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Nachrichten aus dem Jenseits - zwei Heather Graham Thriller

hier erhältlich:

MÖRDERSPIEL

Lochlyre Castle, das düstere schottische Schloss des Krimiautors Jon Stuart, ist Schauplatz der "Mystery Week": Ein gestellter Mord gibt Rätsel auf. Doch kaum betreten die Mitspieler das Castle, spüren sie, dass etwas anders ist als sonst. Denn während der letzten "Mystery Week" kam Jons Frau ums Leben, und der dunkle Verdacht, Jon seit nicht ganz unschuldig, überschattet plötzlich den Event. Nur eine Frau ist fest von Jons Unschuld überzeugt: die attraktive Sabrina Holloway, die mit ihm vor seiner Ehe eine stürmische Affäre hatte. Aber auch sie kann sich der bedrohlichen Atmosphäre nicht erwehren. Wird es wieder ein Opfer geben? Die "Mystery Week" beginnt - unheimlicher und mörderischer als je zuvor.

BOTE DES TODES

Die engagierte TV-Produzentin Moira will die tödlichen Machenschaften der IRA aufdecken, um das Leben des irischen Politikers Jacob Brolin zu retten. Unterstützt wird sie dabei von ihrem Kollegen Michael. Er spielt ihr Informationen zu, die den irischen Journalisten Dan O'Hara, ihren früheren Geliebten, als Drahtzieher des Mordkomplotts aufzeigen. Doch dann macht Moira eine schreckliche Entdeckung...


  • Erscheinungstag: 15.10.2015
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 556
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765019
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Heather Graham

Nachrichten aus dem Jenseits - zwei Heather Graham Thriller

HEATHER GRAHAM

Mörderspiel

Roman

Aus dem Amerikanischen von Margret Krätzig

Image

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Never Sleep With Strangers

Copyright © 1998 by Heather Graham Pozzessere erschienen bei Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

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HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprises S.A., Schweiz/

Don Schenk

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-95576-172-1

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

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PROLOG

Cassandra Stuart war schön, und sie wusste es. Sie konnte andere manipulieren, und auch das wusste sie. Wenn sie ihn doch nur dazu bringen könnte, sich umzudrehen und sie anzusehen…

„Jon! Jon!“

Sie wusste, dass er sie gehört hatte, doch er blieb nicht stehen. Diesmal war er wirklich wütend auf sie. Während sie ihn beobachtete, ging er weiter den Kiesweg zum See hinunter. Vielleicht hatte sie den Bogen diesmal überspannt, aber sie wollte einfach nicht hier im Hinterland leben, in diesem gottverlassenen, entlegenen Flecken von Schottland. Trotz der berühmten Gäste und der nicht minder berühmten Wohltätigkeitsveranstaltung. Schließlich waren es seine Gäste und seine Veranstaltung. Sie hasste das Landleben, sie wollte nach London.

Allerdings kannte sie ihren Mann und wusste, was jetzt in ihm vorging. Er hatte geahnt, dass es übel endete, dass sie grob und unleidlich werden und allen den Tag verderben würde. Zur Hölle mit ihm! Trotz allem wollte er nicht nachgeben! Seit Jahren war er Gastgeber dieser Veranstaltung. Er machte seine Pläne und lebte sein Leben. Die Krimi-Woche war bereits in vollem Gang. Außerdem hatte er gesagt, gleichgültig, wie entzückend seine Frau vielleicht sein mochte – und dabei hatte er schrecklich sarkastisch geklungen –, er wolle verdammt sein, wenn er sich von einer Frau, egal von welcher, auf der Nase herumtanzen ließe.

„Jon!“

Er vermied es zurückzublicken, damit er sie nicht anschauen musste.

Denn er durchschaute, was sie vorhatte. Er traf seine Vorkehrungen und machte ihr Spiel nicht mit. Er ließ sich nicht mehr von ihr manipulieren.

Deshalb würde sie abreisen. Heute noch. Die endgültige Trennung sollte der letzte Trumpf sein, den sie aus dem Ärmel zog. Ihre Abreise brachte ihn hoffentlich zur Vernunft, was ihr Schmollen und ihre Auflehnung bisher nicht geschafft hatten.

Doch zuerst sollte er zu ihr zurückkommen. Sie wollte ihn lieben, leidenschaftlich und verzehrend, und ihm klarmachen, dass er ohne sie nicht existieren konnte. Sie würde ihm sagen, dass sie ihn brauchte, und sie würde ihn daran erinnern, warum er sie geheiratet hatte. Sie konnte ihn glücklich machen, sie konnte ihn zum Lachen bringen, und sie war verdammt gut im Bett. Auch wenn sie sich gerade einen Liebhaber zugelegt hatte, weil sie es einfach nicht mehr ertrug, wie abwesend Jon manchmal wirkte, wenn er mit seinen Gedanken bei einer anderen war. Komm zurück! dachte sie wütend. Lass dich ein letztes Mal von mir verführen, damit du mich nicht vergisst, damit du vielleicht…

Sie würde warten, bis er fort war. Dann würde sie packen und ihm einen Brief hinterlassen mit der Anrede: „Mein geliebter Schatz“. Sie würde ihm erklären, dass sie im London Hilton auf ihn wartete, falls er sich seinen langweiligen Freunden entziehen konnte. Und vielleicht, aber nur vielleicht, kam er dann zu ihr. Er konnte ein solcher Narr sein! Sie wusste etliches mehr über seine Gäste und den gesamten Haushalt als er. Sie wusste, wer mit wem schlief. Und warum. Genau genommen, dachte sie lächelnd, kenne ich einige der Anwesenden sehr gut. Sogar intim, könnte man sagen.

Und trotzdem war da diese entsetzliche Eifersucht in ihrem Herzen.

„Jon, komm zurück!“ rief sie wieder und empfand, abgesehen von Gefühlen der Machtlosigkeit und des Verlustes, die ihr in letzter Zeit so vertraut geworden waren, eine neue, sonderbare Angst. „Jon. Bitte komm zurück! Oder du wirst es bereuen!“

Ihr Tonfall war gleichermaßen provozierend wie ärgerlich. Trotzdem ging Jon weiter. Er war groß, mit schwarzem Haar und breiter, muskulöser Brust. Ein attraktiver Mann, den sie soeben verlor.

Panik beschlich sie. Er ahnte, dass sie eine außereheliche Beziehung hatte. Wusste er, dass sie es ihm nur heimzuzahlen versuchte, weil sie sicher war, dass auch er eine Affäre hatte?

„Jon! Jon, verdammt!“

Ihr Ton wurde bockiger. Sie stand in der oberen Etage auf dem Balkon des großen Schlafzimmers und blickte über den hinteren Hof. Ihre Privaträume waren hübsch eingerichtet. Sie waren Ende des siebzehnten Jahrhunderts umgebaut und vor einigen Jahren von Jon selbst noch einmal modernisiert worden. Der halbrunde, geräumige Balkon gestattete Ausblicke zu drei Seiten des Anwesens. Von der Rückfront hier blickte man direkt hinab auf einen eleganten Brunnen mit einem wertvollen Marmorposeidon in der Mitte, komplett mit Dreizack. Obwohl der Winter rasch nahte, blühten noch Rosen längs des Plattenweges, der den Brunnen umgab und hinter dem Rosenbogen in einen Kiesweg überging, der bis zum See hinabführte.

Die Wände des großen Schlafzimmers waren mit antiken Teppichen behängt. Es gab einen großen Kamin, aber auch eine moderne Warmwasserheizung. Auf einem Podest stand ein riesiges Himmelbett. Eine Ebene tiefer als das Schlafzimmer, gleich hinter einem mittelalterlichen Torbogen befanden sich ein großes Bad mit Whirlpool und eine Sauna. Außerdem verfügte Cassandra genau wie Jon über ein großes Ankleidezimmer mit Einbauschränken.

„Was gibt es an alledem auszusetzen?“ hatte Jon sie gereizt und gekränkt gefragt.

Die Inneneinrichtung war in der Tat vom Feinsten. Trotzdem war ihr das Landleben zuwider. Dieser Winkel Schottlands war eben nicht London, Paris, New York oder auch nur Edinburgh.

Und genau deshalb gefiel es ihm hier so gut, hatte er erwidert.

Und Jon entfernte sich immer mehr.

Sie spürte Tränen in den Augen brennen und war verblüfft über die plötzliche Gefühlsaufwallung. Wieso machte er sich mehr aus einem Haufen Steinen und seinen idiotischen Freunden als aus ihr? „Jon! Jon! Verdammt, Jon!“

Er hatte von Scheidung gesprochen, weil sie für ihr Zusammenleben keinen gemeinsamen Nenner mehr fanden. Aber er konnte sich nicht einfach so scheiden lassen. Das durfte er nicht! Sie hatte ihm bereits gesagt, dass sie ihm das unmöglich machen würde. Sie würde ihn durch den Schmutz ziehen und unzählige finstere Geheimnisse über ihn und seine Freunde preisgeben.

