliette kniff einige Sekunden lang die Augen zu.

Der Schmerz, für sich allein harmlos, verbündete sich mit den stechenden Kopfschmerzen zu einem rot glühenden Schürhaken. Eine quälende Welle breitete sich in ihr aus, bis sich ihr der Magen drehte und sie sich fast übergeben musste. Nur mühsam konnte sie dagegen ankämpfen.

Juliette nahm einen letzten Atemzug und schleuderte die kleinen Behelfsgeschosse so hoch wie möglich – doch das war wohl zu viel des Guten, denn die Nägel prallten an der Kante des vorletzten Regalbrettes ab und prasselten ihr wieder direkt vor die Füße. Mit dem Wurf würde sie sicher auf Lebzeiten aus der MLB ausgeschlossen werden – nicht dass sie sich je groß für Baseball interessiert hatte.

Kurt lachte irre auf, schließlich kamen die Geräusche genau aus der Richtung, in die er ohnehin unterwegs war. Juliettes Hände zitterten, als sie nach dem Metallrohr griff und es über den Kopf hob.

Sie wollte das hier nicht. Das war nicht richtig.

Sie arbeitete als einfache Verkäuferin in einem Spielwarenladen. Ihr Job war es, Modellautos und Stofftiere in die Regale zu räumen, über die aktuellen Trends der Sammelkarten und – figuren Bescheid zu wissen und stets das passende Geschenk für einen Kindergeburtstag zu finden. Es war nicht ihr Job, sich irgendwelchen Verbrechern in den Weg zu stellen. Schon gar nicht, wenn die eine geladene Waffe und einen nervösen Abzugsfinger hatten.

Zum millionsten Mal in den letzten drei Tagen – drei Tage, die ihr wie Monate vorkamen – fragte sich Juliette, wie das alles hatte passieren können. Die Recherche ihrer Freundin Naomi war der Stein gewesen, der alles ins Rollen gebracht hatte. Sie hatte an einem Enthüllungsbericht gearbeitet und war einem Großindustriellen gefolgt, der im Verdacht stand, in illegale Geschäfte verwickelt zu sein. Als ihr Aufnahmegerät genau im entscheidenden Moment den Geist aufgab, hatte sie kurzerhand das Gespräch mit dem Handy aufgenommen und die Datei an ihren Laptop schicken wollen. Das Video war dann jedoch bei Juliette gelandet. Danach hatte eins zum anderen geführt.

Ein kleiner Tastendruck und eine falsche Email-Adresse, mehr hatte es nicht bedurft, um ihr Leben in diese Katastrophe zu verwandeln.

Und doch konnte sie Naomi deswegen irgendwie nicht böse sein. Auch wenn die das anders sah. Immer wieder hatte sie sich entschuldigt. Sie hatte geweint und gefleht – ja, Juliette sogar angeschrien, doch endlich mit ihrem beschissenen Verständnis aufzuhören.

„Hab ich dich endlich!“

Völlig erstarrt blickte Juliette in den Lauf eines Revolvers. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, ehe sie die Situation begriff und die blanke Angst sie erfasste. Kurt hatte seine Waffe direkt auf sie gerichtet, sein Gesicht war zu einer grinsenden Fratze verzogen.

Juliette handelte instinktiv, als sie den Arm hochriss und ihm das Rohr gegen den Arm schmetterte. Wie von einer fremden Macht getrieben wechselte sie die Schlagrichtung und schwang ihm ihre Waffe vor den Kopf.

Es hörte sich an, als würde man versuchen, mit einer Melone einen Homerun zu schlagen. Verdammt, was hatte sie denn heute nur immer mit Baseball. Ihr Bruder Jings wäre begeistert – nur, dass er nie etwas davon erfahren würde …

Mit glasigen Augen und perplexem Gesichtsausdruck ging Kurt in die Knie und kippte zur Seite weg.

Sie brauchte kurz, um das Entsetzen über ihre Tat abzuschütteln. Sie war nicht gewalttätig. Sie schlug nicht mal Fliegen tot. Und jetzt knüppelte sie einen Mann bewusstlos.

Juliette versuchte sich zu konzentrieren. Gab es vielleicht noch einen anderen Ausgang? Oder sollte sie es weiter an dieser Tür versuchen?

Sie entschied sich für letzteres. Wer wusste schon, wie lange der Typ bewusstlos war. Sie wollte keine Zeit verlieren. Und schon gar nicht wollte sie über ihn steigen.

So fest sie konnte schlug sie mit dem Backstein auf den kleinen Griff des Riegels ein. Immer wieder und wieder hieb sie darauf ein, wobei ihr jeder Aufprall durch und durch ging. Etliche blutende Schrammen und endlose Minuten später schien sich das Metall endlich zu bewegen. Nur noch ein kleines Stück und es wäre geschafft. Den Schmerz in ihren Schläfen und in ihren Fingern ignorierend, legte sie all ihre Kraft in einen letzten Schlag.

Gerade als der Riegel die Tür freigab, stöhnte Kurt auf. Juliette starrte ihn an, versuchte Bewegungen auszumachen, die von seinem Erwachen zeugten.

Hatte sie es sich nur eingebildet?

Verdammt, du blöde Kuh, mach lieber, dass du hier rauskommst.

Sie straffte die Schultern und schob mit zittrigen Händen die Tür auf.

Grelles Licht blendete sie und ließ in ihrem Kopf mehrere Splitterbomben explodieren. Sofort taumelte sie, bekam sich aber wieder gut genug in den Griff, um nicht zu stürzen.

„Hände hoch! Keine Bewegung! Werfen sie die Waffe weg!“, prasselten gebellte Befehle auf sie ein, kaum dass sie auf der Türschwelle stand. Was denn für eine Waffe?

Völlig durcheinander blickte sie an sich hinunter und bemerkte, dass sie den Backstein noch immer fest umklammerte. Betäubt ließ sie es fallen und hob die Hände über den Kopf.

Die gleißend helle Welt schwankte wie ein Kahn auf unruhiger See.

„Bitte, ich habe doch nichts getan“, flüsterte sie und trat zitternd einen Schritt vor. Heiße, schwüle Luft umhüllte sie sofort erbarmungslos und verstopfte ihre Lunge wie nasse Watte. Hier draußen war es nur unwesentlich kühler als in der Lagerhalle.

„Gehen sie von der Tür weg!“

Eine dunkle Silhouette kam näher. Da sich ihre Augen nach wie vor nicht an die Helligkeit gewöhnt hatten, konnte Juliette unmöglich erkennen, was die Gestalt dabei in den Händen hielt. Angst durchfuhr sie in neuen heftigen und alles verschlingenden Wellen.

„Miss, bitte treten sie von der Tür weg.“ Die tiefe Stimme klang nun mehr als angespannt.

Ich bin das Opfer, ich habe nichts getan, wollte Juliette schreien. Doch dazu kam sie nicht mehr.

Plötzlich lief alles in Zeitlupe und gleichzeitig rasend schnell ab. Schüsse fielen, Stimmen brüllten, und etwas traf sie so hart am Rücken, dass sie nach vorne geschleudert wurde. Unbändiger Schmerz – wie schnell man sich doch das bisschen Kopfweh zurückwünschen konnte – flammte in ihrem Rückgrat auf. Ihr Herz stolperte, und aus der Watte in ihrer Lunge wurde zähflüssiger Teer.

Hände packten sie, rissen sie zur Seite und ließen sie dann zu Boden sinken. Ein verschwommenes Gesicht tauchte in ihrem Blickfeld auf. Lippen bewegten sich, doch Juliette konnte kaum verstehen, was sie sagten.

„Jennings! Juliette! Sie sind in Sicherheit. Ein Arzt ist unterwegs.“

Diese Stimme … Juliette versuchte sich zu erinnern, aber sie war so müde.

Der Mann strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Bleiben Sie wach. Juliette, bleiben Sie wach“, beschwor er sie immer wieder. Doch sie war einfach zu müde.

1. KAPITEL

„Gute Nacht, Ms Wilder. Machen Sie nicht mehr so lange. Es ist doch Wochenende.“ Der blonde Student klopfte zweimal auf die Theke, lächelte sie an und ging mit langen Schritten davon. Er war der letzte Besucher, der die Bibliothek verließ. Jeden Freitag arbeitete er bis in den Abend hinein an einem Projekt, mit dem er mal ganz groß rauskommen wollte, bevor er sie ermahnte, auch bald nach Hause zu gehen, und sich in den wohlverdienten Feierabend aufmachte.

Juliette schloss hinter ihm ab und atmete tief durch. Sie liebte diese letzten Minuten, wenn sie die Bibliothek ganz für sich hatte. Es war die einzige Zeit, in der sie wenigstens ein bisschen Frieden fand. Sie räumte zurückgegebene und liegengelassene Bücher in die Regale, ging die bald endenden Leihfristen durch und rückte die Stühle zurecht. Sie ließ sich damit Zeit, schließlich hatte sie es nicht eilig, nach Hause zu kommen.

In wenigen Wochen, wenn es früher dunkel wurde, würde sie die Spätschicht abgeben. Sie ging schon bei Tageslicht ungern auf die Straße. Dies aber nach Einbruch der Dämmerung tun zu müssen, bereitete ihr schon bei der Vorstellung eine zentimeterhohe Gänsehaut.

Nachdem die Arbeit getan war, löschte sie das Licht und verließ die sicheren Wände der Bibliothek. Sofort kehrten die Unruhe und dieses Kribbeln im Nacken zurück, das sie wahnsinnig machte. Ein letztes Mal ließ sie den Blick über den großen Parkplatz streifen, ehe sie die breiten Stufen der Bibliothek hinabstieg und ihren kleinen alten Käfer ansteuerte. Nur mühsam hielt sie ihre Augen nach vorne gerichtet.

Sie wusste, dass sie sich selbst verrückt machte, und ermahnte sich jeden Tag aufs Neue, sich endlich zusammenzureißen. Seit neun Monaten wohnte sie jetzt als Lori Wilder in Pasadena. Sie hatte sich hier ein Leben aufgebaut, auch wenn man wohl eine Menge Fantasie brauchte, um es so zu nennen. Morgens zur Arbeit, nachmittags schnell ein paar Erledigungen machen und dann noch schneller nach Hause, wo sie den Abend vor dem Fernseher oder dem Computer verbrachte. Hatte sie Spätschicht, lief alles einfach nur in veränderter Reihenfolge ab. Sie hatte kaum Kontakt zu den Kollegen und keine Freunde. Genaugenommen verließ sie ihre Wohnung so selten, dass sie wahrscheinlich immer noch nicht nach Hause finden würde, wenn man sie zwei Straßen entfernt aussetzte.

Juliette lief über den kleinen Rasenstreifen und sah sich hektisch zwischen den Bäumen um. Sie waren nicht hoch und die Stämme nicht allzu breit. Dennoch wäre es sicher möglich, hinter ihnen Deckung zu finden. Normalerweise parkte sie näher am Gebäude, doch heute Mittag waren sämtliche Plätze dort bereits besetzt gewesen.

Sie angelte in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel, hielt aber kurz vor dem Wagen inne, denn sie konnte ihren Schlüsselbund nirgends finden.

Wo war er nur? Juliette verstaute ihn stets im vorderen Fach und nahm ihn nie heraus. Ein dicker roter Puschel hing am Schlüsselring. Der dürfte doch nicht zu übersehen sein.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich fündig wurde. Erleichtert zog sie den Bund aus der Tasche – nur um ihn gleich darauf fallen zu lassen. Auf der anderen Seite des Parkplatzes, gleich neben der Ausfahrt, stand ein goldener Lincoln, der vor zwei Minuten noch nicht da gewesen war. Auch wenn sich die untergehende Sonne in den Scheiben spiegelte, glaubte Juliette zu erkennen, dass der Fahrer sie anstarrte. Schweiß trat auf ihre Stirn, ein Kribbeln zog ihr über die Haut. Hatten sie sie gefunden? Wie konnte das möglich sein?

Seit Juliette Jennings und Naomi Watson vor fünf Jahren bei den Lagerhallen starben, führten keine Spuren mehr zu ihr. Sie war jetzt Lori, weit weg von Zuhause und fernab von irgendwelchen alten Kontakten. Andererseits, war sie nicht erst vor einem knappen Jahr bereits schon mal gezwungen gewesen, umzuziehen? Und das nur, weil ihr zufällig eine alte Schulfreundin über den Weg gelaufen war, die es nach der Heirat nach Cincinnati gezogen hatte.

Würde das nun wieder nötig sein?

Sollte sie anrufen oder abwarten?

Würde sie hysterisch erscheinen, wenn sie wegen eines Autos anrief, das aus Millionen Gründen dort angehalten haben könnte?

Tausend derartiger Fragen schossen ihr durch den Sinn, lähmten sie fast. Hier auf dem Parkplatz gab sie ein offenes Ziel ab. Sie musste hier weg. Aber wohin? Natürlich wäre es das sinnigste, einfach zurück zu den Gebäuden zu rennen. Doch sie hatte gesehen, wie skrupellos die Männer waren, die sie damals verfolgt hatten. Wie konnte sie da das Risiko eingehen und noch mehr Menschen in die Schusslinie bringen? Zu Fuß flüchten war ebenfalls keine Option. Das Gelände war so offen, dass man – zumindest in der näheren Umgebung – überall mit dem Auto durchkam, wenn man nur wollte. Und wer wusste schon, ob der Typ in dem Lincoln allein war.

Juliette schnappte sich den Schlüssel vom Boden und spurtete los. Vielleicht wäre es cleverer gewesen, sich nichts anmerken zu lassen. Doch nachdem sie ohnehin schon viel zu lange zu dem Wagen gestarrt hatte, wusste der Fahrer vermutlich eh, dass er entdeckt worden war. Juliette sah ein letztes Mal hin und stoppte abrupt. Zweimal drehte sie sich um die eigene Achse, um sicher zu gehen, dass sie in die richtige Richtung schaute.

Der Lincoln war weg!

Juliette war zum Heulen zumute. Langsam aber sicher verwandelte sie sich in ein nervliches Wrack. Seit Tagen schon schlug sie sich mit Panikattacken herum, und sie konnte nur hoffen, dass es lediglich mit dem Jahrestag der Schießerei zu tun hatte.

„Probleme mit dem Auto?“

Juliette schrie auf und schlug noch im Umdrehen wild um sich. Erst, als jemand sie bei den Schultern packte und sie schüttelte, erkannte sie auch die dazugehörige Stimme. Sofort stellte sie ihre Verteidigung ein.

Herold, ihr Kollege, hatte einiges abbekommen. Eine Strieme zog sich über seine Wange und das Jochbein leuchtete in einem tiefen Rot. Spätestens morgen früh würde die Stelle ein eindrucksvolles Veilchen zieren. Doch aus seinem Blick schien weniger Vorsicht als Sorge zu sprechen, als er sie jetzt musterte.

„Oh Gott. Es tut mir leid. Es tut mir so leid!“ beteuerte Juliette schnell und den Tränen nahe. Sie wollte einen Schritt zurücktreten, doch Herold ließ das nicht zu.

„Ist schon gut. Ich habe dich erschreckt.“ Sie konnte in seinen Augen sehen, dass einiges ungesagt blieb.

Juliette zitterte, und ihr Puls jagte immer noch. „Ich habe … ich kann … ich kann mich nur noch mal entschuldigen.“ Sie warf einen Blick über die Schulter. Der Wagen war immer noch verschwunden. „Ich bin zurzeit etwas nervös. Ich werde jetzt nach Hause fahren, mir einen Tee machen und dann ins Bett gehen.“ Diesmal konnte Herold nicht verhindern, dass sie sich von ihm entfernte. Doch als sie den Schlüssel in das Türschloss ihres Käfers stecken wollte, nahm ihr Kollege ihn ihr einfach ab.

„Du fährst nirgendwo hin. Nicht, wenn du so durcheinander bist! Komm, ich fahre dich.“ erklärte er ruhig.

„Das ist nicht nötig.“ Sie würde nie zugeben, wie dankbar sie dafür wäre, sich in ihrer Verfassung nicht auch noch auf den Verkehr konzentrieren zu müssen. „Ich schaffe das schon.“

„Keine Widerrede.“ Noch ehe sie etwas sagen konnte, hatte er ihr schon den Arm um die Schulter gelegt und sie mit sich gezogen. Juliette ließ es widerstandslos geschehen. Sie wusste, wann sie verloren hatte. Und schließlich war es doch nur Herold. Er und seine Frau arbeiteten seit einigen Monaten in der Bibliothek. Sie waren noch relativ jung und fielen überall auf, wo sie gemeinsam auftauchten. Herold sah aus wie eine Mischung aus Goth und Hippie. Heather erinnerte an eine ehemalige Cheerleader-Abschlussballkönigin, nur ohne die arroganten Züge, die man an solchen Mädchen und Frauen nur zu oft beobachten konnte. Teilte man sich mit ihnen eine Schicht, kam nie Langeweile auf. Sie brachten selbst Juliette dazu, ab und an mal zu schmunzeln. Nicht selten hatte sie gedacht, dass sie zu einem anderen Zeitpunkt – in einem anderen Leben – sicher Freunde geworden wären. Einmal waren sie abends weg gewesen, doch es hatte in einem Fiasko geendet, als ein Mann auf Juliette zugekommen war und sie gefragt hatte, ob sie sich aus einem anderen Leben kennen würden. Ein Teil von ihr hatte gewusst, dass es einfach nur ein äußerst flacher Anmachspruch gewesen war. Einer Panikattacke hatte sie damit aber nicht entgegenwirken können.

„Es tut mir leid“, wiederholte sie ihre Worte von damals.

Herold bog auf die Straße und sah sie kurz an. „Du musst dich für nichts entschuldigen. Nach allem, was du …“

„Nach allem was?“ Was meinte er? Er konnte unmöglich etwas von ihrer Vergangenheit wissen. Oder?

Adrenalin rauschte durch ihre Blutbahnen. Nein, niemand hier wusste etwas von ihrer Vergangenheit!

„Nach allem, was ich von Heather gehört und auch selbst beobachtet habe, bin ich sicher, dass es einen triftigen Grund gibt, warum du bist wie du bist. Das ist alles.“

„Wie bin ich denn?“ Juliette konnte nichts gegen die Schärfe in ihrer Stimme tun. Sie war viel zu beschäftigt damit, ihr Herz am Stehenbleiben zu hindern.

„Du bist jetzt seit – einem Jahr? – in Pasadena und würdest dich sicher auch jetzt noch verlaufen, so zurückgezogen lebst du.“ Er ignorierte ihren Tonfall und setzte seine Ausführungen fort. „Du blickst dich ständig um und musterst jeden in deiner Nähe, als würdest du jeden Moment damit rechnen, dass einer eine Knarre zieht. Du traust keinem und zuckst zusammen, sobald man dich anspricht. Nur selten habe ich dich mal lächeln gesehen.“ Mit jedem Wort zog sich mehr in ihr zusammen. Hatte sie sich wirklich so auffällig verhalten? Dabei hatte sie doch genau das vermeiden sollen.

Verhalte dich unauffällig. Verhalte dich normal. Lebe ein unauffälliges, normales Leben. Genau das hatte man ihr vor ihrem ersten Umzug eindringlich ans Herz gelegt. Nur war das einfacher gesagt als getan.

Herold setzte den Blinker und bog auf den Foothill Freeway. „Keine Ahnung, was dich so hat werden lassen. Aber es muss etwas Heftiges gewesen sein. Du hast also keinen Grund, dich zu entschuldigen.“ Er warf ihr einen schnellen mitfühlenden Blick zu. „Und sollte irgendetwas sein oder du einfach nur mal reden wollen, kannst du jederzeit zu mir kommen. Oder zu Heather.“

Juliette schluckte den dicken Kloss runter, der ihr die Luft zum Atmen nahm. „Danke.“ Das meinte sie wirklich, auch wenn es dazu niemals kommen würde.

„Nichts zu da… Scheiße!“ Herold ging voll in die Eisen und riss das Lenkrad rum. Nur einen Wimpernschlag später schoss ein brauner Wagen quer über die Fahrbahnen. Hätte Herold nur eine Sekunde später reagiert, wären sie kollidiert. „So ein Penner! Bist du in Ordnung?“, erkundigte er sich, als er sich auf der rechten Spur eingeordnet und den Schrecken einigermaßen überwunden hatte.

Juliette nickte. Sagen konnte sie nichts. Ihr Herz raste, sprengte geradezu ihren Brustkorb. Unvermittelt grub sie ihre Fingernägel in die Armlehne.

Als sich das Fenster mit einem Surren öffnete, schrie sie auf.

„Verdammt! Ich bin wohl wirklich reif für die Klapse.“ Sie versuchte, belustigt zu klingen, versagte aber auf ganzer Linie. Herold hätte schon taub und blind sein müssen, um es ihr abzukaufen.

Juliette hatte den Wagen nur eine Sekunde lang gesehen, aber sie war sich fast sicher, dass es ein goldener Lincoln gewesen war. Okay, sie konnte sich auch geirrt haben, und selbst wenn nicht, gab es hunderte davon. Aber dennoch …

„Soll ich rechts ran fahren?“ Herold klang besorgt. „Lori?“

„Ähm, was? – Nein, ich will einfach nur nach Hause.“

Herold nickte und beschleunigte das Tempo wieder.

Die weitere Fahrt über schwiegen sie. Sicher spielte Herold diverse Szenarien durch, die Juliette in ihre Situation gebracht haben könnten. Oder er wartete darauf, dass sie vollends durchknallte. Juliette war ebenfalls mit verschiedenen Szenarien beschäftigt. Nur wusste sie nicht, ob es einfach nur ihre Paranoia war. Aber sie wollte einfach nicht glauben, dass es sich um reinen Zufall handelte, dass sie es innerhalb einer halben Stunde gleich zweimal mit einem goldenen Lincoln zu tun bekam.

Was, wenn es wirklich derselbe war? Was, wenn er nur verschwunden war, weil Herold auf dem Parkplatz aufgetaucht war? Was, wenn er jetzt zu Ende bringen wollte, wozu er zuvor nicht gekommen war? Wie konnte sie Herold schützen, wenn dem Mann Kollateralschäden egal waren?

Je mehr Fragen sich aneinander reihten, desto schummriger wurde es ihr. Dabei handelte es sich möglicherweise einfach nur um einen Autofahrer, der sein Navi neu eingestellt hatte. Oder vielleicht auch nur um jemanden, der auf ein anderes Fahrzeug gewartet hatte, das ihm folgte, weil sie ein gemeinsames Ziel hatten? Was, wenn sie gerade einfach nur ein rücksichtloser Rowdy geschnitten hatte? Die möglichen Erklärungen – beängstigende sowie beruhigende – häuften sich.

Nachdem Herold den Freeway verlassen hatte und nun durch die Innenstadt von Pasadena fuhr, konnte Juliette gar nicht anders als sich ständig nach allen Seiten umzusehen. Herold hatte inzwischen mit Heather gesprochen und ihr Bescheid gesagt, dass er Juliette getroffen hatte und sie nach Hause fuhr. Juliette beneidete Heather ein wenig, wenn sie der liebevollen Art und Weise lauschte, in der er mit ihr sprach. Wann sie das letzte Mal einen festen Freund gehabt hatte, konnte sie nicht mal mehr sagen. In ihrem Leben war kein Platz für die Liebe. Sie traute den Menschen nicht mal mehr so weit, wie sie gegen den Wind spuken konnte. Wie sollte sie dann eine Beziehung eingehen? Mal abgesehen davon, dass sie ihrem Partner wahrscheinlich nie die Wahrheit sagen könnte. Der Mann, der sie damals verfolgt hatte, war untergetaucht und seitdem wie vom Erdboden verschluckt. Doch das musste ja nicht so bleiben. Und was dann?

Herold hielt an und wartete, dass die Ampel auf Grün sprang. Er hatte versucht ein Gespräch in Gang zu bringen, es dann aber aufgegeben. Juliette hatte nur halb zugehört und dann auch nur einsilbig geantwortet. Er schien es ihr nicht zu verübeln. Um der Situation das Unbehagen zu nehmen, schaltete er einfach das Radio an und sang leise mit. Es war irgendein schwachsinniges Lied über Sommer, Blaubeeren und einen alten Kranfahrer – okay, vielleicht hatte sie auch einfach nicht auf den Text geachtet. Bei der zweiten Strophe gab sie sich etwas mehr Mühe und stimmte schließlich vorsichtig mit ein. Als der Refrain kam, lachte sie kopfschüttelnd auf. Es ging wirklich um Sommer, Blaubeeren und einen alten Kranfahrer. Mann, womit manche ihr Geld verdienten …

Der Wagen hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Noch drei Straßen und sie wäre endlich Zuhause. Mittlerweile warfen die umliegenden Häuser lange Schatten auf die Straße. Die Rushhour lag hinter ihnen, sodass die Straßen langsam wieder leerer wurden.

Juliette atmete die kühle Luft ein und schimpfte sich innerlich eine Memme. Sie war inzwischen überzeugt davon, dass sie einfach nur überspannt war und deshalb überall den Feind gesehen hatte.

Das war alles. Man hatte sie nicht entdeckt, und dass sie den goldenen Lincoln an jeder Ecke sah, war einzig und allein ihrer sprudelnden Fantasie und übergroßen Paranoia zu verdanken.

„Könnten wir eventuell noch kurz bei dem Lebensmittelladen da drüben halten? Ich bräuchte ein paar Sachen fürs Wochenende.“ Sie hatte die Bitte noch nicht ganz ausgesprochen, da stand Herolds Toyota auch schon in einer – sicher nicht ganz offiziellen – Parklücke.

Weil er selbst einiges besorgen wollte, betraten sie gemeinsam das kleine Geschäft.

Mr Dišljenković, der nette ältere Serbe, der den Laden führte – und der so ziemlich der einzige Mensch Pasadenas außerhalb der Arbeit war, dessen Namen sie kannte –, begrüßte sie wie immer freundlich. Kaum dreihundert Meter von ihrer Wohnung entfernt, war dies Juliettes Lieblingsladen. Natürlich war hier alles ein wenig teurer als in den großen Supermärkten, aber die Differenz zahlte sie gerne, wenn sie dadurch die Menschenansammlungen meiden konnte. Mr Dišljenković erkundigte sich stets charmant nach ihrem Tag, versuchte jedoch nie, sie auszuquetschen. Ab und an spendierte er ihr einen Kaffee und einen Snack, wenn gerade nichts zu tun war. Was, wie er ihr einmal niedergeschlagen erzählt hatte, leider immer häufiger der Fall war. Dabei hatte er eigentlich vorgehabt, den Laden eines Tages seinem Sohn zu übergeben. Doch inzwischen bezweifelte er, dass er sein Geschäft bis dahin noch halten konnte. Die Zeiten seien schwer für den kleinen Mann, pflegte er immer zu sagen. Er war sogar erleichtert darüber, dass Kosta lieber Medienwissenschaften studieren wollte. So hatte sein Sohn wenigstens eine abgesicherte Zukunft.

Juliette hatte sich gerade nach Mr Dišljenković Befinden erkundigt, als ihr Blick an etwas hängenblieb, dass sich außerhalb des Geschäfts abspielte.

Ein Mann stieg aus seinem Wagen, betrachtete den Toyota und sah durch die Scheibe direkt zu Juliette. Ein kurzes Grinsen huschte über sein kantiges Gesicht. Er öffnete sein Sakko und schritt auf die Tür zu. Juliettes Blick wechselte zwischen dem Mann, dem Lincoln und dem Ladenbesitzer.

„Mr Dišljenković, gibt es hier noch einen anderen Ausgang?“ Sie versuchte, nicht aufgebracht zu klingen. Ob ihr das gelang, konnte sie bei dem Dröhnen in ihren Ohren nicht sagen. Der Ladenbesitzer folgte kurz ihrem Blick nach draußen, murmelte was auf Serbisch und deutete dann unauffällig zu einem dunklen Vorhang. Juliette nickte, dankbar darüber, dass er nicht lange fragte. Sie wollte schon losstürmen, als sie Herold zwischen den Regalen herumstromern sah.

„Sagen Sie meinem Freund bitte, er soll nach Hause fahren. Und er soll sich keine Sorgen machen.“ Wieder nickte der alte Mann. „Danke, Sie sind ein Schatz.“

Eilig und darauf bedacht, nicht den Eindruck einer Flüchtenden zu vermitteln, schritt sie zu dem Vorhang, warf einen letzten Blick zurück und schlüpfte dann hindurch.

Gerade als hinter ihr die Türglocke bimmelte.

Nun vor neugierigen Blicken geschützt, rannte Juliette durch den schmalen Gang, vorbei an der Küche, dem Lager und der Toilette, und sprang in die Gasse hinaus. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, und schlug schließlich hoffentlich die richtige Richtung ein.

Glücklicherweise erwies sich der Verdacht, sie würde sich nach wie vor in der Nachbarschaft verlaufen, als falsch. Innerhalb weniger Minuten hatte sie den Hinterhof ihres Wohnhauses erreicht, hastete zu dem kleinen Schuppen, riss die Tür auf und trat hinein.

Unter der Werkbank, ganz hinten in der dunklen Ecke versteckt, lag eine kleine Reisetasche mit ein paar Kleidungsstücken, einem Handy und etwas Bargeld. Diese Vorbereitungsmaßnahme hatte man ihr bei ihrem ersten Umzug ans Herz gelegt, und wie auch beim letzten Mal sollte sich das nun rentieren.

Nur Minuten später trat sie wieder aus dem kleinen Hinterhof und eilte die Gasse hinunter. Tunlichst darauf achtend, mehr Abstand zu dem Laden und dem vermeintlichen Verfolger zu bringen, lief sie immer weiter, mied die größeren Straßen und schlängelte sich durch die kleinen Gassen. Eine Stunde lang lief sie so kreuz und quer durch Pasadena. Längst hatte sie die Orientierung verloren und sich nun doch hoffnungslos verirrt. Der einzige Vorteil daran war, dass auch ihr Verfolger sicher keine Ahnung haben würde, wo sie – oder er selbst – sich befand.

Ihre Lunge brannte. Schweiß hatte einen dünnen Film auf ihrer Haut hinterlassen, sodass das T-Shirt unangenehm klebte. Die Schwüle drückte sich zwischen die Häuserschluchten, obwohl die Sonne bereits untergegangen war. Sie hatte sich in einem kleinen Laden ein Sandwich und eine Cola geholt und hockte nun auf einer abseits gelegenen Bank. Unablässig ließ sie den Blick in alle Richtungen schweifen, während sie die nächsten Schritte überlegte.

Bereits zweimal hatte sie die eingespeicherte Nummer gewählt, war aber immer auf der Mailbox gelandet. Wofür hatte dieser dämliche Kerl ihr die Nummer für den Notfall gegeben, wenn er dann doch nicht zu erreichen war? Es befand sich noch eine zweite Nummer auf dem Handy, doch noch sträubte sich Juliette dagegen, sie zu wählen. Während sie sich bei Hayes sicher fühlte, machte Donovan stets den Eindruck, sie sei die Verbrecherin und nicht das Opfer. Doch wenn sie den für sie zuständigen Marshall nicht innerhalb der nächsten dreißig Minuten erreichte, bliebe ihr wohl keine Wahl.

Nachdem sie auch später am Abend immer wieder nur auf Hayesʼ Mailbox gelandet war und auch Donovan nicht erreichen konnte, hatte sie minutenlang in einem Hauseingang gestanden und gegen die Tränen angekämpft. Sie war auf sich allein gestellt. Sie hatte niemanden, der ihr helfen und sie beschützen konnte. Die einzigen Menschen, die wussten, wer und wo sie war, waren die beiden Marshalls und ihre Verfolger. In ihre Wohnung konnte sie nicht zurück, so viel war klar. Das Näherliegende war da wohl, zum nächsten Polizeirevier zu gehen und dort in Sicherheit auf Hayesʼ Rückruf zu warten. Die Hoffnung auf ein baldiges Ende ihrer Flucht zerschlug sich aber schon wenige Minuten nach dem Entschluss. Auf dem Weg zu dem Revier, das sie in den Yellow Pages gefunden hatte, kam sie an einem Elektronikgeschäft vorbei und blieb wie vom Blitz gerührt stehen. Die Bildschirme auf der anderen Seite des Schaufensters zeigten Breaking-News, die Juliette das Sandwich hochkommen und das Blut in den Adern gefrieren ließen. Auch wenn viele der Häuserreihen Pasadenas im gleichen Stil erbaut worden waren, dieses Spezielle würde sie unter Tausenden wiedererkennen. Genau wie das Gesicht, das in dem kleinen Fenster in der oberen Ecke gezeigt wurde.

Oh Gott, er musste nach ihrem plötzlichen Verschwinden zu ihr nach Hause gegangen sein, um nach ihr zu sehen …

Sie konnte nicht verstehen, was die Reporterin sagte, doch die Bilder sprachen Bände. Es wimmelte von Polizisten, Reportern und Schaulustigen. Ein Gerichtsmediziner schob eine Bahre mit einem schwarzen Sack über den Gehweg, in dem sich zweifellos ein Leichnam befand.

Als dann auch noch das Bild der vermissten − und vorläufig tatverdächtigen − Mieterin gezeigt wurde, verdrückte sich Juliette so unauffällig wie möglich aus der Menschentraube. Zur Polizei konnte sie jetzt wohl nicht mehr …

Die folgenden anderthalb Stunden hatte sie damit verbracht, sich zu verstecken, die nächsten Schritte zu überlegen und das Für und Wider der Möglichkeiten abzuwägen. Nach allem, was sie in den letzten Stunden durchgemacht hatte, war ihr nur ein Mensch eingefallen, auf den sie in ihrer Lage zählen konnte. Es behagte ihr nicht, diese Richtung einzuschlagen. Doch welche Alternative gab es schon, wenn sie nicht im Knast oder Leichenschauhaus landen wollte?

Jetzt stellte sich nur noch die Frage, wie sie ihren Weg fortsetzen sollte. Ohne Ausweispapiere aus der Stadt zu kommen war, als wolle man mit einem Schuh und einer Briefmarke auf Bärenjagd gehen. Es ging sicher irgendwie, nur musste man wirklich kreativ sein. Zumindest, wenn man keine hell erleuchtete Spur hinterlassen wollte. Seit dem 11. September kam man nicht mal in die U-Bahn, ohne in irgendeiner Art registriert zu werden. Da war es völlig undenkbar, ein Flug- oder ein Bahnticket zu besorgen. Auch ein Mietwagen stand nicht zur Debatte. Man musste den Führerschein vorzeigen und die Autos verfügten allesamt über GPS. Viel zu leicht war das Signal zu verfolgen. Kurz hatte Juliette sogar daran gedacht, einfach zu trampen, den Gedanken aber schnell wieder verworfen. Sie bräuchte sich nicht die Mühe zu machen und vor den Verfolgern flüchten, nur um zu irgendeinem Verrückten in den Wagen zu steigen.

Letztendlich war ihre Wahl auf die Greyhound Lines gefallen. Zwar bestand auch bei einer Busfahrt das Risiko von Kontrollen und Observation durch die Polizei oder die Verbrecher. Aber wenn Juliette nicht tausendfünfhundert Meilen laufen wollte, musste sie eben in den sauren Apfel beißen, auf das Beste hoffen und zumindest einen Teil der Strecke auf diese Weise zurücklegen. Das gekaufte Busticket in der einen Hand und die Tasche in der anderen wartete sie dreißig Minuten später – einem Zusammenbruch nahe – auf die Abfahrt.

2. KAPITEL

„Ich habe ihr gesagt, das ist der falsche Weg. Aber wollte sie auf mich hören? Nein! Und dann noch dieser Idiot. Kein einziges Mal habe ich etwas verlangt, das zu schwierig für ihn sein sollte. Und doch hat der Tölpel versagt. Er sollte sie doch einfach nur nach Hause bringen. Nicht mehr. Trotzdem versaut er es. Dann muss er halt dafür herhalten. Deshalb ist es so wichtig, immer einen Ausweichplan zu haben. Und Max? Der ist auch nicht schlauer. Ich habe es genau gesehen. Wie blöd muss man sein, sich so auffällig zu bewegen. Macht seine teure Designerjacke auf und zeigt, was drunter ist. Die kleine Schlampe dagegen ist wesentlich schlauer, als man meinen sollte. Sie ist weg. Max hat ihre Spur verloren. Aber ich bin zuversichtlich, dass das nur von kurzer Dauer sein wird …“

Es war halb zwei Uhr nachts gewesen, als der Bus endlich ankam. Juliette suchte sich eine der Sitzreihen bei der hinteren Tür aus, wo sie sich rasch ausbreitete, damit niemand auf die Idee kam, sich neben sie zu setzen. Inzwischen zerrte die Erschöpfung dermaßen an ihr, dass der ganze Körper schmerzte. Das Adrenalin in ihrem Blut hatte sich weit genug verflüchtigt, um dieses Gefühl nochmal zu verstärken.

Nur ihr Geist kam nicht zur Ruhe. Zusammengekauert und den Henkel ihrer Tasche so fest umklammert, dass die Finger blutleer kribbelten, versuchte Juliette ihre schreienden Gedanken zum Schweigen zu bringen.

Am Horizont war bereits ein schwacher heller Streifen zu sehen, als sie ihre Augen schließlich kaum noch aufhalten konnte. Sie hatten gerade die Staatsgrenze von Arizona überquert und die erste Pause war in Flagstaff geplant. Dort würde Juliette sich erst mal einen starken Kaffee besorgen. Da sie bis zur Ankunft ohnehin nichts tun konnte, gewährte sie ihrem Körper die verlangte Pause. Der Schlaf war jedoch alles andere als erholsam. Träume, die meisten davon grausam und düster, ließen sie immer wieder aufschrecken. Als der Bus in Flagstaff hielt und sie aufwachte, fühlte sie sich noch geräderter als zuvor. Wenn sie dann noch die steifen Glieder dazurechnete, war sie definitiv reif für eine Notschlachtung.

Inständig hoffend, dass es etwas helfen würde, kaufte sie sich am Kiosk neben dem Busbahnhof zusätzlich zum Kaffee noch ein halbes Dutzend Energiedrinks sowie ein Fläschchen Aspirin. Ein paar Sandwiches und Schokoriegel landeten ebenfalls im Einkaufkorb. Auch wenn sie keinen Hunger hatte, wusste Juliette, dass sie die Energie sicher noch brauchen würde.

Die nächste Etappe der Fahrt verbrachte sie angestrengt damit, nicht an die vergangenen Stunden zu denken. Ihr Leben lag in Trümmern – wieder mal. Nur hatte sie diesmal auch andere mit ins Verderben gerissen. Tränen quollen schmerzhaft hervor, als sie an Herold dachte. Sie wusste nicht, was er in ihrer Wohnung gemacht hatte. Doch jetzt war er tot. Und das war ihre Schuld. Dass sie jetzt mit Sicherheit sagen konnte, dass sie nicht paranoid war, half da wenig. Er hatte ihr helfen wollen, indem er sie nach Hause fuhr. Er hatte ihr einen Gefallen tun wollen, als er bei dem Laden hielt. Er hatte wahrscheinlich nach ihr sehen wollen, als er zu ihrer Wohnung ging. Und was war der Dank? Er war tot.

Und Heather …

Oh Gott, Heather! Die arme Heather. So oft hatte Juliette beobachten können, wie glücklich sie war. Wie ihre Augen leuchteten, wenn sie nur von ihm sprach. Wut stieg in ihr auf. Genau das war der Grund, warum sie sich von allen und jedem fernhielt. Menschen in ihrem Umfeld wurden verletzt oder starben. Sie konnte es nicht verhindern – es sei denn, sie würde sich selbst opfern. Und vielleicht war es mies und egoistisch, aber sie wollte nicht sterben.

Zwanzig Stunden später hatte sie ihr vorläufiges Ziel – oder besser den letzten Zwischenstopp erreicht. Oklahoma lag unter einer dicken, dunkelgrauen Wolkendecke, die gerade begann, ihre Schleusen zu öffnen. Perlengroße Tropfen prasselten auf Juliette nieder, als sie aus dem Bus stieg und sich umsah. Die Zweifel an ihrem Plan türmten sich in ihr auf wie die Wolken über ihr.

Was machte sie hier eigentlich, verdammt noch mal?

Sie konnte das doch nicht ernsthaft vorhaben! Ihr altes Leben war vorbei. Die Menschen aus ihrem alten Leben hatten längst mit ihr abgeschlossen. Und das war sowohl richtig als auch nötig gewesen. Denn mit ihr abzuschließen hieß, in Sicherheit zu leben.

Und doch war sie drauf und dran, John nicht nur den Schrecken seines Lebens zu verpassen, sondern ihn wahrscheinlich auch in die ganze Scheiße hineinzuziehen.

Die ganze Zeit hatte Juliette immer mal wieder nach ihm gesehen. Natürlich nicht persönlich, nein. Sie hatte sich einen falschen Account eingerichtet und John per Facebook im Auge behalten. Zumindest war das so geplant gewesen. Dummerweise hatte er sein Profil gut geschützt. Bis auf seinen Namen, einem Bild und seinem derzeitigen Wohnort war nichts zu erkennen, solange sie ihm keine Freundschaftsanfrage schickte.

Es war ein zweischneidiges Schwert. Zum einen konnte sie ihn betrachten, wenn sie ihre Familie zu sehr vermisste, zum anderen machte es ihr noch bewusster, dass sie ihn wohl nie wieder sehen würde. So oft hatte sie überlegt, ob sie ihn anschreiben sollte. Irgendeine anonyme Frau, die sich für ihn – er sah verdammt gut aus – und sein Leben und seine Familie interessierte.

Klar, als ob ihr Bruder so einfach einer Fremden gegenüber aus dem Nähkästchen plauderte …

Letztlich war es nicht der gesunde Menschenverstand oder die Hoffnung, er könne ihr mit seiner Erfahrung und seinen Fähigkeiten helfen, was sie dazu brachte, den restlichen Weg anzutreten. Es war schlicht und einfach die Sehnsucht nach ihm und der Wunsch, sich sicher und geborgen in seine Arme schließen zu lassen.

Es war mitten in der Nacht. Die große Uhr am Busbahnhof zeigte kurz vor Vier. Juliette würde Woodward in etwa dreieinhalb Stunden erreichen. Die Vorstellung, unterwegs ein paar Bagels zu organisieren, brachte tatsächlich einen letzten Funken Humor zutage. Hey Brüderchen, lange nicht gesehen. Hast du Hunger? Ich habe frische Bagels mitgebracht.

Anstatt sich um das Frühstück zu kümmern, sollte sie sich lieber Gedanken um eine Mitfahrgelegenheit machen. Trampen kam nach wie vor nicht infrage. John anzurufen, damit er sie abholte, war ebenso abwegig. Und sie bezweifelte stark, dass in Kürze ein Bus in die Richtung fahren würde.

Doch genau damit sollte sie falsch liegen. Der blassblaue Fahrplan, der den Glaskasten am Busbahnhof komplett ausfüllte, informierte sie über einen Bus, der in fünfzehn Minuten Richtung Denver abfuhr – und der genau dort hielt, wo sie hinwollte. Zähneknirschend kaufte sie sich ein weiteres Ticket. Die Aussicht, noch mehr Stunden in einem Bus zu verbringen, ließ sie ungehalten knurren. Dennoch bestieg sie das Gefährt lächelnd, denn bald würde sie ihren geliebten Bruder wiedersehen.

Der Regen begleitete Juliette auf ihrer letzten Etappe wie ein Streuner, der einem für ein Stück Brot die Treue geschworen hatte. Vor ihr erstreckte sich eine verlasse und trockene Interstate 270 im Scheinwerferlicht des Busses, während hinter ihr der nasse Asphalt bald mit der Dämmerung eins wurde. Sie traute sich nicht, die Augen zu schließen, auch wenn ihre Lider schwer wie Zementblöcke wogen.

Sie hatte beim Einsteigen mit dem Fahrer gesprochen und sich einen Platz ganz vorne gesucht. Trotzdem wollte sie sicher gehen und selbst auf die Straßenschilder achten. Nicht, dass sie einnickte und dann erst kurz vor Denver wieder aufwachte. Im Geiste dankte sie Gott für die kleine dicke Lady mit den lila Haaren und dem geblümten Kleid, die sie immer wieder in ein Gespräch verwickelte. Nicht nur die Müdigkeit setzte ihr zu, auch Trauer und Angst wollten sich wieder stärker in ihr breit machen. Da war es schon gut, dass sie sich etwas ablenken konnte, indem sie der Frau zuhörte, die von ihren Enkelkindern und dem letzten Sommerfest in irgendeinem Nest in Wisconsin schwärmte. Schließlich fand sie sogar ein wenig Gefallen an dem Gespräch. Sie beantwortete Fragen, erzählte von ihrem Job in Pasadena und von dem kleinen Hund, den sie und ihr Bruder als Kinder besessen hatten. Wäre sie nicht auf dem Weg zu Jings − wie sie ihren Bruder seit ihrer Kindheit liebevoll nannte −, hätte sie das Letzte niemals preisgegeben. Doch so nah bei ihm fürchtete sie sich nicht davor, dass die Erinnerung ihr Herz zerdrücken könnte wie eine Faust eine überreife Grapefruit.

Als sie schließlich in Woodward ankamen, bedankte sie sich bei der Frau für die nette Unterhaltung und wünschte ihr noch eine gute Weiterfahrt. Dem Blick aus den fröhlichen, von tiefen Falten umgebenen Augen begegnend fragte sich Juliette kurz, ob die Lady immer noch so strahlen würde, wenn sie ihr mehr von sich offenbart hätte. Mehr als einmal hatte sie nach dem Grund für Juliettes Reise gefragt. Als wolle sie sich mit einem lapidaren „Ich besuche meinen Bruder“ nicht zufrieden geben.

Die Stadt lag unter einem grauen Wolkenfeld. Die Straßen glänzten vor Nässe. Irgendwann hatte der Regen den Bus überholt, um Juliette diesen tristen Empfang zu bereiten.

Langsam erwachte alles zum Leben. Obwohl es Sonntag war, hetzten Menschen mit mürrischen Gesichtern von Markise zu Markise, bauten Tische und Stände vor ihren Cafés und Läden auf oder holten sich am Zeitungsstand die morgendliche Lektüre.

Wie die meisten Kleinstädte besaß auch Woodward einen ganz eigenen Charme mit seinen kleinen Parks und Kirchen, den Bannern über der Straße, auf denen das diesjährige Apfelfest angekündigt wurde, und den kleinen Läden. Die Schäden der Tornados, die auch dieses Jahr wieder über die Stadt hereingebrochen waren, waren noch nicht vollständig behoben, aber davon ließen sich die Bewohner nicht unterkriegen. Es erinnerte Juliette an Zuhause. Die Leute in Milwaukee waren ähnlich eingestellt. Tornados kamen eben immer wieder. Man konnte sie nicht vertreiben oder bestechen. Sie rasten über das Land und nahmen sich, was sie wollten. Man fand sich damit ab oder man zog fort.

Juliette schlenderte die Hauptstraße entlang, kaufte sich im Café an der Ecke einen Kaffee und ein Puten-Käse-Sandwich, und erkundigte sich dabei gleich nach dem Weg zum Highland Drive. Es regnete wieder in Strömen, weshalb sie unter dem Vordach des Ladens stehen blieb, bis sie aufgegessen hatte. Bis zu Johns Adresse war es ein ganzes Stück zu laufen – laut Cafébesitzer gute zweieinhalb Meilen. Aber da sie eh schon nass bis auf die Knochen war und definitiv lange genug gesessen hatte, würde ihr ein Spaziergang trotz der Erschöpfung gut tun. Mal abgesehen davon war ihr Bargeldvorrat erheblich geschrumpft, als sie durchs halbe Land gereist war, da musste sie es mit einer Taxifahrt nicht noch zusätzlich strapazieren.

Jings hatte sich einen schönen Platz ausgesucht, um sich niederzulassen. Milwaukee hatte ihm nie gefallen. Das war auch der Grund gewesen, warum er damals zur Army gegangen war. Zwei Monate, bevor Juliette starb, war er aus dem Irak zurückgekommen und hatte sich erst mal beurlauben lassen. Doch wer glaubte, er wolle einfach nur die Beine hochlegen und sich etwas bemuttern lassen, lag falsch. John hatte es eine knappe Woche Zuhause ausgehalten, ehe er seinen Rucksack packte und sich auf den Weg quer durch Amerika machte.

Sie hatte ihn nie wieder gesehen.

Mit jedem zurückgelegten Meter stieg die Nervosität an und blubberte schließlich wie Brausepulver in ihren Eingeweiden. Aber es war eine gute Nervosität.

Und überhaupt.

Erst jetzt bemerkte sie, dass sie sich an diesem Ort geradezu wohlfühlte – naja, so wohl man sich eben fühlen konnte, wenn man seit über sechsunddreißig Stunden wach und total durchgeweicht war. Natürlich hatte sie weder ihre Verfolger noch ihren toten Kollegen vergessen – oder seine Witwe. Aber zum ersten Mal seit einer Ewigkeit erschrak sie nicht bei jedem Geräusch und jeder Bewegung im Augenwinkel. Auch verspürte sie nicht ständig den Drang, in den nächsten Hauseingang zu springen, sobald ein Wagen vorbeifuhr.

Schon seltsam. Genau jetzt, wo die Gefahr näher war als in den letzten Jahren, fühlte sie fast sowas wie Freude und Hoffnung. Jings würde ihr helfen. Oder jemanden kennen, der ihr helfen konnte.

Sie kramte ihr Handy aus der Tasche und warf einen Blick aufs Display. Die Marshalls hatten sich immer noch nicht gemeldet. Weitere fünf Mal hatte sie bei Hayes und Donovan angerufen, deren Mailboxen sicher schon von ihren Nachrichten überquollen. Verdammt, dabei war es doch sicher nur eine Frage der Zeit, bis die Verbrecher ihre Spur wiederfanden. Im einundzwanzigsten Jahrhundert konnte man sich nicht einfach in Luft auflösen. Big Brother hatte seine Augen überall, und die Verbrecher waren gut vernetzt, wie sie schon mehrfach bewiesen hatten.

Unvermittelt blieb Juliette stehen und griff sich an den Hals. Was tat sie hier eigentlich? Konnte sie wirklich so blöd und naiv sein? Oder so verzweifelt? Wer auch immer hinter ihr her war, würde bestimmt auch ihre Familie beobachten. Und sie hatte nichts Besseres zu tun, als direkt zu John zu fahren.

Wo eben noch Hoffnung und Freude gewesen waren, herrschte plötzlich Angst. Furchtbare, alles verschlingende Angst.

Juliette wurde speiübel. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch zerploppten einer nach dem anderen.

Doch so sehr sie auch umzukehren versuchte, ihre Füße trugen sie weiter. Bis sie schließlich wie angewurzelt vor dem kleinen Haus stand und es anstarrte. Der Regen prasselte auf sie nieder, und kleine Rinnsale plätscherten von dem Schirm ihres tiefsitzenden Basecaps. Haare, Kleidung, einfach alles klebte klitschnass an ihr. Die Reisetasche tropfte ebenfalls munter vor sich hin. Doch das interessierte Juliette in diesem Moment nicht.

Da drin war John.

Er schlief vermutlich noch selig und hatte keine Ahnung davon, dass seine tote Schwester nur wenige Meter von ihm entfernt auf seine Haustür blickte, als könnte sie aus der feinen Maserung des Holzes herauslesen, ob sie klopfen sollte oder nicht.

Aber Juliette kannte die Antwort bereits. Sie musste gehen. Ohne ihn auch nur einmal zu sehen, ohne mit ihm zu reden und ohne dass er je von diesem Besuch erfuhr. Sie war tot und begraben. Und wenn sie nicht schleunigst zusah, dass sie hier weg kam, würde John es sicher auch bald sein.

„Leb wohl“, flüsterte sie und wandte sich zum Gehen.

„Kann ich Ihnen helfen? Suchen sie jemanden?“

Juliette stoppte, hielt ihren Blick aber starr auf die Straße gerichtet. John kannte sie gut genug. Er würde jede noch so kleine Bewegung sofort wiedererkennen. Auch wenn sie diesbezüglich bis jetzt noch Glück gehabt hatte.

Ja, es war ein Fehler gewesen, herzukommen.

Nichtsdestotrotz drängte alles in ihr danach, ihn anzusehen und Schutz bei ihm zu suchen.

„Miss?“ Sie hörte das Knarren der zwei Stufen, die von der Haustür in den Vorgarten führten. Er kam näher. Oh Gott, was sollte sie jetzt tun?

Sie wappnete sich innerlich und drückte so unauffällig wie möglich den Rücken durch. Den Kopf drehte sie nur ganz leicht. Gerade weit genug, um ihm eine gewisse Aufmerksamkeit zu signalisieren.

„Nein. Ich …“ Juliette räusperte sich. „Ich bin falsch abgebogen“, setzte sie mit leicht verstellter Stimme nach.

Bitte, geh wieder rein. Geh rein und kümmer dich nicht weiter um mich.

„Sind sie bei diesem Wetter etwa zu Fuß unterwegs?“ Typisch John. Machte sich selbst um Fremde Sorgen.

Sie nickte, wobei ihre nassen Haare vor und zurück schaukelten.

Lass das, geh einfach!

„Ich muss gehen“, flüsterte sie hastig und lief los.

Natürlich sollte sie nicht so einfach davonkommen. Sie hörte das nasse Gras unter seinen Füßen schmatzen, als John ihr folgte.

„Warten Sie!“ Juliette zuckte heftig zusammen, als er ihr die Hand auf den Arm legte. Reflexartig sah Juliette zu ihm auf.