„Jo…“

Sie wollte ihn wieder rufen, merkte jedoch, dass jemand hinter ihr stand.

Sie fuhr herum, um zu sehen, wer ins Zimmer geschlüpft war. „Du? Verdammt! Raus mit dir! Hat er dich geschickt? Mach, dass du aus meinem Zimmer kommst! Aus unserem Zimmer! Ich bin seine Frau. Ich bin die, die mit ihm schläft! Raus hier!“

Sie wandte sich rasch wieder ab, um vom Balkon hinunterzusehen. „Jon!“

Sie hörte eine hastige Bewegung. Etwas raschelte wie von einer leichten Brise bewegt, und sie fuhr erneut herum.

Und erkannte, dass sie ihrem Killer in die Augen starrte.

„O Gott!“ keuchte sie und begann verzweifelt zu rufen.

„Jon! Jon! Jon!“

Sie spürte den Druck des Geländers im Rücken und schrie auf.

Dann fiel sie.

Und sah ihren eigenen Tod.

Jon Stuart war zornig. Richtig zornig. Er hatte vorgehabt, endgültig zu gehen. Doch etwas in Cassandras Stimme ließ ihn plötzlich aufmerken, und er drehte sich rasch um.

Und da war sie.

Und fiel…

Es sah aus, als würde sie fliegen. Sogar jetzt wirkte sie, wie stets, elegant. Sie trug einen weißen Seidenmorgenmantel, der sich um ihren Körper aufblähte. Ihr ebenholzfarbenes Haar bekam durch den goldenen Sonnenschein blauschwarze Glanzlichter. Sie fiel in geradezu dramatischer Grazie und Schönheit.

Und nur Sekundenbruchteile nach der sinnlosen Erkenntnis, dass er absolut nichts für sie tun konnte, wurde ihm bewusst, dass sie starb. Schreiend, seinen Namen kreischend stürzte sie zur Erde.

Und beendete ihr Leben in Poseidons Armen, hingegossen wie eine launische Göttin. Die Augen geschlossen, das schwarze Haar und der schneeweiße Morgenmantel in der Brise flatternd, sah es fast aus, als würde sie schlafen, außer…

Der Dreizack hatte sie durchbohrt.

Und der schneeweiße Morgenmantel färbte sich langsam rot.

Mit hämmerndem Herzen begann Jon zu laufen, rief sie und rannte verzweifelt schneller, als könnte er sie rechtzeitig erreichen und ihr helfen, obwohl er wusste…

Wieder schrie er ihren Namen.

Erreichte sie und hielt sie in den Armen.

Und ihr Blut ergoss sich über ihn.

Während ihre toten Augen ihn in stummem Vorwurf anstarrten.

1. KAPITEL

Drei Jahre später

Die Szene wirkte sehr gruselig. Eine junge Frau in mittelalterlichem Gewand war auf eine Folterbank gespannt. Ihr langes blondes Haar fiel über den Mechanismus der Folterapparatur. Ein dunkelhaariger Mann mit Bart beugte sich halb über sie.

Die Tochter des Earl of Exeter, stand auf dem Schild darüber, auch bekannt als Streckfolter. Das Gerät war nach dem Mann benannt, der am geschicktesten Geständnisse aus seinen Opfern herausgeholt hatte.

Der Künstler, der für die Gestaltung dieser Wachsfiguren verantwortlich zeichnete, war ebenfalls geschickt gewesen. Die Blondine auf dem hölzernen Marterinstrument war bezaubernd mit einem zarten, klassisch schönen Gesicht und großen blauen Augen, in denen die Angst vor der Qual zu lesen stand. Jeder mit normalen Instinkten verspürte den Wunsch, sie zu retten. Hingegen spiegelten die Gesichtszüge des Folterknechtes neben ihr das reine Böse wider. Seine Augen funkelten in sadistischer Vorfreude auf die Schmerzen, die er ihr zufügen würde.

Viele der dargestellten Szenen im Kellergewölbe waren hervorragend gestaltet und erzählten die alte Geschichte der Unmenschlichkeit des Menschen gegenüber dem Menschen. Doch diese eine übertraf alles.

Zumindest nach Jon Stuarts Auffassung. Er lehnte schweigend in einer Nische an der Wand, und seine Anwesenheit fiel durch das Dämmerlicht ringsum kaum auf. Nachdenklich betrachtete er die Szene und beobachtete die blonde junge Frau, die nun davor stand.

Sie entsprach in Aussehen, Haarfarbe und Figur der Blonden auf der Folterbank, eine junge Frau mit einer üppigen blonden Haarpracht, die ihr lose über Schultern und Rücken hinabfiel. Sie war schlank und hatte eine wunderbare Figur, was Jeans und enger Pullover betonten. Ihre Gesichtszüge waren sehr feminin, mit einer schmalen, geraden Nase, hohen Wangenknochen, schönen blauen Augen und vollen, sinnlichen Lippen. Auch sie betrachtete die Szene mit einem gewissen Interesse – und mit Argwohn. Es schien, als wolle sie auflachen, wie um sich zu beschwichtigen, dass es ja nur Wachsfiguren seien, die sie da betrachtete. Denn die Szene wirkte beängstigend, und sie stand allein hier im Halbdunkel. Glaubte sie zumindest.

Sabrina Holloway.

Er hatte sie seit über dreieinhalb Jahren nicht mehr gesehen. Obwohl er etwas überrascht war, sie gerade hier anzutreffen, freute ihn ihre Anwesenheit. Seine letzte Einladung zu jener schicksalhaften Krimi-Woche hatte sie seinerzeit höflich abgelehnt. Damals war Cassandra gestorben.

Ob Sabrina es nun erkannte oder nicht, jedenfalls hatte sie Joshua als Modell für die Blonde auf der Folterbank gedient.

Joshua Valine arbeitete seine Figuren stets nach dem Vorbild lebender Menschen aus seinem Bekanntenkreis. Irgendwann hatte er Jon gegenüber mal erwähnt, dass er Sabrina Holloway in Chicago kennen gelernt habe. Dabei hatte er so verliebt geklungen, dass Jon es seinerzeit nicht über sich brachte, ihm zu gestehen, er kenne sie ebenfalls. Dabei verstand er Joshuas Schwärmerei für Sabrina nur zu gut. Er selbst war auch mehr als angetan gewesen, als er sie damals kennen lernte. Ehe…

Nun ja, es gab viel zu bewundern – oder zu begehren – an Miss Holloway. Er war nicht als Einziger ihrem Charme erlegen. Sie hatte auch die Aufmerksamkeit von Brett McGraff auf sich gelenkt. Die Folge waren eine stürmische Romanze, eine kurze Ehe und eine skandalträchtige Scheidung gewesen.

Jon beobachtete sie und war froh über die Distanz zwischen ihnen. Sabrina Holloway war von einer seltenen Grazie und Schönheit. Trotz seines Einsiedlerdaseins in den letzten Jahren hatte er ihre Karriere in Zeitungen und Journalen verfolgt. Zumal sich die Reporter der Klatschpresse auf Brett McGraffs letzte skandalumwitterte Scheidung von einem so schönen jungen Wesen geradezu gestürzt hatten.

Als er Sabrina Holloway kennen lernte, hatte sie ihn schlichtweg bezaubert mit ihrer Unschuld und ihrer Begeisterungsfähigkeit. Sie war faszinierend gewesen. Heute sah sie die Welt zweifellos nicht mehr durch die rosarote Brille. Sie war eindeutig gereift. Sie war…

Spektakulär. Eleganter denn je. Dabei wirkte sie nachdenklich, wenn nicht gar weise.

Woher willst du das denn wissen? fragte Jon sich ironisch.

Sie kann genauso gut zu einem hartherzigen, selbstsüchtigen Luder geworden sein, belehrte er sich in einem Anflug von trockenem Humor. So ging es manchmal im Leben. Immerhin hatte sie ihn damals mit eiserner Entschlossenheit verlassen. Und in all dem Medienrummel um ihre Scheidung und trotz manch schockierender Situation hatte sie sich wacker gehalten.

Dennoch umgab sie eine sonderbar fesselnde Aura von Kultiviertheit und Unschuld. Obwohl gerade er, bei Gott, auf die harte Tour gelernt hatte, dass ausgerechnet die zart und zerbrechlich wirkenden Frauen die schlimmsten Schwarzen Witwen sein konnten.

Sabrina stammte von einer Farm im Mittleren Westen, wie Jon sich erinnerte. Dabei musste er lächeln. Sie besaß viel Wärme, zugleich war sie zurückhaltend. Dennoch hatte es Momente gegeben, in denen sie alle Zurückhaltung aufgab. Immer dann hatte er geglaubt, sie schon ein Leben lang zu kennen. Sie war fesselnd und doch bodenständig, unverkrampft und von natürlicher Schönheit. Als sie sich begegneten, war sie vierundzwanzig gewesen und frisch vom Land gekommen. Letzten Monat war sie achtundzwanzig geworden. Ausreichend Zeit, zu lernen, härter zu werden, sich zu verändern. Wenn nur…

Nun ja, es war eine andere Zeit gewesen damals, ein anderer Ort, ein anderes Leben. Er hatte sich klug verhalten und ihr keine Märchen erzählt.

Sie hatte auch keine hören wollen.

Dennoch…

Er ärgerte sich über seine Verunsicherung, die er zugleich ungerechtfertigt fand. Brett McGraff war auch hier. Sie und McGraff waren tatsächlich verheiratet gewesen. Er hingegen hatte keine Rechte ihr gegenüber. Und doch…

Zum Teufel, es war sein Haus, seine Party. Und er beabsichtigte, sich all seinen Gästen zu widmen. McGraffs Anwesenheit würde die Wiederbegegnung mit Sabrina nur umso spannender machen.

Andererseits – hatte sie mit alledem überhaupt etwas zu tun? Vielleicht hätte er ihren Namen lieber von der Gästeliste streichen sollen. Aber er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass sie kommen würde. Und alle anderen steckten schließlich mit drin. Trotzdem wünschte er plötzlich, er hätte nicht riskiert, sie wie die übrigen zu ahnungslosen Teilnehmern an einem heiklen Spiel zu machen.

Doch er hatte das Räderwerk in Gang gesetzt, und ihm blieb keine Wahl mehr. Entweder er machte weiter, oder er verlor den Verstand. Und es gab noch andere, denen er Wahrheit und Gerechtigkeit schuldete, nicht nur sich selbst. Es ging nicht in erster Linie um ihn. Er hatte versprochen, es zu wiederholen, auf genau dieselbe Weise.

Vielleicht sollte er sich einfach fern halten von Miss Sabrina Holloway. Von allen Anwesenden war sie allein eindeutig unschuldig.

Er bezweifelte, dass es ihm möglich sein würde, ihr aus dem Weg zu gehen. Dann machte er sich klar, dass sie auf eigenen Wunsch hier war. Alle waren sie bereitwillig gekommen, begierig auf sein Mörderspiel. Einige aus Freude am Spaß, andere um der Publicity willen. Cassie, die eingefleischte Journalistin, hatte ihm mal gesagt: „Lass dir nie die Chance auf ein Foto entgehen, Darling!“ Ihm war aufgefallen, dass weitaus die meisten Schriftsteller, Schauspieler, Musiker oder Künstler genau nach diesem Motto handelten. Und, um im Bild zu bleiben, diese Woche war eine Riesenchance für Fotos. Sogar die zurückhaltenden Typen, die sich nicht immer in den Vordergrund drängten, mochten darauf nicht verzichten.

Konkurrenzkampf bestimmte das Leben. Und der Bekanntheitsgrad des Namens konnte den Unterschied ausmachen zwischen Verhungern und gesundem Einkommen.

Sabrina Holloway hat allerdings ungewollt bereits genügend Publicity eingeheimst, überlegte er. Die Ehe mit und die Scheidung von Brett McGraff hatte sie geradewegs ins öffentliche Bewusstsein katapultiert. Trotzdem war sie ihren Weg unbeirrt weitergegangen. Obwohl die Steigerung ihres Bekanntheitsgrades ihrer Karriere zweifellos einen Aufschwung brachte, erhielt sie auch von angesehenen Kritikern beachtliches Lob für ihre Bücher.

Er war einige Zeit nicht in den Staaten gewesen, deshalb wusste er nicht, wer sonst noch die Runde durch die Talkshows machte. Doch offenbar traf sie mit ihren viktorianischen Thrillern bei vielen Lesern den richtigen Nerv. Außerdem war sie jung und schön. Und die Medien stürzten sich mit Vergnügen auf Persönlichkeiten mit Sex-Appeal und Bildschirmpräsenz.

Er wollte schon auf sie zugehen, als er merkte, dass eine andere Frau auf ihn zukam. Susan Sharp. Er stöhnte innerlich auf und erwog einen schnellen Rückzug über die Geheimtreppe hinter ihm. Seine Vorfahren waren Jakobiter gewesen und hatten das Schloss mit einer Vielzahl von Geheimtüren, -gängen und Fluchtwegen ausgestattet.

Doch er floh nicht. Er wollte seine Geheimnisse noch bewahren und blieb still stehen, während Susan sich heranpirschte, offenbar frohlockend über ihr Glück, ihn allein zu erwischen.

„Da schau an“, sagte sie glücklich. „Darling! Hier steckst du also. Im Dunkeln. Wie erfreulich. Wie verrucht erfreulich. Gib mir einen Kuss, Darling. Wir haben dich alle so vermisst.“

Sabrina Holloway betrachtete die beunruhigende Szene und staunte über ihren Realismus. Die Frau auf der Folterbank sah aus, als wolle sie jeden Moment den Mund öffnen und losschreien. Ihr Blick wirkte abwesend, als versuche sie, das Entsetzliche zu verdrängen, das ihr drohte. Sabrina hörte geradezu, wie der Mann von seinem Opfer verlangte, sie solle ihre Sünden bekennen und sich die Qual der Streckfolter ersparen.

Ein sonderbares Zittern kroch ihr den Rücken hinauf.

Mein Gott, das Tableau war hervorragend gemacht und ging ihr unter die Haut. Es gab noch andere Besucher der Ausstellung im Kellergewölbe von Lochlyre Castle, darunter Freunde. Doch im Augenblick fühlte sie sich hier im Halbdunkel stehend gehörig verunsichert. Man stelle sich vor, die Lichter gingen aus…

Dann wäre sie allein im Finstern mit ihm… dem dunkelhaarigen Folterknecht mit seinem schmalen Oberlippenbart und den sadistischen Augen, der sein Opfer so bösartig anstarrte. Die Figuren waren so realistisch gestaltet, dass man sich leicht vorstellen konnte, wie sie in der Dunkelheit zum Leben erwachten. Sie würden sich bewegen, gehen, schleichen und ihre tödlichen und zerstörerischen Waffen anwenden.

Hände legten sich auf ihre Schultern, und sie hätte fast aufgeschrien. Sie zuckte zusammen, doch irgendwie unterdrückte sie den Schrei, der sich ihrer Kehle entringen wollte.

„Nun, meine Liebe?“

Sie erschauerte noch einmal, immer noch unsicher, jedoch nicht mehr so ängstlich. Brett McGraff trat neben sie und legte ihr lässig einen Arm um die Schultern. Sie schämte sich fast, dass seine bloße Anwesenheit ihr ein Gefühl von Sicherheit vermittelte, wenn sie sich dabei auch alles andere als behaglich fühlte.

Sie war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, sich an ihn zu klammern, und dem Drang, seinen Arm wegzustoßen. Wie üblich löste Brett erstaunlich widersprüchliche Gefühle bei ihr aus. Manchmal machte er sie regelrecht wütend. Und dann wieder war sie gegen seinen sinnlichen Charme, der sie seit ihrer ersten Begegnung anzog, durchaus nicht immun. Meistens reagierte sie jedoch nur leicht gereizt und nicht gerade nachsichtig auf ihn.

„Es wirkt sehr realistisch“, sagte sie leise. „Es macht mir richtig Angst.“

„Gut.“

„Warum?“

„Ich möchte, dass du Angst hast.“

„Ach ja?“

„Angst könnte dich ein bisschen anlehnungsbedürftiger machen.“ Er zog sie fester an sich und flüsterte ihr rau ins Ohr: „Man hat uns jeweils ein eigenes Zimmer im Schloss zugewiesen. Unser Gastgeber scheint zu vergessen, dass wir verheiratet waren. Aber ich würde dir in den langen, unheimlichen Nächten gern Gesellschaft leisten.“

„Waren ist das alles entscheidende Wort“, belehrte sie ihn. „Wir waren mal verheiratet vor über drei Jahren, für ganze zwei Wochen.“

„Aber es dauerte länger als zwei Wochen, uns scheiden zu lassen“, widersprach er einschmeichelnd. „Und vergiss nicht, wie viel wir in unseren herrlichen Flitterwochen zusammen erlebt haben.“

„Brett, unsere Ehe endete, während wir noch in den Flitterwochen waren“, erinnerte sie ihn.