„Wohin müssen sie? Ich kann sie …“

John riss die Hand weg, als habe er sich verbrannt, und wich von ihr zurück. Sein Gesicht wurde leichenblass, während er sie aus weit aufgerissenen Augen musterte.

Kein Zweifel. Er hatte sie erkannt. Und es hatte nicht mal eine Sekunde gedauert.

Tränen brannten ihr in den Augen und es zerriss ihr das Herz, als sie dem Blick ihres Bruders erneut begegnete. Sie konnte regelrecht sehen, wie es in ihm arbeitete. Offensichtlich stand er unmittelbar vor einem Kurzschluss.

„Das kann nicht … das ist unmöglich … du bist …“

Er drehte sich weg, ging einige Schritte, kehrte um und trat wieder vor sie. Dabei fuhr er sich immer wieder durchs mittlerweile ebenfalls tropfnasse Haar. Als wären ihm die Worte ausgegangen, glotzte er nur wie ein aufgeschreckter Koboldmaki.

„Hallo Jings“, flüsterte sie. Etwas anderes – etwas Besseres – hatte ihr einfach nicht einfallen wollen.

John wurde tatsächlich noch blasser. Er legte die Hände vor den Mund, schnappte nach Luft und fuhr sich dann erneut durchs Haar.

„Wie kann das sein? Du bist tot. Ich war auf deiner Beerdigung!“, sagte er fast vorwurfsvoll. Er sprach ebenso leise wie sie zuvor. Im nächsten Moment hatte er sie an sich gezogen. „Jules.“

Dieses eine kleine Wort, die Art, wie John es aussprach, seine Stimme, die tief in der Brust vibrierte, seine Umarmung – Juliette wusste nicht, was es genau war. Doch die letzte Rettungsleine riss. Sie klammerte sich an ihn und weinte. Die Mauer, die sie um die Erinnerungen an ihre Familie und die damit verbundenen Gefühle errichtet hatte, war mit einer alles erschütternden Wucht detoniert und hatte eine Wunde freigelegt, die nie hatte abheilen können.

John drückte seine kleine Schwester noch einmal fest an sich und brachte sie dann etwas auf Abstand. Seine Augen glänzten verdächtig, als er ihr das Baseballcap abnahm. Dass die Tropfen, die seine Wange hinab liefen, allein vom Regen herrührten, wagte Juliette stark zu bezweifeln. Sanft strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht und mit den Daumen über ihre Wangen.

„Du bist es wirklich, oder?“, hauchte er mit tränenerstickter Stimme. Er umfasste ihre Arme, ehe er seine Hände wieder auf ihr Gesicht legte, um sicher zu gehen, dass seine kleine Schwester wirklich lebendig vor ihm stand. „Was hast du nur mit deinen Haaren gemacht?“ Es war keine Frage, deren Antwort ihn ernsthaft interessierte, denn kaum hatte er sie gestellt, zog er Juliette wieder an die Brust. Ein Schauer, der nichts mit Nässe oder Kälte zu tun hatte, durchfuhr sie.

„Ich bin so ein Blödmann. Komm, wir gehen rein. Du holst dir sonst noch den …“ John verstummte und schnitt eine Grimasse. Zaudernd legte er ihr den Arm um die Schulter und sah sie wachsam an. Als würde er dem Ganzen nach wie vor nicht so richtig trauen. Verdenken konnte sie es ihm nicht. Sie hätte an seiner Stelle vermutlich nicht anders reagiert, wenn er plötzlich von den Toten auferstanden wäre.

Offensichtlich erleichtert darüber, dass seine Schwester sich nach wie vor nicht in Luft aufgelöst hatte, nickte er zufrieden. Dann manövrierte er sie die Stufen hoch und gleich durchs ganze Haus. Erst im Bad stoppte er.

„Geh erst mal duschen. Das wird dir guttun. Da sind Shampoo und Duschgel. Tut mir leid. Ich habe alles nur for Men. Ähm, Handtücher findest du im Schrank. Wenn du fertig bist, liegen nebenan Klamotten. Dein ganzes Zeug ist ja völlig durchnässt. Ich schmeiß es in den Trockner. Und ich mache Kaffee. Du trinkst doch noch Kaffee?“

Juliette nickte nur. Johns fahriges Gebrabbel zu unterbrechen, wäre ein aussichtsloses Unterfangen gewesen. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, dass er das immer tat, wenn er nervös oder aufgeregt war. Ihr Dad hatte ihn immer damit aufgezogen, dass er jegliche Klatschweiber in Grund und Boden quasselte. Früher hätte sie John dafür jedes Mal eine überziehen können, doch heute wollte sie nicht, dass er auch nur für eine Sekunde damit aufhörte.

John hatte angefangen, einige Klamotten aus dem Schrank zu kramen, während sie noch damit beschäftigt war, sich das blöde Gummiband aus den Haaren und die Schuhe von den Füßen zu zerren.

„… und Mom gleich anrufen. Sie werden ausflippen.“

„Hmm – Moment mal, was?“ Juliette landete beinahe auf ihrem Hintern, als sie durch seine Worte alarmiert zur Tür stürzte. „Nein!! Du darfst sie nicht anrufen!“ Panik wallte in ihr auf, ließ schwarze und weiße Punkte vor ihren Augen tanzen. Hektisch schnappte sie nach Luft. „Jings, niemand darf erfahren, dass ich lebe!“ Eindringlich sah sie ihn an. „Niemand! Hörst du?!“

John warf die Trainingshose aufs Bett und kam auf sie zu. Direkt vor ihr blieb er stehen. „Was hast du dir da nur eingebrockt, kleine Schwester?“

Juliette zögerte. Sie unterbrach den Blickkontakt und senkte den Kopf. „Bitte frag nicht! Das kann ich dir nicht sagen. Ich dürfte nicht mal hier sein.“ Beklommen sah sie wieder zu ihm auf.

Seine Hände umfingen ihr Gesicht. Legten sich warm und zärtlich an ihre Wangen. „Du bist, wo du hingehörst! Ich helfe dir. Wir regeln das, und du bekommst dein altes Leben zurück“, sagte er beschwörend.

Oh, wie verlockend das klang. Ihr Leben und ihre Familie zurückbekommen, mehr hatte sie in den letzten Jahren nie gewollt. Nur aus Sorge um deren Sicherheit hatte sie sich damals darauf eingelassen, unterzutauchen. Denk an Naomi und an Herold, mahnte sie sich. John wird es genauso ergehen. Sie werden ihn finden und töten – nachdem sie ihn gefoltert haben, um ihren Aufenthaltsort herauszubekommen.

Sie foltern und töten ihn, und du wirst daran schuld sein!

Nein, das durfte sie nicht zulassen!

Juliette wich von John zurück in Richtung Tür. Ihr Herz schlug hart gegen den Brustkorb, als sie nach ihrer Tasche griff und durch den Flur rannte. Sie hörte seine hastigen Schritte hinter sich, was sie noch mehr zur Eile antrieb.

Sie musste raus! Weg von hier, weit weg.

Mit einem Knall prallte sie gegen die Haustür, drehte den Knauf und drückte. Doch nichts geschah. Wieso ging die verdammte Tür nicht auf? Hatte John sie eingeschlossen? Wieso sollte er das tun?

Oh bitte, sie musste hier raus, ehe es zu spät war. Noch gab es eine Chance. So schnell würden ihre Verfolger ihre Spur nicht wiedergefunden haben. Es sei denn, John wurde wirklich beobachtet.

Was, wenn sie schon auf dem Weg waren?

Was hatte sie getan?!

Juliette drückte weiter gegen die Tür, warf sich dagegen. Heiße Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Lass mich raus! Ich muss weg! Ich hätte nie … Ich hätte nie herkommen dürfen! Bitte Jings, lass mich hier raus!“

„Juliette! Juliette, hör auf! Bitte beruhige dich!“

Juliette erstarrte, als sie einen Motor hörte. War das ein Auto? Hielt es an?

Oh nein. Sie hatten sie gefunden!

Rasend vor Panik rammte sie erneut ihre Schulter gegen das harte Holz. Ihr Blick flog herum, suchte nach einer anderen Möglichkeit, dem Unausweichlichen zu entfliehen. Doch egal, ob sie aus dem Fenster oder der Hintertür türmen wollte. John stand ihr im Weg – und an ihm würde sie ganz sicher nicht vorbei kommen.

Die Luft füllte ihre Lungen viel zu schnell. Die Maserung des Holzes verschwamm ihr vor den Augen.

Aber sie durfte jetzt nicht aufgeben.

Sie fühlte, wie John sie packte. Sein Griff war unnachgiebig, und sie hatte nicht die geringste Chance, ihm zu entkommen. Er redete auf sie ein und schleifte sie von der Tür weg.

Einen Moment noch hielt sie sich an der Klinke fest, und kaum hatte sie losgelassen, schwang die Tür vor ihren Augen auf – natürlich nach innen. Mit dem letzten Rest klaren Verstandes verfluchte Juliette sich für ihre Dummheit.

Sie wehrte sich so gut sie konnte. Jetzt, wo die Tür auf war, musste sie …

John presste sie gegen eine Wand. „Jules, du musst dich beruhigen! Hörst du? Beruhig dich!“ Ihr Bruder klang mehr als besorgt. Seine grünen Augen fixierten sie, seine Hände umklammerten ihre Oberarme.

„Aber ich muss doch weg! Sie werden dich töten!“, versuchte sie ihm klarzumachen. Ihr Blick wanderte dabei immer wieder zwischen ihm und der offenen Tür hin und her. „Ich könnte damit nicht leben. Bitte Jings, lass mich gehen und vergiss, dass ich hier war! Bitte …“ Die letzten Worte klangen verzerrt, erstickt von dem Schluckauf und den Tränen.

John schüttelte energisch den Kopf. „Das kann ich nicht!“

Schluchzend ließ sie sich gegen ihren Bruder sinken. Sie war mit ihrer Kraft am Ende.

John hob sie hoch und trug sie zur Couch. Insgeheim war sie dankbar dafür. Sie hätte sich keine Minute länger auf den Beinen halten können.

Für einen Moment verschwand er und kam dann mit einem Glas Wasser zurück.

„Geht’s wieder?“ fragte er, als sie es in einem Zug geleert hatte. Sie ließ sich Zeit, um eine interne Bestandsaufnahme durchzuführen. „Alles wieder in Ordnung?“

„Garnichts ist in Ordnung“, sagte sie schließlich schlaff.

John strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und lehnte sich gleich wieder zurück, als sie zusammenzuckte. Sie war es einfach nicht mehr gewöhnt, so berührt zu werden. Menschen stets auf Abstand zu halten, hatte mitunter diesen Effekt. Und das sagte sie ihm auch.

„Was ist mit dir passiert?“

Juliette atmete tief durch und setzte sich auf. Er würde sie nicht einfach wieder verschwinden lassen und so tun, als habe er nur einen seltsamen Traum gehabt. Er würde nicht locker lassen, bis er die Wahrheit kannte. Manches änderte sich eben nie.

„Vor fünf Jahren war Naomi an dieser Sache dran. Duncan Carmichael – du weißt schon, der Fabrikbesitzer – stand im Verdacht, in illegale Geschäfte verwickelt zu sein. Korruption, Erpressung, Mord, das ganze Programm. Obwohl vieles auf ihn hindeutete, konnte ihm nie etwas nachgewiesen werden. Du weißt, wie Naomi war. Witterte sie eine Story, konnte sie nichts und niemand aufhalten. Eines Tages hat sie zufällig ein Treffen beobachtet und es mit dem Handy aufgezeichnet. Sie wurde entdeckt und konnte gerade noch das Video per Mail verschicken. Auf ihrer Flucht hat sie dann das Handy verloren. Sie müssen es gefunden haben …“ Juliette schluckte und versuchte das Zittern unter Kontrolle zu bringen, das von ihrem ganzen Körper Besitz ergriffen hatte. „Auf jeden Fall kamen er und seine Helfer an all ihre Daten. Und an die Adresse, an die das Video ging.“

„Deine“, mutmaßte John leise.

Juliette nickte. „Naomi ist noch in derselben Nacht zu mir gekommen, und wir haben das Video zur Polizei gebracht. Doch ehe die etwas unternehmen konnten, war Carmichael untergetaucht. Es gab keine Spur, die zu ihm führte. Was ihn aber nicht davon abgehalten hat, uns zu jagen. Eine Zeit lang hatten wir Glück. Aber dann haben sie uns doch geschnappt und verschleppt. Naomi wurde verletzt. Ich konnte mich befreien und entkam. Oder besser gesagt, so gut wie. Ehe die Polizei Kurt – den einen der beiden Entführer – ausschalten konnte, schoss er mir in den Rücken.“

„Das war bei den Lagerhallen. Man sagte uns, du wärst dort bei einer Schießerei ums Leben gekommen. Irgendwelche Bandengeschichten, die aus dem Ruder gelaufen waren und bei denen ihr zufällig in die Schusslinie geraten wärt.“

John klang ruhig und sachlich, doch sie erkannte die unterdrückte Wut und den Schmerz, die in ihm tobten.

Juliette schluchzte. Sie brauchte einen Augenblick, ehe sie weiter erzählen konnte.

„Als ich im Krankenhaus zu mir kam, war ein Marshall bei mir. Er erklärte, dass ich offiziell tot sei und ins Zeugenschutzprogramm käme, bis man Carmichael gefasst habe. Er hat mir auch erzählt, dass Naomi gestorben ist und …“

„Kam sie auch ins Zeugenschutzprogramm?“

Juliette schluckte schwer und schüttelte den Kopf. „Der andere … er war mit ihr vor der Halle … er hat ihr … in den Kopf geschossen, als neben der Halle die Schießerei losging.“

Sie unterdrückte die aufsteigende Übelkeit und bat John um ein weiteres Glas Wasser. „Ich habe es gesehen. Ein Video von der Überwachungskamera in einem der Einsatzfahrzeuge …“, fuhr sie fort, als er sich wieder gesetzt hatte. „Unmöglich, dass sie das überlebt hat. Er hat ihr die Waffe direkt an die Schläfe gehalten. Als sie zu Boden ging, war von ihrem Gesicht nicht mal mehr genug übrig, um sie zu identifizieren.“ Hayes hatte immer wieder ausdrücklich gesagt, dass sie sich das nicht antun solle. Doch sie hatte es einfach mit eigenen Augen sehen müssen.

„Jules, du musst nicht …“

„Doch! Ich muss! All die Jahre … Ich konnte mit niemandem darüber reden. Niemand durfte davon erfahren. Ich meine, die erste Zeit, als ich noch im Krankenhaus lag und mich von meinen Verletzungen erholte, kam eine Psychologin. Aber danach …“ Juliette zuckte mit den Schultern.

„Nach deinem Verhalten zu urteilen bist du nicht zurückgekommen, weil man Carmichael gefasst hat“, schätzte John. Er war nähergerutscht und hatte Juliettes Knie zwischen seine genommen. Behutsam strich er über ihre zu Fäusten geballten Hände.

„Nein. Die Marshalls haben immer noch keine Ahnung, wo er steckt. Vor einigen Monaten wurde ich erkannt. Eine alte Geschichte. Ich kam nach Pasadena. Da war alles ruhig. Aber am Freitag fiel mir dann dieser Wagen auf. Ein goldener Lincoln. Ich dachte, es wäre nur Einbildung. Ich habe ziemliche Paranoia entwickelt, an jeder Ecke Verfolger gesehen. Es hat mich fast wahnsinnig gemacht.“

„Aber diesmal war es anders?“

„Ja. Ich sah ihn immer wieder. Ein Kollege brachte mich nach Hause. Wir machten unterwegs an einem Lebensmittelladen Halt. Von dort bin ich dann abgehauen, als der Wagen auftauchte und direkt davor hielt. Ich holte meine Fluchttasche und … kam hierher. Jings, es tut mir leid. Ich will dich da nicht mit reinziehen. Aber ich habe die Marshalls nicht erreicht und wusste nicht …“ Juliette rieb sich grob über die Lippen und versuchte, irgendwie die Fassung zu bewahren.

„Schon gut. Es war richtig, herzukommen.“

„Nein. Unterwegs habe ich einen Bericht im Fernsehen gesehen. Mein Kollege Herold, er wurde in meiner Wohnung getötet … Oh Gott!“ Juliette flog hoch − donnerte John dabei aus Versehen die Hände unters Kinn − und sprang um die Polsterecke herum.

„Jules, was ist los?“ Ihr Bruder schreckte ebenfalls hoch und sah sich hektisch um.

„Hast du einen Computer? Oder Laptop? Ich muss ins Internet. Ich muss etwas nachsehen.“ Wie hatte sie das nur vergessen können? Sie stand unter Mordverdacht! Sie hatten im Fernsehen darüber berichtet!

„Jules, was ist los?“ John betrachtete sie besorgt.

„Er wurde in meiner Wohnung getötet. Kurz nachdem man uns zusammen gesehen hat. Ich muss den Bericht darüber sehen. Ich muss …“

Juliettes fühlte ein Kribbeln auf ihrer Haut und schwankte. John fing sie auf, als ihre Beine nachgaben.

3. KAPITEL

„Wann hast du zuletzt geschlafen?“ Er musste ja gleich ins Schwarze treffen. Sie hatte wirklich inzwischen alle Kraftreserven aufgebraucht.

„Es geht mir gut.“ Das klang selbst in ihren Ohren wenig glaubhaft.

„Das ist Schwachsinn! Wann hast du das letzte Mal geschlafen, Juliette?“, bohrte John grimmig nach.

„Im Bus. Mann, John, es ist wichtig. Was, wenn sie mir das in die Schuhe schieben wollen?“ Etwas blitzte in seinen grünen Augen auf, doch er blieb unnachgiebig neben ihr hocken, bis sie den Widerstand aufgab und jegliche Versuche einstellte, aufzustehen.

„Du konntest noch nie im Auto oder im Bus schlafen. Und dann willst du mir ernsthaft erzählen, du hättest in Seelenruhe geschlafen, während du auf der Flucht vor irgendwelchen vermeintlichen Mördern bist?!“

Vermeintliche Mörder?“ schnappte sie entrüstet. „Glaubst du, ich hätte mir die nur eingebildet!“

„Nein, das glaube ich nicht. Und so habe ich das auch nicht gemeint.“ Jings raufte sich die Haare und sah sie schuldbewusst an. „Aber jetzt sag die Wahrheit. Wie lange bist du schon wach?“

Juliette schnaufte genervt. Sie hatte vergessen, wie hartnäckig ihr Bruder sein konnte. Kein Geheimnis war vor ihm sicher, wenn er sich in den Kopf gesetzt hatte, es zu lüften. Doch wenn sie so schneller an den Computer käme – ihretwegen. Schnell rechnete sie nach. Gar nicht so einfach. Die Müdigkeit fraß sich durch sie hindurch. Immer wieder gingen ihr die letzten Stunden und Tage durch den Kopf, die vielen zurückgelegten Kilometer. Juliette verzog den Mund.

Wow.

„Etwas über einen Tag“, murmelte sie absichtlich beiläufig.

Johns zog eine Augenbraue hoch, schaute sie argwöhnisch an und stützte sich auf die Knie. „Jules“, sagte er gedehnt.

„Okay, okay. Seit knapp vierzig Stunden. Bist du jetzt zufrieden?“ Nein, das war er wohl ganz und gar nicht.

Mit einem äußerst verärgerten Knurren riss er Juliette hoch und zerrte sie ins Schlafzimmer. Dort drückte er ihr ein Shirt in die Hand und verfrachtete sie dann ins Bett, kaum dass sie endlich aus den nassen Klamotten raus war.

„Und hier bleibst du, bis du mindestens sechs Stunden geschlafen hast! Du stehst nicht auf! Es sei denn, du musst pinkeln. – Nein, du sagst jetzt keinen Ton! Haben wir uns verstanden?“ Wie ein Vater, der sein Kind ins Bett brachte, drückte John die Decke um sie herum fest und blickte sie noch einmal streng an. Dann wurde sein Blick sanfter. „Ich bin gleich nebenan, wenn was ist. Mach dir keine Sorgen. Du bist hier sicher.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und verließ das Schlafzimmer.

Juliette starrte auf die Tür, die er einen Spalt weit offen gelassen hatte. Sie lauschte den sich entfernenden Schritten ihres Bruders. Allein das vertraute Schlurfen seines rechten Fußes zu hören – das Bein war ein wenig länger als das andere – ließ sie sich zuhause fühlen. Sie rollte sich auf die Seite, zog die Decke ein wenig höher und vergrub die Nase im Kissen.

Draußen verebbte der Regen langsam und die Wolken brachen auf. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es ihr unter der dicken Decke zu warm werden würde. Doch solange wollte sie sich sprichwörtlich in die Vertrautheit und den Frieden vergraben, die Johns Geruch in ihr auslöste. Sie kämpfte nicht gegen den Schlaf an. Ihre Augen wollten zufallen, ihr Geist und ihr Körper zur Ruhe kommen. Und sie ließ es geschehen. Bereits bevor John ihr die Predigt gehalten hatte, hatte allein die Berührung mit der Matratze ausgereicht, um sie mit einer angenehmen Schwere zu belegen.

Juliette wollte einfach nur den Moment genießen. Draußen im dicken Ahorn zwitscherten fröhlich die Vögel, und in unregelmäßigen Abständen trug der Wind Stimmen und Motorgeräusche durch die Nachbarschaft. Ein warmer Sonnenstrahl fiel in ihr Zimmer und streichelte die Stellen ihres Körpers, die nicht von Stoff bedeckt waren. In der Luft lag der Geruch von Moms Tomatensuppe. Keiner kochte sie so wie sie. Sie könnte ewig so liegen bleiben, doch dem Duft nach zu urteilen, würde ihre Mom in spätestens zehn Minuten ins Zimmer gestürmt kommen, um sie zum Essen zu holen. Dabei könnte sie eigentlich sogar noch eine Runde schlafen. Die letzten Tage waren so anstrengend gewesen …

Moment.

Ein seltsames Gefühl kratzte an ihrem trägen Verstand. Irgendwas stimmte an dem Bild nicht, das sich vor ihrem inneren Auge aufgebaut hatte. Lautes Scheppern brachte dann die ernüchternde Wirklichkeit ans Tageslicht: Sie war nicht in ihrem Zimmer – nicht mal in Milwaukee. Die Vögel saßen nicht im Ahorn. Die Geräusche gehörten nicht in ihre Nachbarschaft.

Und sie war nicht Juliette, sondern Lori. Auch wenn ihr Bruder sie immer noch bei ihrem Geburtsnamen nannte.

Langsam setzte sie sich auf und sah sich in dem Schlafzimmer um. Es war eher schlicht, geradezu zweckmäßig eingerichtet. Das Fehlen jeglicher femininer Einflüsse war mehr als deutlich. Eine Kommode stand gleich neben dem Fenster und ein dreitüriger Schrank zwischen den Türen zum Bad und zum Flur. Auf dem abgeschliffenen Holzboden war ein kleiner Teppich ausgebreitet. Ein Stuhl und ein stummer Diener standen in der Ecke. Letzterer brach unter der Last der Kleidung fast zusammen, die achtlos darüber geworfen worden war. Neben dem Futonbett stand ein kleines Tischchen mit einem Radiowecker und einer Nachttischlampe. Einfache dunkelblaue Vorhänge sperrten den Großteil des Sonnenlichts aus. Es mangelte vollkommen an Deko, Bildern oder …

Juliettes Blick glitt zur Kommode zurück und heftete sich dort an etwas. Unbeholfen strampelte sie die Decke zur Seite und stieg aus dem Bett. Mit gemischten Gefühlen näherte sie sich dem Möbelstück und griff nach dem silbernen Rahmen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie auf das Bild starrte. Es zeigte ihre Eltern, ihren Bruder und sie selbst an dem Abend, bevor John in den Krieg gezogen war. Obwohl sie alle lächelten, erkannte sie in ihren Augen Unruhe und Sorge. Jeder von ihnen hatte Angst davor gehabt, dass sie bald nur noch zu dritt sein würden. Wie sich herausstellen sollte, trat genau das schon wenige Monate später ein – nur dass sie sich um das falsche Familienmitglied gesorgt hatten.

Juliette strich über die Gesichter ihrer Eltern und stellte das Bild zurück an seinen Platz. Nur um sich einem anderen zuzuwenden. Ein schmaler schwarzer Streifen Stoff zierte die obere Ecke. Die junge blonde Frau strahlte in die Kamera, voller Hoffnung und Zuversicht für die Zukunft. Du warst so eine Närrin, dachte Juliette und wandte sich ab. Sie wollte sich nicht länger damit beschäftigen, was hätte sein können.

„Hätte, wäre, wenn“, schimpfte sie leise vor sich hin, als sie die Tür aufstieß und das Bad betrat, um zu duschen.

Fünfzehn Minuten später fühlte sie sich fast wieder wie ein Mensch. Die Jogginghose, die John ihr morgens raus gelegt hatte, war – ebenso wie sein Shirt – viel zu groß und zu lang. Doch ein bisschen an der Kordel gezurrt und die Beine hochgekrempelt, und sie saß, ohne dass sie darüber stolpern würde oder plötzlich mit blankem Hintern dastand.

Juliette hatte bereits den halben Flur hinter sich gebracht, als sie wie gebannt stehen blieb. Sie hatte auch während der Dusche ständig an früher denken müssen, so fiel ihr erst jetzt auf, dass der Geruch nach Tomatensuppe kein heraufbeschworenes Hirngespinst war. Gebannt lauschte sie. Auf was genau, konnte sie nicht sagen. Die Stimmen ihrer Eltern. Das Summen ihrer Mutter, wenn sie kochte. Oder ihre tadelnden Mahnungen, wenn John von der Suppe naschte, die noch vor sich hin köchelte.

Ihr Magen zog sich zusammen, als sie vorsichtig um die Ecke lugte. Natürlich würde sie sich freuen, ihre Eltern wiederzusehen. Doch das Risiko war einfach zu groß. Außerdem wollte sie ihnen die Wahrheit nicht zumuten. Es war einfacher für sie, Juliette tot zu wissen, als sich ständig damit auseinandersetzen zu müssen, dass ihre Tochter wegen irgendwelcher Auftragskiller in ständiger Gefahr schwebte.

Doch die Küche war leer. Genau wie das Wohnzimmer. Langsam trat sie näher. Nichts rührte sich. Alles lag völlig still da. Nur das leichte Ploppen unter dem silbernen Topfdeckel war zu hören.

Juliette sah sich weiter um. Genau wie im Schlafzimmer und im Bad regierte hier pure männliche Zweckmäßigkeit. Und Ordnung. Sie schmunzelte leicht. Auch wenn der stumme Diener fast in die Knie gegangen war unter den vielen Kleidungsstücken, war er das einzige, was auch nur im Geringsten nach ein wenig Unordnung aussah. So war Jings immer schon gewesen. Seine Militärzeit hatte ganz sicher ihr übriges dazu beigetragen, den Ordnungsfimmel noch zu verstärken.

Den blauen Stoff hatte John offenbar gleich meterweise gekauft, denn er zierte auch hier die Fenster. Eine schlichte graue Garnitur und ein schwarzer Wohnzimmertisch nahmen die Mitte des Raumes ein. An der Wand war ein Plasmabildschirm montiert. Eine dieser modernen, aber ebenfalls optisch schlichten Wohnwände – ein schmales Regal, eine Hängevitrine und ein Lowboard − bot DVD-Player, DVDs und einigen wenigen Büchern Platz. Auch hier fand sich kaum Schnickschnack oder Dekoration.

„Na? Ausgeschlafen?“

Juliette wirbelte herum und holte aus. John fing ihren Schlag so lässig ab wie ein Kinderschaumstoffboard, das durch die Luft flog.

„Du blöder Arsch! Schleich dich doch nicht so an.“

John ließ ihre Hand los und bückte sich nach dem Handtuch, das Juliette bei der Drehung vom Kopf gerutscht war. „Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du schon wach bist. Ich war im Keller.“ Er grinste breit. „Außerdem bin ich ganz normal gelaufen. Was kann ich dafür, wenn du so schlechte Ohren hast.“

Juliette kniff wütend die Augen zusammen. „Na gut. Aber was ist das?“ Sie packte ihn am Ärmel seines Shirts und zerrte ihn hinter sich her in die offene Küche. Sie hob den Deckel vom Topf und erschauderte innerlich, als der Duft ihrer Kindheit sie umhüllte.

„Tomatensuppe.“ Ernsthaft?

„Jings, stell dich nicht blöder, als du bist. Wie kommt Moms Suppe hierhin?“ Juliette schloss den Topf wieder. Ihre Erinnerungen und ihr leerer Magen machten sie ganz schwindelig.

„Es ist nicht ihre Suppe.“ John hob schnell den Zeigefinger, als Juliette widersprechen wollte. Den Geruch erkannte sie unter hundert anderen Tomatensuppen. „Es ist vielleicht ihr Rezept, aber sie hat es nicht gekocht. Ich habe dir versprochen, sie nicht anzurufen, und ich habe es auch nicht getan. Niemand weiß, dass du hier bist.“ Wenn sie in diesem Punkt doch nur auch so zuversichtlich sein könnte. „Mom hat mich vor ungefähr drei Jahren zum Laborday besucht und mit Mildred, der Frau meines Bosses, zwei Tage lang Tomatensuppe gekocht. So lange, bis das Rezept saß und das Ergebnis sie zufriedenstellte. Als ich vorschlug, sie solle es doch gleich mir beibringen, hat sie mich mit dem Kochlöffel fuchtelnd aus der Küche gejagt.“ John hatte sichtlich seinen Spaß. Garantiert nicht zuletzt wegen des verdatterten Ausdrucks, der ihr gerade zweifellos ins Gesicht geschrieben stand.

„Audrey Jennings hütet nichts so sehr wie ihre Kinder und ihre Rezepte“, sagte sie ehrlich schockiert.

John lachte auf, während er zwei Teller aus dem Schrank holte. „Ja, aber sie war es satt, ständig mein Gejammer zu hören. Naja, und irgendwann, nachdem klar war, dass ich nicht zurückziehen würde und sie schlecht einmal im Monat vorbeikommen konnte, um mir Suppe zu kochen, hat sie irgendwas von Berg und Prophet gemault und Mildred zu einem Handel überredet. Ich weiß nicht, was für sie dabei herausspringt. Aber ich bekomme nun regelmäßig meine Tomatensuppe. Also ist es mir egal.“

„Wie geht es den beiden?“ fragte Juliette, nachdem sie den ersten Teller in schwelgendem Schweigen genossen und nun einen zweiten vor sich stehen hatte. John tunkte ein Stück Brot in die Flüssigkeit – ein Frevel, für den ihre Mom ihm selbst als Mann noch den Hosenboden stramm gezogen hätte – und kaute langsam. An seinen Augen konnte sie ablesen, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde.

„Ich könnte sagen, dass es ihnen gut geht. Aber das wäre gelogen. Mom lacht nicht mehr so viel, und auch Dad hat sich sehr zurückgezogen. Dein … Tod … hat sie schwer getroffen. Wir sehen uns nicht mehr so häufig, was nicht an der Entfernung liegt.“

Sondern an ihr, an ihrem Tod.

Juliette stand auf. Der Hunger war ihr vergangen.

Sie wusste, das war nicht Johns Absicht gewesen. Dennoch, sie würde nicht mal mehr ein Reiskorn hinunter kriegen. Sie lief zum Fenster und lehnte sich gegen den Rahmen. So konnte sie zwar raus blicken, wurde aber von draußen nicht gesehen.

„Ich hätte lügen sollen“, murmelte John gleich hinter ihr.

„Nein, hättest du nicht. Ich … Ich fühle mich einfach nur so hilflos. Dass Carmichael mir alles genommen hat, damit komme ich irgendwie klar. Aber was er euch damit angetan hat …“

„Hey, es ist nicht deine Schuld.“ Er wollte tröstend die Arme um sie legen, doch Juliette fuhr herum.

„Ich weiß, dass das nicht meine Schuld ist! Meinst du etwa, ich bin zu diesem Wichser gegangen und hab gesagt: Fang mich. Ich habe Beweise, die dich in den Knast bringen. Oder: Hey, Naomi, schick mir doch das Video, für das er uns töten will? Nein, habe ich nicht! Ich habe gar nichts gemacht, um das hier zu verdienen!“ Eine Mischung aus Frust, Trauer und Zorn ließ ihre Stimme rau klingen.

Als ihr Bruder sie in die Arme zog, vergrub Juliette ihr Gesicht an seiner Brust. Wie früher reichte das fast schon, um sie zu trösten. Auch wenn man ein aufgeschürftes Knie oder einen idiotischen Halbwüchsigen, der ihr das Herz brach, kaum mit ihrer jetzigen Situation vergleichen konnte. Nahm ihr großer, starker Bruder sie in den Arm, war alles gleich etwas leichter zu ertragen.

Es gab Tage, an denen würde Coop ohne mit der Wimper zu zucken seinen Job gegen Bambussplitter unter den Fingernägeln tauschen. Dieser war so einer – übrigens der vierte in Folge. Die ersten zwei Tage war er diesem Drecksack Santiago Rererra durch drei Staaten gefolgt und hatte ihn immer wieder um Haaresbreite verpasst. Gestern dann war er ihm endlich nahe genug gekommen. Nur damit sich das Kettenrad seines Hinterreifens mit einem absolut mustergültigen Timing verabschiedete. Coop konnte von Glück reden, dass er sich nicht samt Bike über die komplette Hauptstraße verteilt hatte. Und dass sein Ziel scheinbar das eigene Ziel erreicht hatte.

Cooper hatte also sein Motorrad zur nächsten Werkstatt geschafft – wo die Ersatzteile natürlich nicht auf Lager gewesen waren. Wenigstens hatte er gleich dort einen Wagen leihen können, was sich schließlich aber als sehr praktisch erwiesen hatte.

Santiago Rererra hatte während eines recht zeitigen Besuches in einer Bar ziemlich schnell ziemlich tief ins Glas geguckt. Cooper hatte ihn nach seinem Abstecher in die Werkstatt gerade noch rechtzeitig wieder aufgespürt, um eine Prügelei zu verhindern. Natürlich hätte er das auch der Polizei überlassen können, die der Barmann zweifellos gerufen hätte. Doch irgendwie sah er es nicht ein, den Kerl durchs halbe Land zu jagen und dann andere die Lorbeeren einheimsen zu lassen.

Im Nachhinein ein blöde Idee. Rererra hatte sich relativ mühelos aus der Bar führen lassen, das war aber schon alles gewesen. Kaum war ihm frische Luft um die Nase geweht, hatte er sich der Verhaftung widersetzt. Es hatte ihm eine blutige Nase und einige schmerzende Blessuren eingebracht, ihm Handschellen anzulegen und ihn in den Wagen zu bugsieren. Und alle Selbstbeherrschung der Welt, ihn ohne Zwischenstopp die vier Blocks zum nächsten Polizeirevier zu bringen. Der Typ hatte es tatsächlich geschafft, während der zehn Minuten Fahrtzeit dreimal zu kotzen. Natürlich im Wagen.

Spritzer oder Schlimmeres waren Coop erspart geblieben, nicht aber der unsägliche Gestank.

Jetzt, zwei Stunden später, schleifte Cooper den stinkenden, polternden und pöbelnden Mann ein weiteres und letztes Mal in einen anderen Raum, schnappte sich das Klemmbrett und unterschrieb das Übergabedokument. Einige deftige Verwünschungen murmelnd schob er es quer über den Tisch.

„Sie wissen, an wen die Summe zu überweisen ist.“ Er taxierte den Detective, der recht unbeeindruckt das Formular betrachtete. „Und sie sollten ein Auge auf den Gefangenen haben.“

Sein Blick wurde prompt erwidert. Jetzt mit einem arroganten Naserümpfen. „Ich weiß schon, wie ich meinen Job zu machen habe. Mal abgesehen davon ist der Kerl wohl kaum in der Lage, mehr zu tun, als sich auf den Beinen zu halten und Töne zu spucken.“

Cooper beugte sich über den Tisch hinweg. „Halten Sie diesen Kerl bloß nicht für harmlos! Ich versichere Ihnen, das ist er keineswegs. Auch nicht – nein, vor allem nicht −, wenn er betrunken ist. Versuchter Mord, schwere Körperverletzung in mehreren Fällen, Geiselnahme und Raub sind nur ein paar Punkte in seiner Vita. Rererra ist ein skrupelloser Mistkerl.“ Jeden einzelnen Satz hatte Cooper bekräftigt, indem er mit der Spitze seines Zeigefingers auf den Tisch klopfte. Im Prinzip könnte es ihm egal sein. Sein Job – der Job der Phoenix Investigation and Defense – war mit der Unterschrift beendet. Dennoch hatte er das starke Bedürfnis, sein Gegenüber nachdrücklich zu warnen. Er hatte schließlich im Gegensatz zu dem Polizisten gesehen, was dabei herauskam, wenn man Rererra unterschätzte.

Eine weitere Stunde später war Cooper geduscht, hatte sich in frische Kleidung geworfen und freute sich auf ein kaltes Bier. Ausgestattet mit ein paar grünen Scheinen und dem Zimmerschlüssel startete er in den wohlverdienten Feierabend. Das Handy ließ er im Motelzimmer. Morgen früh würde er seinem Boss wieder zur Verfügung stehen, doch jetzt wollte er einfach nur seine Ruhe haben.

Juliette konnte nicht glauben, dass sie das hier wirklich tat. Hatte sie etwa den Verstand verloren? Sie sollte sich ihr Zeug schnappen und machen, dass sie Land gewann. Sie sollte ihre Spuren verwischen und einen Unterschlupf suchen, indem sie sich verstecken konnte, bis Hayes sie abholte. Sie sollte – ach sie hatte keine Ahnung, was sie alles sollte. Aber was sie nicht sollte, war glasklar. Hier neben John in seinem Auto sitzen und zum Barbecue seines Bosses fahren.

Vor allem, nachdem sie herausgefunden hatten, dass man sie wirklich des Mordes an Herold Schumaker verdächtigte. Ihre Suche im Netz hatte schnell – viel zu schnell – zum Erfolg geführt. Den Berichten zufolge hatten Nachbarn, aufmerksam geworden durch Kampfgeräusche im ersten Stock und Lärm im Treppenhaus, die Leiche des Bibliothekars gefunden. Von der Mieterin war keine Spur zu finden gewesen und die Tür nicht gewaltsam geöffnet worden. Der Gerichtsmediziner bestätigte nach der Autopsie, dass keiner der unzähligen Messerstiche für sich tödlich gewesen wäre. Das Opfer muss furchtbare Schmerzen erlitten haben, ehe der Blutverlust zum Tod führte, hatte es im Bericht geheißen. Juliette war daraufhin sofort ins Bad gestürzt und hatte sich übergeben. Ihr Kollege war so nett gewesen, sie nach Hause zu bringen, und hatte vermutlich nur noch einmal nach ihr sehen zu wollen. Er hatte mit der ganzen Sache nichts zu tun gehabt und war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Sich vorzustellen, wie sie ihn gequält hatten, um Dinge in Erfahrung zu bringen, von denen er nichts wusste …

Und doch hockte sie nun auf dem Ledersitz und kaute auf dem Daumennagel rum, als wäre ihre Welt in Ordnung.

„Lass das!“ John klapste ihr auf die Hand und schüttelte den Kopf. „Noch etwas, was sich wohl nicht geändert hat.“

Sie schnaufte ungeduldig. Das machte er schon die ganze Zeit. Er suchte nach alten und neuen Gewohnheiten. Sie hatten den halben Nachmittag damit zugebracht, bei Kaffee und Eiswaffeln in Erinnerungen zu schwelgen und sich von den letzten Jahren zu erzählen. Natürlich hatte John wesentlich mehr geredet. Sie konnte und wollte nicht viel aus den vergangenen Jahren Preis geben. Ihr Bruder akzeptierte das kommentarlos und plauderte munter weiter. Auch wenn nicht alles munter war, was er erzählte. Ihr Tod hatte einen tiefen Riss in das Leben ihrer Familie getrieben.

Juliette entschuldigte sich bestimmt hundert Mal, was John ihr aber nicht lange durchgehen ließ. Stattdessen eröffnete er ihr, dass sie ihn zu seinem Boss begleiten würde. Selbstverständlich war sie sofort auf die Barrikaden gegangen – und hoffnungslos gescheitert. John hatte sich nicht nur auf keine Diskussion eingelassen. Nein, er besaß auch noch die Frechheit, auf ihren Widerspruch zu entgegnen, dass er wenigstens für kurze Zeit seine kleine Schwester Jules wiederhaben wolle, ehe die Realität sie einholte und sie womöglich wieder aus seinem Leben verschwinden musste.

Manipulativer Mistkerl …

Außerdem hatte er ein weiteres Argument in petto gehabt, das nicht weniger überzeugend gewesen war: Wenn jemand hinter ihr her war, dann würde derjenige weder sie noch ihn zuhause antreffen. Schließlich hatte sich Juliette – resigniert und seine gefährliche Sturheit verfluchend – umgezogen, während er Fenster und Türen fest verschlossen und sie mit kleinen Merkmalen versehen hatte, die niemandem auffielen, der nicht wusste, worauf er achten musste. So würde John sofort sehen, ob jemand während ihrer Abwesenheit ins Haus eingedrungen war.

„Ich hatte mir das Knabbern eigentlich abgewöhnt. Hätte ich weitergemacht, hätte ich mir sicher mittlerweile die Finger bis zum Mittelhandknochen abgenagt.“ Sie setzte sich auf ihre Hände, um zu verhindern, dass es jetzt vielleicht doch noch dazu kam.

„Ganz ruhig. Sie wissen nicht, wer du bist. Ich habe ihnen gesagt, wir kennen uns aus Milwaukee und du bist auf der Durchreise. Wir quatschen ein wenig, essen was und in spätestens drei Stunden sind wir wieder zuhause. Vertrau mir, es sind gute Menschen.“

„Noch ein Grund, mich dort nicht blicken zu lassen. Ich tendiere seit einiger Zeit dazu, guten Leuten eine Menge Unglück zu bringen.“ Juliette war wirklich nicht wohl bei dem Gedanken. Auch wenn sie genauso wie ihr Bruder wenigstens ein bisschen normale Zeit verbringen wollte, konnte sie das beklemmende Gefühl nicht loswerden, einen Fehler zu begehen.

John lenkte den Wagen auf eine kleine Auffahrt und hielt vor einem mintgrünen Haus. Bevor er ausstieg, drehte er sich seiner Schwester zu. „Jules, es …“

Es tat so gut, ihren Namen aus seinem Mund zu hören. Schließlich war es ihr Bruder gewesen, der ihn ihr gegeben hatte. Juliette hatte ihn und ihre Eltern nur noch mehr dafür geliebt, dass sie John ihren Namen hatte auswählen lassen.

„Lass uns versuchen, für kurze Zeit alles um uns herum zu vergessen. Okay, Jules?“ Seine grünen Augen sahen sie hoffnungsvoll an. Was sollte sie tun? Es war doch an und für sich schon beschlossene Sache.

„Du bist so eine Nervensäge“, kapitulierte sie grummelnd.

Das Essen war fabelhaft.

Byron war ein Meister am Grill. Und darin, Geschichten über die Arbeit und insbesondere über John zum Besten zu geben. Er hatte es sich scheinbar zur Aufgabe gemacht, sämtliche Schandtaten seines Angestellten offenzulegen, bis Juliette entweder vor Lachen unterm Tisch lag oder seine Frau ihn für die Nacht ausquartierte. Milly hingegen schien ihre ganz eigenen Absichten zu haben. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit pries sie John als zuverlässig und liebevoll an – und in der Küche unter vier Augen als extrem sexy. Juliette wären beinahe die schmutzigen Teller aus den Händen geglitten, als Milly ihr verschwörerisch zuzwinkerte. Der Frau zu versichern, dass sie wirklich keinerlei Interesse an diesem Mann habe, war so erfolglos wie zu Fuß zum Mond zu laufen.

Aber Milly hatte ja nicht Unrecht. John war groß und muskulös, ohne dass es übertrieben wirkte. Die grünen Augen und die blonden, strubbligen Fransen ließen ihn jünger wirken, als er war. Trotzdem würde niemand, der ihn sah, den Fehler begehen, ihn zu unterschätzen.

Milly versuchte nicht ausschließlich, ihr John schmackhaft zu machen. Sie war auch an ihr selbst interessiert. Was sie so machte. Woher sie kam. Wohin sie wollte. Wo sie aufgewachsen war. Dass Juliette darauf größtenteils mit Lügen antworten musste, gefiel ihr nicht. Sie hatte nie viel für Unwahrheiten übrig gehabt.

„Ich glaube, sie mögen dich“, flüsterte John ihr zu, als er sich neben sie auf die Bank setzte. Ihr gefiel der fröhliche und stolze Ton in seiner Stimme. Diese Menschen und ihre Meinung schienen ihm sehr wichtig zu sein.

„Das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich finde es gut, dass du hier so nette Menschen gefunden hast.“ Sie war erstaunt, wie lässig ihre Stimme klang. Wie sie es schaffte, die Traurigkeit aus ihren Worten herauszuhalten, war ihr ein Rätsel. Es quälte sie geradezu schmerzhaft, dass ihr Bruder so glücklich war, sie wiederzuhaben. Denn sie hatte längst den Plan gefasst, noch in dieser Nacht wieder zu verschwinden. Entgegen ihrer Absprache, bis zum nächsten Morgen zu warten oder sogar erst aufzubrechen, wenn sie Marshall Hayes erreicht hatte, würde sie gehen, sobald John schlief.

„Also Kinder. Ihr könnt mir erzählen, was ihr wollt. Jeder Blinde sieht genau, wie nah ihr euch steht. John, ich weiß, dass du weißt, dass deine Mutter mich sozusagen auf dich angesetzt hat. Gib dir einen Ruck und erzähl ihr von euch. Sie würde sich so darüber freuen.“

„Mildred, lass die beiden in Ruhe.“ Byron nahm einen Schluck aus der Bierflasche. „Du kannst manchmal so nervtötend sein. John, du hättest die Weiber nie zusammenbringen dürfen.“ Mildred ließ eine saftige Schimpftirade ab, wurde aber von ihrem Mann ignoriert. John indes lachte auf und blicke aus dem Augenwinkel zu seiner Schwester. Er führte doch irgendwas im Schilde. Wie hatte sie das vermisst. „Sie ist nicht auf der Suche nach einem Mann.“ Oder doch nicht. Juliette keuchte auf und trat ihm vors Schienbein, als er „Mann“ so verschwörerisch betonte.

„Au! Verdammt, J-Jesses… Lori! Du hast mich getreten.“ Schlau war er ja.

„Du hast es verdient!“

„Nein. Habe ich gar nicht. Aua!“, winselte er theatralisch. Es tat ihm nicht halb so weh, wie er vorgab. Das Glitzern in seinen Augen verriet ihn.

„Kindchen. Warum sagen sie das denn nicht gleich? Für sowas muss man sich doch heutzutage nicht mehr schämen.“ Milly trippelte um den Tisch herum und drückte Juliette fest an ihre üppige, weiche Brust.

Sie fühlte sich, als wäre sie vom Regen in die Traufe gekommen. Auch wenn Mildred nun nicht mehr versuchte, sie unwissentlich mit ihrem eigenen Bruder zu verkuppeln, ließ sie Juliette nach wie vor nicht vom Haken. Wann hatte sie rausgefunden, dass sie Frauen liebte? Wussten ihre Eltern davon? Was hatten sie gesagt? Hatte sie schon viele Frauen kennengelernt? Was hielt sie von dem Wandel, den nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Politik in dieser Hinsicht gerade durchmachte?

John hatte sich nie zuvor so viel geräuspert. Und Byron sich sicher auch nie so intensiv in seinem Garten umgesehen.

Irgendwann, aus drei Stunden waren längst mehr geworden und die Sonne bereits untergegangen, hatte John dann Erbarmen mit ihr und sie verabschiedeten sich.

Byron und Mildred wünschten Juliette viel Glück für ihre Reise und luden sie ein, jederzeit wieder vorbeizukommen. Sie nickte nur und lächelte – Mann, sie sollte es mal mit Poker versuchen – und versprach, beim nächsten Mal, wenn sie in der Nähe war, daran zu denken. John legte ihr seinen Arm um und strich ihr über die Schulter, während sie zum Auto gingen. Er schien trotz der anhaltenden Belustigung zu spüren, wie sehr Juliette bedauerte, dass das eher unwahrscheinlich war. Sie hoffte, dass er nur versuchte, ihr Trost zu spenden, und nicht bereits etwas von ihren Plänen vermutete.

Kaum, dass John den Wagen außer Sichtweite gelenkt hatte, brach er in schallendes Gelächter aus. Er versuchte nicht mal, sich zurückzuhalten oder sich für die falsche Fährte – und die damit verbundenen Scherereien – zu entschuldigen.

„Ich habe nie gesagt, du würdest auf Frauen stehen. Ich habe nur gesagt, dass du nicht auf der Suche nach einem Mann bist. Was kann ich denn dafür, wenn Mildred die falschen Schlüsse zieht?“, rechtfertigte er sich und schnappte nach Luft, nachdem die erste Lachattacke verebbt war.

„Ja, aber wie!“, motzte Juliette schmollend, was John nur zu neuen Lachsalven animierte. Sie sah zu ihm hinüber. Genau so wollte sie ihn in Erinnerung behalten. Ein Lachen auf den Lippen und ein Glitzern in den Augen. Völlig entspannt und – glaubte man den Worten seines Arbeitgebers – so unbeschwert wie schon lange nicht mehr. John hatte in dieser Stadt einen Zwischenstopp eingelegt, bevor er seine kleine Schwester verlor, und er war hier gestrandet, als er von ihrem Tod erfuhr. Als habe er nicht die Kraft besessen, weiter zu reisen. Zum zweiten Mal an diesem Abend dankte sie Gott dafür, dass er so weit weg von Zuhause so tolle Menschen gefunden hatte. Sie würden ihm beistehen, wenn er erneut unter dem Verlust seiner Schwester litt.

4. KAPITEL

Cooper schaltete das Fernlicht ein und gab weiter Gas. Er war gut voran gekommen, hatte gerade Ness City passiert. Trotzdem lagen nach wie vor knapp hundertsechzig Meilen vor ihm. Und selbst bei seinem Fahrstil bräuchte er weitere zwei Stunden. Sofern nicht noch irgendetwas seine Rechnung zunichtemachte. Coop drückte sein Kreuz durch und streckte ein Bein nach dem anderen ein paar Mal aus, ohne an Fahrt zu verlieren. Eine kurze Pause wäre sicher angebracht, doch er wollte nicht noch mehr Zeit vergeuden. Die Nachricht auf seiner Mailbox war bereits eine Stunde alt gewesen, als er sie abgehört hatte. J.J. rief immer mal an, um ihn zu fragen, wann er wieder in der Nähe sei und auf ein Bier vorbeikäme oder um einfach nur zu quatschen.

Doch dieser Anruf war anders gewesen.

„Hey, Searg. Habe Schwierigkeiten. Brauche dich!“ hatte die kurze Nachricht gelautet. Und etwas, das Coop bei seinem Freund nicht mal in Einsätzen unter vollem Beschuss gehört hatte, war in den wenigen Worten mitgeschwungen. Angst.

Als J.J. nicht auf seinen Rückruf reagierte, hatte Coop sofort seine sieben Sachen geschnappt und seine Maschine Richtung Süden gelenkt. Er war froh, dass er sich nicht gerade in Miami aufhielt. Von Sheridan/Wyoming waren es nur vierzehn – okay, sagen wir elfeinhalb – Stunden Fahrt, die ihm jedoch immer noch viel zu lang vorkam. Aber ein Flug wäre nicht infrage gekommen. Mit dem ganzen Spielzeug in der Tasche wäre er an der Sicherheitsschleuse ziemlich in Erklärungsnot geraten.

Verdammt, warum hatte er sein Telefon auch im Zimmer liegen lassen. Das tat er sonst nie!

Einen alten Buick überholend begann er darüber zu sinnieren, in welchen Schwierigkeiten sein Freund stecken könnte. J.J. lebte seit Jahren in diesem ruhigen Städtchen und arbeitete dort als Mechaniker. Bis auf ein paar verlorene Schrauben und einem falsch gelieferten Ersatzteil gab es dort wohl kaum etwas Aufregendes. Coop verstand nach wie vor nicht, wie sein Freund sich mit so einem Leben wohlfühlen konnte. Tag ein Tag aus denselben Mist. Ihn selbst würde so viel Routine umbringen. Aber okay, John Jennings war immer einer der ruhigeren Sorte gewesen. Kaum zurück aus dem Irak hatte er sich beurlauben lassen und war nach einem kurzen Zwischenstopp bei seinen Eltern durchs Land gezogen. Was ihn dazu bewogen hatte, musste man nicht lange erraten, wenn man ihn nur ein wenig kannte. Er liebte die Ruhe und den Frieden, was es fast ein wenig absurd erschienen ließ, dass er zur Army gegangen war. Er liebte es, einfach nur mal für sich zu sein. Mitten im Kriegsgebiet zwischen den Barracken und Zelten war das natürlich viel zu kurz gekommen. Man konnte nicht mal eben losziehen und einen ausgedehnten Spaziergang machen. Zumindest nicht, wenn man ernsthaft an seinem Leben hing. Man saß mit hundert anderen Soldaten in einem kleinen Camp fest, die durch die ständige Hitze und die immer wiederkehrenden Gefechte ebenso aufgeladen und unruhig waren, wie man selbst.