Er ließ sich nicht abschrecken. „Und nun werden wir wieder richtig gute Freunde“, erwiderte er voller Zuversicht.

Unwillkürlich zuckte ein Lächeln um ihre Mundwinkel. Brett war groß und attraktiv, mit widerspenstigen braunen Haaren, passenden dunklen Schlafzimmeraugen und einem lakonischen Charme, der ihn zum Medienidol hatte werden lassen. Er schrieb Medizinkrimis, was ihm kommerziellen Erfolg und wohlwollende Kritiken einbrachte. Seine Bücher trugen ihm ein kleines Vermögen ein. Dennoch gelang es ihm, nur gelegentlich ärgerlich arrogant zu sein.

Sabrina hatte ihn nach dem Verkauf ihres zweiten Buches kennen gelernt, noch ehe es auf den Markt gekommen war. Das war kurz nach seiner Scheidung von seiner dritten Frau gewesen. Zu behaupten, sie wäre damals naiv gewesen, wäre eine maßlose Untertreibung. Sie hatte gerade versucht, eine unglückliche Beziehung zu überwinden.

Ihre stürmische Romanze hatte in Flitterwochen in Paris geendet. Zu der Zeit war in Frankreich gerade Bretts neuester Roman erschienen. Zunächst war sie nur amüsiert gewesen über die vielen Frauen, die auf nicht gerade dezente Weise Interesse an ihrem Mann bekundeten. Weniger amüsiert hatte sie dann allerdings die Erkenntnis, wie viele von denen er bereits gut, um nicht zu sagen, intim kannte. Als geborene Optimistin, die sich nach einer glücklichen Zukunft sehnte, hatte sie dennoch beschlossen, mit Bretts Vergangenheit zu leben.

Es hatte sie nicht einmal so sehr gestört, wie wenig seine Verflossenen Rücksicht darauf nahmen, dass er eine neue Ehefrau hatte. Schließlich konnte sie ihm das Verhalten der anderen nicht zum Vorwurf machen. Beunruhigt hatte sie Bretts Gleichgültigkeit gegenüber dem Unbehagen, das sie in ihrer Position empfand. Er war ein guter Liebhaber, er konnte amüsant und charmant sein, er brachte sie zum Lachen, und er liebte sie, wenn sie sich verloren und unsicher fühlte.

Doch Brett konnte auch selbstbezogen, ja selbstsüchtig und regelrecht gemein sein. Stundenlang war er mit der üppigen Besitzerin eines großen Buchladens verschwunden gewesen und hatte dann noch unwirsch reagiert, als seine junge Frau sich erkundigte, was er eigentlich treibe. Er teilte ihr mit, er sei schließlich Brett McGraff, und ihm würden gewisse Avancen gemacht. Sie solle sich nicht daran stören, sondern froh und dankbar sein, dass er schließlich sie geheiratet und zu seiner Frau gemacht habe.

Sabrina war fassungslos gewesen und dann wütend auf sich selbst. Sie hatte verzweifelt nach einem Partner gesucht, der sie ihre unglückliche Liebe vergessen ließ und ihr Leben ausfüllte. Dabei hatte sie einen schrecklichen Fehler begangen. Sie hatte Brett gern gehabt und geglaubt, sie könnten es zusammen schaffen. Doch sie hatte sich geirrt. Sie gab vor allem sich selbst die Schuld, nicht erkannt zu haben, wie weit ihre Vorstellungen von Liebe und Ehe auseinander lagen.

Brett war die Veränderung an ihr aufgefallen, und er hatte versucht, sie mit seinen Verführungskünsten zu beschwichtigen…

Der Rest war die Hölle gewesen.

Sie wollte nicht daran denken. Sie hatte damals ein paar wertvolle Lektionen gelernt und ihm vielleicht sogar einige erteilt. Bis heute konnte er nicht glauben, dass sie ihn verlassen und die Scheidung eingereicht hatte, ohne einen roten Heller von ihm zu verlangen. Wenn sie sich in den folgenden Monaten auf verschiedenen Verlagsempfängen begegnet waren, hatte er ihre Nähe gesucht. Er nannte sie immer noch seine Frau, und sie konnte manchmal sogar darüber lächeln, mit welchen Argumenten er immer wieder versuchte, sie ins Bett zu bekommen. Sie solle mit ihm schlafen, weil sie verheiratet waren, weil sie schon miteinander geschlafen hatten und weil es nicht gut sei, mit Fremden zu schlafen. Weil sie ihn schon kenne – und weil es deshalb auch keine hässlichen kleinen Überraschungen gebe. Weil er gut im Bett sei, und dass sie zugeben müsse, dass er wirklich gut sei, eben weil er so viel Erfahrung habe. Weil jeder dann und wann Sex brauche. Und da sie eine süße, puritanische Prüde sei, die von einer Obstfarm stamme und nicht leicht intime Kontakte knüpfe, solle sie sich lieber mit ihm auf die Befriedigung dieses Urbedürfnisses einlassen.

Bisher hatte sie ihm widerstehen können.

Zweifellos war sie nicht verlockender als andere Frauen auch, doch sie war diejenige, die ihn verlassen hatte, daher blieb sie eine ständige Herausforderung für ihn.

„Ernsthaft, möchtest du dir nicht einen Raum mit mir teilen, solange wir hier sind?“ fragte er.

„Nein“, erwiderte sie schlicht.

„Gib’s zu. Es macht Spaß, mit mir zu schlafen.“

„Wir haben unterschiedliche Vorstellungen von Spaß.“

„Sieh dich um. Das hier ist ein unheimlicher Ort“, gab er zu bedenken.

„Nein, danke, Brett.“

„Ich kann mich auch benehmen.“

„Das bezweifle ich. Außerdem erinnerst du mich an eine Warnung, die meine Mutter immer ausgesprochen hat: Lass die Finger von Spielsachen, von denen du nicht weißt, wo sie herkommen.“

Er erwiderte grinsend: „Autsch! Aber wenn du bei mir geblieben wärst, wüsstest du genau, wo ich herkomme.“

„Brett, ich wusste während unserer Ehe nie, wo du gerade herkamst. Und ich war wirklich nicht so schrecklich beschäftigt, dass du mir hättest verloren gehen können. Ich denke, es ist dir nie in den Sinn gekommen, dass Ehe Monogamie bedeutet.“

„Denkst du, das gilt für alle?“

„Brett, ich kann anderen Menschen nicht vorschreiben, wie sie verheiratet zu sein haben. Ich weiß nur, was ich für mich möchte.“

Er schnaubte. „Wenn du nur wüsstest, wie viele Leute Seitensprünge begehen. Leute, von denen du es nie annehmen würdest.“

„Mein Lieber, ich will mir das gar nicht vorstellen.“

„Deine eigenen Freunde!“ beharrte er.

„Brett…“

„Also gut, in Ordnung. Aber wenn du später Klatsch von mir hören willst, werde ich schweigen wie ein Grab und dich im Dunkeln tappen lassen. Es sei denn, natürlich, du kannst diese ganze Ehekiste eine Weile vergessen und willst nur Spaß haben. Meine Absichten sind allerdings ehrenwert. Ich würde dich wieder heiraten.“

Sie stöhnte auf. „Wie ich schon sagte, wir haben unterschiedliche Auffassungen von Spaß und Ehe.“

„Prima. Spiel nur die Spröde. Aber wenn es dir hier zu unheimlich wird, wirst du in mein Bett kriechen wollen, und dann ist es vielleicht schon belegt.“

„Sollte mich nicht wundern.“

„He, beschwere dich nicht. Immerhin habe ich dich zuerst gefragt. Und sicher willst du nicht mit einem Fremden schlafen.“

„Brett, ich habe mit dir geschlafen, und ich kann mir wirklich niemand vorstellen, der mir fremder ist.“

„Sehr witzig. Das wird dir noch Leid tun, meine Süße. Du wirst schon sehen.“ Er schüttelte bekümmert den Kopf und wandte sich der Szene vor ihnen zu. „Erstaunlich, was“, sagte er leise und betrachtete die Figuren, den Arm immer noch um Sabrina gelegt.

„Ja, sehr lebensecht“, stimmte sie zu.

„So sehr, dass ich bei diesem Licht sogar auf die Täuschung hereinfallen könnte. Und ich war immerhin mit dir verheiratet.“

„Wovon sprichst du?“

„Na, wovon denn wohl? Du starrst die ganze Zeit diese Szene an.“ Er seufzte voller Ungeduld. „Sabrina! Sieh sie dir doch genau an! Das bist du.“

„Was?“

„Süße, bist du blind geworden, seit du mich verlassen hast?

Schau genau hin. Diese Frau dort, das bist du. Bis aufs i-Tüpfelchen. Die blauen Augen, das blonde Haar, das hübsche Gesicht. Die gute Figur.“ Er senkte die Stimme. „Und der süße Hintern.“

„Ihren Hintern kannst du gar nicht sehen.“

„Also gut, also gut, das gebe ich zu. Aber das da bist du. Sie ist dein Ebenbild.“

„Sei nicht albern…“ Sabrina begann zu protestieren, ließ den Satz jedoch unbeendet und furchte die Stirn.

Allmächtiger, Brett hatte Recht! Die Wachsfigur hatte eine alarmierende Ähnlichkeit mit ihr. Erneut liefen ihr Schauer über den Rücken.

„Das ist gut!“ flüsterte Brett heiser. „Ich spüre dich zittern. Du bist verunsichert, nervös und ängstlich. Du wirst nicht die ganze Nacht allein sein wollen in diesem unheimlichen alten Schloss. Du wirst zu mir kommen. Die Nacht wird hereinbrechen, die Wölfe werden heulen, und du wirst ängstlich schreiend, Schutz suchend von deinem Schlafzimmer in meines rennen.“

Es ist nur ein Abbild in Wachs, sagte sich Sabrina. Und doch durchliefen sie kalte Schauer. Die Frau dort auf der Folterbank, das war sie. Der Künstler hatte die Figur so gut gestaltet, dass Muskeln und Venen im Arm des Opfers lebensecht hervortraten, während sie sich gegen die Seile wehrte, die sie auf der Streckbank festhielten.

Die Angst in ihren Augen war überzeugend.

Der stumme Schrei auf ihren Lippen war fast hörbar.

Brett flüsterte ihr warnend zu: „Du wirst nicht allein sein wollen.“

Aus der Dunkelheit hinter ihnen wandte eine tiefe, wohltönende Männerstimme ein: „Nun ja, allein wird sie wohl kaum sein.“

Sabrina kannte diese Stimme.

Sie fuhr herum und sah sich ihrem Gastgeber gegenüber.

2. KAPITEL

Sein Blick ruhte einen Moment forschend auf ihr. Dann lächelte Jon freundlich und fügte hinzu: „Ernsthaft, Brett, sie wird wohl kaum allein sein, wenn man bedenkt, dass zehn Schriftsteller anwesend sind – wir natürlich eingeschlossen –, dazu ein Künstler und meine Assistentin. Und die Angestellten des Schlosses nicht zu vergessen, die alle hier wohnen.“

Es klang amüsiert. Sabrina entwand sich Bretts Arm und ließ Jon Stuart nicht aus den Augen. Es war viel Zeit vergangen seit ihrer letzten Begegnung.

„Jon“, erwiderte Brett überrascht, eine Spur Gereiztheit im Ton. Die beiden waren angeblich Freunde, dennoch schien Brett nicht eben erfreut über Jon Stuarts Auftauchen.

„Brett, schön, dich zu sehen. Danke, dass du gekommen bist.“

„Es ist mir immer ein Vergnügen. Wir waren alle verdammt froh, dass du dich entschlossen hast, wieder eine Krimi-Woche zu veranstalten. Jon, du kennst meine Frau, Sabrina Holloway, nicht wahr?“

„Sabrina, schön, Sie wieder zu sehen. Ich wusste gar nicht, dass ihr zwei wieder geheiratet habt.“

„Haben wir auch nicht“, betonte Sabrina.

„Aha.“

„Sorry, meine Exfrau“, erklärte Brett unschuldig. Dabei lächelte er Sabrina viel sagend an, als spiele sich immer noch eine Menge zwischen ihnen ab. „Man vergisst so leicht, dass wir uns jemals scheiden ließen.“

„Jedenfalls bin ich froh, dass ihr beide hier seid“, fügte Jon höflich hinzu.

„Ich hätte es um keinen Preis versäumen wollen“, erwiderte Brett.

„Es war nett, dass Sie mich eingeladen haben“, bedankte sich Sabrina artig.

„Ich hatte Sie auch das letzte Mal schon eingeladen“, erinnerte Jon sie.

„Damals… damals drängte mein Abgabetermin.“ Das war natürlich gelogen. Es war die Standardausrede von Autoren, wenn sie sich vor etwas drücken wollten.

„Ihre Absage hat sich immerhin gelohnt. Ihr letztes Buch war sehr gut.“

„Sie haben es gelesen?“ fragte sie – viel zu eifrig, wie sie selbst fand. Am liebsten hätte sie sich dafür geohrfeigt. Sie errötete leicht vor Freude, dass er genügend an ihrer Arbeit interessiert war, um ihre Bücher zu lesen. Richtig heiß wurde ihr jedoch bei den Gedanken, was er wohl von den ausgeprägten Liebesszenen gehalten hatte und darüber, wie sehr ihr Erröten sie verriet.

„Mir haben Ihre letzten Arbeiten auch alle gefallen“, erklärte sie rasch, um von sich abzulenken.

Jon lächelte ein wenig skeptisch, als habe er solches Lob schon oft gehört und bezweifle den Wahrheitsgehalt.

„Wirklich“, beteuerte sie leise und wünschte, diesen plumpen Monolog mit Anstand beenden zu können. Brett beobachtete sie interessiert. Offenbar war ihm eine gewisse Spannung zwischen ihr und Jon Stuart nicht entgangen.

„Tatsächlich?“ fragte Jon zurück. Entweder bemerkte er ihr Unbehagen nicht, oder es amüsierte ihn. Beunruhigt stellte sie fest, dass er ihr an Reife wie an Selbstvertrauen immer noch haushoch überlegen war. Er war ein Erfolgsautor, seit er gleich nach dem Collegeabschluss seinen ersten Roman, einen Thriller, der im Nachkriegsitalien spielte, veröffentlicht hatte.

Sie zwang sich zu einem etwas kühlen Lächeln. Einschüchtern lassen wollte sie sich keinesfalls von ihm. „Okay, also es hat mir nicht gefallen, dass Sie den Priester im letzten Buch umbringen ließen. Das hatte er nicht verdient.“

Das kränkte ihn keineswegs. Er lachte, sichtlich erfreut über ihre Offenheit. „Gut, dass Sie mit Ihrer Kritik nicht hinter dem Berge halten und die Wahrheit sagen.“

„Die Wahrheit sieht, je nach Blickwinkel, immer anders aus“, wandte Brett leicht gereizt ein.

„Nein, es gibt nur eine Wahrheit, vielleicht nur etwas anders beleuchtet“, hielt Jon ihm mit einem Seitenblick auf Sabrina entgegen. Dann schien er sich einen Ruck zu geben und fügte munter hinzu: „Und die Wahrheit ist natürlich, dass ich mich sehr freue, dass Sie sich von Ihren vielen Terminen freimachen konnten, um herzukommen, Miss Holloway.“

„Sie wußte, dass ich hier sein und sie sich schon allein deshalb wohl fühlen würde“, erklärte Brett voller Besitzerstolz.

„Na wunderbar“, erwiderte Jon.

„Ich habe Freunde hier“, versuchte sie den Eindruck zu korrigieren, der durch Bretts Antwort entstanden war. Zugleich fragte sie sich, warum es ihr etwas ausmachte, ob Jon Stuart glaubte, dass sie immer noch mit ihrem Exmann schlief. „Sie wissen, wie das ist, Jon. Wir Autoren neigen dazu, uns zusammenzurotten. Sie haben eine beeindruckende Gästeliste. Ich fühle mich geschmeichelt, dass ich eingeladen wurde.“

„Ich habe mir sehr gewünscht, dass Sie kommen“, erwiderte er höflich. „Wie Sie sich erinnern, wünschte ich mir das beim letzten Mal auch schon.“

Das stimmte. Er hatte sie auch damals dabei haben wollen. Sie hatten sich einige Monate vor seiner ersten Krimi-Woche kennen gelernt. Danach war sie Brett begegnet, hatte ihn geheiratet – und sich schnell wieder scheiden lassen.

Und Jon hatte Cassandra Kelly geheiratet.