Vor dieser Zeit hätte Coop sich nicht vorstellen könne, jemals einen so stillen und besonnenen Menschen seinen besten Freund zu nennen. Dass er als Sergeant First Class rangmäßig über J.J. stand, hatte ihrem Verhältnis nie etwas anhaben können. Es war keine Freundschaft, deren Ursprung in der glorreichen Rettung des anderen zu finden war. Sie hatten Seite an Seite im Dreck gelegen, gemeinsam den Feind bekämpft und waren beide gesund nach Hause zurückgekehrt. Natürlich hatten sie sich gegenseitig mehr als einmal den Arsch gerettet. Verdammt, da herrschte Krieg! Aber was ihre Freundschaft hatte wachsen lassen, war schlichte Sympathie und dass sie sich charakterlich so gut ergänzten.

Umso schwerer war es gewesen, den emotionalen Rückzug seines Freundes zu beobachten, den der Tod seiner Schwester ausgelöst hatte. Nach der anfänglichen Trauer, der Wut und der Hilflosigkeit war es um John immer stiller geworden. Coop hatte ihn besucht, ihm seine Hilfe, seine Schulter und sogar eine ordentliche Prügelei angeboten, als er von Juliettes Tod erfuhr. Er hatte sie nie persönlich kennengelernt, wusste aber um die enge Verbundenheit der Geschwister.

Aber John hatte ihm lediglich versprochen, sich zu melden, ihn fortgeschickt und dann sechs Monate nichts von sich hören lassen. Gerade als Coop die Schnauze voll hatte und ihm gehörig den Kopf zurecht rücken wollte, hatte sein Freund ihn angerufen und auf ein Bier eingeladen.

Coop setzte den Blinker und fuhr auf den Truck-Stop. Er brauchte dringend einen Kaffee und etwas Bewegung, ehe er noch von der Maschine kippte.

Juliette stellte die Tasche ab und beugte sich über den Schreibtisch. Sie wollte John eine Nachricht hinterlassen und dann stiekum verschwinden. Was hätte sie nicht alles für eine letzte Umarmung und ein paar persönliche Worte zum Abschied gegeben? Doch er würde sie nicht gehen lassen, selbst wenn sein Leben davon abhing – was genau genommen ja auch der Fall war. Also musste sie sich mit einem kurzen Blick ins Gästezimmer und einigen entschuldigenden Zeilen begnügen. Verbissen kämpfte sie gegen die Tränen, als sie in den Schubladen nach einem Block suchte. Nachdem sie nach Hause gekommen waren, hatten sie noch lange geredet. Während der ganzen Zeit, die sie seiner Stimme gelauscht hatte, hatte sie über ihre Pläne für die nächste Zeit nachgedacht – obwohl man es wohl kaum einen Plan nennen konnte, sich irgendwo zu verstecken und wie gebannt aufs Display seines Handys zu blicken, bis Hayes sich meldete. Es war gar nicht so einfach gewesen, John dazu zu bewegen, endlich schlafen zu gehen. Mit ausgiebigem Gähnen hatte sie sich schließlich zurückgezogen und abgewartet, dass auch er sich endlich hinlegte. Mit angespannten Nerven hatte sie weitere vierzig Minuten in ihrem Bett gelegen und gewartet. Dann war sie aufgestanden, hatte ihr Zeug gegriffen und das Schlafzimmer verlassen.

Juliette unterzeichnete mit einem „Deine Jules“ und riss das Blatt vom Block. Sie wusste, dass sie so nicht unterschreiben sollte, doch sie schaffte es nicht, einen falschen Namen unter die Zeilen zu setzen. Sorgfältig zusammengefaltet klemmte sie das Papier unter den Locher und schob den Block wieder in die Schublade. Ehe sie sie schloss, betrachtete sie einen Moment das dünne Bündel Scheine, das ihr Bruder dort aufbewahrte. Von ihrem Geld war nicht mal mehr die Hälfte übrig, und sie konnte schlecht einfach zum Automaten gehen. Erst recht nicht, da man jetzt nach ihr fahndete. Es war eine Frage der Zeit, bis man die Suche aufs ganze Land ausweiten würde. Da musste sie die Behörden ja nicht noch extra mit der Nase darauf stoßen, wo sie sich befand. Schnell steckte sie die Banknoten ein, setzte ein ‚Du bekommst das Geld so schnell wie möglich zurück‘ unter ihren Namen und huschte zur Hintertür hinaus. Ihr blieben maximal zwei Stunden bis zum Sonnenaufgang. Wenn das Glück ihr hold war, hätte sie dann bereits die Grenze zu Kansas hinter sich gelassen.

Aber was dann?

Sie hatte keine Ahnung.

Es gab keinen Ort, zu dem sie gehen, keinen Menschen, an den sie sich wenden konnte. Wäre die Sache mit Herold nicht passiert, wäre jetzt wohl ihr erster Weg der zum nächsten Marshall-Büro. Warum hatte sie nur nicht daran gedacht, nachdem sie den Laden verlassen und Hayes und Donovan nicht erreicht hatte?

Juliette strich an den Gärten vorbei. In den Häusern jenseits der kleinen Zäune und Rasenflächen war alles ruhig. Hie und da waren durch die geöffneten Fenster leise – und auch nicht ganz so leise – Schnarchgeräusche zu hören. Irgendwo stritten zwei Katzen und eine Eule kommentierte den Kampf mit gelegentlichen Rufen.

Das ungute Gefühl, beobachtet zu werden, war sofort wieder aufgeflackert, als sie das Haus ihres Bruders verlassen hatte. Es war seltsam. Sie hatte sich bei ihm so sicher und geborgen gefühlt, dass die Paranoia verschwunden war. Nun brach sie wieder mit voller Wucht über sie herein.

Rascheln, knacken, knistern … überall um sie herum wallten Geräusche auf. Auch wenn sie sich ziemlich sicher war, dass das alles schon vorher dagewesen war. Wind peitschte durch die Äste und Zweige, trieb Müll durch die Straßen – und Juliette das Haar ins Gesicht. Sie wollte ein Haargummi aus der Tasche holen und erstarrte.

Verfluchte Scheiße, sie hatte die Tasche stehen lassen!

Seit über einer halben Stunde rannte Juliette jetzt durch die Gegend, ohne dass es ihr aufgefallen war. Es war eine Sporttasche, Himmelherrgott! Keine kleine Börse, die man mal schnell vergessen konnte. Oder ein Handy – wie das, das sich in der Tasche befand und in dem die wichtigen Nummern abgespeichert waren. Hayes hatte ihr nahe gelegt, sich die Nummer für den Notfall einzuprägen.

Aber hatte sie es getan? Natürlich nicht …

Juliette lehnte sich gegen die Mauer und fuhr sich durchs Haar. Sie wollte schreien. Da hatte sie es geschafft, sich unbemerkt aus dem Haus zu schleichen, nur um jetzt zurückgehen zu müssen und beim zweiten Versuch garantiert zu scheitern.

Mit jedem Schritt, den sie näher kam, wurde Juliette langsamer.

Dass sie sich eigentlich beeilen sollte, um so schnell wie möglich wieder zu verschwinden, war längst vergessen. Ihr Nacken prickelte, als habe man nasses Brausepulver darauf verstreut. Paranoia war ja nichts Neues für sie. Aber was sie jetzt sah, konnte sie kaum ihrem extrem überstrapazierten Nervenkostüm zuschreiben: Ein dunkler Wagen parkte schräg auf dem Rasen vor Johns Haus. Aus dem Wohnzimmerfenster drang gedämpftes Licht.

Panik und Übelkeit krochen in ihr hoch, ihre Knie wurden weich.

Was sollte sie bloß tun? In dieser Straße gab es ganze vier Häuser. Zwei standen zurzeit leer, und Johns direkte Nachbarn waren – wie wohl immer um diese Jahreszeit – für Wochen verreist. Es gab also niemanden, der mögliche Kampfgeräusche hörte.

Glück muss man haben, dachte sie ironisch.

Juliette überlegte angestrengt. Es würde viel zu lange dauern, zum nächsten bewohnten Haus zu rennen, alles zu erklären und die Polizei zu alarmieren.

Das wurde ihr noch bewusster, als es drinnen dumpf polterte und jemand schmerzhaft aufstöhnte.

Vorsichtig schob sie sich zwischen die Rhododendron-Sträucher und kroch weiter bis zum Fenster, während sich Hoffnung und Verzweiflung ein heißes Gefecht lieferten.

John war ausgebildeter Soldat und würde ohne weiteres mit einem Eindringling fertig werden. Wenn er denn früh genug wach geworden war. Immerhin hatte er sein Trampeltier von Schwester auch nicht gehört. Andererseits hatte er mal erzählt, dass er fast sowas wie einen Instinkt dafür entwickelt hatte, ob sich Freund oder Feind in der Nähe befand. Und selbst wenn. Es konnten durchaus mehrere Eindringlinge sein. Nur weil Juliette in Pasadena nur einen gesehen hatte, hieß das nicht, dass der alleine arbeitete. Dennoch … ihr Bruder war clever genug, sich in Sicherheit zu bringen, sobald sich ihm die Gelegenheit bot. Und Juliette, die er sicher immer noch im Haus vermutete, zurücklassen?

Könnten jetzt alle mal die Klappe halten! Juliette versuchte ihre wildgewordenen Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Sie stand auch so schon unmittelbar vor einem mentalen Kurzschluss.

Ein Geräusch gleich hinter dem Fenster ließ Juliette beinahe aufschreien. Im letzten Moment konnte sie sich die Hand vor den Mund schlagen. Keuchend wich sie von der Scheibe zurück, hinter dem sie einen Mann erkannte. Hätte der Typ seinen Blick auch nur um wenige Zentimeter gesenkt, hätte er sie zweifellos auch gesehen. Selbst bei schwachem Licht.

Sie wartete einen Moment, um dann einen weiteren Blick in das Wohnzimmer zu werfen. Das dämmrige Licht innen und die ersten Spuren des Tageslichts machten es nicht ganz so einfach. Dennoch sah sie die zwei Gestalten, die sich zu etwas herabbeugten. Sie diskutierten eifrig miteinander, ehe sich der eine abwandte und eine weitere Runde durch den Raum drehte.

Juliette gefror das Blut in den Adern.

Es war der gleiche Mann, der ihr in Pasadena aufgelauert und vermutlich auch Herold getötet hatte. Man hatte sie also tatsächlich gefunden!

Eine schnelle Bewegung lenkte ihren Blick von dem ihr bekannten Eindringling zu dem Fremden und schließlich zu John.

Er hockte auf einem Stuhl, die Hände und Füße gefesselt und das Gesicht übel zugerichtet. Sein Kopf lag leicht geneigt im Nacken und er starrte auf eine Stelle im Zimmer, die Juliette aus ihrer Position nicht genau ausmachen konnte. Nur dass er zwischendurch an seiner blutenden Lippe sog, zeigte ihr, dass er lebte. Denn sonst rührte er sich nicht. Auch nicht, als sein Gegenüber ausholte und ihm eine mit der Faust verpasste.

Juliette schluckte schwer.

Vorsichtig schob sie die Finger unter den Fensterrahmen. Wenn sie es schaffte, das Fenster unbemerkt zu öffnen, könnte sie hören, was drinnen gesprochen wurde. Vielleicht würde sie das auf eine Idee bringen, wie sie John helfen könnte.

Wieder fand Juliette sich in einer Rolle wieder, die nicht für sie geschrieben war. Sie war keine Macherin. Sie fragte, wenn sie ein Loch gebohrt haben musste oder der Wasserhahn tropfte. Sie kontrollierte fünfmal, wann der Bus fuhr, und rechnete zehnmal nach, ob das Geld reichte, während sie schon an der Kasse stand. Sie kämpfte nicht gegen Großindustrielle mit einem Hang zum Kriminellen. Sie flüchtete nicht wagemutig aus einer Gefangenschaft. Und ganz sicher überrumpelte sie keine gedungenen Killer, die in das Haus ihres Bruders eingedrungen waren.

Nein, sie war kein Macher.

Wehe, du hast es nicht geölt, dachte Juliette und schob das Fenster ein kleines Stück hoch. Zum Glück waren die Männer viel zu beschäftigt, um sie zu bemerken.

Sofort drangen wilde Flüche und handfeste Drohungen an ihr Ohr. Der Typ, den sie nicht kannte, hielt John eine Klinge an den Hals und fragte immer wieder nach ihr. Juliette kniff die Augen zusammen. Irgendwas kratzte an ihrem Bewusstsein.

„Juliette ist tot“, sagte John scheinbar nicht zum ersten Mal. Wieder traf ihn ein Schlag ins Gesicht. Ihr Bruder hatte dem nichts entgegenzusetzen. Doch es dauerte keine zwei Sekunden, bis er den Blickkontakt wieder aufgenommen hatte.

„Mehr hast du nicht drauf?“, frotzelte er und spie blutigen Speichel aus.

Warum machte er das nur? Sahen die Typen etwa aus, als würden sie sich anders besinnen und ihm zum Kaffee einladen, wenn er sie nur genug reizte?

„Deine dummen Sprüche werden dir noch vergehen“, knurrte sein Angreifer rau und versenkte sein Messer bis zur Hälfte in Johns Oberschenkel. Das Geräusch, das der daraufhin ausstieß, pellte Juliette die Haut vom Leib. Er musste furchtbare Schmerzen haben. Dennoch schrie er nicht, sondern keuchte nur kontrolliert.

„Herold, bring ihn nicht um! Wir brauchen ihn noch“, hörte sie den Lincolnfahrer sagen und horchte auf.

Ach Quatsch, das war purer Zufall. Herold war ein häufiger Name. Unmöglich, dass …

Juliette sah sich den Mann genauer an, der bei John stand. Okay, die Größe könnte eventuell hinkommen. Auch seine Statur ähnelte der ihres Kollegen.

Aber nein … Oder?

Wenn sie nur sein Gesicht sehen könnte …

Juliette beugte sich ein wenig zur Seite, doch der Vorhang versperrte ihr erfolgreich die Sicht.

Einen Moment lang haderte sie mit sich. Hier zwischen den Büschen war sie nicht nur gut verborgen. Auch hatte sich das Fenster öffnen lassen und ihr so einen Zugang zu den Geschehnissen im Inneren gewährt. Würde sie auf die andere Seite gehen, hätte sie kaum Deckung. Ein weiteres unverriegeltes Fenster würde sie dort vermutlich auch nicht vorfinden. Allerdings wäre die Chance wesentlich größer, den zweiten Mann genauer zu sehen.

Es ließ Juliette einfach keine Ruhe. War es wirklich nur irgendein Typ, der zufällig Herold hieß, oder eben dieser ganz bestimmte? Aber wenn es tatsächlich ihr Kollege Herold war, was hatte er dann mit der ganzen Sache zu tun? Und wieso sollte er seinen Tod vortäuschen? Schließlich hatte die Polizei ihn doch laut Presse eindeutig identifiziert …

Geduckt schlich sie am Haus entlang, wobei sie abwechselnd die Haustür und die Umgebung im Auge behielt. Es sah sicher mehr als merkwürdig aus, wie sie hier so entlang schlich.

Aber vielleicht würde sie irgendjemand sehen, der zufällig vorbeikam, und vorsichtshalber die Polizei rufen.

Ja, klar!

Warum nicht gleich ein Ritter in schimmernder Rüstung auf einem weißen Pferd?

Juliette hockte sich neben den kleinen Buchsbaum, zog sich am Fensterbrett hoch und lugte durchs Fenster. Sie hätte beinahe laut gejubelt, weil es so weit hochgeschoben war, dass sie hindurch passen könnte. Gleichzeitig unterdrückte sie einen Fluch. John war ein Idiot. Warum ließ er auch die Fenster offenstehen?

Und gewiss war er es gewesen. Die Eindringlinge hatte sich auf andere Art Zugang verschafft. Als Juliette gerade an der Haustür vorbei geschlichen war, hatte sie deutlich das ausgehebelte Schloss erkennen können.

Juliette konzentrierte sich auf das, was hinter dem Fenster passierte. Auch jetzt konnte sie den Mann zwar nur von der Seite sehen, doch das genügte ihr. Es war definitiv Herold – ihr Arbeitskollege Herold. Ihr toter Arbeitskollege Herold. Auch wenn er jetzt eine weniger auffällige Frisur und andere Klamotten trug, war es doch unverkennbar.

Sie schloss die Augen und kämpfte um ihre Selbstbeherrschung. Sie wollte durchs Fenster steigen, ihn anschreien und ihrer Wut Luft machen. Der Schrei kam dann aber von einem anderen …

Sofort blickte sie zu ihrem Bruder.

John bäumte sich in den Fesseln auf und sackte dann schlaff in sich zusammen. Blut breitete sich in der Rippengegend aus. Was war passiert?

„Er hat mich gebissen, Max! Dieser blöde Wichser hat mich gebissen!“, erklärte sich Herold schnell und starrte nervös auf die Waffe, die sein Komplize auf seinen Kopf gerichtet hielt.

„Du hast Glück, du hirnverbrannter Penner. So ungeheures Glück. Nicht nur, dass ich dich brauche – im Moment noch. Deine Leiche wurde bereits in Pasadena gefunden. Es wäre also schwer zu erklären, wie dieses Weibsstück dich dort getötet haben soll, während dein Kadaver neben ihm da verrottet.“

Juliette schnappte nach Luft. Neben ihm?

John hustete und lenkte damit die Aufmerksamkeit der beiden wieder auf sich. Obwohl sein wirrer Blick sie nicht direkt fokussierte, schaute er in ihre Richtung.

John schüttelte den Kopf, wie um seine Sicht zu klären, doch Juliette wusste, dass der Wink ihr galt. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie aufgesprungen war und wie eine Schießbudenfigur mitten im Fenster stand. Schnell hockte sie sich wieder hin.

John ließ betont geschwächt – zumindest hoffte sie, dass er schwächer tat, als er war – den Kopf nach vorne fallen. „Bleib weg!“, formte er mit den Lippen.

Sie sollte bleiben, wo sie war und bloß nicht rein kommen? Ihr Bruder war schwer verletzt und würde vielleicht – nein, ganz sicher sogar – getötet. Und sie sollte was? Einfach abhauen? Tränen brannten ihr in den Augen, als er ihren stummen Widerspruch mit einem eindringlichen Blick zunichtemachte.

Max hielt einen Zettel hoch und las vor, was sie ihrem Bruder vor nicht mal anderthalb Stunden geschrieben hatte.

„Sie kann noch nicht weit sein. Sein Wagen steht hinterm Haus“, schloss er. Sein kalter Blick ging zu John und dann zu Herold zurück. „Erledige das. Ich kümmere mich um die Spuren.“

Juliette hielt die Luft an. Sie musste handeln und zwar schnell. Vielleicht konnte sie einen Laut von sich geben und die zwei ablenken, um wenigstens etwas Zeit für John rauszuschlagen. Doch sie konnte sich nicht rühren. Ihr Verstand schrie, doch ihre Muskeln stellten sich taub. Sie hockte einfach nur vor dem Fenster, starrte hinein und wartete.

Herold schien plötzlich Skrupel zu bekommen. Wild mit dem Kopf schüttelnd wich er von John zurück. Einen Menschen zu verletzten und zu quälen machte ihm wohl weit weniger aus, als ihm gleich das Leben zu nehmen.

Max hatte weitaus weniger Hemmungen.

Mit einem Fluch durchquerte er entschlossen den Raum und zog Herold den Lauf seiner Waffe über den Hinterkopf.

„Du bist so eine Memme!“

Er trat lässig hinter John, flüsterte ihm etwas ins Ohr und brach ihm mit einem Ruck das Genick. Johns Kopf fiel nach hinten wie der einer Stoffpuppe.

Juliette konnte nicht fassen, wie schnell es gegangen war. In der einen Sekunde lebte ihr Bruder noch und in der nächsten …

Sie unterdrückte den aufsteigenden Würgereiz und sackte fassungslos zu Boden. Ein Schmerz, schlimmer als alles, was sie je durchgemacht hatte, übermannte sie. Fraß sich durch jede Zelle, jeden Nerv und jeden Muskel. Lähmte und erstickte sie. Sie konnte sich gerade genug rühren, um zwischen die Hauswand und den Buchsbaum zu kriechen, als die beiden Männer das Haus verließen und in den Wagen stiegen. Sie sahen sich nicht um. Sie stiegen einfach in das Auto, setzten zurück und verschwanden.

Wie lange sie so in der kleinen Ecke gekauert und gegen die Hysterie angekämpft hatte, wusste sie nicht. Aber es war bereits hell, als sie den Fuß über die Schwelle setzte.

5. KAPITEL

Coop verfluchte den Anruf, der ihn solange am Weiterfahren gehindert hatte. Verdammt, er stand Tag für Tag zur Verfügung und riss sich für das Team den Arsch auf. Dann machte er einmal einen Umweg und schon konnte er sich sonst was anhören. Sie kamen doch wohl auch mal ohne ihn aus. Es war ja nicht so, dass er dadurch den Auftrag vernachlässigt hatte. Der war schließlich schon vor Johns Anruf abgeschlossen gewesen.

Die Diskussion mit Derek hatte geschlagene zwanzig Minuten gedauert und ihn nebst unnötiger Zeit auch jede Menge Nerven gekostet.

Deshalb war die halsbrecherische Geschwindigkeit, die er nun an den Tag legte, auch nicht allein in der Verzögerung begründet. Sich auf die Straße und die Maschine zu konzentrieren, half ihm gleichzeitig, die Verärgerung abzubauen, die nach dem Gespräch mit dem Teamleader der P.I.D. in ihm brodelte.

Erst an der Stadtgrenze von Woodward hatte Coop widerwillig sein Tempo gedrosselt, was er jetzt erneut tat, als er in den Highland Drive einbog. Er rümpfte die Nase. Wie konnte man nur hier wohnen? Er brauchte Leben um sich herum. Verkehrslärm, Bars, Trubel … und keinen Bordstein, der bereits um fünf Uhr abends hochgeklappt wurde. Und dann gab es noch nicht mal einen Strand in diesem Kaff. Also wirklich.

Er lenkte die Maschine auf die Auffahrt und stellte den Motor ab. Auch wenn dies kein reiner Freundschaftsbesuch war, freute er sich darauf, J.J. nach so langer Zeit wiederzusehen. Etliche Male hatten sie sich vorgenommen, nicht immer erst diverse Jahreszeiten verstreichen zu lassen, aber man kannte das ja. Stets kam irgendetwas dazwischen.

Coop hatte die Stufe fast erreicht, als er zum ersten Mal stutzig wurde und stehen blieb. Die Tür stand sperrangelweit offen. Das war gar nicht Johns Art. Selbst wenn er nur kurz zu den Nachbarn ging, zog er die Tür ins Schloss. Natürlich konnte es eine Milliarde Gründe geben, warum die Tür offen stand. Doch nicht eine davon erklärte das aufgebrochene Schloss.

Ein ungutes Gefühl durchströmte ihn, als er die Stufe zum Haus erklomm. Er legte seine Hand auf die Neun-Millimeter, die hinten im Hosenbund steckte. Coop hielt auf der Türschwelle inne und sah sich vorsichtig um.

Das Wohnzimmer sah aus wie nach einem Tornado.

Möbel waren verschoben und sogar umgeworfen, der große Flatscreen von der Wand gerissen und Bücher und DVDs auf dem Boden verteilt. Dabei konnte er gerade mal die Hälfte des Zimmers überblicken.

Plötzlich ließ ihn ein leises Geräusch aufhorchen. Irgendjemand war noch hier. Nach Johns Anruf und dem, was er hier vor sich sah, bezweifelte Coop stark, dass er einfach nur Einbrecher erwischt hatte. Langsam wagte er sich einen Schritt weiter vor, bis er auch die andere Seite des Wohnzimmers sehen konnte. Eine Frau beugte sich über einen Mann, der gefesselt und regungslos auf einem Stuhl mitten im Raum saß. Obwohl er das Gesicht nicht sehen konnte, zeigte die kleine Tätowierung an der Wade ihm sofort, dass es sein bester Freund John sein musste: Ein Maori-Wal, den er selbst an derselben Stelle, nur am anderen Bein, trug, und der ihre enge Freundschaft und fast schon familiäre Verbundenheit symbolisierte.

Die Fremde hatte Coop den Rücken zugewandt und schien ihn bisher noch nicht bemerkt zu haben. Sie trat einen Schritt zur Seite und strich John fast zärtlich mit der Hand über die Stirn. In der anderen Hand hielt sie ein Messer, von dessen Klinge Blut tropfte. Johns Blut. Sein Blick fiel auf die großen roten Flecken auf der Brust seines Freundes. Auch an seinem Bein erkannte er eine tiefe Wunde.

„Was zum Teufel …“, entfuhr es Coop.

Seine Hand fiel schlaff herunter, anstatt nach der Waffe zu greifen. Blankes Entsetzen nahm ihm jede Vorsicht – und den vorhandenen Überraschungsmoment.

Die Frau fuhr erschrocken herum, als Coop einen Schritt auf sie zu machte. Etwas an ihr erregte seine Aufmerksamkeit. Doch anstatt sich damit auseinanderzusetzen, lenkte er seinen Blick zu John. Es bedurfte keiner genaueren Untersuchung, um zu wissen, dass er ihm nicht mehr helfen konnte. Der Kopf hing in einem unnatürlichen Winkel nach hinten und das viele Blut hatte seine Kleidung völlig durchtränkt. Sein Gesicht war mit Prellungen übersät und ebenfalls blutverschmiert. Zwei Schlieren zogen sich gleichmäßig über seine Lider. Als habe ihm jemand die Augen geschlossen, dachte Coop verwirrt.

Die Frau mit dem Messer warf einen letzten Blick auf ihr Opfer und flüchtete durch die Hintertür. Fluchend richtete Coop sein Augenmerk zurück zu dem, was jetzt wichtig war. Ihm blieb nicht viel Zeit, wenn er Johns Mörderin noch erwischen wollte.

„Ich kriege sie, Bruder. Das verspreche ich dir“, flüsterte er und setzte der Frau nach. Wut und Trauer ließen ihn fast durch die bereits wieder zugefallene Tür gehen.

Ja, er würde sie kriegen, und wenn es das letzte war, was er tat!

Juliette rannte über den Rasen und sprang über den niedrigen Zaun. In ihr herrschte völlige Leere. Eigentlich müsste sie heulend zusammenbrechen, schreien und sich vor Trauer auf dem Boden wälzen. Doch all ihre Gefühle waren wie weggeblasen. Ebenso ihre Pläne, Ideen, Gedanken – alles hatte sich in dem Moment verabschiedet, in dem sie neben ihren toten Bruder getreten war und ihm die Augen geschlossen hatte. Sie wusste nur noch eines: Der Mann, der plötzlich in der Tür gestanden hatte, würde keinen Moment zögern, wenn sich ihm die Gelegenheit bot, sie zu stellen. Erwischte er sie, tötete er sie.

Sie sollte stehen bleiben und es einfach geschehen lassen. Es wäre nur fair. Immerhin hatte sie nicht einen Finger gerührt, als seine Komplizen Jings töteten. In einer Endlosschleife flimmerte dieser Moment wieder und wieder vor ihrem geistigen Auge, während sie über Wurzeln, Maulwurfshügel und andere Unebenheiten hinwegsprang. Sein letzter Blick hatte ihr gegolten. Jings hatte sie angesehen, als Max um ihn herum getreten war. Er hatte sie angesehen, als Max ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte. Er hatte sie angesehen, bis Max ihm den Kopf herumgerissen und den Augenkontakt unterbrochen hatte. Und nicht mal eine Sekunde lang hatte etwas anderes als Liebe in seinem Blick gelegen.

Juliette setzte über den kleinen Graben und stürzte auf das dahinterliegende Feld. Sie nahm sich eine Sekunde, um sich umzusehen. Der Acker war zu groß, um das andere Ende auch nur zu erahnen. Er war zur Aussaat vorbereitet und von tiefen Furchen durchzogen, was eine Abschätzung seiner Größe noch zusätzlich erschwerte. Dennoch entschloss sie sich für diese Richtung. Auf der anderen Seite glaubte sie die Wipfel einiger Bäume zu erkennen. Vielleicht war es ein Wald. Sie musste es nur bis dorthin schaffen.

Juliette rappelte sich auf und rannte weiter. Auf der groben Erde kam sie nur langsam voran, weil sie bei jedem Schritt aufpassen musste, dass sie nicht fiel. Schnell schmerzten die Hüften und die Knie vom ständigen Auf und Ab. Ein paar Mal stolperte sie oder konnte erst in letzten Moment den verstreuten Kaninchenbauten ausweichen. Das Messer, mit dem sie Johns Fesseln hatte durchschneiden wollen, hatte sie längst irgendwo verloren. Aber das war egal. Sie hatte es nicht mitgenommen, um sich zu verteidigen. Sie war einfach nur nicht in der Lage gewesen, es fallenzulassen, als der Typ plötzlich in Johns Haus aufgetaucht war.

Die brennende Lunge und das hart pumpende Herz zwangen sie langsamer zu laufen. Seitenstiche malträtierten sie. Weit würde sie nicht mehr kommen, das war ihr klar. Und doch trugen ihre Füße sie weiter und weiter über das Feld. Bis der Boden plötzlich unter ihnen verschwand und Juliette nach vorne kippte. Schmerz durchzuckte ihren Knöchel und presste ihr auch den letzten Rest Luft aus der Lunge. Sie rollte sich auf den Rücken und sah, das Brennen in ihrem Gelenk und ihrer Lunge ignorierend, zum Himmel hinauf. Zum Aufstehen fehlte ihr die Kraft.

So würde es also enden.

Coop rannte in halsbrecherischem Tempo über den Acker. Obwohl er fit war, zerrte der weiche, unebene Boden schnell an seinen Kraftreserven.

Oh, wie er es hasste, zu rennen.

Er hatte nicht lange suchen müssen, um die Flüchtige zu entdecken. Sie war vielleicht zwanzig Meter vor ihm und Coop hatte sich ihrer schon sicher gefühlt. Er war durchtrainierter als sie, ein ganzes Stück größer und seine Beine um einiges länger. Es sollte eigentlich ein Kinderspiel sein, sie einzuholen.

Aber falsch gedacht …

Und dann verschwand sie plötzlich aus seinem Blickfeld. In einem Moment war sie noch da und im nächsten nicht mehr. Dabei hatte Coop die Augen gerade lange genug gesenkt, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Er musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass sich vor ihm ein Graben durchs Feld zog − den die Frau wohl ebenfalls nicht gesehen hatte.

Ihr Pech, sein Glück! Denn jetzt hatte er sie. Selbst wenn der Graben nicht sonderlich tief war, würde die nasse, rutschige Erde ihr doch einige Probleme bereiten, wenn sie versuchen würde hinauszuklettern. Und bewaffnet war sie auch nicht mehr. Das Messer hatte Coop schon am Graben gleich hinter dem Garten gefunden. Obwohl sie genug Vorsprung hatte, hatte sie es nicht für nötig gehalten, es wieder einzusammeln. Böser Fehler. Er lachte humorlos auf. Sie hatte keine Chance.

Die letzten fünfzehn Meter beschleunigte er noch einmal, auch wenn er wusste, dass jeder falsche Schritt fatal sein konnte. Am Rand des Grabens blieb er stehen und zog seine Waffe. Nochmal würde sie ihm nicht entkommen!

Die Frau lag einfach nur auf dem Rücken und starrte nach oben. Erst als er einen Schatten auf sie warf, lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn. Blanker Hass stieg in Cooper auf, als er ihre völlige Emotionslosigkeit bemerkte. Nicht die geringste Regung funkelte in ihren grünen Augen auf. Eiskalt schien sie auf ihn gewartet zu haben.

Mit geschultem Blick musterte Coop ihren Körper. Die Jeans, die nur bis zum Schienbein reichte, lag hauteng um ihre schmalen, langen Beine. Das Oberteil war nicht weniger knapp geschnitten. Er konnte keine Ausbeulungen erkennen – zumindest keine, die auf versteckte Waffen hindeuteten.

Warum reagierte sie nicht? Obwohl sie wissen musste, dass ihre Lage völlig ausweglos war, setzte sie sich beinahe lässig auf. Als sei es ihr vollkommen gleichgültig, dass er eine Waffe direkt auf ihre Stirn richtete, lehnte sie sich nach vorn und begann in aller Seelenruhe, sich den rechten Fuß zu massieren. Offensichtlich war ihre Landung nicht allzu weich verlaufen und sie hatte sich am Knöchel verletzt.

Umso besser, das würde eine plötzliche Flucht unterbinden.

Cooper sprang in den Graben und baute sich vor ihr auf.

„Stehen Sie auf!“ Die Wut ließ ihn innerlich vibrieren. Aber er war nicht nur wütend auf sie, sondern auch auf John, weil der sich von dieser kleinen, zierlichen Frau so hatte überrumpeln lassen. Und am meisten auf sich selbst. Wäre er doch nur schneller gewesen.

„Ich kann nicht.“

Nachdem sie sich so gefühlskalt gab, hätte er keine solch dünne Stimme erwartet. Doch er würde sich nicht von ihrem Kleines-Frauchen-Gehabe einlullen lassen.

„Ich sagte, Sie sollen aufstehen!“

Mit einem heftigen Ruck riss er sie hoch. Die Frau schrie auf und tänzelte kurz, bis sie einen sicheren Stand fand. Sie war kleiner, als er es aus der Entfernung vermutet und nach ihrer ersten Begegnung im Haus in Erinnerung hatte.

„Na los, bringen Sie mich schon um! Dafür sind sie doch hier!“, sagte sie gleichmütig.

Coop kniff die Augen zusammen. Alles in ihm verkrampfte sich. Oh, er hatte wirklich große Lust dazu. Aber erst brauchte er ein paar Antworten.

„Na los!“, drängte sie ihn. „Oder haben sie plötzlich Skrupel?“

Was auch immer in sie gefahren war, ihr Kampfgeist schien auf einmal geweckt. Sollte sie ihm doch einen zusätzlichen Grund geben.

Ohne auf ihre Frage einzugehen, trat er nahe an sie heran und drückte ihr den Lauf unters Kinn. „Wenn Sie noch ein paar Minuten länger leben wollen, sollten Sie lieber meine Fragen beantworten!“ Seine Stimme klang so rau, dass sogar er Probleme hatte, die Worte hinter dem Knurren deutlich zu verstehen. „Wie haben Sie es gemacht? Wie haben Sie ihn überrumpelt?“

Es war nicht unbedingt die wichtigste Frage, aber er musste eine Erklärung dafür finden, dass John, ein ausgebildeter Soldat, an einen Stuhl gefesselt und tot war. Unter normalen Umständen wäre sein Freund locker mit dieser halben Portion fertig geworden.

Zum ersten Mal zeigte sich etwas auf ihrem Gesicht, das einem Gefühl gleichkam. Verwirrung?

„Er war ein ausgebildeter Soldat. Also, wie haben sie ihn so in Sicherheit wiegen können?“ Er trat noch näher, klemmte die Waffe regelrecht zwischen ihren Körpern ein. „Haben Sie ihn gefickt, um sich sein Vertrauen zu erschleichen?“

Schockiert schüttelte sie den Kopf, als würde allein der Gedanke sie anwidern. Sie strauchelte und fiel fast nach hinten. Instinktiv griff Coop nach ihr. „Machen sie ihr Maul auf, Lady!“

„Ich war das nicht“, hauchte sie tonlos und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien.

„Natürlich nicht. Sie kamen durch Zufall vorbei, haben ein Messer gefunden und sich mal eben entschlossen, mit dem Toten auf Tuchfühlung zu gehen.“ Er schnaufte. „Oder wollen Sie mir erzählen, dass Ihr Shirt nicht von oben bis unten mit dem Blut meines Freundes besudelt ist?“

Warum diskutierte er eigentlich mit dieser Mörderin?

„Wissen Sie was?“, sagte er und trat einen Schritt zurück, um die Waffe auf ihre Brust zu richten. „Es ist mir egal, warum Sie John getötet haben.“ Natürlich war das eine glatte Lüge. Er würde sein linkes Ei für die Antworten geben, die ihm den Tod seines Freundes begreiflich machen und das Entsetzen darüber vielleicht etwas mildern konnten.

Coop entsicherte die Waffe.

Ja, er würde es tun. Es war nicht das erste Mal, dass er auf Menschen schoss – und als Soldat war er bei weitem nicht so wütend gewesen wie jetzt.

„Ich habe ihn nicht …“, flüsterte sie, den Blick fest auf seine Brust geheftet. „Er war mein Bruder.“

Das schlug doch dem Fass den Boden aus! Er wusste von Johns Schwester und auch davon, wie sie gestorben war. J.J. hatte sich nie verzeihen können, dass er sie nicht beschützen konnte, als sie ihn am meisten brauchte.

Seine Finger hatten ihren Kiefer fest umschlossen, ehe er die Bewegung überhaupt wahrnahm. „Wagen Sie es nicht! John Jennings Schwester ist vor Jahren gestorben!“

Sie nuschelte vor sich hin, und Coop musste sich zwingen, seinen Griff etwas zu lösen. „Was?“

„Ich sagte, dass es die Wahrheit ist. Ich war Johns Schwester.“ Sie schluckte und wandte den Blick ab. „Zumindest bis ich ins Zeugenschutzprogramm kam!“ Sofort schlug sie sich die Hand vor den Mund und wich zurück. Cooper löste seinen Griff, als hätte er sich an ihr verbrannt. Wie ein Stromschlag waren ihre Worte in seinen Verstand eingeschlagen.

Wie bitte? Zeugenschutzprogramm? Was redete sie denn da?

Konnte das sein? Waren das womöglich die Schwierigkeiten, von denen J.J. gesprochen hatte?

Juliette konnte nicht verhindern, dass sie stürzte. Doch sie spürte weder den Schmerz in ihrem Knöchel, noch wie sie die Böschung hinab rutschte. Sie hätte den Zeugenschutz nicht erwähnen sollen. Er war ganz offensichtlich nicht der, für den sie ihn gehalten hatte. Auch wenn er kurz davor gewesen war, sie zu töten – und es womöglich immer noch wollte. Mit dem Tod von Jings hatte er aber auf jeden Fall nichts zu tun.

„Kannst du laufen?“

Juliette sah auf. Der unvermittelt sanfte Ton überraschte sie. Wie betäubt schüttelte sie den Kopf.

Der Mann hockte sich vor sie und deutete auf den Fuß. „Darf ich es mir mal ansehen?“ Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern griff sofort nach ihrem Bein.

Juliette riss es weg und wich, soweit es ging, zurück. Doch der matschige Boden ließ sie sofort wieder auf ihn zu rutschen.

„Hey, ich tu dir nichts.“ Er fuhr sich durch sein dunkles Haar. „Ich weiß, wir hatten einen miesen Start, aber …“

Die Untertreibung des Jahrhunderts.

„Sie sind Nate“, platzte Juliette plötzlich heraus. Die Worte hatten ihren Mund schneller verlassen, als dass der Gedanke in ihrem Kopf Form annahm. Jings hatte immer wieder von ihm gesprochen, als er damals aus dem Irak zurückgekehrt war. Und auch gestern hatte er ihn ein paar Mal erwähnt.

Ein Stich durchfuhr sie. Noch vor wenigen Stunden hatten sie zusammen gelacht und jetzt war er …

„Ja.“ Er räusperte sich. „Aber er ist … war der einzige, der mich so nannte. Außer meinen Eltern. Alle anderen nennen mich einfach Coop.“ Er ließ sich zu Boden sinken und stützte seine Arme auf die angewinkelten Knie. „Er rief mich gestern an und meinte, es gäbe Schwierigkeiten. Ich kam, so schnell ich konnte.“ Er machte eine kurze Pause. „Es tut mir leid, dass es nicht schneller ging.“ Honigbraune, glänzende Augen sahen sie bekümmert an.

„Nein, Nate. Es war meine Schuld. Ich trage die Verantwortung für … das alles hier. Wäre ich nicht hergekommen, hätte er gar nicht in Schwierigkeiten gesteckt. Ich habe die Mörder direkt zu ihm geführt.“

Langsam sickerte das ganze Ausmaß der Geschehnisse zu ihr durch. Sie zitterte, als ein Schauer über sie hinweg fuhr. Sofort war Nate an ihrer Seite, wollte ihr die Hand auf die Schulter legen. Dass sie erneut vor ihm zurückwich, war eher ein Reflex als eine bewusste Entscheidung.

„Ju… – Ähm … Miss Jennings?“

„Nenn mich Juliette.“ Sie sah einen Moment lang Richtung Haus. Was hatte es für einen Sinn, sich länger hinter einem falschen Namen zu verstecken, wenn man dadurch auch nicht sicherer war. „Oder Jules. John hat mich immer Jules genannt.“

Wieder hatte sie seinen Anblick vor Augen. Das viele Blut. Die einst so sanften, grünen Augen, die zuletzt seelenlos zur Decke gestarrt hatten. Juliette krabbelte eilig ein Stück zur Seite und übergab sich. Obwohl kaum mehr als Magensäure herauskam, wollte das Würgen einfach nicht aufhören. Genau wie die Bilder nicht aus ihrem Kopf verschwinden wollten.

Cooper haderte mit sich. Er wollte zu ihr, ihr beistehen und helfen. Doch jedes Mal, wenn er sie auch nur leicht berührte, zuckte sie zusammen und wich zurück. Er wollte sich nicht mal vorstellen, was sie durchgemacht hatte, um so zu reagieren. Aber er konnte auch nicht einfach hier sitzen bleiben und ihr zusehen, wie sie sich die Seele aus dem Leib kotzte.

J.J. hatte immer davon geschwärmt, wie nahe sie sich gestanden hatten. Man hatte nicht mal eine Briefmarke zwischen sie bekommen können. Ihretwegen hätte er sogar beinahe den Irak-Einsatz abgelehnt, als ihre Vorgesetzten Freiwillige gesucht hatten. Lange Gespräche und eine deftige Drohung ihrerseits hatten ihn schließlich einlenken lassen. Juliette hatte gewusst, wie wichtig ihm das war und wie schwer es ihm gefallen wäre, seine Kameraden alleine in den Kampf ziehen zu lassen. Allerdings hatte er ihr auch schwören müssen, dass er in einem Stück zurückkommen würde. Und er hatte Wort gehalten. Wie schlimm musste es da für sie sein, ihren Bruder nun tot vorzufinden.

Cooper stand auf und sah über die Kante des Grabens. Sie waren ein ganzes Stück gelaufen. Das Haus war aus dieser Position kaum zu erkennen.

„Wir sollten zum Haus zurück und die Polizei benachrichtigen.“

Hinter ihm erklang ein entsetzter Aufschrei. Juliette sah ihn panisch an.

Plötzlich wusste er, was ihn im Haus so irritiert hatte. Warum war es ihm nicht früher aufgefallen? Die Farbe, die Form. Er hatte diese Augen schon so oft gesehen, wenn auch nie so angsterfüllt. Es waren die Augen seines besten Freundes.

„Nein. Ich kann nicht … keine Polizei!“ Juliette versuchte sich aufzurappeln, knickte aber sofort wieder ein, als sie ihren Fuß belastete.

Langsam ging er auf sie zu, tunlichst darauf bedacht, sie nicht wieder zu erschrecken. „Juliette, wir müssen es melden.“

„Sie werden mir auch Johns Tod in die Schuhe schieben … Genau wie den Mord in meiner Wohnung. Ich habe aber niemanden getötet. Der Mann ist nicht tot. Er ist einer von ihnen. Er war hier. Ich habe ihn gesehen. Ich kann …“

Coop trat auf sie zu und zwang sie ihn anzusehen. Juliette zuckte zusammen, doch darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie war völlig außer sich. Ihr ganzer Körper bebte, und ihre Atmung ging viel zu schell.

„Juliette – Jules! Hey, ganz ruhig. Beruhige dich. Wir finden einen Weg. Aber erst mal muss ich dich hier wegbringen, okay?“

Aus wirren Augen schaute sie zu ihm auf, konnte aber den Blickkontakt nicht lange halten. Wenigstens nickte sie und gab ihre abwehrende Haltung für diesen Moment auf.

„Gut, dann werde ich dir jetzt aus dem Graben helfen und dich dann zum Haus tragen.“ Sofort versteifte sie sich wieder. „Du kannst draußen warten. Ich will mich drinnen nur ein wenig umsehen, bevor wir wieder verschwinden.“

6. KAPITEL

„So eine Schande. Ein Prachtkerl von einem Mann.

Die Fotos wurden ihm sicher nicht gerecht. Was hätte ich dafür gegeben, ein bisschen Zeit mit ihm zu haben, ehe Max sich ihn vorgenommen hat. Ich hätte ihn bestiegen und geritten. Und er hätte es geschehen lassen. Er hätte mir nicht widerstehen können. Genau wie jeder andere Mann auch hätte er gebettelt und mich angefleht, in mich stoßen zu dürfen. Stattdessen kann ich mich nun nur an den Bildern laben, die Max mir geschickt hat.

Ich weiß, diese Gedanken an einen anderen Mann sollte ich nicht haben. Aber du bist schon so lange fort …

Ich muss nun umdenken. Es scheint knapp gewesen zu sein. Diese hohle Nuss hat doch allen Ernstes eine Nachricht mit ihrem eigenen Namen unterschrieben. Max hatte den richtigen Riecher. Aber nach der Vorarbeit auch kein Kunststück. Wenn er wieder Recht hat, dann ist sie noch nicht weit weg. Ich freue mich schon darauf, ihr die schönen Bilder zu zeigen. Er war wirklich ein Bild von einem Mann. Schade, dass er sterben musste.

Wie lange muss ich denn noch warten, um sie für alles büßen zu lassen, was du ihretwegen erleiden musstest, mein Liebster?“

Cooper lief im Motelzimmer auf und ab und wartete darauf, dass Kid endlich ans Telefon ging. Er hatte es bereits zweimal versucht, seit sie eingecheckt hatten.

Warum ging er denn nicht ran? Wo steckte er nur?

Coop knurrte aufgebracht und drückte auf Wahlwiederholung. Sollte Leo auch dieses Mal wieder nicht rangehen, würde er es bei Mic versuchen. Seine Hilfe hatte er mindestens genauso nötig.

Die letzten Stunden waren mehr als aufreibend gewesen. Wie besprochen war er mit Juliette zum Haus zurückgekehrt. Die ganze Strecke hatte er sie getragen, und je näher sie ans Grundstück herangekommen waren, desto fester hatte sie sich an ihn geklammert. Auch war sie immer stiller geworden. So hatte ihn auch ihre Weigerung nicht verwundert, alleine hinterm Haus zu warten. Innen hatte Jules ihren Blick dann kaum von J.J. nehmen können. Umso ärgerlicher war es da gewesen, dass die Durchsuchung der Räume noch nicht mal von Erfolg gekrönt gewesen war. Er hatte nicht mit einer Visitenkarte oder einer Rechnungsadresse gerechnet, aber die Täter hatten tatsächlich nicht die geringste Spur hinterlassen. Das einzige Fundstück war Juliettes Handy gewesen. Aus irgendeinem Grund hatten die Verbrecher ihre Tasche mitgenommen und dabei offensichtlich das Gerät verloren. Juliette hatte sich nicht nochmal davon trennen wollen, da die Nummern der U.S.-Marshalls darin eingespeichert waren und es die einzige Möglichkeit war, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Natürlich wäre es sicherer gewesen, einfach die Nummer auf sein Telefon zu übertragen, trotzdem hatte er es eingesteckt. Er hatte ihr den Wunsch nicht abschlagen können. Allerdings hatte er ihren Protest ignorierend den Akku herausgenommen. Sicher war sicher. Inzwischen lag es in Einzelteilen auf dem Tisch, nachdem er es gründlich auf Wanzen untersucht hatte.

Coop beendete den Versuch, Kid zu erreichen, und warf sein Handy neben das zerlegte. Es an der nächsten Wand zu zerschmettern, hätte ihm momentan wesentlich besser gefallen. Er war müde. Er war planlos. Und er war traurig.

Ein Teil von ihm wollte es immer noch nicht wahrhaben: John war tot.

Sie hatten Feuerbeschuss, Granaten, Landminen und andere Hinterhalte überlebt. Der Kerl hatte während ihrer unzähligen Einsätze seinen verfluchten Schutzengel auf der Schnellwahltaste gehabt. Und jetzt starb er gefesselt und wehrlos in seinem eigenen Haus?

Coop fuhr sich mit der Hand durchs Haar und griff erneut nach seinem Telefon. Hoffentlich konnte er wenigstens Mic erreichen. Während er dem Freizeichen lauschte, leerte er die Redbull-Dose, die er sich aus dem Kühlschrank geholt hatte, und setzte seinen Streifzug durchs Zimmer fort.

„Jo, Alter. Verdammt, wo steckst du? Der Boss kocht“, ertönte die wohlvertraute Stimme seines Freundes.

Cooper seufzte erleichtert auf. „Hey Mic, ich brauche deine Hilfe. Was kann man bei einem Schock tun?“

„Einen Schock? Was ist passiert? Geht’s dir gut?“

„Ging mir schon besser. Also Doc, raus mit der Sprache!“ Cooper war froh, dass sein Freund nicht erst unnötige Fragen stellte, sondern gleich in den Arzt-Modus schaltete.

„Beschreib mir den Zustand. Hat es eine psychische Ursache oder liegen körperliche Verletzungen vor?“

Coop setzte sich auf die Bettkante und sah zu Juliette. „Eher psychisch. Verletzungen hat sie keine. Sie zittert, wirkt unruhig und teilnahmslos … Ach Mann, wir wissen beide, wie ein Schock aussieht. Wie kann ich ihr helfen?“

Juliette hatte sich auf dem Bett zu einer Kugel zusammengerollt und rührte sich nicht. Nur träge verfolgte sie ihn mit den Augen, sobald er in ihr Blickfeld trat. Coop beschrieb ihren Zustand nun doch und gab, soweit es ihm möglich war, auch ein ungefähres zeitliches Raster an. Er konnte regelrecht vor sich sehen, wie Mic grüblerisch sein Gesicht verzog.

„Kontrollier die Vitalfunktionen – und dann ab ins Krankenhaus mit ihr.“

„Glaubst du nicht, wenn ich sie in ein Krankenhaus schaffen könnte, hätte ich das nicht schon längst getan?“ Coop fuhr sich zum hundertsten Mal durchs Haar. Seine Frisur ähnelte inzwischen sicher der von Einstein. Er atmete tief ein. Mic traf nun wirklich keine Schuld an der Situation. „Hör zu, Mic. Es tut mir leid. Es war eine lange Nacht und ein noch längerer Tag.“ Und er war noch längst nicht zu Ende. „Ich erklär dir alles später.“

„Schon gut. Erst mal ist jetzt wichtig, dass du ihr hilfst. Deck sie zu, du musst sie warm halten. Und lege ihre Beine höher. Rede mit ihr. Sorg dafür, dass sie trinkt. Ruf mich stündlich an und sag mir, wie es ihr geht.“

„Alles klar!“

„Es kann etwas dauern, bis dieser Zustand nachlässt. Sollte sie zwischenzeitlich müde werden und einschlafen, dann weck sie alle dreißig Minuten auf. Und du kannst sie wirklich nicht ins …“

„Nein, kann ich nicht!“, unterbrach ihn Coop aufgebracht, senkte aber gleich wieder die Stimme, als Juliette zusammenzuckte. „Glaub mir, es geht einfach nicht.“

„Okay, okay.“ Mic machte eine kurze Pause. „Aber, Coop, sollte sie das Bewusstsein verlieren, dann muss sie ins Krankenhaus!“

„Das geht nicht!“

„Verdammt, Nathaniel, das war keine Bitte! Melde dich in einer Stunde – oder wenn sich ihr Zustand verschlechtert.“ Damit legte er auf.

Coop musste seinen Freund schon extrem reizen, bis der ihn bei seinem vollen Vornamen nannte. Umso ernster nahm er jetzt dessen Rat und befolgte die Anweisungen bis ins Detail.

Es war gar nicht so einfach, den Worten des Docs Folge zu leisten, wenn die Patientin bei jeder Berührung oder schnellen Bewegung zusammenzuckte und aufschrie. Doch schließlich schaffte er es, sie in eine andere Position und zum Trinken zu bringen. Immer wieder murmelte sie apathisch, dass es ihre Schuld sei, dass J.J. ihretwegen hatte sterben müssen. Nachdem er mehrmals versuchte, ihr gut zuzureden und sie zu trösten, beruhigte sie sich ein wenig und zog sich die Decke bis unters Kinn. Die ganze Zeit über schaute sie ihn an. Ob aus Angst vor neuer Gefahr oder davor, dass er sie alleine lassen könnte, wusste er nicht.

Mehrfach erschütterten heftige Zitteranfälle ihren Körper. Einige Male übergab sie sich in den Mülleimer, den Coop vorsichtshalber an die Bettkante gestellt hatte. Beim ersten Mal hatte er die Anzeichen nicht rechtzeitig erkannt, was einen Wäschewechsel sowohl bei ihr als auch beim Bett zur Folge hatte. Die Frau von der Rezeption hatte sofort neue Laken gebracht und das Bett bezogen, wobei sie ihm einen mehr als deutlichen Blick zuwarf.