„Seinerzeit hatte ich gerade erst ein Buch herausgebracht. Da durfte ich mich kaum zu den Profischreibern zählen, die Sie zu Ihrer Veranstaltung versammelt hatten.“

Er neigte stirnrunzelnd den Kopf leicht zur Seite. „Dianne Dorsey war damals ein noch größerer Neuling, trotzdem war sie dabei.“

„Leider entwickelte sich die Veranstaltung zu einer großen Tragödie. Deshalb war es gut, dass Sabrina nicht hier war“, kommentierte Brett. „Es freut mich aber zu sehen, dass du dich erholt hast, alter Knabe“, fügte er hinzu und stieß ihm mit der Faust freundschaftlich gegen die Schulter. „Wir haben in letzter Zeit alle nicht viel von dir gesehen. Übrigens, war es nicht Cassie, die uns erzählt hat, was für ein großartiges Buch Sabrina geschrieben hat?“

„Ja“, bestätigte Jon, und sein Blick ruhte auf Sabrina. „Cassandra fand, Sie hätten hervorragende Charaktere in einem bezwingenden Ambiente und dazu den perfekten Mord entwickelt, um der Geschichte den richtigen dramatischen Kick zu geben.“

„Das war sehr nett von ihr“, erwiderte Sabrina, leicht befangen. Cassandra war tot, und sie fühlte sich irgendwie schuldig, weil sie zu deren Lebzeiten nicht allzu viel von ihr gehalten hatte.

Zugegeben, sie hatte sie aus Eifersucht verabscheut. Das einzige Mal, da sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden hatten, war der schiere Horror für sie gewesen. Unerträglicher als alle Szenen dieser Ausstellung.

Somit war es nur natürlich, dass sie für Cassandra Stuart keinerlei Sympathien aufgebracht hatte.

Sie empfand eine leichte Beklommenheit, was nichts mit den unheimlichen Szenen hier im Kellergewölbe zu tun hatte. Wie Jon Stuart sie betrachtete, ging ihr unter die Haut. Obwohl Brett auf geradezu lächerliche Weise durch Worte und Gesten seine Besitzansprüche geltend machte, war sie plötzlich froh über seine Gegenwart.

Jon Stuart war beeindruckend, vielleicht sogar einschüchternd. Möglicherweise lag das allein an seiner Größe und seiner athletischen Erscheinung. Er war über einsneunzig und auf eine markante Art gut aussehend. Sein Haar war nicht bloß dunkel, sondern schwarz und dicht. Es reichte ihm im Nacken bis über den Hemdkragen, war jedoch ordentlich zurückgekämmt. Seine Augen waren von einem marmorierten Braun mit blauen und grünen Einschlüssen, was sie manchmal golden und dann wieder sehr dunkel wirken ließ. Seine Gesichtszüge verrieten Ruhe und Kraft: ein festes, eckiges Kinn, breite Wangenknochen, ein großzügiger, sinnlicher Mund und eine hohe Stirn.

Mit siebenunddreißig war er einer der bekanntesten Autoren von Abenteuer- und Spannungsromanen. Ein international renommiertes Magazin zählte ihn zu den zehn interessantesten Männern der Welt.

Obwohl es in den letzten Jahren stiller um Jon Stuart geworden war und er die meiste Zeit in Schottland verbrachte, berichteten die Zeitungen immer mal wieder über ihn, meistens wenn einmal pro Jahr sein neues Buch herauskam oder die Taschenbuchausgabe eines seiner Romane auf dem Markt erschien. Es schadete ihm nicht, dass er in den letzten Jahren eher wie ein Einsiedler gelebt hatte. Vielmehr förderte es sogar seinen Ruf des Geheimnisumwitterten.

Das Rätsel um den Tod seiner Frau machte ihn faszinierend gefährlich und auf unheimliche Art sympathisch. Einige Journalisten behaupteten, er sei nach Cassandras Tod in tiefe Trauer versunken, andere deuteten an, er habe sich aus Schuldbewusstsein zurückgezogen, weil er sich für ihren Tod verantwortlich fühlte – wenn er auch ein ganzes Stück entfernt war, als sie vom Balkon fiel. Es wurde vermutet, sie habe vielleicht Selbstmord begangen, weil ihre Ehe zu scheitern drohte. In einem Anfall übersteigerten Selbstmitleids habe sie sich vom Balkon gestürzt, um ihrem berühmten Ehemann die Schuld zuzuweisen, was ihn bis ans Ende seiner Tage belasten würde.

Wieder andere glaubten, dass der Krebs, der ihre schönen Brüste zu zerstören drohte, sie in die Verzweiflung getrieben habe. Was immer auch geschehen war, es hatte endlose Spekulationen ausgelöst. Jon Stuart hatte Verhöre vor Gericht erduldet und sich von Presse, Freunden und Fans anklagen lassen. Seine jährliche Krimi-Woche, eine Zusammenkunft berühmter Autoren auf seinem abgelegenen Schloss in Schottland, die der Publicity diente und dem Sammeln von Geld für Wohltätigkeitseinrichtungen, die sich um Kinder kümmerten, fand nicht mehr statt.

Bis jetzt.

Drei Jahre nach dem Tod seiner Frau hatte er die Tore von Lochlyre Castle wieder der Außenwelt geöffnet.

„Wenn ich so darüber nachdenke, war Cassies Lob für Sabrinas Arbeit bemerkenswert“, überlegte Brett plötzlich laut. „Sie war nicht besonders großzügig in Puncto Lob. Angeblich mochte sie meine Arbeit, doch Skalpell hat sie in der Luft zerrissen. Erinnerst du dich, Jon? Sie hat sogar deine Arbeit manchmal niedergemacht, und, so ungern ich das zugebe, das ist nun wirklich schwer.“

„Danke. Das ist ein echtes Kompliment“, erwiderte Jon trocken.

Brett grinste. „Ich bin in Geberlaune. Ich habe gerade erfahren, dass Operation die Nummer zwei auf der Bestsellerliste der New York Times von nächster Woche ist.“

„Glückwunsch“, sagte Sabrina aus vollem Herzen. In die Bestsellerlisten zu gelangen, schaffte er immer. Doch erreichten seine Bücher, sehr zu seiner Freude, dabei immer höhere Platzierungen.

„Großartig“, lobte Jon. „Du kannst uns alle während der Woche bei Laune halten, indem du uns erinnerst, dass Bücher, entgegen anders lautenden Gerüchten, noch gekauft und gelesen werden. Also… was haltet ihr zwei vom diesjährigen Gruselkabinett?“

„Makaber wunderbar“, urteilte Brett.

„Zu realistisch“, meinte Sabrina schaudernd.

„Aha.“ In Jons goldenen Augen blitzte es belustigt. „Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht daran stören, dass Sie so viel Ähnlichkeit mit der Lady auf der Folterbank haben. Ein Künstler namens Joshua Valine hat die Figuren für die Ausstellung geschaffen. Er hat auch eine Menge Bucheinbände entworfen. Er begegnete Ihnen auf der Buchmesse in Chicago und war sehr von Ihnen beeindruckt.“

„Wohl kaum im positiven Sinn, wenn er mich gleich auf die Folterbank spannt“, bemerkte Sabrina trocken.

Jon lachte. Es klang tief, leicht rau und sehr angenehm. „Glauben Sie mir, sein Eindruck war sehr positiv. Er nimmt sich immer reale Menschen als Modell, gleichgültig, ob er malt oder in Wachs arbeitet. Und wenn Sie sich umsehen, werden Sie feststellen, dass es nirgends eine angenehme Situation gibt, in der er sie hätte darstellen können. Schauen Sie nur, dort hinten in der Ecke“, fügte er immer noch belustigt hinzu.

So abgeklärt sie inzwischen auch zu sein glaubte, spürte sie auch jetzt, welche Wirkung sein Charisma auf sie hatte. Andeutungsweise hatte er einen leicht schottischen Akzent erworben, wohl auf Grund der vielen Zeit, die er hier verbrachte. Sein Aussehen, sein Körperbau – sein gesamtes Erscheinungsbild war sehr männlich. Was der schwache Duft seines After Shave noch unterstrich.

Jon Stuart ist in der Tat ein gefährlicher Mann, dachte Sabrina. Und eigentlich ein Fremder, obwohl ich ihn einmal gut gekannt habe – wenn man das so nennen will.

„In der Ecke dort hinten“, fuhr Jon fort, „werden König Ludwig XVI. nebst Gattin Marie Antoinette zur Guillotine geführt, und Jeanne d’Arc wird da drüben auf dem Scheiterhaufen brennen. In der nächsten Szene begegnet Anna Boleyn ihrem Henker, und Jack the Ripper ist gerade dabei, Mary Kelly die Kehle durchzuschneiden.“ Er schüttelte gespielt betrübt den Kopf. „Ich fürchte, Joshua mag Susan Sharp nicht besonders. Gehen Sie nur, und schauen Sie sich Mary Kelly an.“

„Demnach muss ich dankbar sein, dass ich auf der Folterbank gelandet bin? Und stundenlange Qualen erdulden muss, bevor ich sterbe?“ fragte sie ungläubig.