Sollte sie doch denken, was sie wollte, solange sie nicht die Polizei rief, hatte er nichts zu befürchten. Weil Juliette kaum alleine stehen konnte, trat er kurzerhand gemeinsam mit ihr unter die Dusche und zog ihr danach etwas aus seiner Reisetasche an. Er musste schmunzeln, weil sich ihre schlanke Gestalt in dem großen T-Shirt und seinen Boxershorts fast schon verlor. Es war vielleicht nicht die feine englische Art, sich darüber zu amüsieren. Doch da er sich nicht damit auseinandersetzen wollte, wie sehr ihm ihre Nähe und ihr Anblick gefielen, zog er das vor.

Eigentlich hatte Mic Recht. Juliette gehörte in ein Krankenhaus und nicht in irgendein Motel südlich von Canadian/Texas. Und es ärgerte ihn, dass er das nicht in die Tat umsetzen konnte. Doch wenn er es richtig verstanden hatte – sie hatte ziemlich wirr geklungen –, glaubte sie wegen irgendeines Mordes gesucht zu werden. Er ging zwar von einem Missverständnis aus, aber solange sie ihn darüber nicht aufklären konnte, wollte er kein Risiko eingehen. Natürlich würde er im Zweifelsfall jedoch keinen weiteren Moment zögern …

Cooper ging ans Fenster und starrte auf den Highway. Der graue Streifen zog sich wie eine Narbe durch die karge Vegetation. Mesquitebäume und Buffelograsbüschel verteilten sich in kleinen Gruppen und wilden Konstellationen über den sandigen Boden. Seit die Mittagshitze nachgelassen hatte, konnte man mit ein wenig Geduld immer wieder Echsen, Marder und andere Kriech- und Krabbeltiere über den Asphalt und den Sand huschen sehen. Es war schon seltsam, wie sehr sich die Beschaffenheit der Umgebung änderte, sobald man nur ein paar Meilen fuhr.

Er hatte sich dazu entschlossen, Juliette zu sich nach Hause zu bringen. In Miami würde sie vor ihren Verfolgern einige Zeit sicher sein. Wenigstens hoffte er das. Vorsichtshalber würden sie einen Umweg nehmen und erst mal Richtung Süden fahren. Hoffentlich ging es Juliette bald besser. Die Fahrt ins Motel war fast schon halsbrecherisch gewesen. Er hatte sie vor sich gesetzt und selbst so weit hinten gesessen, dass sie mehr lag als saß. Seine Arme waren ihr einziger Schutz vor einem Sturz vom Bike gewesen.

Durch das Fenster beobachtete Coop die Rocker, die auf die angeschlossene Tankstelle fuhren. Die ganze Zeit hatte er nach einem Motorrad Ausschau gehalten, an das er unbeobachtet herankommen konnte. Auch wenn ihnen augenscheinlich niemand gefolgt war – sein Blick hatte mehr auf dem Rückspiegel gelegen als auf der Straße vor ihm −, hatte er den Plan gefasst, sich unterwegs ein anderes Nummernschild zu besorgen. Ob es allerdings so eine gute Idee war, sich deshalb gleich mit einer kompletten Rockergang anzulegen, bezweifelte er stark. Egal, es würde sich schon noch eine passende Gelegenheit ergeben.

Coop öffnete eine weitere Dose Red-Bull und leerte sie in zwei Zügen. Das Mistzeug würde ihm jedoch eher die Pumpe zerfetzen, als dass es ihn wachhielt.

„Jings! Nein!“ Juliette schlug um sich, riss die Nachttischlampe vom Tisch und verhedderte sich in der Decke, noch ehe Coop auch nur zwei Schritte getan hatte. Er warf sich regelrecht auf die Matratze und umfing Juliette mit den Armen. Ihre Abwehr brachte ihm mehr als nur ein paar Kratzer ein, doch das nahm er hin.

„Juliette, ganz ruhig. Schsch. Du bist in Sicherheit.“ Die Schläge und Tritte ignorierend, strich er ihr sanft übers Haar. „Es ist alles gut. Ich passe auf dich auf.“ Doch egal, was er auch versuchte oder sagte, Juliette ließ sich auch diesmal einfach nicht beruhigen.

Als sie zwanzig Minuten später die Erschöpfung übermannte, konnte auch Coop sich kaum noch rühren. Und er wollte es auch gar nicht. Obwohl er mehr neben als auf dem Bett lag, und seinen rechten Unterarm dabei sehr unangenehm belastete, war er einfach zu müde, um sich über diese Kleinigkeit zu beschweren. Er sollte wach bleiben. Er sollte Mic – und Derek – anrufen. Und vor allem sollte er aufpassen, dass Juliette nicht das Bewusstsein verlor. Doch die Erschöpfung war stärker. Innerhalb weniger Augenblicke hatte sie sich auf ihn gestürzt und mit sich gerissen.

Juliette lauschte gebannt. Doch mehr als gelegentliche Motorengeräusche konnte sie nicht ausmachen. Nein, das stimmte nicht ganz. Aber was war das andere?

Nach und nach sickerte die Welt durch den Schleier ihres trägen Verstandes. Leider war die Erinnerung nicht so gnädig, sich damit ein wenig Zeit zu lassen. Binnen Sekunden war alles wieder da und schnürte ihr die Kehle zu. Juliette versuchte sich aufzusetzen, doch etwas hinderte sie daran. Nur dass das gar kein Etwas, sondern vielmehr ein Jemand war. Ein Jemand, der sich jetzt rührte. Sie wand sich weiter, versuchte sich von dem Arm zu befreien, mit dem er sie so eisern und gleichzeitig sanft hielt.

„Schsch, Jules. Es ist gut. Du bist hier sicher“, murmelte eine vom Schlaf raue Stimme.

Juliette riss die Augen auf und blinzelte gegen das grelle Licht, das durch das Fenster direkt auf ihr Gesicht fiel. John? Hatte sie alles nur geträumt? Hatte sie nur geträumt, dass die beiden Männer ihren Bruder getötet hatten, während sie reglos vorm Fenster hockte? Das würde auch erklären, warum sie glaubte, Herold wäre dort gewesen.

Juliette blinzelte ein weiteres Mal. Langsam an die Helligkeit gewöhnt, sah sie jetzt viel klarer. Dummerweise verwirrte sie das nur noch mehr. Die Deckenlampe, die Vorhänge, die seltsame Wandfarbe, das alles war ihr völlig fremd.

Okay, das war genug!

Sie musste wissen, was Realität war und was nicht. Und sie musste vor allem endlich herausfinden, wer sie hier auf diesem – sie sah zur Seite – Bett festhielt.

Vorsichtig drehte sie den Kopf zur Seite und hob ihn an, worauf der Mann sie erneut ermahnte, sie solle sich beruhigen. Und wieder Johns Spitzname für sie. Jules. Und so sehr sie es sich auch wünschte, wusste sie in diesem Moment, dass keines von all den furchtbaren Dingen, die inzwischen passiert waren und die sie hierher geführt hatten, ein Traum gewesen war. Was ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Mann neben ihr lenkte. Sie wusste, wer er war, der beste Freund ihres Bruders. Aber dennoch festigte sich ein Verdacht in ihr, der ihr gar nicht gefallen wollte.

Plötzlich war sie völlig wach und setzte sich auf. „Nate, du mieser Scheißkerl! Was hast du in diesem Bett hier zu suchen? Was fällt dir ein?“ Heftig hieb sie auf ihn ein, bis er rücklings auf den Boden fiel. Zugegeben, hätte er nicht ohnehin schon nah an der Kante gelegen, wäre ihr das nicht gelungen. Trotzdem war es ein unheimlich gutes Gefühl, ihn unten liegen zu sehen.

„Verdammt … was?!“ Nate kam sofort auf die Knie und sah verschlafen aber alarmiert über die Matratze hinweg zu ihr. „Juliette! Beruhige dich bitte. Es ist okay.“

„Nein, ich beruhige mich nicht, und es ist nichts okay! Und sprich nicht mit mir, als wäre ich debil!“

Obwohl sie sich noch etwas wackelig auf den Beinen fühlte, versuchte sie ihr Gleichgewicht zu halten, um wenigstens etwas bedrohlich zu wirken – wenn sie schon nicht so klang. Vor allem musste sie aufpassen, dass sie nicht ebenfalls von der Matratze kippte.

„Juliette, mach bitte langsam. Und ich rede nicht mit dir, als wärst du … debil.“ Etwas funkelte in Nates Augen. Besorgnis? „Wie geht’s dir? Du hast ein paar anstrengende Tage hinter dir.“ Wieso hatte sie das seltsame Gefühl, dass Nate nicht von ihrer Flucht aus Pasadena sprach?

Erneut sah sie sich um. Alles hier schrie: Motel. Wie sie allerdings von Johns Haus in Woodward bis hierhergekommen war, davon hatte sie nicht den geringsten Schimmer.

„Wo sind wir? Und welcher Tag ist heute? Und was zum Teufel habe ich hier an?“ Sie zerrte an dem weiten Shirt, als würde er nicht auch so wissen, was sie meinte.

Nate stand ungelenk auf und streckte sich.

Verfluchte Scheiße. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er kein Shirt trug. Seine Haut war gebräunt und dunkles Haar kräuselte sich auf seiner breiten Brust. Eine schmale Spur zog sich bis zum Bund seiner Hose und teilte den Sixpack. Das nannte sie mal Symmetrie. Wobei es eigentlich nicht komplett symmetrisch war. Die linke Brust, die Schulter und ein Großteil seines Armes waren von einer Maori-Tätowierung bedeckt. Zirkel und Symbole in tiefem Schwarz hoben sich von der fast bronzefarbenen Haut ab. Wie weit es sich wohl über seinen Rücken zog?

„… Schock und dich mehrfach übergeben. Ich konnte dich doch nicht einfach in den Klamotten liegen lassen. Hey, Jules! Hörst du mir überhaupt zu?“

Klang da etwa Belustigung mit? Nach dem Grinsen zu schließen, das auf seinem Mund lag, konnte sie diese Frage nur mit Ja beantworten. Worüber hatte er noch gesprochen? Irgendwas von Schock … und dass sie sich bekotzt hätte.

„Ähm – was?“

„Heute ist Donnerstag. Ich habe dich hierher gebracht. Du hattest einen Schock und …“

„Ja, den Rest habe ich verstanden. Müsste ich normalerweise dann nicht in einem Krankenhaus liegen?“ Sie kannte sich damit nicht allzu gut aus, und es war sicher auch nicht das Wichtigste, nach dem sie fragen sollte. Aber ihm weitere Fragen zu diesem Thema zu stellen war wesentlich angenehmer, als darüber nachzudenken, dass sie fast drei Tage verloren und Nate sie nackt gesehen hatte. Außerdem lenkte es sie auch davon ab, dass er fast noch weniger trug als sie. Der ging gerade ums Bett rum und zu einem kleinen Kühlschrank, der in der Ecke stand – was ihr einen außerordentlich guten Ausblick auf seinen durchtrainierten Körpern bescherte.

„Setz dich und iss erst mal. Dann erzähle ich dir alles.“ Er hätte Juliette nicht zweimal bitten müssen. Ihre Knie waren vom langen Liegen – und aus diversen anderen Gründen – butterweich. Und selbst, wenn Nate ihr das Sandwich, das er jetzt auf den Tisch legte, in einen Fressnapf geworfen hätte, sie würde es mit Genuss verspeisen.

Eigentlich hasste sie Thunfisch, aber das war im Moment egal. Neben dem Kauen war sie damit beschäftigt, sich nicht ablenken zu lassen und Nate möglichst wenig anzustarren. Seine Oberarmmuskeln spannten sich unter der Haut, als er sich vorbeugte und sich auf die Tischplatte stützte. Nur am Rande ihres Verstands bemerkte sie, dass sich ihre Paranoia kurzfristig verabschiedet hatte, während sie ihm zuhörte und ihn möglichst unauffällig musterte. Mit dem Drei-Tage-Bart sah er richtig verwegen aus.

„Ich war mir nicht sicher, was ich machen sollte. Und glaub mir, das kommt selten vor …“, begann Nate zu erzählen. Als er fertig war, trank er einen Schluck Red Bull und wartete offensichtlich darauf, dass sie irgendwas sagte.

Also sagte sie etwas und griff dabei gleich eines der heikelsten Themen auf. „Ja, ich werde wegen Mordes gesucht. Ich wurde reingelegt.“ Juliette puhlte an einem Stück Salat rum, das aus dem Sandwich ragte.

„Worum geht es hier? Du sagtest etwas von Zeugenschutzprogramm?“ Nate legte den Kopf schräg und sah sie neugierig an.

Juliette zögerte. Sie hatte keine Lust, erneut alles auf den Tisch zu legen. In den letzten Tagen – also bevor sie halb nackt in diesem Motelzimmer aufgewacht war –, hatte sie oft genug darüber reden und sich damit auseinander setzen müssen. Doch es gab auch einen anderen, viel wichtigeren, Grund, warum sie ihre Geschichte nicht schon wieder erzählen wollte. Sie hinterließ eine Spur von Leichen, wohin sie auch kam. Und obwohl sie an keines der Opfer selbst Hand angelegt hatte, fühlte sie sich an deren Tod schuldig. „Ich wurde in etwas hinein gezogen, mit dem ich nichts zu tun hatte.“

„Ich gehe mal davon aus, dass du nicht einfach nur beobachtet hast, wie jemand eine Kiste Bausteine klaut. Ich weiß von J.J., dass du in einem Spielwarenladen gearbeitet hast. Womit hat man da Kontakt, dass man gleich ins Programm kommt?“

Argwöhnisch versuchte Juliette, Herablassung aus seinen Worten herauszuhören. Konnte oder wollte sie keine finden?

„Ich habe gar nichts beobachtet. Aber interessiert das jemanden? Nein.“ Frustriert schlug sie ihre Zähne in das Sandwich und verzog den Mund. Thunfisch war einfach widerlich. Scheinbar war sie wieder soweit okay, dass sich ihre Geschmacksnerven zurückgemeldet hatten.

„Willst du mir nicht erzählen, worum es geht? Ich kann dir helfen.“ Nate sah sie selbstsicher und ermutigend an.

Klar. Wie sollte er ihr bitte helfen können?

„Ja, genau wie John mir helfen wollte. Und jetzt? Jetzt ist er …“ Der Würgereiz kam so plötzlich, dass Juliette kaum Gelegenheit hatte, ins Bad zu stürmen. Gerade noch rechtzeitig erreichte sie die Toilette, riss den Deckel hoch und übergab sich.

Hinter ihr schepperte etwas zu Boden und eilige Schritte waren zu hören. Nate hockte sich neben sie und zog sanft die Haare zurück. Es war ihr peinlich, auch wenn es nach seinen Erzählungen der letzten gemeinsamen Stunden eigentlich völlig abwegig sein sollte. Und doch half es ihr, seine beruhigend kreisenden Finger auf ihrem Rücken zu spüren. Er sagte nichts, war einfach nur da, während sie sich zum zweiten Mal mit dem Thunfisch auseinandersetzte.

Erschöpft ließ Juliette sich einige Minuten später auf die Fliesen sinken. Nate spülte und holte ein Glas Wasser und ein Tuch, ehe er sich neben sie setzte.

„Ich hasse Thunfisch“, brach Juliette schließlich ihr Schweigen.

„Das hättest du mir aber auch ruhig vorher sagen können. Ich wäre durchaus offen für andere Vorschläge gewesen.“

„Blödmann“, schnaubte sie, konnte sich jedoch ein kurzes Grinsen nicht verkneifen.

Juliette spürte schnell, wie die Kälte der Fliesen durch das T-Shirt kroch, doch sie wollte sich nicht rühren. Es war seltsam, wie sicher sie sich in diesem kleinen Raum irgendwo im Nirgendwo und zusammen mit diesem Mann fühlte, den sie nur von Erzählungen ihres Bruders kannte.

Juliette hatte ihren Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen. Sie war so blass, dass ihre Haut fast gräulich schimmerte. Coop wollte sie packen und zurück ins Bett stecken. Sie hatte sich längst noch nicht genug erholt. In den vergangenen Stunden hatte sie nur dann geschlafen, wenn Coop neben ihr lag. Die restliche Zeit hatte sie sich in die Decke gehüllt und jede seiner Bewegungen verfolgt. Aber wenigstens schien sie das Schlimmste überstanden zu haben. Auch ohne Mics ständige Ermahnungen hätte Coop den Krankenhausaufenthalt nicht mehr viel länger hinausgezögert.

Weder dem Teamarzt noch den anderen Kollegen von der P.I.D. gefiel es sonderlich gut, dass er sich ausgerechnet jetzt unangemeldet ein paar Tage freigenommen hatte. Am Wochenende war ein Fall reingekommen, der aller Ressourcen bedurfte. Irgendeine große Sache von offizieller Stelle, die weit weniger offiziell gelöst werden musste. Coop ahnte, dass seine Spritztour erheblichen Ärger mit sich bringen würde, sobald er in Miami ankam.

„Sie haben auf ihn eingestochen und ich habe nichts getan. Er hat mich gesehen“, unterbrach Juliette seinen Gedankengang. „Er hat mich direkt angesehen. Er gab mir ein Zeichen, dass ich wegbleiben sollte. Ich konnte mich nicht rühren. Auch nicht, als der Typ hinter ihn trat und ihm …“

Cooper erstarrte, als die letzten Worte unter einem Schluchzen abbrachen. Ihm wurde eiskalt, als sich das Bild vor seinem inneren Auge zusammenfügte. Oh Gott, sie hatte mit angesehen, wie ihr Bruder getötet wurde. Insgeheim hatte er es die ganze Zeit geahnt, sich aber vor diesem Gedanken gefürchtet. Auch wenn er ihr nie zuvor begegnet war, hatte er durch Johns Erzählungen fast das Gefühl, sie schon ewig zu kennen. Mit zähen Bewegungen zog Coop die Schwester seines besten Freundes an sich.

Juliette klammerte sich an ihn, krallte ihre Fingernägel tief in seinen Rücken und weinte bitterlich. All der Schmerz schien aus ihr herauszufließen und die schweren Tränen drohten seine Haut zu verbrennen.

Warum nur war er nur nicht schneller da gewesen?

„Es tut mir so leid. Jules, es tut mir so leid.“ Er zog sie enger an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Sie in den Armen zu halten und jede Erschütterung ihrer Trauer zu spüren, ließ auch seine eigene hervorbrechen. Nur mühsam konnte er die Tränen zurückhalten. Es war kein Männer-weinen-nicht – Ding, so war er nicht erzogen worden. Aber Juliette brauchte ihn jetzt. Er selbst würde später trauern, wenn er seine Wut in die richtigen Bahnen gelenkt und die Mörder aufgespürt hatte. Und Juliette somit endlich in Sicherheit war.

7. KAPITEL

Juliette fühlte sich schon etwas besser, nachdem sie sich fürs erste ausgeheult, geduscht und etwas gegessen hatte, das nicht aus Thunfisch bestand.

Juliette zog ihn halbherzig damit auf, dass an ihm eine gute Mutter verloren gegangen wäre. Er umsorgte sie, wusch die Wäsche, machte Essen …

Doch Nate verzog nur leicht den Mund und versicherte ihr, die Rechnung würde er ihr später noch vorlegen.

Schweigend saßen sie an dem kleinen Tisch im Motelzimmer, während er ihr Handy wieder zusammenbaute. Als letztes schob er den Akku rein und schob die Hülle darüber, dann reichte er es ihr.

Juliette hatte fast einen Tobsuchtsanfall bekommen, als sie das Elektronik-Puzzle in der Schale auf dem Tisch entdeckt hatte. Natürlich hatte er nicht ganz Unrecht, als er ihr die Erklärung für die Demontage lieferte. Ausgesprochen beunruhigt darüber, dass man sie eventuell über das Telefon aufgestöbert hatte, ging sie die Möglichkeiten durch, wie die Verbrecher an die Daten gekommen waren. Die Resultate gefielen ihr ganz und gar nicht. Denn egal, wie man es drehte und wendete, es gab nicht allzu viele Möglichkeiten. Entweder hatten sie zuerst ihren Namen herausbekommen und dann nach Mitteln gesucht, um sie aufzuspüren, oder wenigstens einer der Marshalls steckte mit ihnen unter einer Decke. Beide Szenarien warfen gleich einen Berg neuer Fragen auf.

Wie waren sie an ihren Namen gekommen?

Wie hatten sie an die übrigen Daten kommen können?

Wieso und, wenn ja, wie tief steckte Hayes oder seine Partnerin da mit drin? Warum erledigte der Marshall sie dann nicht gleich selbst? Konnte sie ihnen noch trauen, wenn sie sich jetzt melden würden? Und konnte sie das Telefon überhaupt noch nutzen?

Die letzte Frage schien auch Nate zu beschäftigen.

„Hast du was dagegen, dass wir die Nummer in mein Telefon einspeichern? Ich will nicht riskieren, dass sie uns nochmal finden.“

„Müssten die dann nicht sofort ein Signal bekommen, wenn du es einschaltest?“ Allein der Gedanke reichte aus, um ihre Nerven weiter zu zerreiben.

„Dann gehe ich richtig in der Annahme, dass du dir die Nummer wirklich nicht eingeprägt hast.“ Es war weniger eine Frage als ein Vorwurf.

„Ja. Nein, habe ich nicht. Und spars dir! Ich weiß selbst, wie blöd das war. Was ist nun? Wenn du es nur so lange eingeschaltet lässt, wie du brauchst, um an die Nummer zu kommen. Reicht denen das?“

„Nein, ich denke nicht. Zumindest nicht für eine genaue Lokalisierung. Und ganz ehrlich hatte ich nicht vor, noch viel länger hierzubleiben.“

Juliette sah von dem Display auf, auf dem sich bereits das Logo aufbaute. „Moment. Was?“

Nate rutschte etwas unruhig auf seinem Stuhl herum. „Wir sind seit Tagen hier und ich habe keine Ahnung, ob nicht vielleicht jemand mein Motorrad vor Johns Haus gesehen hat und jetzt danach sucht. Sobald du wieder was zum Anziehen hast und wir was Vernünftiges gegessen haben, fahren wir los.“ Diese Offenbarung riss Juliette völlig aus dem Konzept. Sie hatte noch nicht wirklich Gelegenheit dazu gehabt, sich über ihr weiteres Vorgehen Gedanken zu machen. Doch ganz sicher würde sie Nate nicht noch weiter mit in die Sache hineinziehen.

Er nahm ihr das Telefon aus der Hand und suchte nach den Nummern. Lange brauchte er nicht. Es gab nur zwei.

„Welche ist die richtige?“

„Was? Ähm, die sind beide richtig. Die erste ist von Hayes und die zweite von seiner Partnerin. Was ist eigentlich mit Jings – John? Ich meine, wenn du mich nicht in ein Krankenhaus bringen wolltest, hast du sicher auch nicht auf die Polizei gewartet.“

Die Vorstellung, dass ihr Bruder seit Tagen tot in seinem Haus lag, machte ihr arg zu schaffen. Nachdem er die Nummern in seinem eigenen Telefon eingespeichert hatte, begann Nate erneut, das Gerät auseinander zu nehmen. Den wenig sanften Bewegungen nach zu urteilen, war es eher eine Form des Frustabbaus. „Bitte sag mir jetzt nicht …“

„Nein! Für wen hältst du mich? Ich habe unterwegs an einem Münzsprecher angehalten und einen anonymen Tipp gegeben.“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu, ehe er sich wieder dem Gerät widmete. „Sieh mich nicht so an. Ich hätte es auch lieber anders gemacht.“ Mit einem lauten Knacken brach die Hülle entzwei. Plastikteile flogen und Nate donnerte die Reste auf die Tischplatte. „Erklär mir, was du damit meintest, der Beweis für deine Unschuld wäre im Haus deines Bruders gewesen“, forderte er sie plötzlich barsch auf.

Juliette knirschte mit den Zähnen. Warum wollte er denn das alles wissen? Es ging ihn nichts an. „Nein.“

Nate hob die Augenbraue. „Wie, nein?“

„Ja, nein! Nate, ich danke dir für alles.“ Plötzlich wurde Juliette bewusst, dass sie sich auch für seine Fürsorge noch gar nicht bedankt hatte. „Wirklich. Für alles. Aber halt dich bitte da raus. Du kannst mir nicht helfen. Ich glaube fast, niemand kann das. Je mehr du erfährst, desto mehr gerätst du in Gefahr. Also lass es!“ Juliette zerknüllte das Cellophanpapier, in dem das Sandwich eingewickelt gewesen war, und erhob sich.

„Wo willst du hin?“ Nate sprang ebenfalls auf.

„Ich bringe den Müll weg. Außerdem will ich nachsehen, ob meine Sachen trocken sind.“

Juliettes Plan stand so unvermittelt fest, dass sie sich wunderte, nicht schon früher daran gedacht zu haben.

Sobald sich die Gelegenheit bot, würde sie verschwinden.

Auch wenn sie keinen Schimmer hatte, wie sie von hier wegkommen sollte. Notfalls würde sie laufen, bis sie zur Stadt kam. Querfeldein natürlich, so müsste er ihr zu Fuß folgen. Wenn sie es richtig timte, wäre sie bereits ein ganzes Stück entfernt, ehe ihm ihr Verschwinden auffiele.

Coop hatte keineswegs vor, es auf sich beruhen zu lassen. Weder würde er den Versuch aufgeben, ihr Informationen zu entlocken, noch würde er sie einfach so schutzlos sich selbst überlassen. Doch er spürte deutlich, dass sie sich nur noch mehr zurückziehen würde, wenn er ihr jetzt keinen Freiraum ließ.

„Was hältst du davon, wenn ich schnell dusche und wir dann drüben im Diner was essen gehen?“, schlug er einen anderen Weg ein. Er musste – nein, er wollte ihr Vertrauen gewinnen. Nicht nur soweit, dass sie sich in seiner Gegenwart weniger unwohl fühlte. Er wollte ihr ganzes Vertrauen. Und das würde keine leichte Aufgabe werden, schien ihm.

Juliette runzelte die Stirn und nickte dann zögerlich. „Könnten wir das nicht auch andersrum machen? Ich sterbe vor Hunger. Das Sandwich war ganz okay, aber ich brauchʼ dringend was Richtiges“, sagte sie, ehe sie im Bad verschwand. Fünf Minuten später kam sie wieder raus und sah ihn etwas reumütig an.

„Ich hoffe, es ist okay, dass ich eines deiner Shirts beschlagnahmt habe. Ich wollte meins nicht wieder anziehen. Das Blut ist zwar nicht mehr zu sehen, aber …“

Coop konnte nicht anders, als seinen Blick über ihren Körper wandern zu lassen. Juliette hatte sein Shirt ein wenig … umgestaltet. Der Saum war abgetrennt und die Vorderseite in einem Knoten zusammengefasst. Ein schmaler Streifen heller Haut lag frei und wollte seinen Blick immer wieder anlocken. Die blaue Dreiviertel-Hose lag eng an, betonte ihre schlanke Figur und ließ die Beine noch länger erscheinen.

„Nein. Das ist in Ordnung. Es steht dir wesentlich besser als mir.“ Er konnte sich das Grinsen einfach nicht verkneifen, als er die leichte Röte auf ihrem Gesicht bemerkte. Schnell ermahnte er sich. Dies waren weder die richtige Zeit, noch der richtige Ort – und schon gar nicht die richtige Frau!

Mit einer schnellen Drehung wandte er sich ab und ging zur Tür.

Das Diner war gemütlich, wenn auch nicht unbedingt modern. Aber vielleicht machte auch gerade das diesen gewissen Charme aus. Nischen mit senfgelben Vinylbänken zogen sich an der riesigen Frontscheibe entlang. Speisekarten, Serviettenhalter sowie Salz- und Pfefferstreuer standen auf den Tischen. Ein langer chromumfasster Tresen und eine in die Jahre gekommene Jukebox in der Ecke rundeten das Bild ab. Immer wieder schielte Juliette zu der riesigen Kuchenglocke hinüber, unschlüssig, ob sie noch einen der köstlich aussehenden Blaubeermuffins schaffen könnte. Das Essen war gut und vor allem viel gewesen. Seit dem Barbecue von Byron und Mildred hatten ihre Mahlzeiten lediglich aus Wasser und einem Sandwich bestanden. Nun platzte sie fast, konnte sich aber die Lust auf etwas Süßes nicht erwehren.

„Wir können welche mitnehmen. Für später.“ Nate lehnte sich zurück und breitete die Arme auf der Rückenlehne aus. Dass sich das weiße T-Shirt dabei fast bis zum Bersten über seine Muskeln und der Brust spannte, lenkte Juliette einen Moment von den Blaubeermuffins ab.

„Ja, das wäre vielleicht besser. Ich befürchte, wenn ich noch einen Bissen zu mir nehme, stelle ich eine große Gefahr für jeden dar, der mir gegenüber steht. Hosenknöpfe sind verdammt scharfe Geschosse. Mal ganz davon abgesehen, dass mir die Jeans dann ständig vom Hintern rutschen würde“, plapperte sie und beobachtete, wie Nates Augen einen Moment dunkler wurden.

„Gut, dann vier Stück für ein späteren Nachtisch“, stimmte er ihr zu, rief die Kellnerin und bezahlte.

Beim Rausgehen nahm er die Tüte mit dem Gebäck entgegen und folgte Juliette hinaus, die nicht hatte warten können.

„Du solltest nicht einfach so rausstürmen“, tadelte er sie mürrisch.

„Glaub mir. Die Typen, die hinter mir her sind, hätten längst was unternommen. Im Diner war außer uns nur die Kellnerin, und ein paar Kollateralschäden machen denen nichts.“ Juliette schluckte schwer. Jings war zu einem dieser Kollateralschäden geworden. Schnell blickte sie sich um. „Wo sind wir hier eigentlich? Du sagtest, du wärst einen kleinen Umweg gefahren“, fragte sie beabsichtigt beiläufig, den Blick weiter der Umgebung zugewandt.

„Ein paar Meilen vor Canadian.“ Er trat neben sie und blickte nach links. Juliette konnte nur hoffen, dass er – bewusst oder unbewusst – in die Richtung blickte, in die sie musste.

„Canadian, Texas?“

Nate nickte.

„Das ist aber ein ganz schöner Umweg, wenn du mich eigentlich nach Miami bringen wolltest. Das ist die ganz falsche Richtung. Außer Canadian gibt’s hier sicher nichts, was einer Stadt auch nur nahe kommt, oder? “ Hey, schön langsam. „Ich meine, wir sind hier doch mitten in der Pampa.“

Wachsam schaute sich Nate immer wieder um. Sicher hielt er ebenso so wie Juliette Ausschau nach Fahrzeugen.

„Etwa zwölf Meilen in diese Richtung liegt Canadian. Fünfzig Meilen nördlich von hier liegt Perryton und sechzig Meilen nach Westen Spearman. Nach Süden geht’s erst mal mitten durchs Nichts und da runter …“, er deutete hinter sich, „kommt man wieder nach Woodward.“

Juliette drehte sich um die eigene Achse. Es war zum Verzweifeln. Anstatt einfach nach Kansas zu fahren oder Oklahoma zu durchqueren, hatte er sich die gottverlassenste Gegend ausgesucht, die es im Dunstkreis von Woodward gab. Aber gut. Dann musste sie eben etwas näher bei der Straße bleiben und auf eine Mitfahrgelegenheit warten.

Sie konnte selbst nicht glauben, dass sie ernsthaft darüber nachdachte, zu irgendwelchen Typen ins Auto oder in den Truck zu steigen. Vor ein paar Tagen konnte sie ja noch nicht mal den Leuten trauen, mit denen sie jeden Tag zu tun hatte. Womit du ja ganz richtig gelegen hast, erinnerte sie ihre innere Stimme.

Innerlich zuckte Juliette mit den Schultern. Verzweifelte Situationen erforderten eben manchmal verzweifelte Maßnahmen.

Nate deutete mit dem Kopf Richtung Zimmer. „Komm, lass uns rein gehen. Ich will duschen und dann bald aufbrechen. In spätestens drei Stunden wird es dunkel. Zum Fahren ist es die beste Zeit. Die Hitze lässt nach, und wir kommen ungesehen von hier weg.“

Genau das war ihr Plan.

Coop nutzte die Zeit unter der Dusche, um die nächsten Schritte zu planen. Wenn sie gut vorankämen, könnten sie bereits in anderthalb Tagen in Miami sein. Die Fahrt würde anstrengend werden und ihnen einen platten Hintern einbringen, aber es wäre machbar. Unterwegs würden sie spontan ein paar Pausen einlegen und wenn er Juliette zeigte, wie man ein Motorrad fuhr, könnte sie vielleicht auch ein Stück fahren. Es würde ihr sicher Spaß machen und mit etwas Glück ein wenig von ihren Problemen ablenken. Oh Mann, dachte er wirklich daran, jemand anderen sein Bike fahren zu lassen? Und dann auch noch eine Anfängerin?

Coop stöhnte leise auf, als er sich vorstellte, wie sie die ganze Zeit eng an ihn gepresst auf der Maschine saß. Die Hände an seiner Hüfte. Ihre Brüste an seinem Rücken. Ihre Schenkel an seinen, ihr Schritt direkt …

Er rutschte fast auf den nassen und mit Seife beschmierten Fliesen aus, als ihm klar wurde, wohin seine Überlegung führte. Und was sie in ihm auslöste. Von einem heißen Kribbeln begleitet, das durch seinen Körper lief, schwoll er binnen weniger Sekunden zur vollen Größe an. Verfluchte Scheiße! Wie kam er bitte schön auf solche Gedanken? Na gut, zugegeben, es war nicht wirklich schwer zu erraten, wie er darauf kam. Dazu musste man sich diese Frau nur mal ansehen. Und es wäre auch gelogen, wenn er frühere Gedanken dieser Art leugnete.

Aber … scheiße! Nein! Er durfte einfach nicht …

Sie war Johns Schwester. Und der war wie ein Bruder gewesen.

Es gab nur ein Problem: Auch wenn er nicht weiter gehen würde, konnte er das Kopfkino nicht länger verhindern. Erst recht nicht jetzt, da es Juliette wieder besser ging. Sie hatte ihn die ganze Zeit schon fasziniert, und nachdem er inzwischen eine Kostprobe von ihrer Stärke und ihrem Witz bekommen hatte, war die Begeisterung für sie nur noch stärker geworden.

Trotz aller Ermahnungen, sich auf die nächsten Schritte zu konzentrieren, entwickelte sich die genaue Reiseplanung zu einem aussichtslosen Unterfangen. Das merkte er schnell, und es gefiel ihm gar nicht. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass er jetzt eine kalte Dusche brauchen würde, um in seine Jeans hineinzupassen. Er blieb noch eine Weile unter dem kalten Strahl der Dusche stehen, musste aber bald feststellen, dass der gewünschte Effekt fast vollkommen ausblieb. Die Bilder waren nach wie vor da. Aber wenigstens reagierte sein Körper nicht mehr so heftig darauf. Der war inzwischen viel zu sehr damit beschäftigt, gegen die Kälte anzuzittern.

Coop hörte das Telefon klingeln, kaum, dass er aus der Dusche trat. Schnell schnappte er sich ein Handtuch und trocknete sich ab.

„Gehst du mal ran?“, rief er durch die verschlossene Tür.

Keine Reaktion. Das Telefon klingelte weiter.

„Juliette. Geh ruhig ran. Es ist ein Freund von mir.“ Kid würde sich wundern, wenn plötzlich eine Frau abnahm. Coop grinste.

Immer noch keine Reaktion. Hatte sie sich aufs Bett gelegt und war eingeschlafen? Er war eigentlich nicht lange unter der Dusche gewesen, aber das musste ja nichts bedeuten. Andererseits …

Ein ungutes Gefühl machte sich in ihm breit. Sie würde doch wohl nicht …? Coop schlang sich das Tuch um die Hüften und riss die Tür auf.

Fast wie erwartet war das Zimmer verlassen.

„Juliette!“ Obwohl es schwachsinnig war – das Motelzimmer bestand nur aus dem Wohnraum und dem Bad –, rief er ihren Namen.

Fuck! Sie war weg.

Coop warf das Handtuch von sich, nahm sich gerade genug Zeit, um in die Jeans und die Stiefel zu schlüpfen, und eilte zur Tür.

Vielleicht ist sie nur noch mal zum Diner, dachte er wenig hoffnungsvoll und überquerte den kleinen Parkplatz. Seine Maschine stand noch an ihrem Platz, und ein alter Camper parkte bei den Zapfsäulen. Ein Ehepaar, wahrscheinlich die Besitzer des Fahrzeugs, schlenderte auf den Diner zu, und ein Junge verschwand gerade durch die Tür ins Innere. Coop schaute durch die Fenster in den Gastraum, konnte Juliette aber nirgends ausmachen. Dennoch ermahnte er sich zur Ruhe. Vielleicht war sie auf der Toilette oder stand bei der Jukebox, die von draußen nicht zu sehen war.

Eine Minute später wusste er, dass Juliette nicht noch mal in den Diner gegangen war. Ratlos blieb er mitten auf dem Parkplatz stehen und drehte sich um die eigene Achse.

Sie wäre nie freiwillig mit jemandem mitgegangen. Es gab weder Einbruchspuren an der Tür noch Hinweise auf einen Kampf. Coop rieb sich übers Gesicht. Juliette hatte sich auffallend dafür interessiert, wo genau sie sich befanden.

Warum war ihm das nicht früher aufgefallen?

Unruhig ging Coop die Möglichkeiten durch. Welche Richtung würde sie einschlagen? Sie war nicht dumm – ganz und gar nicht. Sicher würde sie einen Weg nehmen, der sie schnell in die Stadt führte. Aber dennoch nicht den nach Canadian. Dort würde Coop sie als erstes suchen. Und ihr musste klar sein, dass er sie nicht einfach so ziehen ließe. Sonst hätte sie nicht die Gelegenheit am Schopf gepackt, als er unter der Dusche stand.

Hoffentlich blieb sie in der Nähe der Straße. Man konnte leicht die Orientierung verlieren. Eigentlich gab es nur zwei Richtungen, die sie hätte einschlagen können, wenn sie nicht mitten im Nichts landen wollte.

Coop ging bis zur Kreuzung und sah sich um.

„Mom? Gehen wir auch mal da gucken? Bitte Mom. Was ist da hinten? Können wir es uns ansehen, bis das Essen fertig ist? Dad kann uns dann ja holen“, plärrte der Junge, der zuvor noch im Diner verschwunden war, und riss an der Hand seiner Mutter.

Die wirkte sichtlich genervt. „Was ist denn da? Da ist doch nichts. Bitte Parker, jetzt komm.“

„Aber die Frau hat bestimmt was Tolles gefunden! Vielleicht Knochen. Oder eine Schlange!“

Coop wirbelte herum, lief zurück auf den Parkplatz und starrte in die Richtung, in die der Junge zeigte. Im nächsten Moment hätte er am liebsten den Jungen umarmt und geküsst. Juliette – und sie konnte es nur sein – war keine zweihundert Meter entfernt. Sie lief wie erwartet parallel zur Straße Richtung Norden. Allerdings mit größerem Abstand zur Straße, als er erwartet hätte. So war sie aus seiner Position hinter dem kleinen Nebengebäude verborgen gewesen.

Sofort spurtete Cooper los. Ihm war egal, wie welchen Eindruck er dabei auf die Mutter machte, die jetzt ihren Sohn an sich riss. Ein halbnackter, auffällig tätowierter Mann, der wie ein Wahnsinniger hinter einer Frau her rannte, die es offensichtlich sehr eilig hatte, wegzukommen.

Juliette sah über die Schulter und stöhnte frustriert auf. Wo gerade noch einzig das offene Land, die Straße und das Motel zu sehen gewesen waren, stürmte jetzt ein großer ihr nur allzu bekannter Mann auf sie zu. Nur mit Schuhen und Jeans bekleidet. Ganz eindeutig hatte er es mit dem Anziehen sehr eilig gehabt. Mist! Juliette hatte gehofft, ihr bliebe mehr Zeit, um zu verschwinden.

Sie lief noch etwa zehn Meter weiter und setzte sich dann auf einen der Sandsteinbrocken, die hier überall herumlagen. Nate war wesentlich schneller als sie, und so würde es eh nicht lange dauern, bis er sie eingeholt hätte.

Resigniert kreuzte sie die Arme auf den Knien und legte den Kopf darauf.

Auch als die Fußspitzen ihres Verfolgers vor ihr auftauchten, veränderte sie ihre Position nicht. Wenn er etwas zu sagen hatte – und daran zweifelte sie nicht –, konnte er es genauso gut ihrem Hinterkopf erzählen.

Nate schwieg eine ganze Weile, lief um sie herum oder einfach nur auf und ab. Juliette wollte ihn schon anschreien, dass er damit aufhören solle, als er sich schließlich doch noch dazu entschloss, etwas zu sagen. „Du hast nicht mal an Wasser gedacht. Selbst, wenn es langsam kühler wird, sollte man immer Wasser mitnehmen.“

Überrumpelt von den Worten brauchte Juliette einen Augenblick, um zu reagieren. „Du hast auch keines dabei.“ Wow, Mädchen, super gekontert.

„Was hast du geglaubt, wie weit du kommst?“, fragte er, ohne auf ihren Kommentar einzugehen. Wenn er sauer war, ließ er es sich nicht anmerken.

Juliette zuckte mit den Schultern. „Geh einfach. Fahr zurück nach Miami. Kehr in dein eigenes Leben zurück. Das hier geht dich nichts an“, brummte sie an seine Fußspitzen gewandt.

Nate atmete tief ein, wollte ihr offenbar etwas erwidern, doch ein lauter Knall und eine Erschütterung hielten ihn davon ab. Mit einem Satz war er bei ihr und riss sie mit sich zu Boden. Schmerzhaft keuchte Juliette auf.

„Bleib unten!“ Nate ließ ihr gerade genug Freiraum, dass sie den Kopf zur Seite drehen konnte. Allerdings in die falsche Richtung. So inhalierte sie zwar nicht halb Texas, konnte aber auch nicht sehen, was geschehen war. Man musste kein Genie sein, um es als eine Explosion zu identifizieren. Die Frage war nur, ob sie ein Unfall oder Absicht war.

Nate rutschte über sie hinweg und reckte sich, bis er an dem Stein vorbeiblicken konnte, auf dem sie gerade eben noch geschmollt hatte. Hinter seinen arbeitenden Muskeln konnte sie deutlich sein Herz spüren.

„Meine Maschine! Diese …“ Er riss den Kopf wieder runter und fluchte.

„Was ist los?“ Juliette versuchte unter ihm weg zu rutschen, doch er hielt sie, wo sie war.

„Bleib, wo du bist. Die haben den Truckstop in die Luft gejagt! Ein Stück die Straße runter steht ein Wagen. Zwei Männer stehen daneben und sehen sich das Spektakel an. Zwei weitere kommen gerade hinter dem Gebäude hervor. Ich denke nicht, dass sie nur nach dem Weg gefragt haben.“ Nate knirschte mit den Zähnen.

Juliette atmete scharf ein und verzog das Gesicht. Alles tat ihr weh. Dass Nate sie kurz drauf doch auf die Beine zog und mit sich riss, machte es nicht besser.

„Was jetzt?“, schnappte sie, während sie versuchte mit ihm Schritt zu halten. Juliette wollte stehenbleiben und sich selbst ein Bild von der Lage zu machen, bekam aber keine Gelegenheit dazu.

„Jetzt geht es mich auch was an!“ Mehr sagte er nicht. Er schleifte sie nur schweigend immer tiefer ins Umland, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob sie sein Tempo halten konnte oder nicht.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte Juliette es, sich von ihm loszureißen.

Schwer atmend beugte sie sich vor und zuckte gequält zusammen. Die Hoffnung, so etwas mehr Luft zu bekommen, zerschlug sich jäh. Nach einigen erfolglosen Sprechversuchen bemerkte auch Nate, dass sie offenbar Schwierigkeiten hatte.

„Warum hast du nicht gesagt, dass du eine Pause brauchst?“

War das sein Ernst? „Du hast mir nicht wirklich die Chance dazu gegeben“, ächzte Juliette und versuchte eine Position zu finden, in der sie sowohl schmerzfrei stehen als auch Luft holen konnte.

Nate musterte sie besorgt. Ein warmer Schauer durchfloss sie, als er seinen Blick über ihren Körper gleiten ließ.

„Was ist das?“, fragte er und zog ihr das Shirt ein wenig hoch. Zischend sog er Luft ein. „Verdammt, war ich das?“

Juliette sah an sich herunter und erschrak. Ein dunkelblauer Fleck hatte sich auf ihren Rippen gebildet. Er war nicht sehr groß, vielleicht wie eine Faust, aber es reichte aus, um sie bei jedem Atemzug zu ärgern.

„Es ist nichts. Ich bin vorhin auf einem einen Stein gelandet.“ Nate hatte seine Hand an ihre Rippen gelegt und augenblicklich war es wie ein Blitz durch sie gefahren. „Aua! Sag mal spinnst du?“

„Ich will sehen, ob was gebrochen ist. Also halt bitte einen Moment still“, bat er knapp, beugte sich etwas herab und tastete erneut über ihren Bauch.

Sie wollte ihn schlagen. Oh ja, das wollte sie. Juliette war ein friedliebender Mensch. Wirklich. Aber jetzt wollte sie diesen Mann einfach nur schlagen. Trotzdem hielt sie artig still, während Nates Finger über ihre Haut wanderten und ab und an ein wenig drückten. Mehr als einmal quiekte sie auf, woraufhin Nate jedes Mal entschuldigend zu ihr hoch sah.

„Es scheint nichts gebrochen zu sein. Nur eine Prellung, soweit ich es beurteilen kann. Es sieht schlimmer aus und fühlt sich wahrscheinlich auch schlimmer an, als es ist.“

Juliette atmete vorsichtig ein, anstatt zu antworten, und nickte knapp. Dann sah sie sich um. Sie befanden sich mitten im Nirgendwo. Überall nur Ocker und welkes Grün. Hier und da entdeckte sie vereinzelte Sträucher und Büschel, die der Dürre trotzten, die hier schon eine Weile herrschen musste.

Nein. Nicht überall war nur Ocker und Grün. Ein ganzes Stück entfernt konnte sie dichte Rauchschwaden aufsteigen sehen, wo früher einmal das Motel gewesen war. Etwas seitlich davon fuhren kleine Spielzeugautos mit Blaulicht die Straße entlang.

„Das galt uns.“ Es war keine Frage. Sie brauchte nicht zu fragen. Die Explosion und die Männer, die Nate gesehen hatte, sprachen schließlich Bände.

„Jemand muss mein Motorrad gesehen und sich das Nummernschild notiert haben. Das Handy war nicht lange genug an, um es so exakt zu lokalisieren.“ Etwas huschte über seine Augen, als er noch einmal Richtung Motel blickte. „Die machen keine halben Sachen. Soviel dürfte klar sein. Und genau deshalb will ich jetzt ein paar Antworten!“ Nate sah sie eindringlich an, wies dann mit dem Kopf nach rechts und lief los.

„Wohin gehen wir?“

„Nach Canadian. Bis wir da sind, wird es dunkel sein, und wir sind einigermaßen sicher. Kannst du gleichzeitig laufen und reden?“

Juliette wich empört zurück. „Wie bitte? Natürlich kann ich …“

„Ich meinte wegen deinen Rippen.“

Oh. „Ja, wird schon gehen.“

„Wenn nicht, sag es bitte. Dann schieben wir das Gespräch auf.“

Was für schöne Aussichten. Nichts hätte Juliette lieber getan, als es weiter hinauszuzögern. Doch es wäre genau das. Nur ein Hinauszögern. Also konnte sie es genauso gut jetzt hinter sich bringen.

Während sie an Nates Seite Richtung Canadian lief, begann sie leise alles zu erzählen, was ihr für den Moment wichtig erschien. Den genauen Grund fürs Zeugenschutzprogramm ließ sie fürs erste aus und erzählte stattdessen von ihren Verfolgern, dem angeblichen Mord an ihrem Kollegen und wie sie ihn in Johns Haus gesehen hatte. Quietsch fidel und emsig am Werk.

Nate hörte die meiste Zeit einfach nur zu, stellte aber dann einige Fragen, von denen Juliette kaum die Hälfte beantworten konnte.

„Aber eins verstehe ich nicht. Mal abgesehen davon, dass die Typen nicht die geringsten Skrupel haben, unschuldige Menschen zu opfern. Was könnte dieser Herold denn für einen Grund haben, sich dein Vertrauen zu erschleichen? Es wäre doch viel einfacher gewesen, dich einfach umzubringen. Was soll diese Scharade? Und wieso versuchen sie es erst auf die sanfte Tour, nur um dich einen Moment später so erbittert zu jagen?“

Genau das fragte sich auch Juliette die ganze Zeit schon.

„Da ist ja auch noch etwas anderes. Warum haben sie ausgerechnet meine Tasche mitgenommen? Da war nichts drin außer knapp hundertfünfzig Dollar, meinem Handy und ein paar Kleidern. Und mit dem Handy konnten sie ja noch nicht mal was anfangen. Ich meine, es war ein ganz einfaches ohne besondere Funktionen – also keine Videos oder sonst was. Die Nummern waren unter Pseudonymen abgespeichert und …“ Juliette kickte einen Stein in die inzwischen fast völlige Dunkelheit und zuckte schnaufend zusammen.

„Nate?“, fragte sie nach einer Weile. Sie hatte so eine Ahnung, dass nicht nur die Aussicht auf die Lichter der Stadt, die sich in weiter Entfernung vor ihnen auftauchte, hinter seinem Schweigen steckte.

„Wenn ich recht habe, wird dir das nicht gefallen.“ Er sprang über einen kleinen Graben und half ihr hinüber, ehe er weitersprach. „Sie haben dich gesucht, aber lediglich deine Tasche gefunden. Ein Blick hinein hat wahrscheinlich gereicht, um sie als deine zu identifizieren.“

Juliettes Magen zog sich zusammen, als sich ein Verdacht regte.

„Ich kann mir vorstellen, dass sie sie dir zeigen wollten, sollten sie dich erwischen. Du hättest sofort gewusst, dass sie bei J.J. waren und ihn ermordet haben … Sie konnten ja kaum davon ausgehen, dass du bereits alles mit ansehen würdest.“

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, verstummte er abrupt, kurz darauf spürte sie seine Hand für eine Sekunde auf ihrem Rücken.

Sie fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und sie konnte sie nur mühsam zurückhalten. „Ich hätte nicht nur zusehen sollen. Ich hätte was unternehmen müssen. Meinetwegen …“

Nate blieb stehen, drehte sie zu sich rum und zwang sie, ihn anzusehen. „Jetzt hör mal. J.J. hätte alles getan, um seine Schwester vor all dem zu bewahren. Er hat sich immer Vorwürfe gemacht, weil er es damals nicht konnte. Er ist gestorben, weil er dich beschützen wollte. Ja. Aber nach allem, was ich gesehen habe und nach dem, was du mir erzählt hast, hätten sie ihn auf keinen Fall am Leben gelassen. Wärst du reingegangen, wäre er umsonst gestorben.“

Es half ihr nicht wirklich. Ehe sie ihm das aber sagen konnte, legte er ihr sanft den Finger auf die Lippen. „Es ist verständlich, wenn du traurig bist, aber schmälere sein Opfer nicht, indem du dich dafür geißelst, überhaupt zu ihm gefahren zu sein. Er hat dich über alles geliebt. Und das ist das einzige, was wichtig ist. Okay?“

Juliette schüttelte langsam den Kopf. „Trotzdem danke.“

Sie konnte es in der Dunkelheit nicht genau erkennen, doch sie glaubte fast ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen, ehe er sie an sich zog und vorsichtig die Arme um sie schloss. „Dafür nicht. Wir machen die Kerle dingfest und holen dir dein Leben zurück. Versprochen!“

Ähnliche Worte hatte auch Jings zu ihr gesagt. Kurz bevor er … starb.

„Wir kriegen diese Bestien“, flüsterte Nate ihr zu, und gemeinsam setzten sie ihren Weg fort.

Ein Ritter in schimmernder Rüstung hoch zu Ross, kam es Juliette plötzlich in den Sinn. Hatte sie sich das nicht erst vor wenigen Tagen gewünscht – bei ihrer Rückkehr zu Johns Haus? Scheinbar waren ihre Gebete wenigstens in diesem Punkt erhört worden. Auch wenn das Ross mittlerweile nur noch ein verkohlter Klumpen Schrott war.

8. KAPITEL

Coop sah sich auf der Straße um. Wie in diesen kleinen Nestern üblich lag alles verlassen da. Nicht mal die Tankstelle hatte noch geöffnet.

Nach ihrer kurzen Pause hat­ten sie noch knapp drei Stunden gebraucht. Eigentlich wäre der gesamte Weg in nicht mal der Hälfte der Zeit zu schaffen gewesen. Doch nachdem sie nur knapp einem Anschlag entkommen waren, wollte Coop kein Risiko eingehen. Natürlich konnte er nicht mit Sicherheit sagen, ob die Männer am Straßenrand Killer waren, die ihr Werk begutachteten, oder lediglich Schaulustige. Was er aber mit Gewissheit wusste, war folgendes: Wenn er sie gesehen hatte, konnten sie ihn und Juliette auch gesehen haben. Mehr noch. Auf dem freien Feld hinter dem Motel hatten Juliette und er regelrecht auf dem Präsentierteller gesessen. Die Büsche und Gesteinsbrocken um sie herum gingen ihm maximal bis zum Knie. Während er Juliette zugehört hatte, war sein Blick ständig über die Umgebung geglitten. Sich jedoch auf auffällige Bewegungen oder mögliche Verfolger zu konzentrieren, war Coop immer schwerer gefallen, je mehr sie erzählte. Schließlich waren sie einen großen Bogen gelaufen und hatten sich Canadian von hinten genähert.