Jon neigte leicht amüsiert den Kopf. „Tatsächlich ist die schöne Blondine auf der Streckbank das einzige Opfer in diesem Raum, das überleben wird, Miss Holloway. Es handelt sich um Lady Ariana Stuart. Ehe sie gestreckt und ihr Wille gebrochen werden konnte – laut Anklage hatte sie versucht, den Thronfolger Charles an Cromwells Männer zu übergeben, -, intervenierte ihr Bruder selbst bei Charles und beteuerte ihre Unschuld. Der junge König, inzwischen als Charles II. von England inthronisiert, sah sofort, was für eine Verschwendung es wäre, eine so hübsche Dame umzubringen, und beorderte sie aus der Folterkammer direkt in sein Bett. Da er ein charmanter Mann war, machte er sie natürlich zu seiner Geliebten. Sie gebar ihm zahllose illegitime Kinder und erreichte ein hohes Alter.“

„Wie tröstlich“, bemerkte Sabrina.

„Sehr romantisch“, fügte Brett schnaubend hinzu. „Ich wette, dass hast du alles erfunden, um Sabrina zu beschwichtigen.“

„Ich schwöre, es ist die reine Wahrheit“, versicherte Jon.

„Na ja, jedenfalls hat sich Joshua mit Susan Sharp einen Spaß erlaubt“, stellte Brett boshaft kichernd fest. „Das ideale Opfer für den Ripper. Angeblich ‚unterhält’ sie Männer mit gewissen Gegenleistungen für ihre Dienste.“

„Das ist Hörensagen“, wehrte Jon achselzuckend ab.

Sabrina ärgerte sich über Bretts taktlose Bemerkung und applaudierte innerlich Jons Weigerung, schlecht über andere zu reden.

„Wen hat sich der alte Josh als Modell für Jeanne d’Arc ausgesucht?“ erkundigte Brett sich ungerührt.

„Meine Assistentin Camy“, erklärte Jon. „Ich glaube, sie ist selbst auch ziemlich sendungsbewusst. Außerdem ist sie eine gute und hart arbeitende Assistentin.“

„Wie passend. Ich bin einverstanden.“

Jon grinste. „Bisher noch.“

Brett stöhnte auf. „Dann gibt es also etwas, das mir nicht gefallen wird?“

„Vermutlich.“

„Hat er mich auch benutzt?“

Jon nickte.

„Als was?“

Jon deutete auf den Folterknecht, der soeben den Mechanismus der Streckbank mit der jungen Schönen darauf betätigen wollte.

„Denk dir mal das ganze Barthaar weg“, schlug Jon mit einem verschmitzten Lächeln vor.

„Ich sollte ihn verklagen!“ schimpfte Brett.

Sabrina konnte nicht anders als lachen, was Brett noch mehr ärgerte.

„Komm schon, Brett, nimm’s sportlich. Du warst nur das Modell. Bei dem dichten Bart wird es niemand merken. Außerdem dient unsere Krimi-Woche wohltätigen Zwecken. Also nimm’s mit Humor.“

„Sehr lustig. Ich bin gerade dabei, meine Exfrau zu foltern. Bist du auch in der Galerie der Übeltäter vertreten?“ fragte er Jon.

„O ja, durchaus.“

„Wo?“ wollte Brett wissen.

„Komm mit.“

Brett sah Sabrina achselzuckend an. „Wahrscheinlich hat er sich als König oder als Gandhi darstellen lassen.“

„Gandhi würde hier wohl nicht hineinpassen, und etliche Könige waren auch keine besonders edlen Burschen“, erinnerte Jon ihn. „Aber ich habe mit Joshuas Auswahl der Modelle nichts zu tun. Er sagt mir nicht, wie ich zu schreiben habe, und ich sage ihm nicht, wie er zu modellieren hat.“

Sie folgten ihm einen Korridor entlang zu einer weiteren Ausstellungsszene. Ein Mann in europäischer Kleidung etwa des 15. Jahrhunderts stand neben dem ausgestreckten Körper einer Frau. Ihr Kopf war zur Seite gedreht und dem Blick des Betrachters entzogen. Der Mann starrte mit einer Mischung aus Zorn und Verwirrung auf sie hinab. Er hatte langes, hellbraunes Haar, doch seine Züge waren eindeutig die von Jon Stuart.

„Wer sind die beiden?“ fragte Sabrina verwirrt.

„Er ist in Amerika nicht sehr bekannt“, erklärte Jon und betrachtete die Szene leidenschaftslos. „Sein Name war Matthew McNamara. Laird McNamara. Er war Schotte und entledigte sich dreier Geliebter und zweier Ehefrauen.“

„Wie?“ fragte Brett. „Ich sehe keine Waffe.“

„Er hat sie erwürgt“, erklärte Jon schlicht.

„Wie konnte er mit so vielen Morden durchkommen, ohne dass es Konsequenzen für ihn hatte?“ fragte Sabrina.

„Er wurde nie angeklagt. Unter den Clansmännern galt er als so mächtig, dass man es als sein Recht betrachtete, widerspenstige Frauen zu exekutieren.“

Jon wandte sich von der Szene ab und ihr zu. Sabrina hatte den Eindruck, dass seine Augen sehr dunkel und kalt wirkten. Als er langsam zu lächeln begann, bekam sie eine leichte Gänsehaut. Machte er sich lustig über sie oder über sich selbst? Ihr war sehr unbehaglich zu Mute.

Schlimmer noch.

Sie fühlte sich wie eine Motte, die vom Licht angezogen wird. Weder Zeit noch Entfernung hatten etwas an ihren Gefühlen geändert. Dass Jon Stuart eigentlich ein Fremder für sie war, bedeutete gar nichts. Sie empfand dieselbe heftige Anziehung wie bei ihrer ersten Begegnung vor über dreieinhalb Jahren.

Das erste Mal… das letzte Mal.

„Wer war Modell für die Frau?“ fragte Brett. Als würde ihm plötzlich bewusst werden, dass er die Antwort vielleicht nicht hören wollte, fügte er eilig hinzu: „Joshua Valine ist wirklich gut. Er hat ein unglaubliches Auge für Details.“

„Entspann dich, Brett. Es ist nicht Cassie.“ Ein leicht spöttisches Lächeln umspielte seinen Mund. „Es ist Dianne Dorsey. Du kannst ihr Gesicht erkennen, wenn du dir die Szene von der anderen Seite ansiehst.“

„Dianne, nun ja, natürlich. Wegen der schwarzen Haare dachte ich wohl flüchtig an Cassie. Aber Dianne ist ja auch dunkel…“ Brett ließ den Satz unbeendet und räusperte sich etwas verlegen.

„Cassie ist da drüben, Brett.“ Jon deutete auf eine Gestalt, die vor einem Sprossenfenster betete. „Joshua benutzte sie als Modell für Mary Stuart, Königin der Schotten. Die Szene stellt den Morgen ihrer Hinrichtung dar.“

„Ja. Ja, das ist eindeutig Cassandra“, sagte Brett und betrachtete sie lange. Dann richtete er den Blick plötzlich auf Jon. „Bedrückt dich das nicht irgendwie?“

„Sie bedrücken mich alle, weil sie so realistisch sind“, gestand er. „Aber Josh ist Künstler, und das ist nun mal seine Arbeitsweise. Außerdem finde ich, dass Cassie eine gute Mary Stuart abgibt.“

„Die Opfer sind ausnahmslos Frauen“, fiel Sabrina auf.

Jon bestätigte lächelnd: „Historisch betrachtet waren wohl viele Männer Monster. Aber ich schwöre Ihnen, wir haben auch ein paar todbringende Ladies dabei.“ Er deutete quer durch den Raum. „Da hinten haben wir die Herzogin Bathory, die ungarische ‚Blut-Herzogin’. Angeblich opferte sie Hunderte junge Frauen, damit sie in deren Blut baden und ihre Jugend und Schönheit erhalten konnte. V.J. Newfield diente als Modell, wie unschwer zu erkennen ist.“

„Das gibt Ärger!“ prophezeite Brett.

Jon widersprach lachend: „V.J. wird sich köstlich darüber amüsieren. Außerdem war die Herzogin angeblich nicht nur blutrünstig, sondern auch sehr schön.“ Er deutete auf eine andere Szene. „Dort haben wir Lady Emily Watson, die nicht weniger als zehn Ehemänner vergiftete, um sich ihrer weltlichen Güter zu bemächtigen. Ihr seht also, wir bemühen uns um Ausgewogenheit im Horrorkabinett.“

„Wer war das Modell für Lady Emily?“ erkundigte sich Brett.