Als sie sich nun von Straße zu Straße vorarbeiteten, verfluchte Coop die moderne Technik. Da heutzutage jeder mindestens ein Handy besaß, war es ungemein schwer, einen Münzfernsprecher zu finden.

Juliette hielt erstaunlich gut mit. Unglaublich, dass sie nach alldem immer noch die Kraft besaß, auch nur einen Fuß vor den nächsten zu setzen. Nicht zuletzt diese Stärke besiegelte sein Vorhaben, Juliette aus dieser ganzen Scheiße herauszuholen. Egal, was es ihn kosten würde!

Endlich das Ziel vor Augen blieb er stehen und wandte sich Juliette zu. „Du bleibst hier, bis ich dir ein Zeichen gebe. Dann rennst du auf die andere Seite. Siehst du den Kübel mit dem Baum? Dahinter ist eine Nische.“

Juliette sah ihn beklommen an. Nur zu gerne hätte er sie von ihrer Angst befreit. Doch er würde sie nicht in falscher Sicherheit wiegen, nur damit dieser Ausdruck aus ihren Augen verschwand. Kaum hatte sie genickt, spurtete er los und über die Hauptstraße. Sie schlichen so nah wie irgend möglich an das Telefon heran, mussten den Rest des Weges aber ohne Deckung überwinden. Coop sah sich ein letztes Mal um, sandte ein stummes Gebet gen Himmel, dass sie keiner bemerkte, und winkte Juliette zu sich.

Sein Umfeld die ganze Zeit im Auge behaltend, meldete Coop ein R-Gespräch an und wählte die Nummer, die er in den letzten Tagen tunlichst ignoriert hatte. Dass sie ihm ausgerechnet jetzt einfiel, würde dem Angerufenen nicht unbedingt ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Schon gar nicht um diese Uhrzeit.

„Es ist halb zwei und du steckst mächtig in der Tinte!“, brummte eine verschlafene Stimme.

„Hey Boss.“ Mehr sagte Coop nicht, denn zu mehr wäre er eh nicht gekommen. Derek bombardierte ihn mit so deftigen Flüchen, dass der Telefonistin sicher das Ohr abzufallen drohte. Als er endlich fertig war, fragte er besorgt, ob es Coop gutgehe. Ja, das war typisch Derek.

„Du musst uns irgendwie nach Hause schaffen. Man hat heute Abend meine Maschine in die Luft gejagt. Geld, Telefon, Klamotten, Waffen. Alles futsch.“

„Wie? In die Luft gejagt? Und was heißt uns? Wer ist denn bei dir? Seid ihr verletzt?“ Derek war sofort hellwach. Seine Verärgerung hatte er vorerst ad acta gelegt.

„Nur ein paar Prellungen. Ich erklär dir alles, sobald wir hier weg sind. Ich gehe stark davon aus, dass die, die dahinter stecken, inzwischen wissen, dass wir davon gekommen sind.“

„Gut, wo bist du und was brauchst du?“

Coop hatte in Gedanken längst eine Liste aufgestellt, die von neuen Waffen für ihn bis hin zu Kleidung für Jules so ziemlich alles beinhaltete. Auch wenn Derek ihm später den Kopf abreißen würde, stand er doch erst mal parat, wenn seine Männer Hilfe brauchten.

„… ach, und ein Taxi nach Miami wäre nicht schlecht“, schloss er schließlich.

Derek nahm sich ein paar Sekunden, ehe er weitersprach. Coop hörte, wie Türen gingen auf- und zugingen. Etwas fiel zu Boden, etwas anderes wurde beiseitegeschoben.

„Okay. Ich setze mich mit Mic in Verbindung und dann melde ich mich.“ Seinem Freund erneut im Stillen dankend, nannte Nate die Nummer des Fernsprechers und hängte ein.

Leise gesellte er sich zu Juliette, die ihn die ganze Zeit beobachtet hatte.

„Und was jetzt?“, fragte sie flüsternd und lehnte sich an die Mauer. Selbst in dem diffusen Licht der Laterne konnte Nate ihr ansehen, dass sie Schmerzen hatte. Sie zitterte am ganzen Leib und wirkte erschöpft. Am liebsten wäre er zu dem Laden an der Ecke gelaufen und hätte ihr dort etwas zum Anziehen besorgt. Aber das hätte nur unnötig Aufmerksamkeit erregt. So blieb ihm nichts übrig, als sie etwas näher an sich heranzuziehen und sie zu wärmen.

„Derek ruft gleich zurück. Keine Sorge. Er ist ein Organisationstalent. Ich denke, wir sind hier weg, noch ehe es richtig hell ist.“ Er hatte so eine Ahnung, welche Art Taxi sie einsammeln würde.

Juliette sah ihn mit großen Augen an. Sicher lag ihr die eine oder andere Frage auf den Lippen. Das Klingeln des Telefons hielt sie aber davon ab, auch nur eine zu stellen.

Nachdem er zwei weitere Minuten mit Derek gesprochen hatte, war er wieder bei ihr. Er war mehr als zufrieden, hatte er mit seiner Vermutung doch goldrichtig gelegen.

„Wir gehen zurück zu dem alten Stromhäuschen zwei Meilen vor der Stadt. In etwa fünf Stunden werden wir dort abgeholt“, informierte er sie, wobei er sich trotz ihrer Lage das Grinsen nicht ganz verkneifen konnte.

Mann, würde sie Augen machen.

Juliette warf ihm einen verwirrten Blick zu, nickte aber nur träge und lief los. Er konnte sich nicht mal vorstellen, wie erledigt sie sein musste, wenn sie nicht mal eine Sekunde zögerte. Immerhin hatte sie keine weiteren Informationen, außer denen, die sie gerade erhalten hatte. Statt ihn also mit Fragen zu löchern oder sich skeptisch zu weigern, trottete Juliette einfach schweigend und mit gesenktem Kopf neben ihm her. Einzig die um den Leib geschlungenen Arme wiesen auf ihre innere Unruhe hin.

Cooper knirschte unzufrieden mit den Zähnen. Am liebsten hätte er die erschöpfte Frau einfach hochgehoben und den Rest des Weges getragen. Doch in der Dunkelheit konnte er kaum sehen, wohin er lief. Da noch jemanden zu tragen, war heikel.

Aber sie hatten ja Zeit.

Anders als auf dem Weg nach Canadian schwieg Juliette dieses Mal überwiegend. Zwischendurch konnte er sie murmeln hören – und wie ihre Zähne immer mal wieder klapperten. Nachts war es hier gerade mal halb so warm wie tagsüber, und der kühle Wind ließ die gefühlten Grade sogar noch sinken.

Als sie das kleine Gebäude schließlich erreichten, schob er seine Begleiterin gleich auf die windgeschützte Seite. Nun hieß es abwarten.

„Wie fühlst du dich?“, fragte er und rieb ihr sanft über den Arm. Er machte sich nicht nur wegen der Temperaturen Sorgen. Bis vor wenigen Stunden hatte sie immerhin noch mit einem Schock zu kämpfen gehabt. Und sie hatte sich weiß Gott noch nicht völlig davon erholt.

„Es geht schon.“ Mehr sagte sie nicht. Coop wusste nicht, ob ihn ihre Antwort und ihr Verhalten beruhigen oder beunruhigen sollten. Er hatte inzwischen begriffen, dass man ihr alles aus der Nase ziehen musste – und warum das so war. Gleichzeitig barg genau das aber das Risiko, dass sie sich ihm gegenüber stärker gab, als sie wirklich war, und auch gesundheitliche Probleme unter den Tisch kehrte.

„Okay, aber sobald du dich unwohl fühlst …“ Juliette warf ihm einen abschätzigen Blick zu. „Ich meine deine Rippen oder sonst irgendwelche Beschwerden, dann sagst du es sofort.“ Sie atmete ein und wieder aus und nickte dann. Tatsächlich schien sogar für kurze Zeit ein wenig der Anspannung von ihr zu weichen.

„Du passt auf mich auf, solange wir hier warten, oder?“, flüsterte Juliette nach einer ganzen Weile.

„Natürlich. Mach dir keine Gedanken. Ich habe die Straße fest im Blick und achte auf jedes Geräusch, das nicht hierhin gehört. Versprochen.“

„Gut. Ich würde mich nämlich gerne etwas hinsetzen. Meine Beine tun langsam weh.“ Sie rutschte an der Wand entlang nach unten, streckte ihre langen, schlanken Beine aus und seufzte erleichtert auf. Dann herrschte wieder Stille. Nur kleine Bewegungen, wenn sie ihre Position veränderte, zeigten, dass sie hellwach war.

Sie warteten noch etwa drei Stunden, ehe das unverkennbare Wap wap wap zum ersten Mal zu hören war. Coop stieß ein Seufzen der Erleichterung aus. So langsam ließ seine Konzentration nach, und er glaubte schon Schatten zu sehen, wo keine waren. Weitere zwei Minuten später tauchten dann auch die kleinen Lichter auf, die die Ankunft seines Teams endgültig ankündigten.

„Unser Taxi kommt“, sagte Coop leise, um Juliette nach der langanhaltenden Stille nicht zu erschrecken. Sie stand sofort auf – ihre Bewegungen wirkten nach dem langen Sitzen etwas zäh – und stellte sich dicht neben ihn. Jegliche Erschöpfung verschwand im nächsten Moment, als sie erst rechts und dann links die Straße runter sah. Coop war froh, dass es noch dunkel war. Sie würde ihn zweifelsfrei schlagen, wenn sie jetzt sein Gesicht sähe. Er stellte sich hinter sie, schob seinen Kopf neben ihren und deutete nach oben.

„Du siehst in die falsche Richtung.“

Juliette schnappte nach Luft und drehte ihren Kopf. „Was zum …“ begann sie, brach aber ab, als ihre Lippen fast seine berührten. In den großen Augen, die ihn nun fixierten, spiegelten sich die Sterne des Nachthimmels. Ihr Körper schmiegte sich an ihn, als würde genau dort sein Platz sein. Ihre Wärme liebkoste ihn, erfüllte ihn bis tief in sein Innerstes. Er musste seine Hüften ein wenig zur Seite drehen, als sich in Windeseile eine pochende Erektion gegen den Reißverschluss seiner Jeans drückte. Er atmete in diesem Moment ebenso wenig wie sie. Es wäre so einfach. Nur eine kleine Vorwärtsbewegung. Nur wenige Millimeter noch vorne beugen … und schon könnte von ihr kosten.

Die Welt schien völlig still zu stehen.

Sie schien es, tat es aber nicht. Sand wurde aufgewirbelt, als der Hubschrauber an Höhe verlor und zur Landung ansetzte.

Juliette entzog sich diesem Moment der Anziehung mit einem Räuspern, wandte sich ab und hob ihre Hand schützend vor die Augen. Sie hatte sich schneller wieder im Griff als er. Was ihn nicht wenig ärgerte. Zumal er nicht wusste, ob es daran lag, dass er seine aufwallenden Gefühle nicht unter Kontrolle hatte oder dass er den Moment verpasst hatte, sie zu küssen. Lautlos vor sich hin grummelnd beteuerte er sich immer wieder halbherzig, dass auf jeden Fall Ersteres der Grund war.

„Unser Taxi ist nicht wirklich ein Hubschrauber“, sagte sie heiser. „Du machst Witze.“

Natürlich gab es keinerlei Zweifel mehr daran, dass der Hubschrauber sie hier weg bringen würde. Gerade wurde die Tür aufgerissen und Mic kam herausgesprungen. Mit tief geduckter Haltung kam er auf sie zu. Erst als er aus dem Sogbereich der Rotoren getreten war, richtete er sich auf. Er blinzelte kurz, als wäre er verwirrt, war dann aber wieder ganz bei der Sache. „Hi. Kommt. Ich denke, wir sollten die Vorstellungsrunde vertagen, bis wir gestartet sind. Loretta zieht selbst um diese Uhrzeit eine Menge Aufmerksamkeit auf sich“, schrie er über den Lärm hinweg.

Coop war ganz seiner Meinung.

„Jules, bleib unten, bis wir es dir sagen! Keine Sorge, du kannst ihm vertrauen.“ Obwohl er ganz nah an ihrem Gesicht war, musste er ziemlich laut sprechen. Juliette zögerte. Coop lächelte sie an und nahm ihre Hand. „Ich bin bei dir“, formte er mit den Lippen. Juliette nickte knapp und ließ sich mitziehen.

„Das ist Mic. Und der nette Herr, der uns hoffentlich bald in die Luft bringt, ist Derek“, stellte Nate ihr die beiden Männer vor, die sie – Juliette konnte es immer noch nicht glauben – mit dem Hubschrauber abholten. Mic streckte ihr die Hand hin, und Derek drehte sich kurz um, wobei er sich grüßend an die Stirn tippte. Im nächsten Moment hoben sie ab. Juliette hätte es nicht benennen können, doch etwas an dem Blick des Piloten beunruhigte sie. Er hatte fast überrascht gewirkt. Der Ausdruck war allerdings so schnell aus seinem Gesicht verschwunden, dass sie es sich genauso gut eingebildet haben könnte.

„Wer bist du?“, fragte sie Nate, anstatt ihren Namen zu nennen. Ihr Magen schlug einen Salto nach dem anderen und Adrenalin spülte durch ihre Adern. Nur schwerlich konnte sie das Zittern unterdrücken, das sich ihres Körpers bemächtigte. Und nichts davon hatte damit zu tun, dass sie noch nie in einem Hubschrauber gesessen hatte oder zwei völlig Fremden ausgeliefert war.

„Das erkläre ich dir alles später. Erst mal ist nur wichtig, dass du in Sicherheit bist. Ruh dich etwas aus. Ich wecke dich, wenn wir Florida erreichen.“ Erst als Nate mit dem Daumen über ihren Handrücken strich, merkte sie, dass er ihre Hand nach wie vor festhielt.

Sie sollte sich ausruhen, vielleicht sogar schlafen?

„Wie stellst du dir das vor?“ Ihr Blick wanderte unsicher durch den kleinen Innenraum.

Nate beugte sich vor und sah sie fast schon flehend an. „Du hast mir die letzten Tage und Stunden vertraut. Hör jetzt bitte nicht damit auf, Jules.“ Der Ausdruck in seinen Augen brach ihr fast das Herz. Dabei war die Frage keineswegs auf ihr fehlendes Vertrauen bezogen gewesen. Nate war zurzeit neben Hayes der einzige Mensch auf Erden, dem sie vertraute. Es ging um etwas ganz anders. Nach dem, was heute gewesen war und was sie erfahren hatte, konnte sie beim besten Willen nicht einfach die Augen schließen und ein Nickerchen halten. Auch wenn sie es sich noch so wünschte. Jeder Muskel und vor allem die Prellung am Bauch schmerzte. Die Vibrationen machten es nicht besser.

Draußen war alles finster wie im Bärenarsch – Juliette zuckte erschrocken zusammen, als ihr die Redewendung ihres Dads plötzlich in den Sinn kam – und auch hier drinnen gab es nur wenig Licht. Mics Augen leuchteten fast ein wenig, während er sie ansah. Er hatte es sich auf den Boden ihnen gegenüber bequem gemacht und schien äußerlich die Ruhe selbst zu sein. Aber etwas an seiner Miene ließ Juliette erahnen, dass er bei der kleinsten falschen Bewegung sofort auf den Beinen und kampfbereit war. Unsicher sah sie sich um.

„Schsch. Es ist alles gut“, flüsterte Nate und löste sanft ihre Finger von seinen. Aber nur um ihre Hand auf seine zu legen. Seine Lippen lagen an ihrem Ohr und ließen sie an den Moment denken, kurz bevor der Hubschrauber gelandet war. In letzter Sekunde hatte sie sich davon abhalten können, sich ein wenig zu drehen und ihn zu küssen. Wenn sie sich nicht gerade darum sorgte, was als nächstes geschehen und wie lange es diesmal dauern würde, bis man sie fand, lobte und schlug sie sich gleichzeitig wegen ihres Rückzugs. Vor allem weil sie fast den Eindruck gehabt hatte, dass Nate auch nicht unbedingt abgeneigt gewesen war. Ihr Bauch begann zu kribbeln und ihr Unterleib zog sich zusammen. Ein Schauer durchfuhr sie.

Erneut löste Nate seinen Griff und legte den Arm um sie. Leise wiederholte er seine Worte. Dann deutete er auf den freien Platz neben ihr. „Streck dich aus. Mach die Augen zu. Ich passe auf dich auf.“ Zärtlich drückte er auf ihre Schultern, bis Juliette nachgab und sich auf die schmale Bank legte. Um sich ganz auszustrecken, war die Sitzfläche zu kurz. Dennoch war es fast bequem, als sie den Kopf auf Nates Oberschenkel legte.

Mic stieß ein Schnauben aus und erhob sich ruckartig. Ebenso schnell hatte er die kleine Kabine durchquert.

Noch ehe Juliette die Spannung in Nates Muskeln registriert hatte, wollte sie sich selbst bereits wieder aufrichten. Sie hätte im Zweifelsfall keine Chance zu entkommen. Doch sie würde es dem Kerl auch nicht leicht machen.

Mic hob sofort die Hände und machte einen Schritt zurück. Ob er auf ihr oder Nates Verhalten reagierte, wusste sie nicht. „Ich will nur einen Blick darauf werfen.“ Er deutete auf ihren Bauch. Nate entspannte sich sofort wieder.

„Lass ihn sich deine Prellung ansehen. Er ist Arzt.“

Juliette sah zu Nate hoch und zog langsam das T-Shirt höher. Nur ein kleines Stück, mehr war nicht nötig, da es ihr nach der kreativen Umgestaltung gerade mal bis zum Bauchnabel ging. Doch das reichte aus, um sich sofort irgendwie schutzlos zu fühlen. Es war allein Nate zu verdanken, dass sie nicht schreiend um sich schlug, als Mic sich neben sie kniete und seine Hände ausstreckte. Nate lächelte sie an und strich ihr während der ganzen Untersuchung beruhigend über den Arm. Der Arzt bestätigte bald, dass nichts gebrochen war, und setzte sich wieder auf seinen Platz an der Zwischenwand. Juliette folgte ihm mit den Augen und beobachtete ihn einige Sekunden lang. Er selbst blickte immer wieder zwischen ihr und seinem Freund hin und her. Seiner Miene nach zu urteilen passte ihm ganz und gar nicht, was er sah. Was war sein Problem? Wusste er, wer sie war? Hatte er sie von den Fahndungsaufrufen im Fernsehen erkannt?

Juliette sah noch einmal zu Nate auf. Er hatte seinen Kopf nach hinten gelegt und die Augen geschlossen, mit den Fingern strich er unermüdlich beruhigend über ihren Unterarm. Sie stellte ihre Gedankengänge ein und senkte die Lider. Er vertraute den beiden Männern, und sie vertraute ihm. Wenn er sich entspannen konnte, dann sollte sie das doch wohl auch hinkriegen.

„Wieso wieso wieso … Noch immer kann ich es nicht glauben. Sie ist weg. Sie ist entkommen − schon wieder!

Die Bombe, das Chaos und das Risiko – alles umsonst. Wie schafft sie das nur immer? Und der Typ? Max hat das Motorrad in Woodward gesehen, sagt er. Das konnte kein Zufall sein. Oh Liebster, es tut mir leid. Aber ich schaffe das! Ganz sicher! Ich schwöre es! Ein Hubschrauber! Himmelherrgott! Ich wollte es sehen. Ich musste dieses Mal dabei sein. Ich wollte es selbst sehen und tun! Ich hatte den Mann schon im Visier. Sie hätten nicht gewusst, woher es kommt. Und dann wäre sie mein gewesen. Es wäre endlich soweit gewesen. Ein Hubschrauber hat sie mir genommen. Hat sie dir genommen …“

9. KAPITEL

Nach der Landung war die kleine Gruppe zum Bungalow an der Biscayne Bay gefahren, wo bereits der Rest des Teams wartete. Sie hatten sich für das Haus am Strand entschieden, da es nirgendwo in den Unterlagen der Phoenix auftauchte. Sollte die kleine Rettungsaktion trotz der Abgeschiedenheit Aufsehen erregt haben und jemand die Spur zu ihrer Gruppe zurückverfolgen können, würde man hier nicht nach Juliette suchen.

Derek hatte Coop angewiesen, sie in eines der Schlafzimmer zu bringen und anschließend Trevor vor der Tür postiert. Dabei verhielt sich sein Boss so, als sei Juliette hier die Gefahr. Coop hatte sofort protestiert. Nicht nur, dass Juliette für niemanden eine Gefahr darstellte. Sie würde garantiert auch in Panik geraten, wenn sie verschlafen und verwirrt auf Trevor traf, sobald sie die Tür öffnete. Dass sein Teamkollege trotz seiner Größe und Breite kaum furchteinflößend aussah – solange er es nicht drauf anlegte – und eigentlich auch recht sympathisch war, änderte schließlich nichts daran, dass er für sie ein völlig Fremder war. Doch Derek hatte Coop nur mit einem scharfen Blick bedacht und unsanft ins Büro befördert.

Coop verstand das Verhalten seines Bosses nicht, war aber gewillt, den Grund dafür herauszufinden. Nur deshalb saß er jetzt einigermaßen ruhig auf dem kleinen Sofa und schwieg, während Derek im Büro auf und ab lief. Es war unübersehbar, dass er stinksauer war. Seine Finger und sein Kiefer zuckten. Seine dunkle Mähne – ausnahmsweise mal nicht zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden – flog regelrecht hinter ihm her. Seine Schritte donnerten so hart auf den Boden, dass er geradezu mit unzähligen Rissen in den Fliesen rechnete.

„Kannst du mir mal bitte erklären, was hier gespielt wird?!“, brüllte er wutschnaubend. „Wir suchen seit Tagen nach dieser Frau, und du stolperst während deines kleinen Ausflugs mal eben so über sie?!“

Was? Ehe Coop die Bedeutung hinter den Worten erfassen konnte, wetterte Derek aufgebracht weiter. „Du willst mir hoffentlich nicht erzählen, dass das reiner Zufall ist! Ich glaube nicht an Zufälle, wie du weißt.“ Er lief zum Fenster, drehte um und kam zurück. „Du weißt, dass sie polizeilich gesucht wird, oder?“

Coop nickte stumm.

„Was weißt du darüber? Was weißt du über sie? Was zum Teufel hast du damit zu tun?“ Derek setzte sich auf die Kante des Schreibtisches und sah ihn an. Jede noch so kleine Zuckung seines Körpers zeugte von sehr begrenzter Geduld.

Leo und Mic hatten sich ebenfalls eingefunden und standen nun nebeneinander an der Wand gelehnt da. Sie betrachteten ihn neugierig, hielten aber gleichzeitig auch Derek im Auge. Als wollten sie aufpassen, dass der Boss nicht komplett ausrastete.

Verdammt, was wurde hier gespielt?

„Also?“, knurrte Derek ungeduldig.

„Sie hat niemanden getötet, wenn du das meinst“, zischte Coop, um gleich mal das Wichtigste zu klären.

Derek lüpfte nur die Brauen, als wüsste er mehr, schwieg aber einen Augenblick. „Ja, genau das meine ich!“ sagte er dann. „Es war ihre Wohnung! Sie ist zuletzt mit dem Opfer gesehen worden! Und sie ist geflüchtet! Es deutet also alles auf sie als Täterin hin. Wieso bist du dir also so sicher, dass sie es nicht war?“ Derek sah ihn provozierend an. „Hat sie einmal extra mit den Wimpern geklimpert, um dich zu überzeugen?“

Coop sprang auf. Er musste wirklich an sich halten, seinem Boss und Freund nicht sofort eine zu verpassen. „Sie ist keine Mörderin! Sie wurde reingelegt. Und wir werden das beweisen!“

Derek stellte sich ebenfalls aufrecht hin, wodurch er Coop um zehn Zentimeter überragte, und fixierte ihn. „Cooper, du willst …“

„Verdammt! Sie war Johns Schwester“, platzte es aus ihm heraus.

Derek verstummte abrupt. Er senkte den Kopf und wandte sich ab. „Dann weißt du es also“, raunte er dem Fenster entgegen. „Woher?“

Coop hatte mit so ziemlich allem gerechnet, aber nicht damit. Er schnappte nach Luft, geriet gedanklich ins Rudern, konnte sich aber mit einiger Mühe wieder fangen. „Was ist hier los? Derek, sag mir sofort, was hier los ist! Was weißt du über die Frau?“ Seine Stimme klang in seinen Ohren seltsam fremd.

„Später. Erst brauche ich Antworten. Wie kann es sein, dass du uns mitten in der Nacht anrufst, damit wir dich abholen, und als wir in Texas ankommen, stehst du mit unserer Zielperson da?“ Derek senkte seine Stimme und sah ihn über die Schulter hinweg eindringlich an. „Bitte, Coop. Es könnte wichtig sein.“

Ehe der aber auch nur den Mund öffnen konnte – ob nun, um zu widersprechen oder um zu antworten, wusste er selbst nicht genau –, machte Mic plötzlich einen Schritt nach vorne. Seine Stirn war in tiefe Falten gelegt. „Du sagst war. Sie war seine Schwester. Heißt das …?“ Er fluchte leise, als er nur ein stummes Nicken zur Antwort bekam. „Verdammt, Alter. Das tut mir leid.“

Derek fuhr herum. „Was ist passiert?“ Obwohl er die Arme vor der breiten Brust verschränkt hatte, waren die geballten Fäuste deutlich zu erkennen.

Coop fuhr sich durch die Haare und holte tief Luft. Bisher war ihm die Zeit zwischen Johns Anruf und dem Einchecken im Motel irgendwie wie ein Film vorgekommen, der in seinen Erinnerungen ablief. Man kannte zwar jedes Detail, war aber selbst nur Zuschauer. Er fürchtete sich etwas davor, dass sich das änderte, sobald er es aussprach. Dass es real wurde. Nicht, dass Johns Tod das nicht längst schon war. Doch ihm war auch klar, dass die anderen sicher nicht mit der Sprache rausrücken würden, was es mit dem Fall auf sich hatte, solange er selbst weiter schwieg. Außerdem hatten sie J.J. ebenfalls gekannt.

Coop straffte die Schultern. Er hatte hier sein Team um sich. Die Leute, denen er vertraute und die Juliette am ehesten helfen konnten. Und Hilfe brauchte sie definitiv! Wie skrupellos die Verbrecher waren, hatte er heute – oder besser gestern – selbst erlebt.

Nach einem tiefen Seufzen begann er zu erzählen. „J.J. rief mich an und sagte, er bräuchte Hilfe. Ich hörte sofort, dass es etwas Ernstes sein musste. Und dass er Angst hatte. Ich meine, er hat sich nicht einfach nur Sorgen gemacht. Er hatte richtiggehend Angst vor etwas … oder um jemanden. Ich machte mich sofort auf den Weg nach Woodward. Aber ich kam zu spät.“ Coop musste schwer schlucken. „J.J. war tot. Sie haben ihn gefoltert und ihm anschließend das Genick gebrochen. Da waren Experten am Werk. Soviel ist sicher.“ Er rieb sich über die Augen und ging zur Bar. Seine Hand zitterte, als er das Glas deutlich mehr als zwei Finger breit mit Brandy füllte. „Ich hätte schneller sein müssen. Er hat sich drauf verlassen, dass ich ihm helfe.“ Er kippte die bernsteinfarbene Flüssigkeit runter und gab sich einen Augenblick der Hitze hin, die sein Inneres erfüllte. Das Brennen seiner Augen konnte sie jedoch nicht übertünchen. „Juliette stand neben ihrem Bruder, und als sie mich entdeckte, flüchtete sie. Wir sind uns nie zuvor begegnet, und sie glaubte, ich sei einer der Verfolger … so wie ich glaubte, sie sei …“

„Johns Mörderin“, spekulierte Leo. „Entschuldige, aber wenn sie dort war, wieso lebt sie dann noch?“ Ihm war anzusehen, dass er sich bei der Frage nicht allzu wohl fühlte. Auch wenn sie durchaus berechtigt war.

„Ich kenne nicht alle Details“, knurrte Coop ungehalten. „Sie wollte verschwinden, ehe man ihr auf die Spur kommt. Sie hat den Marshall nicht erreicht und befand sich plötzlich nicht mehr nur auf der Flucht vor den Killern, sondern auch vor der Polizei. In ihrer Verzweiflung wusste sie nicht, wohin sie sonst sollte.“ Coop konnte den Drang nicht unterdrücken, Juliette vor seinem Team zu verteidigen. „In der Hektik hatte sie wohl ihre Tasche vergessen und kehrte deshalb noch mal um …“ Während Coop auch den Rest erzählte, merkte er deutlich, wie hin- und hergerissen seine Zuhörer waren. Einerseits war da das Unverständnis über Juliettes Untätigkeit, andererseits das Verständnis dafür, was sie durchgemacht haben musste.

Inzwischen hatten sich auch die anderen ein Glas genommen. Nur Mic stand nach wie vor ohne da. Er trank nie etwas. Einer müsse ja schließlich einen klaren Kopf behalten, pflegte er immer zu sagen.

Coop fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Er konnte kaum noch einen gescheiten Gedanken fassen. Draußen war der neue Tag längst angebrochen, und er wusste noch immer nicht mehr als bei seiner Ankunft.

„Also, nun weißt du, was du wissen willst. Jetzt bist du dran! Was geht hier vor?“

Derek gab seine Position neben der Bar auf und steuerte den Schreibtisch an. Er kramte in der Tasche herum, die darauf stand, und zog eine Akte hervor. Wortlos hielt er sie seinem Gegenüber hin. Nach kurzem Zögern nahm Coop die Papiere an sich und begann zu blättern.

Neben einigen Berichten waren auch etliche Fotos dabei, die Juliettes Führerschein, eine Uni und den Tatort des angeblich von ihr begangenen Mordes zeigten. Auch ein Bild des Opfers war zu finden.

„Was zum Teufel ist das?“ Er klappte die Akte zu und hielt sie hoch.

„Wir bekamen den Auftrag von nicht ganz offizieller Stelle. Das ist etwas kompliziert …“

„So ist es doch immer!“ Wenn die Behörden mal nicht weiter wussten, schickte man nicht selten sie, um die Drecksarbeit zu machen. Was natürlich nie einer zugeben würde. Derek bedachte ihn mit einem gereizten Blick, ging aber sonst nicht weiter auf seinen Zwischenkommentar ein.

„Vor ein paar Tagen bekamen wir den Auftrag, eine Frau zu finden. Es ging dabei um eine undichte Stelle innerhalb der Behörde und darum, dass die Zielperson in ernsthafter Gefahr schweben könnte.“

„Warum kümmert sich der zuständige Marshall nicht selbst um die Sache? Juliette versuchte die ganze Zeit erfolglos, ihn zu erreichen. Oder ist er etwa der Maulwurf?“

Derek schüttelte sofort vehement den Kopf.

Coop konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber er hatte den Eindruck, Derek damit persönlich angegriffen zu haben.

„Ewan Hayes selbst hat uns beauftragt. Man hat versucht, ihn umzubringen. Und es könnte demjenigen vielleicht sogar noch immer gelingen.“ Damit schien für Derek das Thema fürs Erste abgeschlossen. Was diese neue Information für Juliette bedeutete, darüber würde sich Coop später Gedanken machen. Jetzt beschäftigte ihn erst mal die Tatsache, wie sprichwörtlich klein die Welt doch war.

„Du kannst dir vorstellen, wie überrascht wir waren, als wir herausfanden, um wen es sich bei der Zielperson handelte“, formulierte Derek Coops unausgesprochenen Gedanken. Abgelenkt vom Kommentar seines Bosses darüber, dass er nicht an Zufälle glaube – und welche Ironie doch im Nachhinein dahinter steckte –, hätte Coop beinahe die Fortsetzung der Erklärung verpasst. „Mic flog sofort nach Pasadena, stieß da aber nur auf verbrannte Erde.“

„Juliette war weder bei sich noch in dem vereinbarten Versteck zu finden. Ich habe mich mit den örtlichen Behörden in Verbindung gesetzt, sobald ich die Einsatzwagen vor der Wohnung sah, und erfuhr so, was passiert war und was ihr vorgeworfen wird. Ich hörte mich auch bei dem Ladenbesitzer und an der Uni um, aber auch da erfuhr ich nichts Wesentliches. Nur das übliche ‚Man hätte ihr das gar nicht zugetraut‘ und ‚Ich wusste ja schon immer, dass …‘. Die Kleine hat sich wirklich gekonnt vom Acker gemacht. Das muss man ihr lassen.“ Mit einem Mal wirkte Mic äußerst zerknirscht. „Ich hätte wissen müssen, dass sie sich auf den Weg zu J.J. machen könnte. Wenn ich gleich daran gedacht hätte …“

… könnten sowohl er als auch die Menschen beim Truckstop noch leben.

„Dich trifft keine Schuld, Bro. Glaub mir, ich habe das ganzen Wenn und Aber auch schon durch.“ Coop legte die Akte beiseite und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. „Wichtig ist jetzt nur, dass sie hier in Sicherheit ist und es auch bleibt, bis wir die Kröte aus dem Tümpel gezogen haben.“

„Dafür sorgen wir“, versprach Derek. „Aber für dich ist hier erst mal Schicht. Du siehst beschissen aus. Wann hast du das letzte Mal geschlafen?“

Coop rechnete nach, gab dann aber schnell auf, als er nicht genau wusste, ob er die kurzen Nickerchen mitzählen sollte oder nicht.

„Es kann nicht allzu viel gewesen sein, so oft wie du mich angerufen hast, um mich über Juliettes Zustand zu informieren.“

„Verräter“, brummte Coop, dementierte Mics Worte aber nicht.

„Geh pennen. Du kannst das Zimmer unten nehmen. Wenn was ist, sagen wir dir Bescheid. Wir können später alles Weitere besprechen.“

„Ja, okay. Aber ich werde bei Juliette schlafen.“ Er hob abwehrend die Hand, als Derek etwas sagen wollte. „Versuch es erst gar nicht. Ich penne bei ihr. Punkt. Sie ist völlig fremd hier, hat dich und Mic nur kurz und Leo und Trevor noch gar nicht kennengelernt. Sie soll nicht noch mehr Angst bekommen, nur weil sie plötzlich irgendwelchen fremden Typen gegenübersteht.“

„Ich wollte auch nur sagen, dass du weißt, wo du eine weitere Decke findest“, erwiderte Derek leicht amüsiert. Blödmann.

Sich dem Unvermeidlichen fügend, streckte Coop seinen müden Körper. Ja, schlafen hörte sich wirklich sehr gut an. Doch erst musste eins noch ganz dringend erledigt werden.

Coop hob die Akte auf und blätterte zu dem Opfer zurück. „Leo, kannst du mir alles zu ihm raussuchen? Such nicht nur nach dem Namen, sondern auch nach dem Gesicht und den Fingerabdrücken. Ich will alles über ihn wissen! Wer er war. Was er gemacht hat. Wann er geschissen hat. Einfach alles.“

Der jüngste der Runde kam auf ihn zu und nahm skeptisch das Foto an sich. „Du weißt etwas, was wir nicht wissen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nicht aus eigener Hand. Es geht um etwas, was Jules – Juliette gesagt hat. Und darum, was in Woodward geschehen ist. Such mir die Sachen einfach raus, Kid. Bitte.“

Leo machte einen Satz zurück und griff sich an die Brust. Coop schlug halbherzig nach seinem Freund. „Ja. Überraschung. Ich habe Bitte gesagt. Nerv mich nicht. Mach dich lieber an die Arbeit.“

„Ja, das klingt schon eher nach dem Cooper, den wir kennen und manchmal sogar lieben“, flachste der blonde Tunichtgut und machte sich aus dem Staub.

„Warum ist der nochmal bei uns?“, seufzte Coop erschöpft und ging Richtung Flur.

„Genau wegen dem, das er gerade für dich erledigen soll“, erklärte Derek und räumte die Unterlagen zurück in die Schreibtischschublade.

Ja, Kid war ein Gott an den Tasten. Mit fünfzehn hatte er zum ersten Mal ein hochgeheimes Programm der NASA gehackt. Mit siebzehn hatten ihn die Feds rekrutiert. Es hatte ihm nicht wirklich gepasst, aber letztendlich war ihm die Wahl nicht allzu schwer gefallen. Schließlich wollte er nicht für die nächsten fünfzehn Jahre in den Knast.

„Seit wann zieht es dich eigentlich zu so schüchternen Mäuschen hin?“, fragte Mic in seiner typisch offenen Art.

Nachdem Coop noch einen kurzen Zwischenstopp in der Küche eingelegt hatte, war er ihm den Flur entlang gefolgt. Die Frage schien seinem Freund schon eine ganze Weile auf den Lippen gelegen zu haben. Coop waren die Blicke nicht verborgen geblieben, mit denen sein Teamkollege sowohl ihn als auch Juliette auf dem Flug hierher gemustert hatte. Nun waren sie fast beim Gästezimmer angekommen, und ausgerechnet hier musste Mic diese Frage stellen. Coop blieb stehen und sah ihn an.

„Sie ist nicht schüchtern. Sie hat Angst. Das ist ein Unterschied.“ Er sprach barscher als beabsichtigt, ohne vorerst das Missverständnis über seine Beziehung zu Juliette aufzuklären.

Mic bohrte einfach weiter. „Trotzdem. Bisher war dein Beuteschema doch eher von kämpferischen Möchtegern-Emanzen mit großer Klappe geprägt.“ Damit lag Mic gar nicht so falsch, dachte Coop insgeheim. Aber hey, zwischen ihm und Juliette lief ja schließlich auch nichts. Also war es egal, ob sie in sein Schema passte oder nicht.

Coop sah zu der geschlossenen Zimmertür rüber. „Oh, glaub mir. Sie ist eine Kämpferin.“

„Reden wir über die gleiche Frau?“, frotzelte Mic und hob eine Augenbraue.

Langsam ging Coop dieser süffisante Ton auf die Nerven. „Wie willst du das beurteilen, Michael? Du magst ja ein ach so toller FBI-Profiler gewesen sein, aber du hast sie gerade zehn Minuten wach erlebt. Ich war die letzten Tage mit ihr zusammen. Und es hat nichts damit zu tun, ob sie in mein Beuteschema passt oder nicht, wenn ich dir versichere, sie ist eine Kämpferin! Dass sie nicht gleich mit offenen Armen auf jeden zugeht, der ihr begegnet, ist jawohl kaum verwunderlich. Seit Jahren geht sie jedem engeren Kontakt aus dem Weg, vertraut niemanden. Und dann tut sie es einmal und derjenige schiebt ihr nicht nur einen Mord unter, sondern gehörte vermutlich auch noch zu den Killern ihres Bruders!“ Coop hatte Mühe, sich und seine Stimme im Zaum zu halten. Er trat so nah an Mic heran, dass er dessen Atem im Gesicht spüren konnte. „Also redʼ nicht von Dingen, über die du nichts weißt, verstanden!“ Damit wandte er sich ab und ließ seinen Freund stehen.

Obwohl Mic eigentlich der mit dem Abschluss in Psychologie war, zeigte Trevor in diesem Moment doch weit mehr Einfühlungsvermögen, als er Coop an der Tür aufhielt und ihm riet, diesen Idioten doch einfach zu ignorieren. Er hatte sich das Schauspiel aus sicherer Entfernung angesehen und konnte sich trotz seines ernstgemeinten Rates das Grinsen nicht ganz verkneifen. Sie wussten beide, wie Michael Thorne war. Doch mitunter reichte es einfach nicht aus, das Herz am rechten Fleck zu haben, wenn auf der Zunge nur Scheiße geparkt war.

Nach einigen letzten Worten hatte Coop Trevor fortgeschickt und die Tür hinter sich geschlossen. Sein Kopf schwirrte von dem Alkohol und all den Informationen, die er in der letzten Stunde erhalten hatte. Dass Juliette ihr neuer Fall war. Dass der Marshall, der für ihre Sicherheit zuständig war, sie beauftragt hatte. Dass Mic Juliette scheinbar nur ganz knapp verpasst hatte und dadurch gleich mehrere Menschen ihr Leben lassen mussten. Dazu kamen dann noch die ganzen neuen Fragen, die während des Gesprächs aufgekommen waren. Er konnte nur hoffen, dass sie die Antworten schnell finden und Juliette ausreichend schützen konnten. Es machte ihm schwer zu schaffen, dass es genaugenommen einzig und allein Juliettes Wunsch, ihn aus der Sache rauszuhalten, zu verdanken war, dass sie sich nicht als Ascheregen über Texas verteilt hatten. Wäre sie nicht abgehauen und er ihr nicht gefolgt, hätte das ganz anders ausgesehen. Angst machte sich in ihm breit. Was, wenn er sie beim nächsten Mal nicht schützen konnte? Was, wenn Kommissar Zufall beim nächsten Mal nicht auf ihrer Seite war?

Er schickte ein Stoßgebet gen Himmel, zog seine Klamotten aus und schlüpfte in die Shorts, die Derek ihm unter anderem mitgebracht hatte. Leise ging er zum Bett. Wann er sich dazu entschlossen hatte, nicht wie geplant auf dem Sofa zu schlafen, war ihm nicht ganz klar. Aber der Gedanke, nicht in Juliettes Nähe zu sein, wenn sie ihn brauchte, machte ihn ganz kirre.

Genau, und das Sofa ist dafür ja auch viel zu weit entfernt. Er versuchte, die leise sarkastische Stimme zu ignorieren, die in seinem Hinterkopf spottete. Mit einem Knurren brachte er sie einigermaßen zum Schweigen und schlüpfte unter die Laken.

Den Arm unters Kissen geschoben, beobachtete er die junge Frau, die vor wenigen Tagen mit einem lauten Knall in sein Leben geplatzt war und ihn gleich für sich eingenommen hatte. Mics Worte kamen ihm wieder in den Sinn. Was er angedeutet hatte, war totaler Schwachsinn und absoluter Quatsch. Sicher, Juliette war intelligent und wunderschön, sie hatte eine unglaubliche Ausstrahlung und einen tollen Körper. Und zugegeben, Bewunderung für und Angst um sie mischten sich schon ab und zu mit einer gewissen Portion Lust auf sie. Aber dass er mehr in ihr sah als Johns kleine Schwester … Nein, damit lag Mic sowas von daneben. Und das nicht nur wegen des Bro-Kodex, der die kleine Schwester des Freundes zu einem absoluten Tabu machte.

Juliette war eine tolle und mutige Frau, und sie hatte definitiv mehr verdient als ein paar übersprudelnde Hormone. Insbesondere jetzt, da ihr Leben gerade ein weiteres Mal in Schutt und Asche gelegt wurde. Er wollte ihr einfach nur helfen, ihr altes Leben zurückzubekommen, wie er es versprochen hatte. Sie sollte sich nicht länger vor ihrem eigenen Schatten erschrecken und vor jedem Geräusch zusammenzucken. Juliette versuchte zwar angestrengt, ihre Angst zu überspielen und sich nichts anmerken zu lassen, doch das gelang ihr die meiste Zeit nicht wirklich.

Coop seufzte leise. Vielleicht hatte Mic ja doch mehr gesehen, als er ihm zugestehen wollte. Zumindest was ihre Zurückhaltung betraf, lag er ja richtig. Aber man sah eben nicht auf den ersten Blick, was hinter diesem schönen Gesicht und dem zarten Körper steckte.

Was Coop wieder auf die Bewunderung zurückbrachte. Skrupellose Killer waren hinter Juliette her, sie stand auf der Fahndungsliste der Polizei, und sie trauerte um ihren Bruder, dessen Tod sie live miterlebt hatte. Aber anstatt sich einfach in eine Ecke zu setzen und ein schnelles Ende als Unvermeidlich hinzunehmen, hielt sie sich standhaft und kämpfte um ihr Recht auf Leben – egal, wie kräftezehrend es auch sein mochte.

Dass Juliettes Reserven allerdings fürs Erste völlig aufgebraucht waren, bewies die Tatsache, dass sie auch nach Stunden noch tief und fest schlief.

Seit sie im Hubschrauber eingenickt war, hatte kaum etwas ihren Schlaf stören können. Coop hatte sie hochgehoben und war mit ihr aus dem Heli gestiegen, während sie sich an ihn geschmiegt und einfach weitergeschlafen hatte. Trevor und Leo hatten ihn begrüßt, als er durch den Bungalow gegangen war, und Juliette schlief weiter. Selbst, als er sie aufs Bett gelegt und die Decke über sie ausgebreitet hatte, hatte sie gerade lange genug die Augen geöffnet, um ihn anzusehen. Coop hatte ihr eine Strähne aus dem Gesicht gestrichen, ein paar beruhigende Worte gesagt, und sie hatte sich einfach zur Seite gerollt und war wieder eingeschlafen.

Er selbst hingegen fand trotz seiner eigenen Müdigkeit keine Ruhe. Er wollte sich hin und her wälzen, doch dann hätte er Juliette womöglich doch noch geweckt. Aber aufzustehen war auch keine Option, dazu war er viel zu erledigt. Es dauerte noch weitere zwei Stunden, bis ihm der Schlaf endlich den endlosen Gedankenstrom abschnitt.

10. KAPITEL

Juliette knabberte an der Salamischeibe und sah sich um. Niemand außer ihr war in der Küche, und so konnte sie in aller Ruhe ihre Gedanken ordnen. Das war auch dringend notwendig. In ihrem Kopf herrschte absolutes Chaos und sie wusste nicht, wie sie es entwirren sollte. Sobald sie einen Knoten zu lösen versuchte, bildete sich an anderer Stelle gleich ein neuer.

In kürzester Zeit war so viel passiert, dass sie froh sein konnte, noch ihren Namen zu wissen. Oder besser gesagt ihre Namen. Als sie vor einer Stunde aufgewacht war, hatte es einen Moment gedauert, bis ihr wieder einfiel, was am Tag zuvor geschehen und wie sie hierhin gekommen war. Wo auch immer Hier sein mochte. Juliette vermutete, dass sie irgendwo in Florida war, nachdem Nate ständig davon gesprochen hatte, sie in den Sonnenstaat zu bringen.

Sie schaute aus dem Fenster und ihre Vermutung bestätigte sich. Fleckig bewachsene Dünen, ein breiter Strand und der Ozean streckten sich aus, soweit das Auge reichte. Juliette blickte einem dahinsegelnden Pelikan hinterher und schüttelte den Kopf. Nach wie vor erschien es ihr völlig abstrus, dass sie tatsächlich mit einem Helikopter abgeholt worden waren. Und noch abstruser war, dass sie sich über genau diese Einzelheit so wunderte. Wie es dazu kam, dass Nate Kontakte hatte, die über ein solches Transportmittel verfügten, wäre da doch wesentlich interessanter. Natürlich hatte Juliette ihn gleich darauf ansprechen wollen, als die Erinnerung sie noch im Halbschlaf einholte.

Nur eine Sache lenkte sie ab.

Nate hatte nur mit einer Joggingshorts bekleidet neben oder besser gesagt halb unter ihr gelegen und leise vor sich hin geschnarcht. Von seiner Wärme und seinem Geruch eingehüllt hatte sie sich zufrieden geräkelt und ihr Bein weiter über seinen Schenkel geschoben. Als ihr klar wurde, was sie da eigentlich tat, war sie sofort von ihm weggerutscht.

Doch es war zu spät gewesen.

Nate war bereits aufgewacht und hatte sie unter den dunklen Wimpern hinweg träge angeblinzelt. Juliette wäre am liebsten getürmt, als er am Bund seiner Hose gezupft hatte, um die deutliche Spannung des Stoffes etwas zu lockern, und sich dann ausgiebig streckte – was seine beeindruckenden Muskeln auf sehr erotische Art und Weise zur Geltung brachte. Der Blick in seine Augen, die deutlich dunkler als üblich waren, hatte Juliette stark vermuten lassen, dass es ihm nicht halb so unangenehm war wie ihr. Nur mit Mühe war ihr noch die Frage über die Lippen gekommen, wo das Bad sei, während sie schon aus dem Bett sprang.

Verschlafen und zufrieden hatte Nate sie angesehen und gebeten, ihm einen Moment zu geben, um richtig wach zu werden. Dann würde er sie hinbringen und ihr zeigen, wo sie alles nötige fände.

Minuten später hatte er Wort gehalten und sie nach einer kurzen Führung mit ihrer heißen Dusche allein gelassen.

Nun saß sie hier in der Küche und war kein Stück schlauer als vor einer Stunde. Naja, so ganz stimmte das ja nicht. Inzwischen hatte sie zwei weitere Freunde von Nate kennengelernt. Dem einen, Leo, klingelten wahrscheinlich jetzt noch die Ohren. Aber was schlich er auch einfach so vor dem Bad rum?

Juliette hatte fast der Schlag getroffen, als sie gleich vor der Tür in ihn hinein gelaufen war. Ihr erschrockenes Kreischen hatte dann auch den letzten im Bunde angelockt. Trevors vorsichtige Versuche, sie zu beruhigen, scheiterten auf ganzer Linie. Obwohl sie ja eigentlich keine Gefahr zu befürchten hatte, war die Panik unvermittelt in ihr aufgestiegen und hatte sich tief in ihr festgesetzt. Erst Nate, der ebenfalls den Schreien gefolgt war, schaffte es, sie einigermaßen zu beruhigen.

Nachdem sich alle wieder beruhigt hatten, zogen sich die Männer zu einer Besprechung ins Büro zurück. Danach würde er sofort wieder zu ihr kommen und all ihre Fragen beantworten. Seitdem waren dreißig Minuten vergangen, und Juliette hatte es gerademal geschafft, eine halbe Tasse Kaffee zu trinken und eine Scheibe Salami zu essen.

Teils aus Langeweile, teils zur Ablenkung saß sie auf der Anrichte und betrachtete die Welt vor dem Fenster. Einen weiteren Pelikan entdeckte sie dabei zwar nicht, dafür aber etwas anderes. Etwas, das wesentlich interessanter war als ein Vogel mit eingebautem Kescher. Juliette ließ den Blick wandern. Eins, zwei, drei, vier Kameras – allein innerhalb ihres Blickfeldes. Da wollte jemand auf Nummer sicher gehen.

Weitere zehn Minuten später reichte es ihr. Sie hatte definitiv lange genug gewartet. Sie wollte endlich wissen, was hier gespielt wurde – und mit wem sie es eigentlich zu tun hatte. Nate war bei der Army gewesen, so viel war bekannt. Und Jings hatte ihn bestimmt nicht um Hilfe gebeten, weil er sich in der Zwischenzeit als erfolgreicher Truthahnzüchter in Iowa niedergelassen hatte. Wenn man dann das spontan angeforderte Lufttaxi und ihre Entdeckung dazuzählte … verdammt, irgendwas war hier im Busch. Warum sonst wäre ihr Bruder so sicher gewesen, dass er ihr helfen konnte?

Was immer die da nebenan besprachen, es ging sicher nicht um die nächste Bikinimode. Sie würde jetzt rüber gehen und herausfinden, was genau das war.

Voller Tatendrang und mit dem Vorsatz, sich unter keinen Umständen abwimmeln zu lassen, leerte sie den Becher und verließ die Küche.

„Zwischen uns ist nichts und da wird auch nie etwas sein! Also hör endlich mit deinen bescheuerten Anspielungen auf. Sie ist Johns kleine Schwester, Himmel nochmal!“, schnauzte Nate just in dem Moment Mic an, als Juliette in den Türrahmen trat. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Sie hatte nicht mitbekommen, was zu dieser Äußerung geführt hatte, doch Nates Worte trafen sie unerwartet heftig. Und wesentlich heftiger, als sie es sollten. Seine Bemerkung, sie sei Johns Schwester, hatte geklungen, als wolle man ihn zwingen einen Regenwurm zu essen.

Blitzartig kam ihr der Moment vorhin im Bett in den Sinn. Nate hatte eindeutig auf sie reagiert. Und der Beinahekuss letzte Nacht, als sie auf seine Freunde warteten …

Nur Johns kleine Schwester, ja?

Es sollte dich wirklich nicht kümmern, ob Nate sich auch auf andere Weise für dich interessiert, mahnte Juliette sich wenig erfolgreich. Sie sah in ihm ja schließlich auch nur den besten Freund ihres Bruders. Sicher doch.

Juliette straffte ihre Schultern und nickte den Männern grüßend zu, die ihr nun entgegenblickten. Durch die anderen auf sie aufmerksam geworden, drehte sich schließlich auch Nate um. Ein Ausdruck, den sie nicht genau einordnen konnte, huschte über seine Miene. Er machte Anstalten, näher zu kommen, blieb dann aber doch stehen.

„Juliette. Ich …“ Er räusperte sich und setzte erneut an. „Es tut mir leid. Das sollte ni …“

„Was denn?“, unterbrach sie ihn schnell. „Ist doch so. Du hilfst mir, Johns Mörder zu finden und mehr nicht.“ Sie zuckte lässig mit den Schultern. „Entschuldigt, wenn ich euch bei eurer … Besprechung unterbreche. Allerdings hätte ich gerne endlich ein paar Antworten. Ganz vorne weg zu der Frage, wer genau ihr eigentlich seid!“

Irgendwie schaffte Juliette es tatsächlich, ruhig und entschlossen zu wirken. Ein Wunder. So fest ihre Stimme klang, so sehr zitterte sie innerlich. Alles in ihr schrie in ohrenbetäubender Lautstärke, sie solle sofort flüchten. Der ganze Raum war voller Fremder, die sie fixierten, und sie hatte keine Ahnung, was sie hier erwartete. Woher sie also die Kraft nahm, dem Drang zu widerstehen, einfach wegzurennen, wusste sie nicht.

Nate sah zu Derek, als würde er auf dessen Erlaubnis warten. Das wurde ja immer schöner.

„Also? Ich höre. Ich meine, ihr seid ja wohl kaum nur ein paar Männer, die sich einmal die Woche zum Bridge treffen. Draußen gibt es überall Kameras. Soweit ich vom Küchenfenster aus sehen konnte, auf der Strandseite mindestens sechs. Aber das werden nicht alle sein, oder? Und es dürfte auch nicht irgendein Schrott aus dem Großhandel sein, sondern Hightech. Ihr taucht mitten in der Nacht mal eben so mit einem Hubschrauber auf, um uns abzuholen. Und als der Kleine“, sie deutete auf Leo, „vorhin vor dem Bad überraschend vor mir stand, bewegte sich seine Hand ruckartig zur Hüfte. Dorthin, wo man für gewöhnlich seine Waffe trägt.“

Wieder einmal zahlte es sich aus, aus Paranoia heraus auf alles und jeden zu achten. So fielen einem so manche Details auf, die anderen vielleicht entgangen wären. Dumm nur, wenn man sich vom großen Ganzen blenden ließ.

Während die Männer sie bis eben noch betreten angesehen hatten, wirkten sie jetzt kühl und unnahbar. Hatten sie diesen Gesichtsausdruck etwa in einem Team-Seminar trainiert? Juliette ließ sich davon nicht beeindrucken. Wenigstens hoffte sie inständig, dass sie diesen Anschein machte. Ihre Hände waren nass geschwitzt, und ihr Herz raste einer Kollision mit dem Brustkorb entgegen. Dem Blick von Derek hielt sie dennoch stand. Sie brauchte diese Antworten. Sie war müde und ausgelaugt. Immer auf der Flucht zu sein, sich allem und jedem alleine zu stellen, lange würde sie das nicht mehr durchhalten.

„Sehr beeindruckend“, durchbrach Derek die angespannte Stille. „Setz dich.“

„Ich will mich nicht setzen. Ich …“

„Ich sagte, setz dich!“ Derek hatte es echt drauf, jemanden in Grund und Boden zu starren, wie er jetzt bewies.

Nate trat ein wenig zur Seite, um den Weg zur Couch freizumachen, doch Juliette ignorierte das und nahm auf dem Sessel Platz, der an der anderen Wand stand.

„Okay, ich sitze“, zischte sie, bevor sie sich noch Gedanken darüber machte, was Nate von ihrem Verhalten halten würde.

Derek setzte sich ebenfalls. Er legte die Fingerspitzen aufeinander und führte seine Hände an seine Lippen. Einen Moment lang sah er sie einfach nur an.

„Du hast ein gutes Auge für Details“, begann er schließlich.

„Wenn man mein Leben führt und überleben will, muss man das auch. Aber ich bat nicht um Komplimente, sondern um eine Erklärung.“

Jemand hüstelte.

Juliette bemühte sich sehr, nicht zu ungeduldig zu wirken. Mit wenig Erfolg, wie ihr schien, denn Derek kräuselte die Lippen und nickte bedächtig. „Wir arbeiten für die P.I.D., die Phoenix Investigation und Defense. Eine Allianz von Männern aus verschiedenen Bereichen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das auszubügeln, was die Justiz und die Behörden mit ihrer starren Bürokratie nicht hinbekommen oder vermasseln.“

Ob Derek ihr nun Zeit ließ, das Gesagte zu begreifen, oder einfach nur nach den richtigen Worten suchte, konnte Juliette nicht einschätzen. Auch schien keiner der anderen sich äußern zu wollen. Alles in allem machten sie eher den Eindruck, überrascht darüber zu sein, dass Derek ihr das alles erzählte. Aber das sollte erst mal nicht ihr Problem sein.

„Also seid ihr sowas wie The Crow und Robin Hood in einem? Oder wie soll ich das verstehen?“ Wieder ein Hüsteln, doch derjenige verkniff sich auch diesmal jede Einmischung.

„Nein. Es geht hier nicht um Selbstjustiz oder darum, den Reichen das wegzunehmen, was den Armen zusteht. Wir haben mit den beiden wahrscheinlich so viel gemein, wie ein Panda mit Wackelpudding. Es ist ganz einfach so, dass jeder von uns schon seine Erfahrungen mit Behörden und ihrer Bürokratie machen musste.“

„Du meinst sowas wie zu Unrecht verurteilt zu werden?“ Bei den letzten Worten hob Juliette die Hände hoch und deutete Anführungszeichen an. Alles in ihr zog sich unwillkürlich zusammen, während sie auf eine Antwort wartete.

Hatte sie etwa dem Falschen vertraut?

„Nein, keine Sorge. Auch wenn keiner von uns eine lupenreine Weste hat, sind wir doch rechtschaffende Bürger.“ Diesmal war es eindeutig Leo, der sich räusperte – was ihm sofort einen mahnenden Blick einbrachte. „Vor ein paar Jahren beschloss ein nicht unvermögender Mann, die P.I.D. zu gründen. Er suchte Männer zusammen, die Spezialisten auf ihrem Gebiet waren. Und die es wie er selbst satt hatten, gegen Windmühlen ankämpfen zu müssen, von Richtlinien Knüppel zwischen die Beine geworfen zu kriegen oder zuzusehen, wie die schlimmsten Verbrecher wegen eines Formfehlers freikamen. Wir begehen keine Selbstjustiz, damit wir uns nicht falsch verstehen. Allerdings können wir ganz anders agieren und auf so manch andere Ressourcen zurückgreifen, als es uns vorher möglich war.“

„Ah.“ Mehr fiel Juliette dazu nicht ein. Sie sah zu Nate, was sie dann doch noch auf einen Gedanken brachte. „Und du und Jings gehört dazu.“ Was einiges erklären würde.

Doch Nate schüttelte den Kopf. Er schien überrascht, dass sie ihn ansprach. „Also ich schon. John nicht. Allerdings wusste er, was ich mache, und dass ich im Zweifelsfall die richtigen Kontakte habe, um Krisen und Probleme jeglicher Art aus der Welt zu schaffen.“

„Mann, Coop! Das hört sich an, als wären wir Auftragskiller! Spinnst du jetzt total?“, beschwerte sich Trevor und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf sie. „Jeder von uns kannte John. Es hat uns schwer erschüttert, was mit ihm passiert ist. Du hast unser aller Mitgefühl.“ In dem jetzt aufwallenden Gemurmel war nichts mehr von Heiterkeit oder Spott zu hören. Die Männer schlossen sich den Worten ihres Freundes an.

Juliette wäre am liebsten aufgesprungen und raus gerannt, doch irgendetwas sagte ihr, dass Derek noch mehr zu berichten hatte. Also blieb sie sitzen und ließ die Beileidsbekundungen über sich ergehen.

„Da ist noch mehr, oder?“, flüsterte sie schließlich, als die Männer nach und nach verstummten. Ein Kloss in der Größe einer Bowlingkugel im Hals machte ihr das Sprechen schwer. Derek nickte und erhob sich. „Alle außer Kid raus“, wandte er sich mit plötzlich geschäftsmäßiger Stimme an die anderen.

„Ich bleibe!“, widersprach Nate und ließ sich auf das Sofa fallen.

„Cooper.“

„Nein, Derek, das hier geht mich auch etwas an. Spätestens seit sie John getötet haben und wir wissen, wer sie ist.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung zu Juliette.

„Was meinst du damit?“, fragte die alarmiert und wollte schon aufspringen. Wie weit sie wohl käme?

„Das erklären wir dir gleich“, knurrte Derek, was sie mitten in der Bewegung erstarren ließ, und spießte Nate mit seinem Blick auf. „Wir unterhalten uns noch. Und jetzt! Alle anderen raus!“ Die Wiederholung seiner Bitte war überflüssig. Der Raum leerte sich bereits in einem feueralarmreifen Tempo.

„Vor etwa einer Woche bekam ich einen Anruf.“ begann er, als sie nur noch zu viert waren. „Ein alter Freund bat mich um Hilfe. Er sagte, es gäbe da eine Person, die unter allen Umständen geschützt werden müsse. Sowohl aus bürokratischen als auch aus gesundheitlichen Gründen könne er selbst es nicht mehr.“ Derek verzog kurz den Mund, als fiele ihm etwas ein. „Zum besseren Verständnis solltest du wissen, dass wir auch schon mal von den Behörden selbst beauftragt werden“, erklärte er schnell, um dann zum Thema zurückzukommen. „Also, mein Freund ist für eine dieser Behörden tätig – auch wenn die Sache hier ein wenig anders als üblich liegt. Wir sollten eine Frau finden, deren Identität aufgeflogen ist und die sich in massiver Gefahr befindet. Nach allem, was er herausgefunden hatte, wäre ihre Sicherheit nicht nur nicht mehr gewährleistet, er könne auch nicht mehr auf die Integrität seiner Abteilung hoffen. Dass jemand falschspiele, wisse er, nur eben nicht genau, wer es sei. Mein Freund konnte mir noch den Namen und ein paar Daten geben, ehe er das Gespräch beenden musste.“

Wieder machte Derek eine Pause. Juliette sah sich um. Das ungute Gefühl meldete sich erneut, als Nate sie beklommen ansah und Leo völlig fasziniert an einem Faden an seiner Kleidung herum zupfte.

„Wer ist dieser Mann?“

„Ewan Hayes. Ich weiß, dass du ihn kennst.“

Und ob sie das tat. Hayes war von Anfang an ihr Ansprechpartner gewesen. Er hatte eine mordsmäßige Geduld mit ihr gehabt, und nicht selten hatte er sich stundenlang mit ihr unterhalten, wenn sich ein vermeintlicher Verdacht als reine Paranoia entpuppte. Weit mehr als es sein Job verlangt hätte, war er für sie dagewesen, wenn sie jemanden brauchte. Nur dieses Mal hatte sie ihn nicht erreichen können.

Moment! Derek hatte auch von gesundheitlichen Gründen gesprochen. „Ihm geht es doch gut, oder? Ich meine …“ Sie wollte die Frage nicht zu Ende stellen. Und eigentlich wollte sie auch gar keine Antwort darauf haben.

Derek fasste zusammen, was er wusste. Es war nicht allzu viel, reichte aber trotzdem, um Juliette den kalten Schweiß auf die Stirn zu treiben. Hayes lag mit einer schweren Formaldehyd-Vergiftung im Medical Center in Atlanta. Wann und wie es ihm verabreicht worden war, hatte man noch nicht herausfinden können. Klar war nur, dass es in geringen Mengen und über einen längeren Zeitraum passiert sein musste. Juliette reichten ihre Grundkenntnisse in Chemie, um zu wissen, dass es ungesund sein musste, dem Stoff auf Dauer ausgesetzt zu sein.

Wie schlimm es tatsächlich war, schockierte sie. Hayes verlor nach einer starken Schädigung der Organe und durch die starken Medikamente immer wieder das Bewusstsein. Er litt unter Krämpfen, die kein Arzt in den Griff bekam. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis sein Körper zu schwach war, weiter eigenständig dagegen anzukämpfen.

Juliette schob mit aller Kraft den Gedanken beiseite, dass er ein weiteres Opfer auf der Jagd nach ihr wäre. Sie wollte das alles nicht mehr. Sie wollte sich nicht länger mit dem Gedanken auseinandersetzen müssen, dass sie eine Schneise der Verwüstung bei so vielen Menschen – bekannt und unbekannt – hinterließ. Da war es auch egal, dass sie die Toten nicht selbst hingerichtet hatte.

Derek erzählte weiter, dass sein Freund sich bei ihm gemeldet hatte, kaum dass die ersten schwerwiegenden Folgen der Vergiftung aufgetreten waren und eine vorläufige Diagnose feststand.

Was Juliette jedoch nicht aus dem Kopf ging, war ein Detail des Auftrags, das Hayes erwähnt hatte: Finde die Frau, ehe sie beim Versteck ankommt.

Juliette hatte ganz vergessen, dass es dieses Versteck überhaupt gab. Hayes hatte ihr stets einen Ort genannt, wo er oder seine Partnerin sie abholen würde, sollte sie auffliegen. Es war fast schon ein Wink des Schicksals gewesen, dass sie in der ganzen Aufregung nicht mehr daran gedacht hatte.

„Es gibt einen Verdacht“, fuhr Derek fort. „Auch wenn einige Fakten noch nicht ganz passen, sprechen die Ergebnisse für sich. Die Mittel und Wege, alles zu vertuschen. Die Möglichkeit, an sämtliche Daten und Namen zu kommen. Das nötige Vertrauen, um sich die Informationen zu besorgen, die man sonst nirgends erhält.“

„Zum Beispiel die Information, wo sich das Versteck befindet“, schlug Nate vor und rutschte bis zur Kante des Sofas. Seine Stirn lag in tiefen Falten. „Ich kenne ja diesen Hayes nicht, aber ich gehe davon aus, er ist vertrauenswürdig?“

„Ja!“, sagten sowohl Derek als auch Juliette, ohne zu zögern.

„Gut, dann muss der – oder diejenige – sehr eng mit ihm zusammen arbeiten, oder? Er würde schließlich nicht jedem die nötigen Informationen verraten. Beziehungsweise wird es nicht viele geben, die ihn im vollen Umfang vertreten, wenn er mal ausfällt.“

Juliette wusste sofort, worauf er hinaus wollte. Puzzleteile fügten sich zusammen. Auch wenn noch große Lücken blieben, gefiel ihr das Bild schon jetzt nicht.

„Donovan. Seine Partnerin. Ich habe sie zwei oder dreimal getroffen.“ Dass es ein Marshall gewesen sein sollte, der Hayes das angetan hatte, war schon unvorstellbar. Doch dass der Verdacht dann auch noch auf die eigene Partnerin fiel, ging weit über das hinaus, was Juliette ertragen konnte. Man vertraute dem Partner, verließ sich auf dessen Integrität und Rückendeckung. Wie stark mussten da die Zweifel sein, um überhaupt nur auf den Verdacht zu kommen? „Nate, du wusstest es, oder?“

„Wie kommst du darauf?“ Nate sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Ich habe auch erst nach unserer Ankunft hier erfahren, dass du unser neuer Auftrag bist.“

„Das Handy. Du hast die Nummern rausgesucht und es dann zerstört“, erinnerte sie ihn.

Nate fuhr sich durchs Haar, stand auf und ging zur Terrassentür. Er presste die Lippen zusammen und sah aufs Meer hinaus. „Das ist ganz normale Vorgehensweise, wenn man sich nicht sicher sein kann, ob das Handy möglicherweise geortet wird. Ich hatte jedoch keine Ahnung, dass sie es so schnell orten könnten. Wenn man allerdings bedenkt, dass es jemand aus einer Behörde sein könnte …“ erklärte er gepresst. Seine Augen spiegelten sich in der Scheibe. Er beobachtete gar nicht das Meer. Er beobachtete sie.

„Coop hat recht. Er wusste nichts von alldem. Wenn ihr die Nummer aber noch habt, könnten wir den Spieß umdrehen. So könnten wir rausfinden, ob ihre Aufenthaltsorte oder Anrufe in irgendeiner Verbindung zu den Anschlägen stehen. Und wir könnten ein Auge auf sie werfen.“ Leo schnappte sich sofort das Telefon, das Nate ihm reichte. „Wenn diese Donovan wirklich dahintersteckt, kann es nicht sein, dass sie damit durchkommt. Sie hat geschworen, Verbrechen zu verhindern und hätte allein bisher ein knappes Dutzend Leichen hinterlassen! Und jetzt macht sie nicht mal vor einem Kind Halt!“ Leo hatte sich richtiggehend in Rage geredet und stoppte erst, als Derek ihm einen Kugelschreiber an den Kopf warf. „Hey, was – oh.“

Juliette sah wie benebelt zu, wie der Stift zu Boden fiel und über den Boden rollte. Wovon redete er da? Welches Kind meinte er?

In ihrer Erinnerung tauchte das Wohnmobil auf, das auf dem Platz vor dem Motel geparkt hatte. Und der kleine Junge, der seinem Dad dabei half, es vollzutanken. Sie hatten sich zugewinkt, als Juliette aus dem Zimmer gekommen und um das Gebäude herumgegangen war. Dann hatte er sich wieder seiner Aufgabe gewidmet und seinen Dad lauthals verkündet, dass die Uhr sich nicht mehr drehte.

Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Als Nate ihr gefolgt war, stand das riesige Gefährt immer noch auf den Parkplatz. Trotzig versuchte sie sich einzureden, dass die Familie zwischenzeitlich abgefahren wäre. Doch ihr gesunder Menschenverstand sprach eine ebenso deutliche Sprache wie die Blicke ihrer Gesprächspartner. Allen voran Nate Coopers. Dieser dämliche, verlogene Arsch!

Juliette wusste nicht, was heißer brannte. Die aufsteigenden Tränen oder die Wut. Sie wusste auch nicht, warum sie der Tod dieses Kindes mehr aus der Fassung brachte, als der ihres Bruders. Und vor allem wusste sie nicht, wie sie den Abstand zwischen sich und Nate so schnell überwunden hatte. Doch ehe sie sich versah, schlug sie auch schon auf seine Brust ein, ohne sich um die Hände zu kümmern, die nach ihr griffen und an ihr zerrten.

„Du hast es gewusst! Du hättest es mir sagen müssen! Du mieser Scheißkerl! Warum hast du …? Wie konntest du nur? Ich hatte ein Recht, es zu erfahren!“ Die Vorwürfe flossen aus ihr heraus, bis ihr sowohl die Worte als auch der Atem ausgingen.

Sie musste hier raus. Sie musste an die frische Luft. Juliette fuhr herum und stieß mit Derek zusammen, was ihr nur noch bewusster machte, wie eng und beklemmend es in dem Büro war. Völlig außer sich stürmte sie an dem Hünen vorbei und zur Tür raus.

Die beklemmende Stille, die seit Juliettes Ausbruch herrschte, zerrte an Coops Nerven. Die ganze Zeit sagte er sich, dass es nichts bringen würde, Leo für seine Geschwätzigkeit in der Biscayne Bay zu ertränken, und dass Juliette es eh früher oder später erfahren hätte. Er hatte genau den Moment erkennen können, in dem sie begriff. Ihr Gesicht hatte von einer Sekunde auf die nächste die Farbe gewechselt, und ihr Entsetzen hatte den gesamten Raum erfüllt. Als sie auf ihn zu stürmte und begann auf ihn einzuschlagen, hätte er sie mit Leichtigkeit von sich schieben können – verdammt, er hatte Langhanteln, die schwerer waren als sie –, und doch hatte er die Hiebe auf sich einprasseln lassen. Ihr ganzer Schmerz und die unbändige Wut darüber, was geschehen war, hatten ein Ventil gebraucht, und er hatte gerne als Prellbock zur Verfügung gestanden.

Nun saß Juliette am Strand, die Knie bis zur Brust gezogen, die Arme um die Beine geschlungen und das Gesicht darin vergraben. Alles in ihm trieb ihn an, zu ihr zu gehen. Sie sollte nicht wütend auf ihn sein. Sie sollte sich von ihm trösten lassen. Doch weiter als bis zur Veranda ließ man ihn nicht. Es war fast schon lachhaft. Jedes Mal, wenn er sich auch nur etwas über das Geländer beugte, stand Michael neben ihm und sah ihn mahnend an.

„Es ist nicht leicht, das alles zu verkraften. Auch wenn sie den Abzug nicht selbst betätigt hat, kommt es für sie wahrscheinlich aufs Gleiche raus. Lass sie erst mal in Ruhe. Gib ihr Zeit. Sie wird nicht weggehen. Wir passen auf sie auf.“

Mic hatte natürlich nicht ganz Unrecht. Er war sicher der Letzte, den sie im Moment sehen wollte. Und es war auch nicht so, dass er nicht einsah, dass Juliette ein wenig Zeit brauchte. Ebenso wenig er glaubte, dass sie einfach gehen würde. Sie konnte noch so sauer sein, sie wusste trotzdem, dass sie hier vorerst am sichersten war. Sein Gewissen ließ sich dadurch jedoch nicht beschwichtigen. Er hatte sie verletzt. Und das nicht nur damit, dass er ihr das mit den Urlaubern verheimlicht hatte.

Juliettes Blick, als er Mic wegen seiner ständigen Anspielungen auf seine Beziehung zu ihr zurechtgewiesen hatte, bohrte sich noch jetzt in seine Magengegend. Himmel, das war aber auch ein blödes Timing gewesen.

Nein, er würde es nicht auf das Timing schieben.

Er hatte Scheiße gebaut und fertig! Mic hatte ihn die ganze Zeit aufgezogen, und schließlich war ihm der Kragen geplatzt. Wie verächtlich mussten seine Worte in ihren Ohren geklungen haben?

Und genau deshalb musste er einfach mit ihr reden.

Sich entschuldigen. Sich erklären.

11. KAPITEL

Eine Flasche eiskaltes Bier tauchte vor seinem Sichtfeld auf.

„Du hattest recht“, bemerkte Mic und prostete ihm mit seiner Cola zu.

Coop erwiderte die Geste und trank. „Was meinst du?“

„Dass sie eine Kämpferin ist. Mann, die hat dich ganz schön in die Ecke gedrängt“, erklärte er lachend.

Coop drehte sich zur Seite und lehnte sich an das Geländer. Die Stichelei hinsichtlich ihres Charakterzugs ignorierte er. „Warum hat Leo auch nicht die Fresse gehalten?“ Mit dem Zeigefinger wischte er einen kleinen Pfad durch das Kondenswasser, das sich auf der Flasche gebildet hatte.

„Gib ihm nicht die Schuld. Er hat nur die Fakten auf den Tisch gelegt. Wie hätte er wissen sollen, dass sie nichts davon weiß? Ich bin überzeugt, du wolltest sie nur schonen. Ihr beide habt in den letzten Tagen einen schweren Verlust hinnehmen müssen.“

Coop knallte die Bierflasche auf die Brüstung. Sofort sprudelte weißer Schaum hinaus, den er schnell abschlürfte. „Spar dir deine Psychoanalyse! Du weißt gar nichts. Und eins sag ich dir: Wage es nicht, Jules so einen Bullshit zu erzählen!“ Warnend zeigte er mit der Flasche in der Hand auf Mic. „Das kann sie im Moment wirklich nicht gebrauchen!“

„Das hatte ich nicht vor, Coop. Weder bei ihr noch bei dir. Ich spreche als Freund mit dir, nicht als Doktor der Psychologie.“ Mic sah ihm direkt in die Augen. Nichts wies darauf hin, dass er log. Andererseits hatte er gelernt, jeden Pokerspieler mit seiner Unschuldsmiene in den Schatten zu stellen „Hast du dir eigentlich schon die Zeit genommen, dich mit Johns Tod auseinander zu setzen?“

Nein, hatte er nicht.

Und eigentlich wollte er das auch gar nicht. Wenn er sich damit nicht befasste, war es auch nicht wahr. Ach, könnte er die Logik aus Kinderzeiten doch nur auch noch im Erwachsenenalter anwenden.

Coop sah auf den Strand hinunter und kniff die Augen zusammen. Trevor schlenderte über den Steg und steuerte auf Juliette zu. In der Hand hielt er etwas, das Coop nicht genau erkennen konnte. Mic sagte etwas, aber er hörte nicht mehr richtig zu. Juliette sah zu Trevor auf, nickte und rutschte ein Stück zur Seite. Als wäre der Strand nicht groß genug für zwei. Coop beobachtete jede Bewegung, jedes Zucken und jede Veränderung ihrer Haltung. Das Gefühl der Erleichterung, weil sie sich nicht vor seinem Freund zu fürchten schien, rang mit einem seltsamen Rumoren der Eifersucht.

Ja, er musste sich eingestehen, dass es genau das war. Eifersucht.

Er hatte sich in den letzten Tagen um Juliette gekümmert, ihr beigestanden und sie beschützt, so gut er konnte. Er war der beste Freund ihres Bruders gewesen, hatte sie getröstet, als sie wegen seines Todes völlig fertig war. Somit war es doch auch jetzt seine Aufgabe, ihr zur Seite zu stehen.

Trevor strich ihr über den Rücken – Coops Finger verkrampften sich um den Flaschenhals – und lächelte. Juliette nickte und ließ sich nach hinten in den Sand sinken. Auf ihrem Gesicht war deutlich sowas wie Heiterkeit zu sehen. Das stand ihr wesentlich besser als die ständige Angst und der Kummer. Ja, Trevor OʼNeill trug den Spitznamen Sunny nicht umsonst. Was auch immer er gesagt hatte, es hatte seine Wirkung nicht verfehlt.

Hatte Juliette in seiner Gegenwart je so gelächelt? Er wusste es nicht, glaubte es aber auch nicht. Daran würde er sich erinnern.

Trevor zog etwas hinterm Rücken hervor, und Juliette richtete sich schlagartig auf. Coop war sofort noch wachsamer. Was Quatsch war. Trevor würde nichts Blödes tun. Wenn man von diesem Flirt mal absah.

„Du kennst unseren Sonnenschein. Er will sie nur etwas aufmuntern. Erschieß ihn nicht gleich.“ Mic gab sich keine Mühe, seine Belustigung über Nates Reaktion zu unterdrücken. „Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“

„Alles zu seiner Zeit“, murmelte Coop unbestimmt, ohne seinen Blick vom Strand zu nehmen. Mittlerweile hatte er erkannt, was Trevor Jules mitgebracht hatte. Sie hielt ein Eis am Stiel in der Hand und steckte gerade das Papier in die Hosentasche. Genüsslich schloss sie die Lippen um die kalte Süßigkeit, und fast glaubte Coop selbst hier oben ihr Seufzen zu hören. Da sie sich soweit gedreht hatte, dass sie Trevor nun direkt gegenübersaß, konnte Nate ihr Gesicht sehen. Ihre Lider waren halb gesenkt, und sie neigte den Kopf leicht nach hinten. Was würde er jetzt dafür geben, die Worte zu hören, die sie zu Trevor sagte. Seinem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck nach musste es etwas Gutes gewesen sein.

Eine ganze Weile beobachtete Coop die beiden. Sie unterhielten sich, während Juliette immer wieder an ihrem Eis leckte.

„Du weißt, dass er nichts dagegen hätte. Er hat keinem mehr vertraut als dir“, murmelte Mic neben ihm, den Blick in die gleiche Richtung gerichtet.

„Halt die Klappe“, grummelte Coop zerstreut. Der einzige Grund, warum er nicht wie ein Berserker auf den Strand stürmte, war Trevors lockere Körperhaltung und die Tatsache, dass sein Freund mehr aufs Meer hinaussah als zu Juliette. „So einfach ist das nicht“, stieß er rau hervor.

„Doch, ist es. Du magst sie und sie scheint dich auch nicht unbedingt als den hässlichen Troll zu sehen, der du bist“, frotzelte Mic.

„Kann schon sein. – Nein, kann nicht sein.“ Seine Konzentration ließ mit jeder verstreichenden Minute mehr nach, während er Juliette beobachtete, deren Lippen sich immer wieder um den gefrorenen Lutscher schlossen und auf und ab glitten. Ihre Zunge zog eine Bahn über die Seite, umspielte die Spitze beinahe zärtlich. Für jeden anderen aß sie einfach nur ihr Eis, doch für ihn war sie das erotischste Bildnis von Himmel und Hölle, das er je zu Gesicht bekommen hatte. Er konnte gar nicht anders, als bei diesem Anblick mit den Gedanken abzudriften. Heiß und kalt durchlief es ihn, als er sich vorstellte, es wäre kein Eis sondern er selbst, den sie auf diese Art kostete. Wie ihre großen grünen Augen verheißungsvoll zu ihm aufblickten, während sie ihn mit der Zunge umspielte und mit ihren sinnlichen Lippen umschloss. Die Reaktion auf seine geistige Wanderung setzte umgehend ein. Sein Schaft zuckte heftig, seine Hoden zogen sich fast krampfhaft zusammen.

„Fuck!“, keuchte er − lauter, als ihm lieb war.

Er musste hier weg. Er brauchte eine Ablenkung. Coop stieß sich vom Geländer ab und floh regelrecht nach innen. Hinter sich hörte er Mic schallend auflachen. Penner!

Hier am Strand kam Juliette der Ausbruch im Büro doch ein wenig kindisch vor. Ob es nun an der Ruhe oder der Sonne oder dem Ausblick lag, kaum hatte sie ein paar Minuten im Sand gesessen, war die Wut von ihr abgefallen. Trotzdem – oder gerade deshalb – war sie noch sitzen geblieben. Ihr war klar, dass Nate auf der Veranda stand und sie beobachtete. Sie spürte seinen Blick so deutlich, als würde seine Hand auf ihrem Rücken liegen. Warum er nicht zu ihr kam, wusste sie nicht, aber sie war ganz froh darüber. Er hatte sie belogen. Oder besser etwas verheimlicht, das sie hätte wissen müssen. Doch wer wollte schon so kleinlich sein und da einen Unterschied machen?

Es machte die Sache nur schlimmer und ließ ein Gefühl der Ohnmacht in ihr aufsteigen, trotzdem versuchte sie das Alter des Jungen zu bestimmen. Gewirkt hatte er etwa wie sechs oder sieben, doch sie war nie gut im Schätzen gewesen. Gedankenverloren rieb sie sich über die zwickenden Rippen. Was machte es für einen Unterschied, ob er sechs oder sieben war, dass er ein Kind war? Machte es die Tatsache schlimmer, nur weil es jetzt ein Kind getroffen hatte? Und machte es sie nicht zu einem schlechteren Menschen, weil sie das so differenzierte? Niemand, ob erwachsen oder nicht, hatte verdient, auf diese Weise zu sterben.

Jemand näherte sich ihr. Auch wenn sie erst wenige Tage mit Nate verbracht hatte, wusste sie, dass nicht er es war, der durch den Sand lief. Ein kurzer Blick genügte zur Bestätigung. Juliette versuchte sich an den Namen des Mannes zu erinnern. Es war irgendwas Walisisches und passte absolut nicht zu seinem hispanischen Aussehen.

„Hey. Darf ich?“ Er deutete neben sie und wartete geduldig, anstatt sich einfach in den Sand fallen zu lassen.

„Hallo – ähm …“

„Trevor.“

„Ja genau. Entschuldige. Ich habe nicht das beste Namensgedächtnis. Ich weiß zwischenzeitlich ja nicht mal, welchen ich gerade benutze.“ Sie rutschte ein wenig zur Seite und fing sich einen verdutzten Blick ein. Schnaubend schüttelte sie den Kopf. Kilometer um Kilometer zog sich der Strand zu beiden Seiten, und sie machte ihm Platz. „Okay, okay. Schon gut. Sag nichts.“

„Werd ich nicht.“ Trevor setzte sich bequem in den Schneidersitz und sah einen Moment schweigend aufs Meer hinaus.

„Wem gehört das alles hier?“ Juliette schaute umher.

„Der P.I.D. Wenn auch nicht der Besitzurkunde nach. Es ist eines unserer sicheren Häuser. Es gibt mehrere quer über den Staat verteilt.“ Entweder war er kein Mann der großen Worte oder er hielt sich ihretwegen zurück. Doch sie wollte sich über irgendwas unterhalten, was zur Abwechslung mal nichts mit ihren Problemen zu tun hatte.

„Und was ist mit den Nachbarn? Ich habe noch nicht allzu viel von den Nachbarhäusern gesehen, aber das hier scheint mir doch relativ elitär zu sein.“

Als Juliette zum Strand hinunter gelaufen war, hatte sie einen Blick auf die Umgebung geworfen. Der Bungalow, in dem sie sich aufhielt, war schon nicht gerade ein Abbild der Armut. Aber egal, ob man rechts oder links entlang sah, die Häuser in der Nachbarschaft waren sogar noch imposanter.

„Lady, hast du dir uns mal angesehen?“ Trevors Augen blitzten schelmisch auf. Er legte ihr nachsichtig die Hand auf den Rücken. „In dieser Gegend wohnen jede Menge Cougars, die nur darauf warten, dass einer von uns hier auftaucht.“

Juliette kippte lachend nach hinten. Bei jedem anderen hätte es wahrscheinlich arrogant gewirkt. Bei Trevor klang es einfach nur wie eine Feststellung.

„Möchtest du auch?“, fragte Trevor plötzlich, als wäre nichts gewesen. Als Juliette den Kopf in seine Richtung drehte, traute sie ihren Augen nicht. Er hielt ihr ein Eis hin. „Ich esse notfalls auch zwei. Aber wem sollen die armen älteren Damen dann hinterherblicken, wenn ich fett werde?“

Juliette setzte sich lachend auf und schnappte sich ein Eis. „Das können wir natürlich nicht zulassen“, spottete sie mit hochgezogenen Augenbrauen und verstaute das Papier in der Tasche.

„Ich sehe, wir verstehen uns.“ Trevor rempelte sie mit der Schulter an und biss die Spitze seines Eises ab.

„Warum ausgerechnet der Phoenix? Ich meine in Phoenix Investigation and Defense“, fragte Juliette nur Sekunden später. Sie zog mit der freien Hand Spuren in den trockenen Sand und sah zu Trevor hinüber.

Er erwiderte ihren Blick kurz und richtete die Augen dann wieder auf die Bay. „Weil wir alle eine Vergangenheit haben, aus der wir wieder auferstanden sind? Keine Ahnung, ob es damit zusammenhängt. Aber passen würde es. Als Derek vorhin erzählte, dass wir alle bereits Bekanntschaft mit den Vorgängen der Behörden gemacht haben, war das die Wahrheit. Die meisten von uns haben vorher in einer dieser Institutionen gearbeitet. Polizei, FBI, Militär … such dir was aus. Ob es nun einfach nur Zufall ist oder der Boss das Team mit Absicht so zusammengestellt und seine Truppe extra so benannt hat – wir sind, was wir sind. Phönixe eben.“ Trevors Worte klangen wie der Anfang einer langen und interessanten Geschichte. Da er aber nicht weiter sprach, beließ auch Juliette es dabei.

Die meiste Zeit genossen sie einfach die süße Leckerei, sahen den Wellen zu, die den Sand hinauf krochen und wechselten nur Worte über belangloses Zeug. Juliette war froh, dass sie sich nicht auf komplizierte Themen konzentrieren musste.

Seit Tagen fühlte sie sich zum ersten Mal ein wenig entspannt. Und dennoch wollten ihre Gedanken immer wieder zu der seltsamen Veränderung wandern, die sie gerade durchmachte. Sich damit befassen, ob die abgeklungene Paranoia mit den Männern zu tun hatte, die ihr helfen wollten, oder doch eher mit einer kurzweiligen nervlichen Überlastung. Doch Trevor schaffte es immer wieder im richtigen Moment, sie abzulenken. Sie war so mit dem Hier und Jetzt beschäftigt, dass sie fast einen Herzinfarkt bekam, als hinter ihr lautes Gelächter ertönte. Sofort drehte sie sich um.

Mic stand auf der Veranda und hielt sich den Bauch. Von Nate war nichts zu sehen.

Kaum zu glauben. Sie hatte in den letzten Minuten nicht daran denken müssen, was gewesen war und dass er sie die ganze Zeit beobachtete.

„Sei nicht sauer auf ihn.“

„Was?“ Mist, die Zeit des Nicht-daran-Denkens war wohl vorüber.

„Ich kenne Nathaniel Cooper schon eine ganze Weile, und ich habe ihn noch nie so erlebt. In deiner Nähe mutiert er regelrecht zu einem Wachwelpen.“

Juliette hob eine Braue. „Einem was?“

„Einen Wachwelpen. Einerseits übervorsichtig und andererseits ziemlich tollpatschig“, erklärte er mit nachsichtiger Miene, als sei die Bedeutung des Ausdrucks selbstverständlich. Dann zwinkerte er, bevor er wieder ernst wurde. „Ich weiß von Derek und Mic, was bei euch los war. Er hat sich große Sorgen um dich gemacht. Ständig haben er und Mic telefoniert. Er hat sich immer wieder erkundigt, wie er dir helfen könne, damit du den Schock unbeschadet überstehst. Derek hat ihn wegen des neuen Falls ständig nach Hause beordert, aber Coop hat es ignoriert. Wir wussten ja nicht, dass er das größte Problem bereits gelöst und dich gefunden hat.“ Trevor warf einen weiteren Blick auf das Meer und schwieg einen Moment.

Wie schon so oft in der letzten Zeit vermutete Juliette stark, dass ihr Gesprächspartner nicht auf eine Erwiderung ihrerseits wartete, sondern nach den richtigen Worten suchte. Als er sie diesmal ansah, waren seine Augen dunkel und kleine Falten hatten sich zwischen ihnen gebildet. „Dass er J.J. nicht rechtzeitig helfen konnte, macht ihm schwer zu schaffen. Einen Freund und Kameraden im Einsatz zu verlieren, darauf ist man gefasst. Aber so? Er hat die Nachricht erst Stunden später erhalten, weil er das Telefon nicht bei sich trug. Er ist direkt losgefahren, aber es hat nicht mehr gereicht. Das wird er sich nie verzeihen. Deshalb sei nicht sauer, wenn er versucht, dich zu schonen und es damit vielleicht übertreibt. Er meint es nicht böse.“

Juliette keuchte schockiert auf, als sie eine Erkenntnis wie ein Schlag in den Magen traf. Wie hatte sie so blöd sein können? So blind! Nate hatte sie unterstützt, beschützt, getröstet und gepflegt, als sie unter dem Schock litt. Er hatte sie gewaschen und umsorgt, als sie sich vollgekotzt hatte und vor Angst und Trauer wie gelähmt gewesen war. Und nach allem, was sie jetzt von Trevor erfuhr, hatte er weder viel geschlafen, noch sich Zeit genommen, um selbst zu trauern.

Immer wieder hatten sie davon gesprochen, wie eng die beiden Männer befreundet waren, und trotzdem war ihr nicht einmal die Frage gekommen, wie es ihm ging. Juliette kam sich plötzlich furchtbar mies vor. Wie egoistisch sie doch gewesen war. Sie musste mit ihm reden. Und zwar gleich.

Sie bedankte sich für das Eis und das Gespräch, entschuldigte sich schnell und eilte zum Haus zurück. Als sie über den Steg und die Veranda rannte, empfing Mic sie.

„Hat das Eis geschmeckt?“, fragte er vergnügt. Seine Mundwinkel zuckten verdächtig.

„Ja.“ Juliette hatte nicht die Zeit für einen ausgedehnten Small Talk und lief langsamer weiter. „Warum?“

Die Art, wie er fragte, machte sie stutzig.

Mic verfiel wieder in lautes Gelächter. „Dachte ich mir. Wenn du Coop suchst, er ist im Schlafzimmer.“ Er lachte so heftig, dass sie die nächsten Worte kaum verstand. „Aber klopf an, bevor du reingehst!“

Juliette schob die Tür auf und trat leise ein. Die einzige Reaktion auf ihr Klopfen war ein gedämpftes Brummen gewesen. Da sie aber weder ein eindeutiges „Verschwinde!“ noch ein „Herein!“ hatte verstehen können, hatte sie sich für letzteres entschieden. Wenn er sie nicht hier haben wollte, musste er sich eben verständlicher ausdrücken.

Doch kaum war sie eingetreten, erkannte sie den Grund dafür. Er lag auf dem Bett, alle Viere von sich gestreckt und das Gesicht halb in die Kissen vergraben. Er musste sich gleich aufs Bett gelegt haben, war er ja kaum zwei Minuten vor ihr reingegangen.

Für einen ausgedehnten Moment stand sie einfach nur da und ließ den Blick über seinen Körper wandern. Er hatte sich das Shirt ausgezogen – es lag zusammengeknüllt auf dem Boden −, was ihr eine noch bessere Sicht ermöglichte. Der gebräunte Rücken verjüngte sich zu den Hüften und ging in einen sehr hübschen Hintern und kräftige Oberschenkel über, die leider von Shorts verdeckt waren. Seine Waden waren nicht weniger ausgeprägt, und auf der rechten entdeckte sie eine weitere Tätowierung.

Juliette vermied es, die Zeichnung genauer zu betrachten. Sie hatte sie schon einmal kurz gesehen und wollte nicht daran denken, wann und bei wem. Auch wenn er der Grund dafür war, dass sie jetzt hier stand.

Wie von selbst richtete sich ihr Augenmerk auf das andere Kunstwerk. Eine unglaublich filigrane Zeichnung aus Wirbeln und Symbolen, die sich über die breite Schulter schlängelte. Endlich wurde die Frage geklärt, die sie beschäftigte, seit sie zum ersten Mal das Tattoo auf Nates Arm und Brust gesehen hatte. Das Muster erstreckte sich bis über das Schulterblatt.

Juliette leckte sich über die Lippen. Wie gerne würde sie mit den Fingern die Linien entlang und dann seine Wirbelsäule hinab fahren. Erkunden, ob die Haut wirklich so glatt und die Muskeln wirklich so hart waren, wie es schien. Herausfinden, ob er kitzelig war, und sehen, wie sich eine Gänsehaut auf seinem Körper ausbreitete. Sie wollte ihn spüren und schmecken und …

Nein! Stopp!

Daran durfte sie nicht mal denken.

Wie hatte er es vorhin so eindrucksvoll formuliert? Sie war lediglich die Schwester seines besten Freundes. Dieser Gedanke brachte Juliette aus verschiedenen Gründen auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie war nicht zu Nate gegangen, um ihn anzuglotzen, bis sie vor Lust ganz schwach wurde. Sie war hier, um sich zu entschuldigen und um ihm Trost zu spenden – sofern er sie ließ.

„Es tut mir leid“, flüsterte Juliette in Ermangelung eines besseren Anfangs und trat langsam näher.

Nate rührte sich kaum. Nur seine Atmung veränderte sich leicht.

„Schon gut. Ich hatte es verdient“, sagte er kaum hörbar. Noch immer drehte er sich nicht um, zog aber die Hände unters Kissen. So wie er jetzt dalag, wirkte er noch breiter, und das Tattoo sprang sie regelrecht an, lockte sie, es zu berühren. Wie würde es sich wohl anfühlen, wenn er über ihr war und sich an ihren nackten Körper presste …

Verdammt, Juliette! Konzentrier dich!

Also, was hatte er gesagt?

Ach ja, genau.

„Nein, das meine ich nicht. Die Schläge und den miesen Scheißkerl hattest du verdient.“ Sie setzte sich auf die Matratze. Sofort hüllte sie sein Duft ein und drohte sie wieder von den Worten abzulenken, die sie sich zurechtgelegt hatte. „Ich … ich meine, dass ich so blind war. Ich habe die ganze Zeit nur an mich gedacht. Wieso mir das passieren muss. Und warum das alles so laufen muss. Und dabei habe ich nicht einmal darüber nachgedacht, wie du dich fühlen musst.“

Sie sprach viel zu schnell, wie immer, wenn sie nervös war.

„Blödsinn, es geht mir gut.“ Das war sowas von gelogen. Unter seiner Haut krabbelten gleich mehrere Ameisenstaaten, und er hatte einen Ständer, der einfach nicht erschlaffen wollte. Im Gegenteil, seit Juliette das Zimmer betreten hatte, schwoll er sogar noch an. An ihren Duft und daran, dass sie gleich neben ihm saß, durfte er nicht mal denken.

Mit dem, was sie sagte, sprach sie ihm vollkommen aus der Seele. Wieso muss mir das passieren? Und warum muss das alles so laufen? Auch er stellte sich diese Fragen bereits seit Tagen.

„Das glaube ich dir nicht.“ Juliette berührte sein Haar, fuhr ihm durch die Strähnen. Herr im Himmel, warum testest du mich so, fluchte Coop stumm und konnte gerade noch verhindern, dass er zurückzuckte. „Er war vielleicht mein Bruder, aber du hast ihn geliebt wie einen. Und anstatt selbst um ihn zu trauern, musst du für mich den Babysitter spielen.“

Moment! Was? Sie redete gar nicht über die Sache, die zwischen ihn lief? Oder nicht lief. Oder nicht laufen sollte. Sie sprach von John.

Er drehte sich schwungvoll um und starrte Juliette mit aufgerissenen Augen an. Mein Gott, war er froh, sich nur das Shirt ausgezogen zu haben.

„Jules“, begann er heiser.

„Nein. Streite es nicht ab. Und komm mir jetzt vor allen Dingen nicht mit so einem Blödsinn wie: Männer weinen nicht, sie saufen sich einen und dann ist gut.“ Sie schnappte aufgebracht nach Luft. „Er war dein bester Freund, verdammt!“

Was hatte er diesen verständnisvollen Worten und dem betrübten Blick schon entgegensetzen? Wie sollte er ihre Worte dementieren, wenn sie ihn ansah, als würde sie selbst gleich in Tränen ausbrechen? Und vor allem, wie sollte er das alles abstreiten, wenn es doch der Wahrheit entsprach?

So schnell, wie der Kloß in seiner Kehle heranwuchs, so schnell fiel sein Ständer in sich zusammen.

„Wir Männer besaufen uns also und dann ist wieder alles gut?“ Coop schaffte es nur kurz, seine Mundwinkel ein wenig anzuheben. Wie sie zuvor bei ihm, hob er seine Hand und streichelte über ihr Haar. Dann zog er sie wieder weg und ließ sich zurück auf die Matratze sinken. „Ihn so zu sehen, hat mir das Herz gebrochen. Ihn nie wieder zu sehen, schmerzte auch jetzt noch so unglaublich. Ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn ich dich nicht dort gefunden hätte.“ Er blinzelte einmal, dann noch einmal.

„Nate, es tut mir so leid“, flüsterte Juliette und zeichnete Muster auf das Laken.

„Nein, das muss es nicht. Mich um dich zu kümmern hat mich davor bewahrt, die Fassung zu verlieren.“

Juliette sprang so schnell auf, dass er selbst mit seinen guten Reflexen nicht dazu kam, nach ihr zu greifen.

„Ja, und es hat dich davon abgehalten, selbst seinen Tod zu betrauern! Stattdessen hockst du tagelang da und bemutterst mich. Während ich mich bekotze und mich vor jedem Schatten fürchte! So sollte das nicht sein!“ Juliette stand mitten im Raum und blickte auf die Dünen hinaus, die sich am Haus entlang zogen. „Das alles hätte nicht so passieren dürfen. Du solltest nicht um ihn trauern müssen. Du solltest dich auf ein Bier mit ihm treffen. Du solltest mit ihm um die Häuser ziehen.“ Sie gab sich Mühe, die Fassung zu bewahren, das merkte man. Dennoch wurde ihre Stimme immer dünner.

Coop stand auf und ging zu ihr. Sie hatte Recht damit, dass ihm das alles genommen worden war. Das und vieles mehr. Während er so vor ihr stand, war er einen Augenblick lang froh, dass sie ihre Haare braun gefärbt hatte. Die Ähnlichkeit mit J.J. war auch so frappierend genug. Unwillkürlich musste er daran denken, wie er vor ziemlich genau fünf Jahren eine ähnliche Situation mit ihrem Bruder durchlebt hatte. Er hatte J.J. sein Wort gegeben, immer für ihn da zu sein. Dann hatten sie sich betrunken, bis ihnen der Alkohol fast zu den Ohren heraus lief, und sich am Morgen ebenso viel Kaffee und das Fläschchen Aspirin geteilt. Das hatten sie dann jedes Jahr wiederholt. Coop zuckte innerlich zusammen. Er hatte sich bereits Urlaub genommen, um es auch dieses Jahr zu tun. Niemals hätte er damit gerechnet, jetzt auf J.J. trinken zu müssen.

Diesmal half alles Blinzeln nichts. Die Tränen, die sich schon seit Tagen ihren Weg bahnen wollten, traten ihm in die Augen, als er Juliette in seine Arme zog.

„Das konnte einfach so nicht weitergehen! Ich musste einfach handeln. Ich weiß, dass du so eine Schlamperei nicht gutheißen würdest. Sie hätte alles versaut, das weißt du, Liebster, oder? Ich werde sie erst mal im Haus lassen.

Später kann ich mir noch Gedanken darüber machen, was ich mit ihr anstelle.

Auch, wenn mich der Gedanke krank macht, sie in deiner Nähe zu wissen …

Aber jetzt muss ich aufräumen – die schlampige Kuh hat fast alles versaut! Max ist unterwegs. Es reicht nicht, dem Mann einfach nur mehr von dem Zeug zu verpassen. Er muss weg! Und dann schnappe ich mir endlich das Miststück, das an allem schuld ist. Liebster, bald ist es soweit.“

12. KAPITEL

Nate blickte auf die Landschaft, die unter ihnen vorbeizog. Er konnte immer noch nicht fassen, dass sie wirklich auf dem Weg nach Atlanta waren. Doch nachdem er mehr als eindeutig überstimmt worden war, war ihm nur die Wahl geblieben, mitzufliegen oder Zuhause zu bleiben. Und da sie scheinbar alle durch die Bank weg den Verstand verloren hatten, musste ja schließlich jemand auf sie aufpassen.

Nachdem sie sich ein wenig Luft gemacht und eine ganze Weile Geschichten über J.J. erzählt hatten, war nicht nur der Tag vorbei. Von der Nacht war nicht mehr viel übrig geblieben. Es hatte nichts Seltsames, sondern eher etwas Beruhigendes an sich gehabt, als Juliette sich einfach auf dem Bett ausgestreckt und er sich neben sie gelegt hatte. Von seiner Erregung war längst nichts mehr übrig gewesen. Aber nicht nur die war zur Ruhe gekommen. Auch sein Schmerz und die Wut hatten sich ein wenig gelegt.

Obwohl … nein, die Wut war nach wie vor da.

Irgendwann waren sie dann beide eingeschlafen – bis am frühen Morgen die Tür aufgeflogen und Leo rein gestürmt war.

Noch jetzt wollte Coop ihn dafür die Scheiße aus dem Leib prügeln. Juliette hatte wie am Spieß geschrien, und er hätte den jungen Mann sicher erschossen, wäre eine Waffe in greifbarer Nähe gewesen. Doch kaum hatte Leo sein Auftreten erklärt, war klar, dass seine Aufregung mehr als begründet gewesen war. Zugegeben, was er herausgefunden hatte, war wirklich ein Kracher gewesen.

Ganz offensichtlich war Herold Schumaker nicht nur nicht tot. Er war auch nicht Herold Schumaker. Denn der war tot – und das schon seit Jahren. Und doch war die gefälschte Identität bis ins Kleinste ausklamüsert. Von der Geburtsurkunde über den schulischen Werdegang bis hin zu der Sozialversicherungsnummer war alles vorhanden. Eine Arbeit, die in diesem Umfang typisch für den Marshallservice war. Und das war längst nicht alles. Wer auch immer dahinter steckte, hatte diese Identität auf gleich zwei Männer übertragen. Der zweite, das Opfer aus Juliettes Wohnung, war ein Obdachloser, der seinem erfundenen Namensvetter ähnlich sah, zumindest was seine Statur betraf. Beim Gesicht war es nicht ganz der Fall gewesen, weshalb die Täter sich alle Mühe gegeben haben, es weitestgehend zu zerstören. Die Identifizierung war dadurch vorerst nur noch anhand der Papiere möglich gewesen.

Coop wollte gar nicht wissen, wie viele Gesetze Leo gebrochen und wie viele Server er gehackt hatte, um dahinter zu kommen. Nachdem der nun all seine Neuigkeiten in nur einem Atemzug losgeworden war, hatte er sie in die Küche beordert und sich dann schnell wieder verzogen.

Als sie den Raum wenige Minuten später betraten, war Coop nur unwesentlich überrascht, Derek bereits gestriegelt und gebügelt und mit einem Becher dampfenden Kaffee an der großen Kücheninsel stehend vorzufinden. Mann, schlief der Kerl eigentlich nie? Sie machten schon regelmäßig Witze darüber, dass er entweder ein Roboter oder ein Vampir war. Die Wetten liefen noch, waren sie doch bisher zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen. Egal, was unter seiner Haut verborgen war, der Mann musste inzwischen die Überstunden eines mittelständigen Unternehmens angesammelt haben.

Dass Mic und Trevor den gleichen Gedanken hatten, stand ihnen bei ihrem Eintreffen förmlich auf die Stirn geschrieben. Sie sahen ebenso müde aus wie er und Juliette.

Bewaffnet mit Kaffee hatten alle schließlich um das sehr frühe Frühstück herum gesessen und Leos Ausführungen gelauscht. Nur eine halbe Stunde später stand der Plan für diesen Tag fest. Derek wollte zu Ewan Hayes nach Atlanta, und Juliette hätte sich nicht mal mit Waffengewalt davon abhalten lassen, ihn zu begleiten. Trevor wollte ebenfalls mitkommen, während Mic sich bereit erklärt hatte, Leo bei seinen weiteren Recherchen zu unterstützen.

Nun saßen sie im Jet und steuerten Atlanta an. Leo war per Laptop mit ihnen verbunden und hielt sie ständig auf dem neusten Stand.

„Es wirkt alles so willkürlich. Ich meine, einerseits verfolgt man Juliette wochen- und monatelang und versucht ihr Vertrauen zu erlangen, und dann versucht man sie aus dem Weg zu räumen. Juliette, hast du wirklich nichts, das den Leuten, die dahinterstecken, ein Motiv geben könnte?“, krächzte Mics Stimme aus den Lautsprechern.

Juliette war sichtlich genervt. „Nein. Verdammt nochmal. Die betreffende Email habe ich abgegeben und alle Aussagen gemacht, als ich in den Zeugenschutz kam. Die Polizei, das FBI und auch der Marshallservice haben mich stundenlang ausgequetscht. Dabei kannte ich den Typen gerade mal aus der Presse. Hätte Naomi nicht die falsche Email-Adresse angeklickt, wäre ich da doch nie mit reingezogen worden.“ Sie verstummte und warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. Einen Moment lang schien sie ihrer aufsteigenden Verbitterung nachzugeben und wirkte einfach nur traurig, doch dann rappelte sie sich wieder und fuhr mit nicht weniger Power fort. „Carmichael ist gleich von der Bildfläche verschwunden. Nein, ich weiß nicht wohin. Und nein, ich weiß auch nicht, wieso Donovan da plötzlich mit drin hängen könnte. Und wenn das wirklich der Fall sein sollte, würde mich wirklich mal interessieren, warum diese beknackte Behörde davon noch immer keinen Schimmer zu haben scheint!“ Coop wäre gerne zu ihr gegangen und hätte sie in den Arm genommen. Doch bei ihrer derzeitigen Laune hätte sie ihm dafür sicher die Augen ausgekratzt.

„Wenigstens Ewan muss etwas gemerkt haben. Sonst hätte sie keinen Grund gehabt, ihn aus dem Weg zu räumen. Und dass sie dafür verantwortlich ist, darin sind wir uns momentan wohl einig. Auch wenn wir bedenken sollten, dass noch mehr dahinter stecken könnte“, hörte sie Derek aus dem Cockpit rufen. Sein sonst so sachlicher Ton klang jetzt eher verbissen.

Juliette drehte sich zu ihm um. „Wie wurde er eigentlich vergiftet? Ist es schwierig, an Formaldehyd zu kommen?“

Derek zuckte mit den Schultern. „Es wurde ihm in regelmäßigen, geringen Dosen verabreicht. Wohl über sein Eau de Toilette, wie wir gestern erfahren haben. Das darin vorhandene Parfüm hat den Geruch wohl ausreichend übertüncht. Wir wissen bisher nur, dass es kein herkömmliches Formaldehyd war. Laut einem Marker, der in der Substanz gefunden wurde, stammt es aus einem Labor. Aber selbst Leo kam nicht an die Unterlagen heran, in denen Genaueres steht. Vielleicht weiß unser Mann vor Ort etwas mehr.“

Juliette riss die Augen auf. „Es gibt noch mehr von euch?“

Trevor lachte auf. „Einen noch. Die Elite schüttelt man ja schließlich nicht einfach aus den Bäumen.“

„Entschuldigung, dass ich gefragt habe“, sagte Juliette verhalten und lehnte sich wieder zurück.

Coop konnte sich das Grinsen nicht ganz verkneifen. Allerdings fragte er sich auch, wie Juliette mit alle dem zurechtkam. Jahrelang auf sich selbst gestellt und höchstens den beiden Marshalls trauend, musste sie ihre Bedenken über Bord werfen und gleich einem halben Dutzend Fremden vertrauen.

„Frog hat die Bewachung von Ewan übernommen, als klar war, dass ihm jemand ans Leder wollte und es womöglich immer noch will“, übernahm er die kurze Erklärung, als klar wurde, dass Trevor nichts weiter sagen würde.

„Er kam erst vor einiger Zeit zu unserer Truppe, außerdem ist er Deutscher. Es könnte also sein, dass die Verständigung etwas … Hab einfach etwas Geduld mit ihm, wenn du ihn triffst“, klinkte sich nun auch Mic ein. Was dieser Kommentar allerdings sollte, wusste Coop wirklich nicht.

Es war beinahe erschreckend einfach gewesen, zur „Isolierstation“ durchzukommen. Noch jetzt wunderte Juliette sich darüber, wie viel Einfluss die P.I.D. oder vielleicht auch nur Derek selbst haben musste, wenn man bedachte, dass diese Station prominenten oder schwerstkriminellen Patienten – natürlich nie zur selben Zeit − und in seltenen Fällen auch erkrankten Agenten vorbehalten war.

Nate hatte beinahe einen Tobsuchtsanfall bekommen, als Derek und sie sich wie selbstverständlich dazu entschieden hatten, Ewan zusammen zu besuchen. Seit der Entschluss gefasst worden war, nach Atlanta zu fliegen – ja klar, nehmen wir doch mal eben den hauseigenen Jet! −, wich Nate nun nicht mehr von ihrer Seite und tat bei jeder Gelegenheit seine Meinung kund. Es sei zu riskant. Nach ihr würde gefahndet. Wenn man sie erwischte. Die Liste ließ sich beliebig fortsetzen.

Natürlich hatte Juliette daran auch gedacht. Doch sie ließ sich davon nicht abhalten. Sie musste einfach mit Hayes reden. Nachdem sie erfahren hatte, was Leo über ihren angeblichen Arbeitskollegen herausgefunden hatte, kochte sie nur noch mehr vor Wut. Dieser Mistkerl hatte sich in ihr Leben geschlichen. Und das mit einer Raffinesse, die an Skrupellosigkeit kaum zu übertreffen war. Die ganze Zeit grübelte sie über den Sinn nach. Doch es gab keinen! Herold hatte sie weder ausgefragt, noch sich sonst irgendwie auffällig verhalten. Er war immer höflich und zurückhaltend gewesen. Er hatte sich um seine Aufgaben gekümmert und seine Frau abgöttisch geliebt. Noch etwas, was unverständlich war. Nichts wies darauf hin, dass auch sie mit dahinter steckte. Nicht, dass es bei ihm sicher der Fall gewesen wäre. Aber Leo hatte versprochen, an der Sache dran zu bleiben.

Juliette stockte, als ein Mann in den Flur der Station trat. Jetzt, wo sie es genauer bedachte, war er die erste Person, die sie hier sah. Die beiden Krankenschwestern nicht mitgezählt, die im Schwesternzimmer saßen und sich unterhielten.

Während sie weiter durch den Flur schritten, schaute Juliette zu ihren Begleitern. Bis auf die allgemeine Angespanntheit, die die ganze Zeit schon vorgeherrscht hatte, konnte sie kein Anzeichen dafür entdecken, dass Gefahr drohte. Derek hatte die Hände lässig in den Taschen und Trevor erzählte noch schnell die Pointe des aktuellen Witzes. Nur Nate schaute sich immer wieder aufmerksam um. Dabei lief er so dicht neben ihr, dass er ihr geradezu in ihre geliehenen Klamotten kroch. Da er das aber die ganze Zeit schon tat, zählte das wohl nicht.

Ein paar Mal schon hatte sie Derek fragen wollen, woher die Sachen eigentlich kamen, war aber bisher einfach nicht dazu gekommen. Sie fühlte sich etwas unwohl in den Jeans und dem Shirt. Beides saß an sich gut und war bequem, daran lag es nicht. Es war eben nicht ihre Kleidung. Sie musste schmunzeln. Wie sich die Prioritäten doch verschoben, wenn man sich nicht mehr nur auf sich selbst verlassen musste. Noch vor wenigen Tagen hätte sie wahrscheinlich selbst ein Ufo nicht dazu gebracht, ihre Wachsamkeit aufzugeben. Und jetzt dachte sie tatsächlich über ihre Kleidung nach.

Inzwischen hatten sie den Mann erreicht, der für Hayesʼ Bewachung abgestellt worden war. Zotteliges, rotblondes Haar fiel ihm ins Gesicht, als er ihnen zunickte. Unter der Jeansjacke und dem Poloshirt schien eine eher schmale Statur zu stecken.

„Wie geht’s ihm?“, fragte Derek gleich und ersparte sich jede Begrüßung, was dem Mann aber nichts auszumachen schien. Er wippte mit der Hand, um ein „Geht so“ zu signalisieren. Derek murmelte etwas und wandte sich dann an Juliette.

„Juliette − Carsten. Carsten − Juliette.“ Mics Bemerkung fiel ihr wieder ein. Er war also der deutsche Kollege.

„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte sie langsam und betont, was Carsten nur die Augenbrauen heben ließ. Um sie herum wurden die Männer unruhig, grinsten und fanden die Wandvertäfelung des Gangs plötzlich sehr interessant.

„Danke, freut mich auch. Aber nenn mich Frog. Bei Carsten will ich mich immer umsehen, ob mein alter Herr gerade hinter mir steht. Wie gehtʼs dir? Die letzten Tage müssen hart gewesen sein. Kaum zu glauben, dass diese Chaoten dich so schnell gefunden haben“, sagte er in flüssigem Englisch, was Juliette sofort verlegen zur Seite blicken ließ.

„Dieser Blödarsch“ entkam es ihren Lippen, ehe sie sich daran hindern konnte. Nun waren die Lacher nicht mehr zu stoppen.

„Du meinst nicht zufällig Mic, oder?“, gackerte Frog und schüttelte ihr die Hand. „Ja, das macht er gerne. Das ist der dumme Deutsche, der kein Wort Englisch versteht. Aber mal abgesehen davon, dass wir – man glaube es kaum – auch Englisch in der Schule hatten, hatte ich … berufsbedingt oft mit Engländern und Amis zu tun. Da fängt man so einiges auf.“ Er sah kurz den Flur entlang. „Aber du bist sicher nicht hier, um dich mit mir über meine Englischkenntnisse zu unterhalten.“ Soviel Humor er auch in seine erste Bemerkung gelegt hatte, klang er jetzt vollkommen ernst. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren oder auf eine Antwort zu warten, deutete er ihr mitzukommen und ging zur nächsten Tür. Die anderen setzten sich ebenfalls in Bewegung, doch Frog hielt sie auf.

„Es sollten nicht zu viele zu ihm gehen. Er ist schwach, und zu viel Trubel könnte ihn überanstrengen.“

„Okay, dann warten Derek und Sunny draußen. Ich setz mich einfach in die Ecke“, verkündete Nate und trat an seinen angestammten Platz gleich hinter ihr.

Frog und Derek tauschten ein paar undefinierbare Blicke aus, dann öffnete Frog die Tür.

Juliette stockte der Atem. Sie wusste, dass es Hayes nicht gut ging, doch damit hatte sie nicht gerechnet. Der über eins achtzig große und breitgebaute Marshall, den sie nie anders als vor Kraft strotzend erlebt hatte, verschwand fast in dem Krankenbett. Unzählige Kabel und Schläuche führten zu Infusionen, Beuteln, Monitoren und anderen Gerätschaften, die Juliette beim besten Willen nicht einordnen konnte. Der ganze Raum war vom penetranten Piepen des Monitors und dem leisen Keuchen des Sauerstoffgerätes erfüllt. Es roch nach Desinfektionsmittel. Langsam ging Juliette auf das Bett zu, blieb aber auf halbem Weg stehen.

„Kann er … Ist er wach?“, flüsterte sie, doch Frog reagierte nicht.

Dafür aber Hayes. „Dummerweise ja“, wisperte er und atmete schwer durch.

Frog ging um das Bett herum und stellte sich auf die linke Seite. „Du hast Besuch, mein Freund.“

„Was du nicht sagst.“ Hayes versuchte, sich etwas aufzusetzen, gab seine Bemühungen aber schnell auf. Nachdem der Hustenanfall, der ihn plötzlich erfasst hatte, nachließ, suchten seine getrübten Augen nach Juliette.

„Lori.“

„Sagen Sie ruhig Juliette. Die Katze ist doch längst aus dem Sack“, unterbrach sie ihn schnell. Sie musste sich räuspern. „Wissen Sie, wer Ihnen das angetan hat?“

Hayes lachte und wurde von einem neuen Hustenanfall geschüttelt. Diesmal dauerte es eine Minute, bis er sich gelegt hatte. „Immer noch so formell. Ich habe ihr schon vor Jahren das Du angeboten. Und direkt zur Sache. Das gefällt mir. Vor allem, da es eilt.“

Frogs Blicke wanderten immer wieder über die Monitore. Seine Kiefer mahlten, und er ermahnte Hayes, ruhiger zu machen. Der winkte ab.

„Ich denke, es war meine Partnerin. Natürlich hab ich keine Beweise dafür. Aber ich hatte genug Zeit, um darüber nachzudenken.“ Er sprach langsam und klang heiser.

„Warum sollte sie das tun?“, mischte sich nun auch Nate ein.

„Um an die Nummer zu kommen.“ Hayes holte tief Luft. „Die Teilnehmer des Programms werden nicht … unter den Namen sondern unter Nummern geführt. Nur der zuständige Marshall und der Staatsanwalt kennen die neue Identität.“

„Aber das ist doch Irrsinn! Ich meine, wieso sollte sie dich vergiften und ins Krankenhaus befördern, wenn sie …“ Juliette warf die Hände in die Höhe und lief im Zimmer auf und ab. Wenn sie was? „Was will sie von mir? Und wieso fällt ihr das jetzt ein?“ Sie blickte einfach nicht mehr durch. Okay, sie hatten Donovan bereits verdächtigt. Auch wenn das Warum noch immer nicht geklärt gewesen war.

„Ich denke, sie wollte … mich nicht nur ins Krankenhaus befördern.“ Unter großer Anstrengung stieß Hayes die Worte heraus. Frog griff nach der Sauerstoffmaske, die neben Hayes auf dem Kissen lag. Doch der Patient wiegelte ab. „Hau ab damit. Das blöde Ding behindert mich nur. Außerdem … geht es mir gut.“ Das Pfeifen bei jedem Atemzug strafte ihn Lügen. „Ich sollte ganz sicher nicht … nur im Krankenhaus landen.“

Hektisch ließ er seinen Blick durch den Raum huschen. „Als du das letzte Mal … verlegt wurdest, war sie nicht da. Sie war fast zwei Monate krank und wurde deshalb nicht mit einbezogen.“

Die Hustenanfälle kamen immer häufiger, doch er blieb dabei. Er wollte keine Maske, und trotz seiner Schwäche setzte er sich eisern zur Wehr. „Erst müssen wir das hier klären. Die Zeit wird knapp.“

Juliette brauchte kein jahrelanges Medizinstudium, um zu begreifen, was er ihnen damit sagen wollte. Alles in ihr zog sich zusammen. Sie hatten sich ein paarmal gesehen und kaum häufiger telefoniert. In einem Zeitraum von fünf Jahren war das nicht viel, und viele würden die Beziehung zwischen ihnen sicher auch nicht als Freundschaft bezeichnen. Und doch war es das. Irgendwie.

Etwas streifte ihre Finger, und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass es Nate war, der seine Hand in ihre schob. Er stand etwas versetzt hinter ihr, sodass es den anderen sicher nicht auffiel.

Würde es sie stören, wenn es das täte?

„Du brauchst Ruhe. Alles andere finden wir schon raus. Du hast uns schon jetzt sehr geholfen. Den Rest kannst du uns erzählen, sobald du dich erholt hast“, protestierte Frog und machte Anstalten, die anderen aus dem Raum zu befördern. Er schien mehr als nur leicht besorgt um seinen Schützling zu sein.

Juliette wunderte sich ein wenig, aber andererseits ging es ihr ja nicht anders. Doch eine Sache musste sie noch wissen, bevor sie ging. „Was bringt Sie … dich auf deine Partnerin? Ihr habt so lange zusammen gearbeitet.“

Hayes lachte auf – oder versuchte es – und schielte dann auf die Maske. Es passte ihm offenbar gar nicht, dass Juliette ihn dabei erwischte.

„Wage es bloß nicht, mir dieses Ding aufzusetzen, Juliette“, ermahnte er sie, kam dann aber zum Thema zurück. „Sie hat mich häufig nach dem Carmichael-Fall gefragt. Zu häufig, wenn du mich fragst. Dann wurde sie krank, und als sie wieder kam, verlagerte sich ihr Interesse von ihm zu dir. Ich hatte nicht nur ein seltsames Gefühl, sondern auch die Order, nichts zu sagen. Also schwieg ich. Dann begannen meine gesundheitlichen Probleme.“

Nate schnaufte aufgebracht. „Scheinbar hat Donovan schon vor Monaten Juliettes neue Identität herausgefunden. Was immer sie auch von ihr will, sie hätte es längst haben können. Warum schickt sie ihr dann erst einen Beobachter auf den Hals und hinterlässt im Anschluss eine Spur von Leichen quer durch die Staaten? Wobei es ihr völlig egal ist, ob Unbeteiligte unter den Opfern sind, oder Juliettes Familie.“ Die Wut hinter seinen Worten war nicht zu überhören. Juliette keuchte auf, und Frog sah ihn empört an.

„Cooper!“

„Was sagst du da?“ Woher Hayes plötzlich die Kraft holte, wusste Juliette nicht, doch er stemmte sich in eine fast aufrechte Position. „Juliette?“

„Vor ein paar Tagen haben sie John getötet“, sagte sie leise und unterdrückte den Wunsch, Nate richtig wehzutun.

„Oh, Mädchen, das tut mir leid.“ Seine Reserven waren schnell aufgebraucht, und er sank in die Kissen zurück. Er zwinkerte ein paar Mal und rieb sich mit langsamen, zähen Bewegungen über die Augen. Der Monitor begann schneller zu piepen, und Frog reagierte sofort. Jeden weiteren Widerstand ignorierend zog er das Gummiband der Maske zurück und zerrte das Plastikding über Hayesʼ Kopf. Der nahm ein paar Züge und zog die Maske zum Kinn runter. „Ich weiß nicht, was diese Frau von Juliette will. Aber sie …“

Sein Kopf kippte so abrupt zur Seite, dass Juliette aufschrie.

Frog half Hayes wieder in eine gerade Position und beendete das Gespräch mit einer klaren Ansage, die sowohl an den Patienten als auch an die Gäste gerichtet war. „So, die Besuchszeit ist abgelaufen, jemand sollte sich jetzt dringend ausruhen.“

Juliette war froh darüber. Ihr Brustkorb wurde immer enger, und lange hätte sie es ohnehin nicht mehr ausgehalten, den Mann so leiden zu sehen. Der Gedanke, dass er es womöglich auch nicht mehr lange musste, machte das Gefühl nur noch schlimmer.

„Nur eins noch.“ Hayesʼ Stimme war durch die Maske stark gedämpft. „Ich weiß nicht, ob es hilft. Aber sie hat vor Jahren in der … Abteilung für Wirtschaftskriminalität gearbeitet.“ Langsam schlossen sich seine Augen.

„Passt gut auf sie auf“, murmelte er noch leise, während er schon wegdämmerte.

Juliette riss sich von Nate los und eilte zur Tür hinaus. Sie konnte gar nicht schnell genug aus dem Zimmer kommen. Doch auf dem Gang stellte sie fest, dass das längst nicht genug war. Sie musste raus, ins Freie, an die Luft. Ihre Brust zog sich immer mehr zusammen, bunte Flecken begannen vor ihren Augen zu tanzen. Die Rufe und Schritte hinter sich ignorierend, stürmte sie weiter den Flur entlang und zum Treppenhaus. Sie waren im fünften Stock und Juliette überlegte einen Moment, ob sie nach oben oder nach unten laufen sollte. Der Weg nach unten war leichter, und so sprang sie mehrere Stufen auf einmal nehmend von einem Treppenabsatz zum nächsten. Die verwunderten Blicke der entgegenkommenden Leute und die Tür, die über ihr zuschlug, ließen sie nur noch schneller laufen.

Endlich, sie hatte es fast geschafft.

Das Erdgeschoss erreicht und die Freiheit zum Greifen nah, hetzte sie weiter. Vorbei an dem kleinen Zeitungskiosk und dem Eingang zur Cafeteria, schlängelte sie sich um Patienten und Besucher herum, die ihr hinterher fluchten.

Bis sie plötzlich jemand am Arm packte.

Juliette schrie auf und versuchte dem eisernen Griff zu entkommen. Die anwesenden, die ihre Aktivitäten bisher noch nicht eingestellt hatten, taten es jetzt und betrachteten ihre verzweifelten Versuche, sich zur Wehr zu setzen. Doch niemand half.

Sahen sie denn nicht, dass sie Hilfe brauchte?

„Beruhige dich! Juliette, ich bin es, Frog.“

Nur langsam drangen die Worte durch den dichten Nebel in ihrem Kopf und das Rauschen in ihren Ohren.

„Muss raus hier. Kriege keine Luft. Bitte … ich muss hier raus“, stöhnte sie und versuchte sich von ihm zu befreien. Augenblicklich ließ er sie los. Mit erhobenen Händen stellte Frog sich vor sie. „Okay, beruhige dich. Ich bringe dich raus. Aber du musst dich beruhigen!“, sprach er leise auf sie ein. Dann führte er sie Richtung Ausgang und weiter, bis sie um eine Ecke gebogen waren.

Juliette lehnte sich gegen die Wand und folgte dankbar den Anweisungen des Mannes, sich nach vorne zu beugen und die Hände auf die Knie zu stützen. Ihr Herz raste, und die Lunge weigerte sich ausreichend Sauerstoff aufzunehmen.

„Ich kriege keine Luft“, ächzte sie − und verfluchte sich einen Moment später dafür, die verbliebene vergeudet zu haben.

Frog stellte sich neben sie, schirmte sie vor ungewollten Blicken ab. „Du hast eine Panikattacke. Versuch dich zu beruhigen und langsam zu atmen“, sagte er sanft, aber sachlich.

Der hatte leicht reden. Auf seiner Brust parkte ja auch kein Sattelschlepper. Dennoch versuchte Juliette, auf ihn zu hören.

„Woher kennst du Hayes?“, fragte Juliette eine halbe Minute später immer noch keuchend, während sie darauf wartete, dass sie sich unter ihrer eigenen Haut nicht mehr eingeschnürt wie unter einem zu heiß gewaschenen Wollpullover fühlte. „Du scheinst ihm sehr nahe zu stehen.“

Frog zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihn erst vor ein paar Tagen kennengelernt. Allerdings bin ich ihm seitdem kaum von der Seite gewichen.“ Er schwieg einen Moment, als wäre er nicht sicher, ob er weiter erzählen sollte oder nicht. „Es ging ihm schon da nicht sonderlich gut. Aber das war noch kein Vergleich zu heute. Ich habe keine Ahnung, wie lange …“ Frog verstummte erneut. Er brauchte auch gar nicht weiter zu sprechen. Juliette wusste auch so, worauf er hinaus wollte.

„Und wieder jemand, der meinetwegen stirbt.“ Ihr war klar, dass es nicht die beste Methode war, sich zu beruhigen. Schließlich war es genau das gewesen, was sie erst hierhin gebracht hatte. Dennoch musste sie es loswerden.

„Das ist Berufsrisiko.“

Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt?! Juliette fuhr hoch und setzte gerade zu ein paar deftigen Worten an, als eine Krankenschwester an ihnen vorbei kam.

„Hallo, Mr Fischer“, grüßte sie und warf ihm einen Blick zu, der wesentlich mehr als nur Hallo sagte. Aber das war nicht der Grund, warum Juliette die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, vergaß und der jungen Frau mit offenem Mund nachstarrte.

Im nächsten Augenblick sprudelte das Lachen nur so aus ihr heraus.

Es war total bescheuert und eigentlich nicht mal halb so komisch, wie man meinen sollte. Dennoch konnte sie nichts dagegen tun, dass ihr erneut die Luft wegblieb und sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

„Fischer? Fischer!“, prustete sie und hielt sich den Bauch.

Der Mann schien schon zu ahnen, worauf sie hinaus wollte, ließ sie aber gewähren.

„Du heißt Fischer und … und sie nennen dich Frog?“

Juliette konnte sich kaum noch halten. Es war gemein und vor allem völlig übertrieben, sich vor Lachen beinahe in die Hose zu machen. Und doch ließ jeder Gedanke an diese Feststellung weitere Lachsalven in ihr aufsteigen. „Es tut mir leid. Wirklich. Ich kann nicht … Oh Gott, ich mach mich gleich nass. Wenn du mir jetzt erzählst, dass du vom Sternzeichen Fische oder Wassermann bist, dann brauche ich ne neue Hose.“

Der Mann neben ihr brummte. „Nein, ich bin Jungfrau.“

Dass er ihre schonungslose Frotzelei über sich ergehen ließ, diente sicherlich ihrer Ablenkung. Und eigentlich sollte sie diese Gefälligkeit auch nicht übermäßig strapazieren. Doch diese Vorlage musste sie einfach aufgreifen.

„Eine Meerjungfrau?“, platzte es aus ihr heraus.

Frog schnaufte. „Okay, der war neu.“ Dann verzog er den Mund zu einem schiefen Grinsen. „Ich verrate dir wohl besser nicht, was mein Job war.“

Juliette riss in Aussicht auf eine neue Steilvorlage die Augen auf. Auch wenn es weiß Gott nicht die richtige Zeit war und das Lachen eher von einem hysterischen Anfall als von Heiterkeit herrührte, löste es dennoch ihre angespannten Nerven. Und das brauchte sie jetzt einfach. Die ernste und brutale Realität würde sie eh viel zu bald wieder einholen.

Wie bald, sollte Juliette nur wenige Sekunden später erfahren. Gerade als sie Frog genaueres über seine Andeutung entlocken wollte, fiel ihr Blick auf einen Mann, der den Eingang des Krankenhauses ansteuerte. Anfangs glaubte sie noch, sich zu irren. Als er sich aber nach einer knappbekleideten Schönheit umdrehte und sie so sein Gesicht sehen konnte, verflog jeder Zweifel. Angst und Entsetzen von unbändigem Ausmaß traten an seine Stelle.

„Juliette?“ Frog griff nach ihrem Arm, als sie schwankte. „Hey, was ist los?“

„Der da hat John getötet“, erklärte sie mit vor Fassungslosigkeit matter Stimme und trat einen Schritt vor, um dem Mann hinterher zu schauen. Das sollte sich umgehend rächen. Als habe er ihr Flüstern gehört, drehte der Verbrecher den Kopf in ihre Richtung. Natürlich erkannte er sie umgehend und änderte den Kurs. „Scheiße!“

Frog reagierte sofort und riss sie mit sich.

Der Kies knirschte laut unter ihren Füßen, als sie am Gebäude entlang flüchteten. Auch hinter sich konnte Juliette viel zu bald dieses Knirschen hören. Frog steuerte den nächstbesten Pfad an, der zwischen den Bauten hindurch führte. Ohne langsamer zu werden, zückte er sein Handy. „Wir brauchen euch! Johns Mörder ist hier. Nein, verdammt! Negativ. Sind gerade an der Onkologie und verlassen gleich das Klinikgelände in südliche Richtung.“

Doch soweit kamen sie nicht. Gerade, als Juliette sich fragte, wie die anderen ihnen helfen sollten, wenn sie ja nicht mal eine anständige Richtungsangabe hatten – noch dazu bewegten sie und Frog sich ja auch weiter −, prallte sie heftig gegen ihn und brachte sie beide damit fast zu Fall.

„Was?“, stammelte sie, erkannte aber eine Sekunde später selbst das Problem. Sie waren in eine L-förmige Sackgasse geraten. Irgendwo war Frog einmal zu oft abgebogen.

„So viel zu meinem großartigen Plan“, motzte er und schob sie hinter sich. „Aber mit dem werden wir auch so fertig. Juliette, egal was du tust, versuch rechts von mir zu bleiben.“ Dann konzentrierte er sich ganz auf den Mann, der um die Ecke trat. „Verschwinde oder du wirst es bereuen“, warnte er Max mit fester Stimme.

Johns Mörder trat gemächlich einen Schritt näher. Das Grinsen, das sich dabei auf seinem Gesicht abzeichnete, ließ Juliette erschauern. „Wer sollte mich aufhalten, wenn ich mir die Schlampe schnappe?“

„Ich, du Penner!“ Frog verschränkte die Arme vor der Brust.

Max lachte auf. „Du und welche Armee?“

„Für dich brauch ich keine Armee, du Clown. Ich komm nicht mal ins Schwitzen, wetten?“ Juliette konnte nicht glauben, was sie da hörte. Veranstalteten die hier jetzt ernsthaft ein verbales Wettpissen?

Hätte sie nicht den Mörder ihres Bruders vor sich und stünde kurz davor, selbst in nicht allzu ferner Zukunft als Leiche zu enden, hätte sie sicher gelacht.

Max stieß einen kurzen Pfiff aus. Nur wenige Sekunden später tauchten hinter ihm zwei Schränke auf, neben denen The Rock blass aussah.

Damit gingen auch Frog die flapsigen Sprüche aus.

„Geh zurück, aber nicht ganz bis zur Wand. Sonst ist es zu einfach, dich in die Ecke zu drängen“, wies er Juliette flüsternd an und stellte sich kampfbereit hin.

Frog wartete einen Augenblick, drehte sich dann wenige Zentimeter zu ihr um und sah sie scharf an. „Brauchst du eine Extraeinladung?“ Juliette schluckte ihre Bemerkung über seinen überflüssigen Kommentar und wich von ihm zurück.

Äußerst beunruhigt beobachtete sie, wie Max und seine Männer sich verteilten und näher kamen. Frog würde niemals alleine gegen sie ankommen. Und Juliette war da auch keine große Hilfe. Das bisschen Selbstverteidigung, das sie beherrschte, würde nicht mal ein Eichhörnchen in die Flucht schlagen. Was sollte sie dann hier ausrichten?

„Weil du so ein netter Kerl bist, lasse ich sogar meine Waffe stecken. Was sagst du dazu?“ Max ließ die Finger knacken. Ob Frog sich davon beeindrucken ließ, dass die Männer wie eine Mauer vor ihm standen, konnte Juliette unmöglich sagen. Allerdings streifte er sich die Ärmel hoch und warf eine schnellen Blick in ihre Richtung.

Im nächsten Moment brach die Hölle los.

Frog senkte den Kopf und rammte sich wie ein Footballspieler in Max. Der strauchelte ein paar Schritte zurück, fing sich aber schnell wieder. Mit einer halben Drehung befreite er sich von Frog, holte aus und schlug zu. Sein Schlag ging ins Leere. Frog duckte sich weg, drehte sich und riss Max von den Füßen. Juliette starrte wie gebannt auf die beiden Männer, die sich im Nahkampf nichts gaben.

Bisher hatten sich seine zwei Anhänger, die den Ninja-Turtles-Figuren Bebop und Rocksteady nicht unähnlich waren, zurückgehalten, doch ihren Gesichtern nach zu urteilen, würde das nicht mehr lange anhalten. Offensichtlich machte sich keiner von ihnen großartig Gedanken darüber, was mit ihr war. Aber warum auch? Juliette stand im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Rücken zur Wand – wenn auch, wie von Frog angeraten, in zwei Meter Entfernung.

Als ihr Begleiter Max eine Kombination aus Schlägen und Tritten verabreichte, und der gefährlich zu taumeln begann, sahen sich dessen Begleiter nun doch gezwungen einzugreifen. Langsam bewegten sie sich auf die kämpfenden Männer zu. Juliette sah sich auf dem Boden nach einer geeigneten Waffe um. Verfluchte Scheiße.

Alle regten sich ständig darüber auf, dass die Straßen und Gassen der Großstädte total vermüllt waren, und sie musste unbedingt in der einzigen sauberen landen. Bis auf ein paar Schnipsel Papier, die Strohhalmfolie eines Trinkpäckchens und ein wenig Laub konnte sie nichts entdecken. Allerdings fiel ihr dann doch etwas ein, was sich wenigstens als Wurfgeschoss dienlich erweisen könnte. Schnell bückte sie sich und zerrte sich einen Schuh vom Fuß. Warum hatten die Männer ihr nur keine hochhackigen Pumps besorgt? So dreizehn Zentimeter würden schon reichen.

„Hey, ihr aufgepumpten Saftsäcke. Stimmt es eigentlich, dass der Schwanz umso kleiner wird, je mehr die Muskeln wachsen?“, schrie sie aus vollem Hals und schleuderte den Schuh. Ihr Manöver war von Erfolg gekrönt. Nur war das Ergebnis nicht ganz so wie geplant. Zwar hatte sie für einen Moment die volle Aufmerksamkeit der Angreifer, was Frog die Möglichkeit gab, sich etwas aufzurappeln. Das hatte jedoch zur Folge, dass ihr Sneaker direkt und ungebremst vor seine Stirn kachelte. Der Mann fluchte ungehalten, nutzte aber die Chance, eine andere Position einzunehmen, solange seine Gegner ebenfalls noch aus dem Konzept gebracht waren.

Abgelenkt davon bekam Juliette zu spät mit, dass sich einer der beiden Schränke auf sie zubewegte. Unwillkürlich machte sie einige Schritte zurück und stieß viel zu schnell, wie sollte es anders sein, gegen die Mauer.

Was hatte sie sich nur dabei gedacht, so etwas zu rufen?

Sie wusste es nicht. Jetzt, da der riesige Muskelberg unmittelbar vor ihr stand und die Sonne verdeckte, fand sie die Idee total dämlich.

„Willst du das wiederholen?“, fragte er und hörte sich an, als würde er regelmäßig mit Rohreiniger gurgeln.

Juliette räusperte sich und schüttelte schnell den Kopf. Oh, wie tapfer und mutig sie doch war. Nicht zum ersten Mal in den letzten Minuten fragte sie sich, warum denn niemand zur Hilfe eilte und was die Menschen bloß mit ihrer Zivilcourage gemacht hatten. Selbst wenn niemand sie von dem Weg aus sehen konnte, mussten doch wenigstens die Kampfgeräusche bis dorthin zu hören sein.

Bebop – oder war es Rocksteady – drehte sie mit einer jähen Bewegung zur Wand und presste seinen wuchtigen Körper gegen sie. Dann beugte er sich vor. Als er sprach, sabberte er ihr fast ins Ohr. „Ein Mucks und ich breche deinem Freund da drüben höchstpersönlich das Genick!“

13. KAPITEL

Coop stand mit Trevor und Derek vor dem Krankenzimmer und besprach mit ihnen das weitere Vorgehen, als letzterer sein Telefon nahm und sich ein Stück entfernte. Auch Mic und Leo waren auf den neusten Stand gebracht und suchten daheim emsig nach Spuren. Er konnte nur hoffen, dass sie Erfolg hatten.

Dereks Gesicht veränderte sich während des Telefonats und wurde zu einer steinernen Miene.

Coops Nackenhaare stellten sich auf. Er ahnte, dass es nicht einfach nur um Parkgebühren für den Jet ging, noch ehe Derek wie ein Irrer den Gang entlang flog.

„Das war Frog. Johns Mörder ist aufgetaucht. Er hat sie entdeckt. Frog ist unbewaffnet. Sie sind vor der Klinik und fliehen Richtung Süden.“ Coop hätte sich gerne verhört und es auf die Akustik des Flures geschoben. Oder auf die donnernden Schritte auf dem Linoleum. Ober auf das Adrenalin, das wie eine Springflut durch seine Adern schoss.

Aber es gab keinen Zweifel.

Juliette steckte in Schwierigkeiten!

Warum bitteschön hatte Frog das Gebäude ohne seine Waffe verlassen? Warum hatten er und Juliette das Gebäude überhaupt verlassen? Der Idiot würde ihm später einiges zu erklären haben! Doch jetzt war erst mal wichtig dafür zu sorgen, dass es für die beiden ein Später gab.

Zwei Minuten später traten die drei Männer ins Freie und orientierten sich schnell. Jedem von ihnen war klar, dass sie keine Zeit vergeuden durften. Sich jetzt auf dem riesigen Gelände zu verirren, würde verheerende Konsequenzen haben. Coop dankte den Erbauern des Klinikkomplexes im Stillen dafür, dass alles so hervorragend beschildert war. In null Komma nichts hatten sie die Onkologie hinter sich gelassen und stürmten auf den südlichen Ausgang zu.

Coops ganzer Körper war bis aufs Äußerste gespannt und alle seine Sinne geschärft. Dennoch war es reiner Zufall, dass er die Geräusche in der Gasse rechts von sich hörte. Gleichzeitig mit Trevor scherte er aus und bog ab. Derek zog sofort nach und gemeinsam kamen sie um die letzte Ecke.

Es war riskant, vom Weg abzuweichen, immerhin konnte so ziemlich alles das Geräusch verursacht haben. Aber sie hatten Glück. Obwohl Glück nicht das richtige Wort war. Frog wurde furchtbar in die Mangel genommen. Dem eisernen Griff des Muskelberges hatte er ebenso wenig entgegenzusetzen, wie den gezielten Schlägen des wesentlich schlankeren Mannes. Ein weiterer Widerling drängte Juliette gegen die hintere Wand. Er beugte sich zu ihr runter. Coop wollte nicht mal wissen, was er da gerade anstellte. Wichtig war nur, dass er dazu nicht mehr lange in der Lage sein würde!

Während Trevor und Derek sich um Frog und seine Sparringspartner kümmerten, stürzte sich Coop auf den Kerl bei Juliette. Krachend gingen die Männer zu Boden. Coop verkrampfte sich einen Moment, als er das Winseln hörte, das Juliette ausstieß. Doch kurz darauf hatte er sich schon wieder gefangen. Fast zu spät. Er konnte gerade noch dem Schwinger ausweichen. Mit einem angezogenen Knie in die Magengrube und einem Hieb vor die Gurgel setzte er den Typen lange genug außer Gefecht, um ihn von sich runter zu rollen. Zurück auf den Beinen hatte er wesentlich bessere Karten als sein Gegner. Auch wenn er ihm dies wohl erst würde vorführen müssen.

Immer wieder wollte sein Blick zu Juliette schweifen, die noch wie erstarrt an der Wand stand. Sich ausgerechnet jetzt von ihr ablenken zu lassen, wäre allerdings mehr als fatal. Das gleiche galt für einen Blick in die andere Richtung. Er konnte sich nur auf die Fähigkeiten seiner Freunde verlassen und hoffen, dass die schmerzverzerrten Laute das Ergebnis ihrer Schläge und Tritte waren. Der Bodybuilder war inzwischen ebenfalls wieder auf den Beinen und ging sofort in den Angriff über. Den Kopf wie ein Stier gesenkt, sprang er auf Coop zu und rammte ihm die Schulter in die Seite. Sicher war das anders geplant gewesen, aber Coop war in letzter Sekunde noch ausgewichen. Dass er genau diese Sekunde zu langsam gewesen war, nahmen ihm seine Rippen nun mehr als übel. Jetzt, unmittelbar nach dem Aufprall, zögerte Coop nicht noch einmal. Der Melonenkopf befand sich noch immer zwischen Arm und Oberkörper. Coop riss seinen Arm runter, ignorierte das anklagende Aufschreien seiner Seite und klemmte so den Kopf seines Gegners ein.

Ein schnelles Stoßgebet zum Himmel schickend – er hatte diesen Trick zwar unzählige Male bei ihren Wrestling-Abenden mit Bier und Pizza gesehen, doch nie selbst ausprobiert – stieß er sich ab, wirbelte herum und kam mit einem heftigen Krachen auf dem Boden auf. Auch wenn es im Fernseher nur Show war, schien es doch zu funktionieren. Benommen sackte der Rest des Kolosses in sich zusammen. Coop holte aus und verpasste ihm mit einem altmodischen rechten Haken den finalen Schlag.

Juliette stand nach wie vor an der Wand und starrte auf das Geschehen. Unschlüssig darüber, ob er zu ihr gehen oder seinem Team zur Hilfe kommen sollte, blickte er erst in die eine und dann in die andere Richtung.

„Bring sie hier weg“, rief Trevor ihm zu, während er sich auf den Rücken seines Gegners warf.

Frog lehnte schwer atmend an der Wand, und von Derek war nichts zu sehen. Jedoch fehlte auch von dem dritten Angreifer jede Spur.

„Kommst du hier klar?“

Trevor stemmte sich immer weiter an dem breiten Rücken seines Gegners hoch, was dessen Besitzer vehement zu verhindern versuchte. Er drehte sich wie eine der Nilpferd-Ballerinas aus Phantasia um die eigene Achse und fuchtelte mit den Armen. „Sieht man das nicht? Macht endlich, dass ihr wegkommt.“ Er hieb auf den Nacken ein. „Ich habe keine Ahnung, wo der dritte hin ist. Ihr solltet weg sein, falls er es sich überlegt und zurückkommt.“

Damit stand es fest. Coops schlechtes Gewissen, unsagbar erleichtert darüber zu sein, Juliette von hier wegbringen zu können, verschwand. Und das würden er und Jules jetzt auch.

Er hatte sie bereits an der Hand gepackt und den Ausgang der Gasse angesteuert, als sie sich noch einmal losriss. Coop musste mit ansehen, wie sie zurück und direkt auf den niedergestreckten Verbrecher zustürmte. Sie griff sich den Schuh, der gleich neben ihm lag, und trat ihm im Vorbeigehen fast gegen das Bein. Obwohl er sofort bereit war, einzugreifen, falls der Typ sich rührte, musste er schmunzeln. Juliette hob triumphierend den Sneaker in die Höhe.

„Wir können.“

Das ließ er sich nicht zweimal sagen.

Sie rannten aus der Gasse und steuerten den riesigen Parkplatz an. Sollte noch jemand auf sie lauern, wären sie zwischen den Autos einigermaßen geschützt. Einzig um sich den Schuh anzuziehen, hielten sie einen Moment an. Warum Juliette den überhaupt ausgezogen hatte, würde er sie später fragen.

Coop behielt die Umgebung im Blick. Nicht nur, um eine mögliche Verfolgung auszuschließen, sondern auch um sich zu orientieren. Schließlich hatte er vor, sich nachher von den anderen einsammeln zu lassen. Juliette hielt die ganze Zeit Schritt, beschwerte sich nicht über das Tempo oder seine knappen Befehle.

Erst als sie, begleitet von gelegentlichem Hupen, den Freedom Parkway überquert und hinter einem Baucontainer Deckung gefunden hatten, verschnauften sie.

„Bist du in Ordnung?“ Coop betrachtete Juliette eingehend und blieb an der kleinen Schramme an ihrer Stirn hängen. Sanft strich er eine braune Strähne zu Seite. „Du bist verletzt.“

Sie zog den Kopf zurück. „Das ist nur ein Kratzer. Ansonsten geht es. Mir schlottern nur ein wenig die Knie.“ Erstaunt darüber, dass sie es so offen zugab, strich er ihr erneut übers Haar. Lieber hätte er sie in den Arm genommen, doch er hatte Angst, dass er sie dann nie wieder losließe.

„Ich denke nicht, dass wir verfolgt wurden. Trevor, Frog und Derek kümmern sich um die Typen. Ich rufe sie gleich an und gebe ihnen durch, wo wir sind. Dann können sie uns abholen.“ Ihm gefiel die Blässe ihrer Haut ganz und gar nicht.

„Was ist mit Frog? Die haben ihn sich ziemlich vorgenommen. Und was wollte der Mörder von John hier?“

„Frog hat schon viel mehr Prügel ein- und locker weggesteckt. Mach dir um ihn keine Sorgen. Ein Pflaster und einmal übers Aua gepustet und er ist wie neu.“ Wie erhofft hoben sich Juliettes Mundwinkel ein klein wenig.

Die zweite Frage beschäftigte ihn auch schon die ganze Zeit. Es war unmöglich, dass er hinter Juliette her war. Dazu hätte er wissen müssen, dass sie hier auftauchen würde. Und das hatten sie schließlich spontan beschlossen.

Die Lösung, so offensichtlich sie auch war, kam ihm aber erst jetzt.

„Er wollte zu Hayes“, sprach Juliette seine Gedanken aus. „Wir müssen zurück. Er will zu Ende bringen, was Donovan begonnen hat.“

Coop war ganz ihrer Meinung. Bis auf einen Punkt.

„Du kommst nicht mehr in die Nähe des Krankenhauses, bis wir sicher sind, dass dir keine Gefahr mehr droht.“ Er bereute seine Wortwahl umgehend. Juliette kniff die Augen zusammen und stieß ihn nach hinten.

„Und was mit Hayes ist, interessiert nicht? Wie kannst du diese Entscheidung treffen?“ Sie begann verärgert auf und ab zu laufen. Ihre Hände flogen nur so um ihren Körper, als sie wild gestikulierte. „Jemand will ihn umbringen! Und du willst nichts unternehmen, nur weil ich mir vielleicht weitere Kratzer zuziehen könnte?“ Sie baute sich vor ihm auf, reckte ihr zierliches Kinn vor und stemmte die Hände in die schmalen Hüften. „Ist das dein Ernst?!“

Es verletzte ihn, dass Juliette ihm sowas zutraute. Natürlich würde er alles tun, um sie zu schützen. Aber das hieß doch noch lange nicht, dass er dafür leichtsinnig andere Menschen opferte. Wie konnte sie ihn nach den letzten Tagen nur so falsch einschätzen?

Zähneknirschend holte er sein Handy hervor und wählte Dereks Nummer. „Ich habe gesagt, wir gehen nicht zurück. Nicht, dass ich es einfach geschehen lasse!“, knurrte er, während er darauf wartete, dass sein Boss das Gespräch annahm.

Der Anruf kam zu spät.

US-Marshall Ewan Hayes war tot.

Die Ärzte sagten zwar, es könne durchaus Organversagen gewesen sein. Dass Derek Max allerdings ausgerechnet auf dem Flur wiedergefunden hatte, auf dem Hayesʼ Zimmer lag, sprach für sich. Derek und der von den Schwestern bereits alarmierte Sicherheitsdienst nahmen sofort die Verfolgung auf, konnten jedoch nicht verhindern, dass Max sich auf seiner Flucht aus einem Fenster stürzte. Nach einem Sprung aus dem fünften Stock kam jede Hilfe zu spät und eine Befragung war logischerweise auch unmöglich geworden. Warum der Verbrecher diesen Ausweg gewählt hatte, wurde zu einer weiteren unbeantworteten Frage auf der Liste der Zehntausend.

Da jedoch so oder so feststand, dass der US-Marshall durch einen Anschlag ums Leben kam – das hatte ihn ja erst hierher gebracht −, waren wenig später zwei FBI-Agents eingetroffen. Eine Stunde lang bombardierten sie Derek und Frog mit Fragen über den Hergang und die Hintergründe. Mehr als einmal hatten die beiden erklären müssen, warum eine autarke Organisation für den Schutz des Marshalls abgestellt worden war und wie es dem Killer trotzdem gelang, seinen Auftrag zu erledigen.

Trevor hatte indes Juliette und ihn nördlich des Parkways eingesammelt und war auf direktem Weg zur Landebahn gefahren. Unterwegs waren sie schnell auf den neusten Stand gebracht worden. Sowohl was Hayes als auch die Prügelei in der Gasse betraf. Juliette hatte das alles schweigend und äußerlich gefasst aufgenommen, innerlich jedoch kurz vor dem totalen Zusammenbruch gestanden. Nicht mal Coops Anwesenheit und seine Nähe hatten daran etwas geändert.

Die Stimmung war mehr als bedrückt gewesen, als sie gemeinsam auf den Teamchef warteten und dann Richtung Heimat aufbrachen.

Jetzt, sechs Stunden später, stand Juliette auf der Dachterrasse eines Apartmentkomplexes in Miami Beach und schaute auf die Skyline der Millionenstadt hinab. Der Ausblick war fantastisch, das Wetter noch besser. Von den relativ hohen Temperaturen, die immer noch herrschten, war hier oben nicht viel zu spüren. Eine leichte, salzige Brise umspielte ihr Gesicht. Juliette konnte verstehen, dass es jährlich fast sieben Millionen Menschen herlockte. Nur konnte sie sich selbst dafür gerade wenig begeistern. Tausend Gedanken bevölkerten ihren Verstand. Sie wusste, dass sie Max nicht nach Atlanta gelockt hatte. Genauso, wie sie wusste, dass Hayes ohne ein Wunder vermutlich ohnehin gestorben wäre. Allerdings wusste sie auch, dass er nicht unbewacht gewesen wäre, wenn die Männer ihretwegen die Station nicht hätten verlassen müssen. Das einzige, worauf sie keine Antwort finden konnte, war die Frage, ob es für Hayes nicht letztendlich sogar eine Erlösung war. Sie hatte gesehen, wie sehr er litt. Sie hatte gehört, wie schlecht es um ihn stand. Er hatte deutlich gemacht, dass er sich mit dem baldigen Ende abgefunden hatte.

Juliette beugte sich über die Balustrade und dachte tatsächlich einen Moment lang daran, hinunter zu spucken. Natürlich wäre das nicht sehr ladylike. Aber wen interessierte das schon? Es war ein anderer Gedanke und so bescheuert er auch war – und so kurz er auch andauerte −, war er willkommen.

Wenigstens ließen die Männer sie zufrieden. Ratschläge und Beteuerungen, dass sie keine Schuld traf, konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen.

„Die Aussicht ist umwerfend, oder?“ So viel dazu. Mic trat neben sie und legte die Arme auf die Brüstung. Seine Fingerspitzen trommelten leicht gegeneinander.

„Ich kann dir natürlich nicht verbieten, hier zu sein. Aber bitte verschone mich mit Small Talk, Michael.“ Mic wechselte weder die Blickrichtung, noch machte er irgendwie den Anschein, gekränkt zu sein.

„Keine Sorge. Das hatte ich nicht vor. Ich würde mir nur gerne deine Rippen und Stirn ansehen. Außerdem steht da Pizza auf dem Tisch. Du musst etwas essen.“

Als wenn sie jetzt was essen könnte. „Ich habe keinen Hunger.“

Mic lachte trocken auf. „Das juckt mich sowas von gar nicht. Sieh es als ärztliche Anordnung.“

Die Selbstverständlichkeit und Arroganz, mit der er das sagte, brachte Juliette überaschenderweise zum Schmunzeln.

„Du bist unmöglich, Doc.“

„Ach, das weiß ich doch schon. Und nun lass mich deine Verletzungen sehen. Coop meinte, der Kerl hätte dich ziemlich gegen die Wand gepresst. Das kann für deine Prellung nicht sonderlich gut gewesen sein.“

Oh, wie Recht er damit hatte. Es zwiebelte jedes Mal fürchterlich, sobald sie sich falsch bewegte. Der Schläger hatte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen sie gelehnt und sie so zwischen sich und der Mauer eingeklemmt. Bei jeder Bewegung seinerseits hatte sie aufs Neue schmerzhafte Bekanntschaft mit der Wand gemacht. Und er hatte sich ständig bewegt und sich an ihr gerieben, während er ihr Drohungen ins Ohr geflüstert hatte. Noch jetzt wollte es sie schütteln, wenn sie daran dachte.

Seufzend stieß sie sich vom Geländer ab und zog den Pullover ein wenig hoch. Mic brauchte nicht lange, um sich ein Bild zu machen. Die Rippen waren zwar belastet, aber nicht weiter verletzt worden. Die Schramme an der Stirn, die die Folge von Coops Eingreifen war, hatte ebenfalls keine weitere Behandlung nötig. Bereits im Jet hatte Coop sie mit ein wenig Desinfektionsmittel gereinigt und ein kleines Pflaster drauf geklebt. Juliette kam sich dabei vor wie ein kleines Kind. Vor allem, da Frog, der ihr gleich gegenüber saß, grün und blau geprügelt war und scheinbar kein Pflaster brauchte.

Nun saßen sie auf den Liegestühlen und unterhielten sich. So sehr Juliette sich anfangs auch gegen seine Versuche, sie zum Reden zu bringen, sträubte, begann sie irgendwann drauf anzuspringen. Von Leo wusste sie, was Mics früherer Job gewesen war. Und Mann, der Typ war gut. Er hatte es nicht nur geschafft, ihre Zunge zu lösen. Er hatte sie auch zu einem kleinen Stück Pizza überreden können. Bei einer Sache versagte er dann doch noch. Und zwar bei dem Versuch, ihr die Schuldgefühle zu nehmen. Sie wusste es einfach besser. Auch wenn Mic zum fünfundzwanzigsten Mal betonte, dass es allein Donovans Schuld war und sie sich nichts vorzuwerfen hätte. Nur ihretwegen starben die Menschen weg wie die Fliegen. Aber das durfte einfach so nicht weitergehen!

Juliette sprang auf und konnte das Stöhnen nicht unterdrücken. Ihre Rippen schmerzten. Aufhalten konnte sie das aber keineswegs. Sie würde endlich die Zügel in die Hand nehmen. Auch wenn es eher Trauer und Selbsthass waren, die sie antrieben, würde sie den Schwung nutzen.

Mit langen Schritten ging sie ins Büro, wo Trevor, Leo und Nate gerade damit beschäftigt waren, irgendetwas auf dem Computermonitor zu betrachten.

„Ich muss mit euch sprechen!“, platzte Juliette in die gelegentlichen Wortwechsel. Sofort hatte sie die ganze Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. „Wo steckt Derek?“ Sie ahnte, dass sie ihn dringend auf ihrer Seite bräuchte, wenn die anderen ebenfalls mitziehen sollten. Vor allem Nate würde sie sich ernsthaft zur Brust nehmen. Und das keineswegs auf eine Art und Weise, die sie bereit wäre zuzulassen.

„Der konnte seinen Kontaktmann bei den Marshalls dazu überreden, ein paar Überstunden zu machen und sich noch mit ihm zu treffen“, erklärte Leo. „Er will ihm einige Unterlagen geben, die deine Unschuld beweisen. Wir haben es zwar alles auch schon per Mail geschickt. Doch er hielt ein persönliches Gespräch effektiver, um alles schnell über die Bühne zu bringen.“

Na gut, dann musste es eben ohne den großen Boss klappen. Schnell, um nicht den Mut zu verlieren, breitete Juliette ihre Pläne vor den Männern aus. Und ebenso schnell kam der Gegenwind von Nate. Doch sie hatte genug davon. Kaum hatte er begonnen, an ihrem Verstand zu zweifeln und ihr herunterzubeten, welche Gefahren ihr Vorgehen barg, platzte ihr der Kragen.

„Verdammt, Nate! Ich habe die Schnauze voll. Es wird Zeit, den Spieß umzudrehen. Ich will nicht länger weglaufen. Nicht, wenn das bedeutet, dutzende von Leben auf dem Gewissen zu haben.“ Sie hob den Zeigefinger, als er etwas sagen wollte. „Ich weiß ja, dass ich die Leben nicht persönlich ausgelöscht habe. Doch das ändert nichts an den Tatsachen. Donovan tötet die Menschen, die ihr bei der Suche nach mir im Weg stehen. Was glaubst du, wie lange ich sowas mit mir vereinbaren kann?“

Wieder wollte er etwas sagen und wieder hielt sie ihn davon ab.

„Und noch etwas! Wage es nie wieder, mich so zu behandeln wie in den letzten Tagen! Es reicht mir! Ich mag ja Johns kleine Schwester sein und keine große Erfahrung in der Verbrecherjagd haben. Aber ich bin kein kleines Kind mehr! Ich bin eine erwachsene Frau. Ich weiß, was ich will und bin weder blöd noch blind! Meinst du, ich habe deine Blicke nicht gesehen? Oder nicht mitbekommen, wie du deine Berührungen aufs Nötigste beschränkst und doch ständig versuchst, in meiner Nähe zu sein – selbst wenn gerade keine Gefahr besteht? Meinst du, mir fällt nicht auf, dass du nicht unbedingt an eine Tasse Tee denkst, wenn ich in deiner Nähe bin? Du willst mich schützen, und dafür bin ich dir auch dankbar. Aber du bist nicht mein gottverdammter Babysitter! Also hör mit deinem heuchlerischen Gehabe auf und sei endlich mal ein Mann!“

Noch während sie sprach, wurde ihr bewusst, dass sie ihn gerade mit einer Wut strafte, die eigentlich nicht für ihn bestimmt war. Auch fiel ihr erst nach ihrem Vortrag auf, dass sie leicht vom Thema abgekommen war. Und dass sie sich das vielleicht besser hätte aufsparen sollen, bis sie alleine waren. Hitze versengte ihr Gesicht und sie sah regelrecht vor sich, wie es die Farbe von Klatschmohn annahm.

Doch ehe sie wirklich darüber nachdenken konnte, was sie damit womöglich angerichtet hatte, wie verzweifelt sie klang oder wann das große Gelächter ausbrechen möge, machte Nate einen Schritt auf sie zu und umfasste ihr Gesicht. Seine Lippen pressten sich fest auf ihre. Seine Zunge drängte auf Einlass und eroberte ihren Mund mit einer solch ungeheuren Vehemenz, dass es Juliette beinahe die Füße wegriss. Innerlich jauchzte sie. Auch, wenn sie es sich nicht so vorgestellt hatte, hatten ihre Worte wohl ihren Sinn erfüllt. Hätte sie das doch nur eher gewusst. Sie wollte ihre Arme heben und sie um Nates Hals legen. Sie wollte ihn näher an sich ran ziehen. Doch dann war es vorbei. So plötzlich, wie der Kuss begonnen hatte, war er unterbrochen worden. Nate trat von ihr zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Augen loderten, und sein Adamsapfel tanzte auf und ab, als er heftig schluckte.

„Zufrieden?“, spie er trotzig.

Juliette hätte es kaum für möglich gehalten. Doch eine noch heißere Feuersbrunst raste durch ihren Körper. Sie hatte so vieles gesehen und gehört, aber niemals zuvor hatte sie erlebt, dass nur ein einziges Wort so abfällig klingen konnte. Gedemütigt und auf äußerste verletzt holte sie aus und verpasste Nate eine schallende Ohrfeige.

Er wusste, dass es ein kolossaler Fehler war, noch bevor das Wort seine Lippen verlassen hatte. Alles in ihm stand in Flammen, und seine Erregung hatte ein nie dagewesenes Ausmaß angenommen, bevor er sich endlich zur Ordnung gerufen und den Kuss beendet hatte.

Ihre direkten Worte, der Glanz in ihren Augen und nicht zuletzt die Anwesenheit der anderen – Freunde hin oder her – hatten in ihm einen Kurzschluss verursacht und ihn das sagen lassen. Während seine Wange nun aus einem ganz anderen Grund brannte, konnte er Juliette nur hinterher blicken, als sie wie eine Furie aus dem Zimmer stürzte.

Leo und Trevor sagten nichts, starrten ihn nur mit offenen Mündern an. Genau wie Mic, der jetzt hinter in den Türrahmen trat. Er war gerade noch rechtzeitig aus dem Weg gesprungen, als Juliette sie erreichte. Ohne jeden Zweifel wäre sie direkt durch ihn hindurch gepflügt.

„Äh.“

Coop fuhr herum und durchbohrte Trevor mit einem vernichtenden Blick. „Ich schwöre dir. Wenn du jetzt nur ein Wort sagst, bist du die längste Zeit sunny gewesen! Das gleiche gilt für euch. Verschwindet am besten einfach!“

Trevor nickte schnell. „Nichts anderes hatte ich vorschlagen wollen.“

Seine Freunde verließen das Penthouse in einem solchen Affenzahn, dass man meinen konnte, an der Ecke hätte ein Stripclub eröffnet, in dem man fürs Zuschauen bezahlt wurde. Leo nahm sich nicht mal genügend Zeit, den Computer herunterzufahren.

Nate selbst setzte sich nicht ganz so schnell in Bewegung. Zuerst musste er über die nächsten Schritte nachdenken. Ja, hättest du das mal früher getan, predigte die Stimme in seinem Hinterkopf.

Juliette hatte doch mit allem Recht gehabt – naja, vielleicht nicht bei dem Teil mit der Jagd auf Donovan, aber der zweite entsprach exakt seinem Verhalten und seinem Verlangen nach ihr. Beides pulsierte auch jetzt noch in ihm, machte die Jeans eng und das Hirn schwammig. Er war nie ein Feigling gewesen und hatte sich seinen Herausforderungen gestellt. Er hatte im Irak gekämpft und für die P.I.D. so manchen mehr als heiklen Fall bearbeitet. Und doch war er jetzt nicht in der Lage, sich vom Fleck zu rühren. Er schaffte es nicht, einen Fuß vor den anderen zu setzen, zu ihr zu gehen und sich zu entschuldigen. Eine unsichtbare Mauer aus Scham und Chaos hielt ihn davon ab. Dabei wollte er es wirklich. Er wollte ihr sagen, was für ein Idiot er war und wie sehr er sie … ja, er gab es zu … liebte. Erstaunt über sich selbst schüttelte er den Kopf. Er kannte sie kaum mehr als eine Woche und sprach von Liebe? Liebe gab es bisher immer nur in kitschigen Romanen und Filmen, in denen der Held seine Angebetete auf Händen trug – und nicht erst küsste, um sie danach blöd anzumachen. Nein, so ein Held war er wahrlich nicht gewesen. Doch das würde er jetzt ändern. Und sollte sie ihm vorher weitere Backpfeifen verpassen, die Augen auskratzen und die Eier abreißen, dann war das eben so. Doch egal, was es ihn kosten würde, er wollte seinen Fehltritt um alles in der Welt wiedergutmachen.

Juliette stand auf der Terrasse und starrte in die Dunkelheit. Sie hatte die Arme eng um den Oberkörper geschlungen und haderte immer noch mit den Möglichkeiten, die sich ihr boten. Sie könnte von der Terrasse springen. Oder sich im Whirlpool ertränken. Oder sich an der Palme erhängen, die neben dem Whirlpool stand.

Wie um alles in der Welt hatte sie sich dazu hinreißen lassen können? Wie hatte sie so töricht sein und sich über den Kuss und die plötzliche Zurschaustellung seiner vermeintlichen Gefühle freuen können. Scham, Wut und Enttäuschung überwogen diese Freude inzwischen bei weitem.

Drinnen war es still geworden. Die Männer waren gegangen. Und das würde sie auch, sobald Derek zurück war. Sie wollte sich wenigstens verabschieden und ihm für alles danken. Nun, da Hayes tot war, war auch der Auftrag der P.I.D. beendet. Bisher hatte keiner von ihnen etwas gesagt, aber Tatsache war Tatsache. Kein Auftraggeber, kein Auftrag. So einfach war das.

Es schmerzte sie ein wenig – nein, höllisch –, aber so war es für alle am besten. Und sollte Donovan auftauchen und ihre Mission zu Ende führen wollen, auch gut. Manch einer mochte das jetzt für megatheatralisch halten, aber Juliette nicht. Sie hatte nicht gelogen, als sie sagte, sie habe genug von all dem.

Seit Jahren spielte sie hasch-mich mit irgendwelchen Verbrechern. Damit musste mal Schluss sein. Sie würde ihr Leben genießen, damit sie am Ende wenigstens sagen könnte, dass sie das bisschen Freiheit, das ihr blieb, ausgekostet hatte.

Oh Mann, bei der Melodramatik konnten Vom Winde verweht und Casablanca echt einpacken.

„Wenn ich verspreche, nicht wieder so ein Idiot zu sein, darf ich dann näherkommen?“ Juliette stieß einen Schrei aus und fuhr herum. „Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht erschrecken.“ Juliette kniff die Lippen zusammen.

„Ich dachte, es wäre keiner mehr hier.“

„Ist sonst auch keiner. Ich habe die anderen rausgeschmissen.“ Nate stellte sich neben sie, bewahrte aber dankbarerweise einen kleinen Abstand.

„Du hast sie rausgeschmissen? Was wird Derek dazu sagen?“

„Was sollte er dazu sagen?“, fragte er und sah sie erstaunt an.

Juliette schnaubte. „Na, er ist bestimmt wenig begeistert, dass du die Leute aus seinem Penthouse wirfst.“ Natürlich wusste sie nicht, was Derek sagen würde. Ob er wirklich sauer darüber wäre. Sie jedenfalls wäre es. Was aber vielleicht auch nur daran lag, dass sie sowieso gerade sauer auf Nate war.

Der lachte auf. „Wie kommst du darauf, dass das hier sein Penthouse ist?“

„Ist es nicht? Wer wohnt sonst hier?“

„Ich“, antwortete er, als sei es das normalste der Welt.

Juliettes Kinnlade fiel herunter und Nate lachte noch lauter. Das hier gehörte ihm? Der verarschte sie doch gerade, oder? Ein Penthouse in dieser Größe und dieser Lage musste doch ein Vermögen kosten.

Wieder einmal wurde Juliette bewusst, wie wenig sie doch über ihn wusste. Wie konnte ein ehemaliger Army-Sergeant und Privatschnüffler – etwas anderes war er ja im Grunde nicht – sich das überhaupt leisten? Wer in Dreiteufelsnamen war Nate Cooper?

Gerade bedauerte Juliette ihren Entschluss noch ein wenig mehr. Denn das würde sie nun nicht mehr rausfinden. Es sei denn, sie nahm das jetzt sofort in Angriff.

Ehe sie den Plan aber in die Tat umsetzen konnte, wurde Nate wieder ernst. „Das mit dem Idioten meinte ich ernst. Es tut mir leid. Ich hätte das nicht tun sollen.“ Sein Blick wanderte zur Bucht, wo kleine Boote und nicht ganz so kleine Yachten vor sich hin dümpelten und das Wasser mit bunten Lichtern verzierten.

Juliette versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass auch diese Worte sie verletzten. Selbst wenn die ganzen negativen Gefühle im Moment überwogen, hatte der Kuss selbst ihr mehr als gut gefallen. Und jetzt sagte er, es täte ihm leid?

Als würde er ihre Gedanken erraten, fügte er hastig hinzu: „Ich meine nicht den Kuss. Ich meine … mein Verhalten danach.“ Mit einem Ruck stieß er sich vom Geländer ab, nur um sich mit dem Rücken dagegen zu lehnen. „Ich bin nicht sonderlich gut in sowas. Sicher, ich war schon mit Frauen zusammen. Und sie haben mir natürlich auch etwas bedeutet. Aber das hier ist anders. Und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.“

Juliette schwieg einen Augenblick. Sie wusste nicht so recht, was sie von seinem Geständnis halten sollte.

Als Nate auch weiterhin nichts sagte, ergriff sie schließlich doch das Wort. „Und was stellst du dir jetzt vor, was ich da machen soll? Ich meine, ich habe nicht um diese Gefühle gebeten. Weder um meine noch um deine. Ich … ich weiß nicht, was du von mir willst!“

„Das ist mir schon klar.“ Nate drehte sich ein weiteres Mal um und starrte wieder in die Ferne. „Es ist einfach … Versteh doch. J.J. war wie ein Bruder für mich. Ich habe das Gefühl, ihn zu betrügen, weil ich so für dich empfinde, wie ich empfinde.“

Juliette schnappte nach Luft. „Das ist so ein Blödsinn!“

Sie wollte weg, einfach ein wenig Abstand gewinnen, doch Nate packte ihre Hand und hielt sie zurück. „Jules.“

„Nein, Nate. Er war mein Bruder, nicht mein Mann. Mal abgesehen davon ist er tot. Verstehst du, ich kann das nicht! Ich kann dir nicht sagen, was du machen sollst. Ich kann dich nicht bei der Hand nehmen oder dir eine Skizze mit den richtigen Schritten zeichnen. Ich weiß ja selbst nicht, wie ich … Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie schwer es für mich ist, in dieser Situation überhaupt an so etwas zu denken? Und trotzdem … Ich kann dir die Entscheidung nicht abnehmen. Die musst du selbst treffen. Ich akzeptiere deine Meinung, egal wie sie ausfällt. Aber spiel nicht mit mir. Oder sag mal so und mal so. Dazu habe ich weder Zeit und Lust noch Energie!“

Juliette sah ihn einfach nur an. Ihr ganzer Körper strahlte Ruhe aus. Doch in ihren großen grünen Augen konnte er deutlich den Aufruhr erkennen.

Mal wieder hatte sie Recht. Er musste die Entscheidung treffen. Er war der Mann und das war seine Aufgabe, dachte er in feinster Höhlenmenschmanier und trommelte sich im Geiste auf die in Fell gekleidete Brust.

Mit einem Ruck zog er Juliette an sich und umfasste ihr Gesicht. Immer noch von dem unendlichen Grün ihrer Augen gefangen, brachte er fast kein Wort heraus.

Reiß dich zusammen, mahnte er sich und holte Luft.

„Kein Hin und Her, keine falsche Reue und keine Spielchen mehr.“ Er grinste verschlagen. „Zumindest keine, in denen nicht ein knappes Kostüm, ein paar Handschellen und jede Menge Schokosirup vorkommen.“

Juliette schnappte nach Luft, und Coop nutzte die Chance, ihren Mund in Besitz zu nehmen. Mein, meldete sich der Höhlenmensch in ihm zum zweiten Mal zu Wort. Verlangend schob er die Zunge vor, duellierte sich mit ihrer und ließ dann für einen kurzen Augenblick von ihr ab. „Ich gebe dir mein Wort.“

„Ich glaube dir“, hauchte Juliette, schloss ihre Arme um seinen Nacken und zog ihn zu sich runter. Dass sie erneut von ihm geküsst werden wollte, löste so ein unglaubliches Gefühl in ihm aus. Und das hatte nichts mit körperlichem Verlangen zu tun. Alle Gründe, die gegen eine Beziehung zwischen ihnen sprachen, verpufften unvermittelt, als er ihren Kuss vertiefte. Wie gut sie schmeckte und wie gut sie sich anfühlte. Energisch presste er sie an seine Brust, umfing sie mit den Armen.

Er meinte es ernst. Kein Hin und Her mehr. Er würde alles daran setzen, dass sie nie wieder an seinen Gefühlen zweifeln musste. Nur so konnten sie auf eine Zukunft hoffen – und dafür würde er sorgen. Wer auch immer hinter ihr her war, er würde ihn kriegen …

ENDE TEIL 1

Wie es weitergeht, erfahren Sie in P.I.D. 2 – Gefährliche Hingabe

1. KAPITEL

Juliette lag auf den kühlen Laken und genoss die Nähe zu Nate. Er hatte sie irgendwann einfach hochgehoben und in sein Schlafzimmer gebracht. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass dieses riesige Penthouse ihm gehörte. Okay, er hatte es nur gemietet, wie er sie zwischen unzähligen Küssen aufgeklärt hatte, aber selbst die Miete musste enorm sein. Kaum zu glauben, dass sie in dem Bett dieses absolut heißen und charmanten Mannes lag und sich über seine Immobilien Gedanken machte.

Nate lag neben ihr, hielt sie im Arm und strich gedankenverloren über ihren Rücken. Dass er erregt war, daran bestand absolut kein Zweifel. Schon auf der Dachterrasse hatte seine Erektion ihr ein regelrechtes Loch in den Bauch gebrannt. Sie hatten sich geküsst und sich gestreichelt. Er hatte ihr schöne Dinge ins Ohr geflüstert und sie ihn geneckt. Doch weiter waren sie nicht gegangen. Nate wollte nichts überstürzen, und außerdem hatte er es für unpassend empfunden, weiterzugehen. Natürlich hatte er Recht. Heute war Hayes gestorben und erst vor wenigen Tagen ihr Bruder. Und doch konnte sie nur daran denken, dass Nate sie in jeder erdenklichen Stellung und in jedem Raum nahm, befriedigte, liebte.

Oh, er war so viel besser als sie.

„Ich werde morgen mit Derek und den anderen reden. Sie sollen sich darum kümmern, dass wir Donovan finden“, brach Nate schließlich sein Schweigen.

Juliette setzte sich auf und sah ihn verblüfft an. „Wenn du wir sagst?“

Nate atmete resigniert aus. „Ja, dann meine ich auch dich. Es gefällt mir nicht, dennoch kann ich deinen Wunsch durchaus verstehen.“ Juliette streckte die Hand aus und strich die Falten zwischen seinen Augen glatt.

„Ich werde auf mich aufpassen. Außerdem habe ich doch ein paar tolle, starke Männer bei mir, die auf mich achtgeben.“ Nate wirbelte zusammen mit Juliette herum und drückte sie auf die Matratze. Seine Augen funkelten gefährlich. „Also, stark mögen sie ja sein. Aber ich bin der einzige Mann in der Runde, der zusätzlich auch noch toll ist!“

Juliette zupfte an der Strähne, die Nate ins Gesicht fiel. Sie musste sich das Grinsen verkneifen. Was ihr gerade auf der Zunge lag, würde ihn sicher entweder in die Flucht schlagen oder seine guten Vorsätze ebenso schnell vor die Tür setzen, wie er zuvor seine Freunde.

„Da stimme ich dir zu“, sagte sie deshalb nur und hob sich den Rest für ein anderes Mal auf.

Sie zog Nate näher und küsste ihn zärtlich. Zu gerne hätte sie ihn getriezt und heiß gemacht, ihn vergessen lassen, dass er im Moment mehr Anstand an den Tag legte als sie. Schnell kroch sie unter ihm hervor, flüchtete aus dem Bett und lief Richtung Bad, ehe sie doch noch schwach wurde. Ihn endlich auf diese Weise bei sich zu haben und nicht ständig darüber nachgrübeln zu müssen, ob es richtig oder falsch war, fühlte sich gut an.

In der Tür blieb sie stehen und suchte nach dem Lichtschalter. Als sich der Raum erhellte, konnte sie das gekeuchte „Oh, mein Gott“ nicht unterdrücken.

Coop beobachtete genüsslich Juliettes reizvollen Gang und überlegte, ob sie ihn mit ihrem Hüftschwung provozieren wollte. Wenn ja, dann machte sie das verdammt gut. Alles in ihm wollte ihr nach, nur um sie umgehend zurück ins Bett zu holen. Eigentlich besaß er ja Nerven aus Stahl, doch hier und jetzt war davon nicht mehr viel übrig. Da sie alles geklärt hatten und sich nun nicht mehr von den Umständen abhalten lassen wollten, war die Erregung, die sie in ihm auslöste, nicht mehr so leicht unter Kontrolle zu halten. Liebend gerne würde er sie sich schnappen, in die Laken werfen und sich tief in ihr vergraben. Was sie nicht alles zusammen anstellen könnten, ohne sich auch nur einen Meter von hier fortzubewegen. Doch es wäre nicht richtig. Nicht heute.

Weder er noch das Team hatte sich mit Ruhm bekleckert. Im Gegenteil. Der Tag war ein Desaster gewesen. Wie die bescheuertsten Anfänger hatten sie sich angestellt. Vorschriften und Vorsichtsmaßnahmen waren ignoriert oder vergessen worden. Erst von Frog, der unbewaffnet mit Juliette hinausgegangen war und sich hatte in die Enge treiben lassen. Dann von ihnen selbst, die den beiden gefolgt waren, ohne darauf zu achten, dass Hayes unbewacht zurückblieb. Unprofessionelles Verhalten war generell nicht zu entschuldigen. Doch heute hatte es Menschenleben gekostet.

Seine Gedankengänge nahmen ein jähes Ende, als Juliette einen schrillen Schrei ausstieß. Sofort war er auf den Beinen und bei ihr. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie so erschreckt hatte. Nichts in diesem Raum barg eine Gefahr, und eine Bedrohung vor dem Fenster schloss er auch aus – sie waren hier im dreiundzwanzigsten Stockwerk. Dessen ungeachtet erwachte in Coop ein derart starker Beschützerinstinkt, dass ihm davon geradezu schwindelig wurde.

Er sah über Juliettes Schulter, konnte aber erwartungsgemäß nichts Ungewöhnliches entdecken. „Was ist passiert?“

Juliette fluchte leise. „Hier kriegst du mich nie wieder raus!“, japste sie dann und nahm die Besichtigung in Angriff. Während er nur entgeistert den Kopf schütteln konnte, wanderte sie, unzählige Ahʼs und Ohʼs von sich gebend, durch den Raum. Mit einem „Ach, du heilige Scheiße“ krönte sie dann ihre Bewunderungsbekundungen, als sie bei der Wanne ankam. Auch wenn Coop ihre Begeisterung nicht ganz verstand, wenn es um den Rest des Badezimmers ging, stimmte er ihr bei diesem Teil des Raumes zu. Auch ihm war der Atem weggeblieben, als er zum ersten Mal an der riesigen Glasfront gestanden hatte, die sich hinter der Wanne erstreckte. Man hatte einen unglaublichen Ausblick auf die Bucht und alles, was dahinter lag.

„Darf ich … ich meine, hättest du was dagegen, wenn ich …“

Große grüne Augen blickten ihm erwartungsvoll entgegen. Schmunzelnd lehnte er sich gegen den Türrahmen.

„Liebste Juliette, wie würde es dir gefallen, wenn du ein Bad nehmen dürftest?“ Wie ein Kleinkind sprang sie auf und ab und klatschte begeistert in die Hände. Würden seine Gefühle zu ihr ihn nicht bereits völlig ausfüllen, hätte es ihn spätestens bei diesem Anblick erwischt. Sie war so wunderschön.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis Juliette sich gemächlich zurücklehnte und das warme Wasser genoss, das in die Wanne strömte. Coop hatte seinen Platz nur kurz verlassen, um ein paar seiner Klamotten herauszulegen, die sie später anziehen konnte. Er musste seine Willensstärke ja nicht noch zusätzlich auf die Probe stellen. Aber auch die Vorstellung, dass sie seine Kleidung tragen und von seinem Geruch eingehüllt werden würde, ließ ihn innerlich wie einen Teenager jubeln. Morgen mussten sie dringend einkaufen gehen. Coop schmunzelte. Bisher hatte er Shoppen immer als eine der Strafen des neunten Kreises der Hölle angesehen, doch auf eine Shoppingtour mit Juliette freute er sich.

Selbstvergessen beobachtete er die schöne junge Frau, die sich im Wasser aalte und den Schaum von einer Seite zur anderen schob. Verschmitzt blitzte die Spitze ihrer Brust aus der Seifenwolke hervor, entzückte und lockte ihn. Es war unmöglich, nicht hinzusehen. Der zimtfarbene Gipfel hob sich viel zu auffällig von dem Weiß ab. Wieder machte sich seine Phantasie selbständig und ließ nicht nur sein Verlangen kontinuierlich wachsen.

„Ich glaube, die Tür bleibt auch ohne dich stehen. Komm lieber her und wasch mir den Rücken“, forderte Juliette ihn auf, wobei ihre rauchige Stimme ihm direkt in seine ohnehin schon gereizten Lenden fuhr.

„Ich weiß nicht, ob …“ Coops Stimme versagte und er räusperte sich.

„Bitte, ich komme doch nicht bis dahin – und ich wünsche mir nichts sehnlicher als einen sauberen Rücken. Tja, wenn du es nicht tust, wird er eben ungewaschen bleiben müssen.“ Sie ließ ihre Arme nach hinten auf den Wannenrand sinken, was ihre Brüste nun ein ganzes Stück aus dem Schaumberg hob, und stöhnte übertrieben betrübt.

Himmel, kaum gibt man ihr sein Herz, wird man direkt ausgebeutet, dachte Coop, unterdrückte ein Lachen und trat langsam näher. „Du armes, kleines Ding. Das können wir natürlich nicht zulassen. Rück mal etwas nach vorne.“

Juliette lachte verhalten, kam aber seiner Bitte nach und setzte sich auf. Zu schade, dass dabei ihre Brüste wieder im Schaum verschwanden.

Die ganze Zeit, während er sie betrachtete und nun berührte, ihr gemächlich über Nacken und Schultern strich, lobte und verfluchte er sich gleichzeitig für seine Standhaftigkeit. Er wollte sie – und das eher früher als später. Doch an einem Tag wie heute sollten sie sich einfach nicht ihrer Leidenschaft hingeben. Selbst wenn es half, sich lebendig zu fühlen, war es nicht richtig.

Sein Daumen strich über die Unebenheit, die ihren sonst makellosen Rücken verunzierte. Bereits im Motel, als er sie gewaschen und umgezogen hatte, war ihm diese Narbe aufgefallen.

„Was ist da passiert?“, fragte er und bereute es sofort. Juliette versteifte sich und entzog sich seiner Berührung.

„Das Wasser wird langsam kalt. Würdest du bitte …“

Das Wasser wurde keineswegs kalt. Doch er würde sie nicht in eine noch unangenehmere Lage bringen, indem er ihr das sagte oder sie zu einer Antwort drängte.

Er küsste sie sanft auf den Scheitel und verließ schweigend das Bad. Wenig später schlüpfte er, nur noch mit einem Slip bekleidet, unter die Bettdecke. Auf eine Jogginghose oder Shorts verzichtete er diesmal. Schon seltsam, wie schnell man sich an etwas gewöhnte, was einem sonst nur unbequem und unnötig erschienen war. Bis vor wenigen Nächten hatte er seit Jahren nicht auch nur einen Fetzen Stoff am Leib getragen, wenn er schlief. Es sei denn natürlich, er war im Einsatz.

Coop ließ sich gegen das Kopfende sinken und knautschte das Kissen im Nacken zusammen. Er kreuzte die Knöchel, trennte sie wieder, zog ein Bein an, streckte es wieder aus. Er zog das Kissen hervor, schüttelte es aus und stopfte es sich wieder in den Nacken.

Warum machte es ihn bloß plötzlich so nervös, dass Juliette sich höchstwahrscheinlich in wenigen Minuten zu ihm legen würde? Immerhin hatten sie sich das Bett bereits seit ihrer ersten Begegnung geteilt.

Juliette stieg aus der Wanne und trocknete sich ab. Immer wieder hielt sie dabei inne und roch an dem Frotteehandtuch. Es hatte etwas beruhigendes, die Nase darin zu versenken und Nates Duft zu inhalieren. Es erregte sie geradezu, zu wissen, dass sie ihn auf ihrer Haut haben würde. Auch wenn ihr noch andere Methoden der Übertragung einfielen, die wenig mit Stoff dafür viel mit nackter Haut zu tun hatten.

Juliette nahm die Kleidung, die Nate ihr hingelegt hatte. Sie schlüpfte in die Boxershort und zog das Band enger, bis sie ihr nicht mehr vom Hintern rutschte. Das Muskelshirt würde ihr bis zu den Knien reichen, und die Arme waren ein wenig weit ausgeschnitten. Aber das würde schon gehen. Das Shirt schließlich über den Kopf gezogen, verharrte sie und ihre Gedanken schweiften ab. So oft war sie froh darüber gewesen, dass ihr dieser Scheißkerl Kurt feige in den Rücken geschossen hatte. So blieb es ihr wenigstens erspart, durch die Narbe ständig daran erinnert zu werden. Nates Frage klang noch in ihren Ohren. Seine Berührungen konnte sie ebenfalls noch leicht wie eine Feder auf ihrer Haut spüren.

Juliette zog den Stöpsel aus dem Abfluss und blickte durch die Scheibe hinaus auf die Bucht. Nate wollte Anteil an ihrem Leben haben. Er wusste, was in den Unterlagen stand, und doch hatte er gefragt. War das so schlimm? Er hatte nicht nachgehakt, sondern ihr Schweigen akzeptiert. Doch das war nicht fair. Und wo lag das Problem, ihm davon zu erzählen? Wenn sie wirklich eine gemeinsame Zukunft haben wollten – wie kurz die auch sein möge –, gehörte so etwas doch auch dazu. Und genau deshalb würde sie ihm die Antworten geben, um die er bat!

Juliette straffte die Schultern, löschte das Licht und verließ das Bad.

„Ich war bereits aus dem Lagerhaus entkommen“, begann sie schnell, ehe sich die guten Vorsätze aus dem Staub machten. Sie legte sich quer zu Nate aufs Bett und ihren Kopf auf seinen Bauch.

Er begann mit ihren nassen Haaren zu spielen und wartete geduldig.

„Überall waren Polizisten und Scharfschützen und keine Ahnung, wer noch alles. Gerade als mich einer von ihnen von der Tür wegholen wollte, wurde ich getroffen. Die Ärzte meinten später, ich hätte ungeheures Glück gehabt. Wenige Zentimeter weiter rechts und ich wäre gelähmt.“ Sie griff nach Nates Hand und fuhr mit ihren Fingern an seinen entlang. „Damals starb Juliette Jennings.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis Nate etwas sagte. Vorher zog er sie an sich und schlang seine Arme um ihre Taille. „Und jetzt ist sie wieder auferstanden und wird den Typen die Hölle heiß machen, die dahinter stecken.“

„Das gefällt dir nicht, oder?“, fragte sie betrübt.

Nate küsste ihr Ohr und verstärkte seinen Griff ein wenig. „Das Thema hatten wir schon. Nein, es gefällt mir nicht. Aber ich werde dir nicht im Weg stehen.“ Ein weiterer Kuss und dann knabberte er auch noch an ihrem Ohrläppchen. „Unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“, schnappte Juliette, während sich ihr Hirn in einen Marshmallow verwandelte.

„Ab morgen Mittag gehörst du mir ganz allein. Für den Rest des Tages. Wir gehen shoppen und irgendwo essen. Nur du und ich.“

Coop wollte, es wäre schon Mittag und er wieder mit Juliette allein. Doch er würde sich noch eine Weile gedulden müssen. Seit zwei Stunden umrissen seine Freunde, was sie bisher gesammelt und erreicht hatten, und es sah nicht so aus, dass sie bald fertig wären. In der Küche spuckte die Kaffeemaschine bereits zum vierten Mal das schwarze Gold in die Glaskanne, und die warmen Sonnenstrahlen standen noch viel zu tief, um eine spätere Tageszeit vorzutäuschen. Wieder einmal waren nicht genug Stunden Schlaf zusammen gekommen, um erholt zu sein. Coop wusste natürlich, dass die Besprechung nicht ohne Grund stattfand. Aber verdammt, Derek hätte auch ruhig die eine oder andere Stunde später anrufen und alle zusammentrommeln können. Allerdings entschädigten die Informationen ihn wieder mal ein wenig für die frühe Störung.

Derek hatte Erfolg gehabt. Die Beweise hatten ausgereicht. Juliette stand nicht mehr auf der Fahndungsliste. Stattdessen befand sich nun Herold Schumaker, der im richtigen Leben Anton Valentine hieß, darauf. Die Verbindung zu Max Templer, der Bericht über seinen Aufenthalt in Pasadena und die aufgenommene Aussage von Juliette bezüglich seines Zutuns an dem Mord an J.J. hatten ausreichende Verdachtsmomente ergeben. Letzteres musste nun nur noch offiziell gemacht werden, weshalb Juliette am späten Vormittag einen Termin beim örtlichen Büro des US-Marshallservice hatte.

Coop war nicht wohl bei dem Gedanken. Während sie sich in der Nähe aufhalten und die Umgebung im Auge behalten würden, wollte Derek alleine mit ihr hinein gehen. Der Verdacht gegen einen Marshall hatte den Leiter der Behörde nicht unbedingt fröhlich gestimmt. Es würde trotz des Todesfalls in den eigenen Reihen alles andere als leicht werden, ihn restlos zu überzeugen. Derek wollte da nicht noch zusätzlich Unruhe aufkommen lassen, indem er unnötig viele Leute mit reinnahm.

Coop konnte nur hoffen, dass der Typ Juliette nicht gleich einkassierte, um sie unter neuem Namen in einer neuen Stadt zu parken, bis er sie vielleicht mal brauchen könnte.

Kid hatte in stundenlanger Kleinstarbeit diverse Informationen über Lucinda Donovan zusammengetragen. Er war mehr als fleißig gewesen. Auf den Dutzenden von Ausdrucken, die auf dem Tisch verteilt lagen, befanden sich Bankdaten, einzelne Berichte aus ihrer Zeit bei der Abteilung für Wirtschaftskriminalität und ähnliches. Zusätzlich hatte er eine frühere Verbindung zwischen Donovan und Carmichael protokolliert, Reise- und Flugdaten gehackt und katalogisiert und sogar einige Übereinstimmungen zwischen ihren Zielpunkten und den Aufenthaltsorten von Valentine und Templer entdeckt. Was ihre Jugendzeit betraf, gab es enorme Lücken, doch Coop bezweifelte, dass das auch sonderlich wichtig war. Sämtliche Verbindungen waren schließlich während ihrer Dienstzeit zu Stande gekommen. Das Sammelsurium an Informationen war zwar aufgrund der Beschaffungsmethode nicht zu verwenden, wenn es um die Beweisführung vor der Behörde ging, aber sie brachte es etwas weiter.

Coop seufzte unterdrückt. Leos Status bei FBI und Co. ließ sich eben nicht so leicht abändern. Die Leute dort, die Derek ab und zu einen Auftrag zuschusterten, mochten zwar einen Verdacht haben. Doch man musste sie ja nicht unbedingt darauf stoßen, dass der flüchtige Hacker gleich vor ihrer Nase agierte.

Juliette hörte konzentriert zu. Sie sprühte regelrecht vor Tatendrang. Nichts deutete mehr auf die verängstigte Frau hin, auf die er in Woodward getroffen war.

Seit sie das ehemalige Feuerwehrgebäude, das ihnen als Büro diente, Hand in Hand betreten hatten, durften sie sich so manchen Spott anhören. Aber Coop konnte durchaus den wohlwollenden Ton hinter den Frotzeleien hören. Sein Team freute sich für ihn – und das war etwas, was er neben Juliettes Nähe so dringend brauchte.

„Die beiden Schlägertypen von gestern lassen sich zwar nicht mit Donovan in Verbindung bringen, dafür aber eindeutig mit Templer.“ Trevor rieb sich übers Kinn. „Nur bringt uns das keinen Schritt weiter. Wir wissen weder, wo sie ist, noch, was sie als nächstes vorhat.“

Juliette richtete sich auf. „Sie weiß doch nicht, dass wir ihr auf der Spur sind, oder? Ich meine, Derek, du hast gesagt, der Mann vom Marshallservice würde der Sache mit der nötigen Verschwiegenheit nachgehen.“ Derek nickte und sah sie forschend an. Wie jeder andere im Raum auch.

„Ja, außer ihm und den beiden Feds in Atlanta weiß bisher niemand davon. Letztere haben sich bereit erklärt, die Ermittlungen vorerst diskret fortzuführen und mit Fellen und uns zusammen zu arbeiten. Wieso?“

„Naja, wenn sie sich so sicher fühlt und wie bisher keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen will …“ Juliette stand auf, durchquerte das Zimmer und blieb am Fenster stehen. Nachdenklich blickte sie auf die Straße hinaus. „Also, dann weiß ich vielleicht, wo sie auftaucht. Natürlich nur, wenn der Verdacht weiterhin so diskret und im engsten Kreis behandelt wird. Und das ließe sich bei dem Gespräch später doch sicher herausfinden.“

Frog, der auf dem Sessel neben dem Fenster saß, blickte zu ihr hinauf. Seine Augen – das eine davon ziemlich blau und angeschwollen – funkelten. Er erhob sich und stellte sich mit verschränkten Armen vor die junge Frau. „Du meinst doch nicht – nein, so blöd wäre sie nicht!“

„Warum blöd? Es wäre das normalste der Welt, wenn sie dort erscheinen würde.“

„Stimmt schon, ihr Fehlen würde unnötige Fragen aufwerfen.“ Frog imitierte Trevors Kinnkratzen und zuckte zusammen, als er seinen lädierten Kiefer zu fest berührte.

„Würde uns mal bitte einer aufklären! Wovon zum Teufel redet ihr?“ Aus einem unerfindlichen Grund machte es Coop eifersüchtig, dass die beiden sich gut genug verstanden, um die unausgesprochenen Gedanken des anderen zu kommentieren. Dem fast schon kindischen Wunsch, dass er das auch haben wollte, konnte er sich nicht erwehren.

„Ist das nicht offensichtlich? Sie wird zu Hayesʼ Beerdigung kommen. Schließlich war er ihr Partner und sie trauert um ihn“, erklärte Juliette und sah in die Runde.

Sofort brach eine lauthalse Diskussion aus. Selbst Dereks Pfiff konnte sie nur kurzfristig unterbrechen. Das Für und Wider wurde zerkaut und wieder ausgespuckt, Wahrscheinlichkeiten und der Grad des Irrsinns erwogen, unter dem Donovan scheinbar litt.

Leo war es schließlich, der alle zum Schweigen brachte. Ein simples und recht leises „Fuck“ genügte. Mehr sagte er nicht. Nur dieses eine kleine Wort. Sein Blick ging durch den Raum und verharrte einen Moment bei Juliette. Er fuhr sich durch die Fransen, die er Haare nannte, und kaute auf seiner Unterlippe rum. Was hatte er entdeckt, dass ihm das Weiterreden so schwer fiel?

„Spuck’s aus!“ Coop war wohl nicht der einzige, der die Geduld verlor. Derek trat hinter den Teamfilius und blickte über seine Schulter hinweg auf den Monitor. Dann verzog er den Mund und seufzte ein gequältes „Oh“, bevor er Leo auf die Schulter klopfte.

„Heute Nachmittag ist Johns Beerdigung“, sagte Kid leise und sah dabei aus wie ein Welpe, der auf den Teppich gemacht hatte.

Das erklärte natürlich, warum er so rumdruckste. Coops Inneres zog sich zusammen. Vor zwei Tagen hatte Johns Vater ihn über den Tod seines Freundes informiert und den Tag mitgeteilt, an dem die Beerdigung stattfinden sollte. Er bat ihn zu kommen, wenn es ihm irgendwie möglich sei, da er für John wie ein Bruder gewesen war.

„Wieso …“ Juliette schluckte. „Warum hast du … danach gesucht?“

Kid hob leicht die Schultern. Man sah ihm deutlich an, dass ihm ganz und gar nicht wohl in seiner Haut war. „Als ihr das mit der Beerdigung erwähnt habt, kam mir der Gedanke, dass sie vielleicht auch auf diese Idee gekommen war. Deshalb habe ich nachgesehen, wann dein Bruder … Tut mir leid.“

Juliette trat hinter Leos Stuhl und umarmte ihn.

„Schon gut. Der Gedanke war ja nicht schlecht. Mach dir keinen Kopf darüber. Es war klar, dass ich nicht dabei sein würde. Ich werde später hingehen, wenn alles vorbei ist.“ Sie gab sich wieder mal viel stärker, als sie war. Die nächsten Worte überraschten Coop aber dann doch. „Nate, flieg bitte hin. Mit dem Jet kannst du es doch noch rechtzeitig schaffen, oder? Meine Eltern brauchen dich. Vor allem, wenn Donovan wirklich dort sein sollte. Ich weiß, es passt jemand auf sie auf, aber trotzdem. Außerdem solltest wenigstens du dich von ihm verabschieden können.“ Ihre Stimme zitterte leicht, doch ihr Blick lag fest auf ihm. Ehe er etwas erwidern konnte, mischte sich Mic ein.

„Juliette hat Recht. Und zwar in beiden Punkten. Der Jet kann in zwanzig Minuten abflugbereit sein. Es wird knapp, aber noch kannst du es schaffen. Wir passen auf dein Mädchen auf.“

Coop wusste, dass er fliegen sollte. Und das nicht nur, um gegebenenfalls Donovan von irgendwelchen Dummheiten abzuhalten oder um sich zu verabschieden. Binnen Sekunden war ein Plan in ihm herangewachsen, den er unter allen Umständen umsetzen wollte. Er nickte entschlossen, mehr zu sich selbst als zu den anderen. Dann trat er an Juliette heran und berührte sanft ihre Wange. „Wir werden unser Date wohl verschieben müssen.“ Sanft küsste er sie. „Ich bin bald zurück. Mach keine Dummheiten, versprich mir das.“

„Du auch nicht.“ Juliette umschloss seine Taille – und er wollte bleiben. Einfach nur mit ihr hier stehen und warten, bis sich alles von allein klärte.

2. KAPITEL

Das viereckige Gebäude strahlte so wenig Charme aus, wie es nur der Sitz einer Behörde konnte. Ein Klotz in mausgrau. Die unzähligen Fenster schienen wie Augen auf die Ankömmlinge herabzublicken. Lange Antennen wippten angetrieben durch Windböen immer wieder weit genug vor, um über den Rand des Daches zu linsen. Juliette erinnerte es an ein riesiges Betoninsekt, das nur darauf wartete, sie in die Fänge zu kriegen. Die struppigen Sträucher und kleinen Blumenkästen, die den Eingang flankierten, konnten an diesem Eindruck nichts ändern. Man sollte meinen, dass der Sonnenstaat solche hässlichen Bauten längst entsorgt hatte.

Derek stand schweigend neben ihr und wartete darauf, dass sie bereit war, hineinzugehen. Ihm war nicht die geringste Unruhe anzumerken, wovon Juliette sich aber selbst nach der kurzen Zeit, die sie ihn erst kannte, nicht täuschen ließ. Sie wünschte sich, etwas von dieser zur Schau getragenen Lässigkeit abzapfen zu können, als sie nervös ihre verschwitzten Hände an der Hose abwischte.

Vor dem Termin war noch etwas Zeit gewesen, um sich ein geeignetes Outfit zuzulegen. Ein T-Shirt von Nate und eine Hose, die bei ihrem Trip durch die Walachei ziemlich gelitten hatte, waren ja nicht gerade angebracht für das Treffen. Juliette hatte eine Jeans und ein Trägershirt gewählt. Jetzt allerdings wünschte sie, sie hätte sich für eine Hose aus dünnerem Stoff entschieden. Aber wenigstens war das Shirt luftig genug. Mit Schweißperlen auf der Stirn und feuchten Flecken unter den Armen würde sie sicher niemanden davon überzeugen können, nichts verbrochen zu haben.

Juliette ließ ihren Blick über den Vorplatz und die Straße schweifen. Irgendwo hier hatte sich das restliche Team in Stellung gebracht. Genau hinzusehen wagte sie nicht, obwohl sie sicher selbst dann keinen von ihnen entdecken würde. Dazu hatten die Männer viel zu viel Erfahrung in ihrem Job. Das Wissen um ihre Anwesenheit half und tat es gleichzeitig auch nicht.

Die wichtigste Person fehlte. Nate saß im Flieger Richtung Milwaukee, um …

Nein, wenn sie jetzt noch an den Grund dafür dachte, würde sie sich vor den nächsten Bus schmeißen. Bereits als Nate durch die Tür gegangen war, hatte sie ihn daran hindern und bei sich behalten wollen. Natürlich hatte sie es nicht getan. Nate sollte sich verabschieden können. Ihm das zu nehmen, nur weil sie sich in seiner Gegenwart sicherer fühlte – oder auch, weil sie selbst nicht hinkonnte –, wäre einfach nur egoistisch gewesen.

Mist, jetzt hatten ihre Gedanken doch diese Richtung eingeschlagen, in die sie nicht gehen sollten. Dabei gab es im Moment wesentlich wichtigere Dinge, auf die sie sich konzentrieren sollte.

„Und du bist sicher, dass sie mich nicht gleich einbuchten, sobald ich durch die Tür gehe?“, fragte sie zögerlich. Auch wenn Derek immer wieder versichert hatte, dass alles geregelt sei, traute sie dem Marshallservice nicht mehr so weit, wie sie gegen einen Twister spucken konnte.

„Wir gehen zusammen rein und wir gehen zusammen raus. So oder so“, antwortete Derek lapidar, was nun wirklich alles bedeuten konnte. Juliette beschloss, aufs Beste zu hoffen, und trat auf den Eingang zu.

Eine halbe Stunde später wartete sie vor dem Büro darauf, endlich hineingerufen zu werden. Ihr Begleiter war vorausgegangen, um den Oberguru des Ladens vorab über die neuen Erkenntnisse zu informieren, die sein Team über Donovan erlangt hatte.

Mit jeder weiteren Minute, die verstrich, stieg ihre Nervosität weiter an. Der linke Daumennagel hatte bereits einiges an Länge einbüßen müssen, was sie wieder an den Nachmittag mit Jings denken ließ. Wie er sie wegen dieser Angewohnheit getadelt hatte, während sie auf dem Weg zu seinem Boss waren. Ehe sie noch völlig die Nerven verlieren würde, versuchte sich Juliette damit abzulenken, den Unterschied zwischen dem äußerlichen Schein und der Inneneinrichtung zu analysieren. Es war nicht unbedingt das Four Seasons, aber helle freundliche Farben, einige Grünpflanzen und Bilder sorgten dafür, dass man nicht schreiend wegrennen wollte. Zumindest nicht, wenn man nicht gerade von einem durchgeknallten Gesetzeshüter verfolgt wurde oder auf einen treffen könnte, der das Memo über ihre Entlastung noch nicht gelesen hatte.

Juliette war so in Gedanken, dass sie erschrocken aufsprang, als die Tür endlich geöffnet wurde. Ein älterer Herr mit grauen Haaren und einer kleinen randlosen Brille streckte seinen Kopf raus.

„Miss … Jennings, kommen sie bitte rein.“

Es war John Fellen. Der Oberguru holte sie persönlich rein? Sofort tummelten sich die aberwitzigsten Gedanken in ihrem Kopf. Wo war Derek? Hatte man ihn durch eine andere Tür fortgeschafft? Saß er in Ketten gelegt auf einem Stuhl in der Ecke und konnte sie nicht warnen, weil man ihn zusätzlich geknebelt hatte?

Juliette rief sich energisch zur Raison. Wenn sie so weiter machte, war sie noch vor Ende der Woche ein Fall für die Klapse.

Derek saß natürlich nicht gefesselt und geknebelt auf einem Stuhl in der Ecke. Er stand neben der Kaffeemaschine und goss sich seelenruhig etwas von der schwarzen Brühe ein. Er fragte Juliette, ob sie auch einen Kaffee wolle und schob sich einen Keks zwischen die Zähne. Mehr aus Reflex nickte sie und nahm vor dem Schreibtisch Platz. Mit einem weiteren Nicken beantwortete sie die Frage nach Milch und Zucker und beobachtete jede von Dereks Bewegungen. Anders als draußen war seine Lässigkeit diesmal nicht nur gespielt. Seine Augen huschten nicht mehr ständig hin und her, um alles im Blick zu behalten. Seine Muskeln wirkten unter dem blauen Poloshirt entspannt. Bei diesem Anblick wuchs in Juliette die Hoffnung, dass das Gespräch gut gelaufen war.

„Mr Collier hat mich über die Schwierigkeiten informiert, in denen Sie stecken. Ich bin schockiert.“ Fellen setzte sich auf die Tischkante und faltete die Hände im Schoß. „Ich versichere Ihnen, wir werden alles in unserer Macht stehende tun, um Sie in Sicherheit zu bringen.“

Was? Nein!

Juliette sprang so schnell auf, dass der Stuhl nach hinten kippte und krachend auf dem Boden aufkam. Ebenso schnell wich sie bis zur Tür. „Ich gehe in kein Programm mehr, und ich lasse mich auch nicht wieder auf irgendwelche fadenscheinigen Versprechen ein. Vergessen sie es! Das mache ich nicht!“

Nur Derek war es zu verdanken, dass sie nicht das Weite suchte. Er hatte ihr sein Wort gegeben, dass er sie unter allen Umständen mitnehmen würde, wenn er das Gebäude verließ. Ein Teil von ihr haderte gleichzeitig aber mit sich, doch nicht auf Derek zu warten und einfach abzuhauen.

Fellen trat auf sie zu, hielt aber sofort inne, als sie sich gegen die Tür presste. Scheiße, warum war sie nicht verschwunden, als sie noch die Möglichkeit dazu hatte? Nun stand sie genau an der falschen Seite der Tür. Das Scharnier drückte sich ihr ins Kreuz, und der Türknauf schien kilometerweit entfernt zu sein.

„Juliette, beruhige dich. John hat nicht vor, dich erneut ins Programm zu stecken. Und selbst wenn er das wollte, habe ich dir mein Wort gegeben, erinnerst du dich?“ Derek kam zu ihr und legte seinen Arm um sie. „Jetzt lass uns beim Kaffee überlegen, was wir als nächstes tun, okay?“

Juliette zögerte einen Augenblick, entspannte sich dann aber ein wenig. Den Blick fest auf Fellen gerichtet, ließ sie sich zum Stuhl führen. Wie man es auch drehte und wendete, letztendlich blieb ihr doch nichts anderes übrig, als auf Dereks Wort zu vertrauen und auf Fellens Hilfe zu hoffen.

John Fellen hielt Abstand, ging zu seinem Stuhl und setzte sich ebenfalls. Dann griff er in eine Schublade und holte ein Flasche Scotch heraus. Schweigend goss er zwei Finger breit in ein Glas und schob es ihr rüber. „Den können Sie vielleicht besser gebrauchen.“ Das großväterliche Lächeln ließ seine Miene sanfter wirken. „Als erstes möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen. Derek hat mir erzählt, was in Oklahoma passiert ist. Er hat mir außerdem von ihren Erwägungen bezüglich Hayesʼ Beerdigung berichtet. Es wird natürlich nicht einfach sein, die ganze Sache unter Verschluss zu halten. Hayes hat … hatte gute Freunde beim Marshallservice. Wenn bekannt wird, dass seine eigene Partnerin für seinen Tod verantwortlich sein soll, wird man versuchen, sie aufzuspüren.“

„Oder sie zu decken“, entfuhr es Juliette. Unerbittlich sah sie zu ihrem Gegenüber, lenkte aber nur wenig später schuldbewusst ein, als sie seine ehrliche Betroffenheit bemerkte. „Es tut mir leid. Aber wer sagt uns denn, dass nicht noch andere mit ihr unter einer Decke stecken?“

Noch mehr Betrübnis machte sich auf dem wettergegerbten Gesicht des Mannes breit. „Ja, das stimmt bedauerlicherweise. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, ich gehöre nicht dazu. Sie können mir vertrauen. Und wenn nicht mir, dann Derek und seinen Leuten. Ewan Hayes hat sie darum gebeten, Sie zu beschützen, und ich werde mich dem nicht in den Weg stellen. Nach allem, was ich gehört habe, machen die ihren Job sehr gut.“

„Naja, ich lebe zumindest noch.“ Was man von vielen anderen nicht mehr sagen kann, fügte sie in Gedanken hinzu.

Derek, der wieder seinen Platz neben der Kaffeeecke eingenommen hatte, streckte ihr die Zunge raus. Juliette konnte nur ungläubig den Kopf schütteln. Bisher hatte sie den Mann immer als ziemlich ernst erlebt und jetzt gab er hier den Gastgeber und machte Faxen.

„Woher kennen sie Derek?“ Juliette wusste selbst nicht genau, was sie mit der Frage herauszufinden hoffte. Vielleicht wollte sie einfach nur den Rest Misstrauen loswerden. Fellen beschwor zwar seine Integrität, und Derek widersprach dem auch nicht, aber Juliette hatte genug davon, blindlings von einem Haufen Scheiße in den nächsten zu treten. Immerhin war Marshall Donovan ja auch so vertrauenswürdig. Wenn sie nicht gerade versuchte, eine Schutzbefohlene kalt zu machen.

„Ich war sein Lehrer.“

„Sie meinen sein Ausbilder?“

„Nein, Lehrer ist schon richtig. Er war mein Schüler auf der Junior High.“ Juliette konnte ihre Überraschung nicht verbergen. Was brachte einen Highschool-Lehrer auf den Stuhl des Abteilungsleiters des US-Marshallservices?

„Es ist eine lange Geschichte. Aber wie sagt man so schön? Die Welt ist ein Dorf.“ Damit schien dieses Thema für ihn beendet zu sein. Na gut, was soll’s, dachte sie sich. Sie waren schließlich nicht hier, um am Lagerfeuer alte Geschichten zu erzählen. Fellen schien der gleiche Gedanke durch den Kopf gegangen zu sein. Mit einem Räuspern schenkte er ihr Scotch nach und kam zum Thema zurück.

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