„Anna Lee Zane. Und ihr Opfer ist Thayer Newby.“

Brett lachte. „Thayer wird von einer Frau erledigt! Das wird ihm gefallen.“

Jon meinte achselzuckend: „Da hätten wir noch Reggie Hampton als gute Königin Bess, die das Todesurteil für Mary Stuart unterschreibt.“

„Wer sind die anderen?“ fragte Sabrina und wies mit einer allumfassenden Geste auf die übrigen Szenen in den finsteren Tiefen des Kellergewölbes.

„Natürlich sind Tom Heart und Joe Johnston dabei, aber die sollten Sie selbst entdecken. Auch einige Hausangestellte dienten Joshua als Modelle. Seien Sie also nicht überrascht, wenn das Frühstück von Katharina der Großen serviert wird.“

„Sabrina, wir sollten wieder heiraten, und zwar schnell!“ drängte Brett besorgt. „Jack the Ripper könnte kommen und deine Wäsche abholen!“

„Die Handwäsche schaffe ich vermutlich noch selbst. Und frühstücken werde ich immer nur in einer Menschenmenge“, entgegnete sie abwehrend. Am liebsten hätte sie Brett getreten, weil sie merkte, dass Jon sie auf Grund der Bemerkung nachdenklich ansah.

Allerdings schien Jon den Wortwechsel nicht sonderlich ernst zu nehmen. „Joshua hat seit über einem Jahr mit mehreren Leuten an diesem Projekt gearbeitet. Wenn wir die Figuren nicht mehr brauchen, geben wir sie an das neue Museum im North Country ab.“

„Da brauchst du die Zustimmung der Modelle“, warnte Brett ihn.

Jon lächelte. „Ich denke, die bekomme ich. Die Publicity wird enorm sein, weißt du?“

„Na großartig, ich gehe als durchgeknallter Folterknecht in die Geschichte ein!“ beklagte sich Brett, doch das Wort Publicity hatte ihn bereits für die Sache eingenommen.

„Mach dir nichts daraus. Ich beispielsweise werde so oder so als Frauenmörder traurige Berühmtheit erlangen. Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich muss noch einige Dinge erledigen. Genießt die Zeit. Brett, du kennst dich ja aus. Miss Holloway, fühlen Sie sich bitte ganz wie zu Hause. Wir sehen uns dann zum Cocktail.“

Er wandte sich ab und ging mit langen Schritten davon. Nach wenigen Sekunden hatte die Dunkelheit ihn verschluckt.

Doch irgendwie wirkte seine Anwesenheit nach, und Sabrina betrachtete noch einmal die Szene mit Matthew, Laird McNamara.

Groß gewachsen, stand er aufrecht und breitschultrig, die Hände auf den Hüften, neben der Frau zu seinen Füßen. Attraktiv, stolz, gnadenlos, mächtig – er war in der Tat Herr seiner Domäne.

So mächtig, dass er töten und ungeschoren davonkommen konnte. Sie riss den Blick von dem Tableau los und betrachtete die übrigen Figuren, die jede auf ihre Weise eine Begegnung mit dem Tod hatten.

Die diffuse Beleuchtung machte alles noch schrecklicher. Der Raum war dunkel, nur die einzelnen Szenen hoben sich, in unheimliches bläulich rotes Licht getaucht, daraus hervor, was den realistischen Eindruck verstärkte. Mühelos konnte Sabrina sich vorstellen, dass die Figuren atmeten, zuckten und schwitzten. Und dass sie sich jeden Moment bewegen könnten…

Matthew McNamara stand mit geballten Fäusten neben seiner Frau.

Jack the Ripper schwang sein Messer.

Und Lady Ariana Stuart schrie weiterhin in stummem Entsetzen.

Sabrina fröstelte und zuckte zusammen, als Brett ihr wieder eine Hand auf die Schulter legte.

„Gehen wir hier raus, ja?“ schlug er vor.

Sie merkte, dass auch er beklommen war.

3. KAPITEL

„Miss Holloway!“

Die Cocktails wurden in der Bibliothek des Schlosses gereicht. Die lag gleich neben der großen Treppe, die von den Gästezimmern des oberen Stockwerks herabführte, und gegenüber der großen Halle, in der man sich zum Dinner versammeln würde. Sabrina war spät dran. Sie hatte ziemlich lange in ihrem hochmodernen Bad verbracht und beim Ankleiden Mut gesammelt, um nach unten zu gehen. Das kurze Zusammentreffen mit Jon Stuart hatte sie viel mehr aus dem Gleichgewicht gebracht, als sie voraussehen konnte. Dieses eine Mal war sie dankbar gewesen für Bretts Gegenwart. Dadurch hatte sie sich nicht ganz so verloren und allein gefühlt, obwohl sie sich wie stets über Brett geärgert hatte.

Sie hatte soeben die Tür zur Bibliothek erreicht, als sie ihren Namen hörte. Eine kleine Frau mit kurzem, schimmerndem braunen Haar kam auf sie zu und bot ihr ein Glas Champagner an. Sie hatte hellblaue Augen, ein hübsches herzförmiges Gesicht und ein zaghaftes Lächeln, das Sabrina sofort gefiel.

„Willkommen, willkommen, wir freuen uns so, dass Sie es einrichten konnten. Ich bin besonders erfreut, weil ich ein richtiger Fan von Ihnen bin.“ Die junge Frau drückte Sabrina eine Champagnerflöte in die Hand.

„Herzlichen Dank“, erwiderte Sabrina. „Und Sie sind…?“

„Entschuldigung!“ Die junge Frau errötete, was sie noch hübscher und zarter wirken ließ. „Ich bin Camy, Camy Clark. Jons Sekretärin und Assistentin.“

„Natürlich, Jeanne d’Arc!“

Camy errötete noch heftiger. „Ja, das bin allerdings ich. Joshua Valine ist ein guter Freund von mir.“

Sabrina lachte. „Das muss er wohl sein. Sie sehen hübsch aus, sogar wenn Sie verbrannt werden sollen.“

„Ja, Joshua ist ein Schatz. Er lässt alle gut aussehen. Und Sie sind ganz bestimmt das hübscheste Opfer, das ich jemals auf einer Streckbank gesehen habe.“

Sabrina musste wieder lachen und hob ihr Glas. „Er ist gewiss sehr talentiert.“

„Das sind Sie auch. Mir gefallen Ihre Bücher. Die männlichen Autoren können manchmal so trocken sein. Sie wissen schon, nur Action, aber keine besonders gut herausgearbeiteten Charaktere. Ich liebe Miss Miller. Sie ist wunderbar. So echt, so sympathisch und mutig, ohne lächerlich zu wirken.“

„Nochmals vielen Dank.“

„Camy, Camy, Camy!“

Eine schlanke Frau von knapp eins achtzig mit kurzem, kunstvoll frisiertem schwarzen Haar kam auf sie zu. Ihr schulterfreies Cocktailkleid war eine Designeranfertigung, und dazu trug sie Schuhe in derselben Malvenfarbe. Sabrina kannte Susan Sharp, weil Susan selbst Wert darauf legte, mit allen bekannt zu sein. Die meisten Autoren schätzten und fürchteten die Literaturkritikerin auf Grund ihres großen Einflusses, besonders in der Welt der Reichen. Durch bloße Mundpropaganda konnte sie ein Buch oder einen Autor niedermachen. Sie hatte selbst zwei Krimis geschrieben und beachtlichen Erfolg erzielt, da ihre Protagonisten eindeutig ihre Entsprechung in der Welt der Reichen und Berühmten hatten. Zugleich konnte sie laut, voreingenommen und kratzbürstig sein, womit sie bei Freund wie Feind zwiespältige Gefühle auslöste. Gerüchten zufolge hatte sie Cassandra Stuart regelrecht gehasst, die in Talkshow-Runden oft ihre Gegenspielerin gewesen war.

„Camy, Camy, Camy!“ wiederholte Susan und legte der Assistentin ihre perfekt manikürten Finger um den Arm. „Sie können Miss Holloway nicht einfach an der Tür festhalten. Wir warten alle auf sie. Autoren sind alle sehr gut miteinander befreundet, wissen Sie?“

„Ja, natürlich, Miss Sharp“, erwiderte Camy kleinlaut und warf Sabrina einen verlegenen Blick zu. Susan hatte sie in ihre Schranken verwiesen. Sie war nur eine Assistentin, die anderen waren Autoren.

„Camy, es war schön, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich freue mich darauf, wenn wir etwas mehr Zeit füreinander haben“, tröstete Sabrina.

Ein Lächeln erhellte Camys Gesicht. „Danke!“

Susan zog Sabrina weiter in den Saal. „Wie ist es Ihnen ergangen? Es ist Ewigkeiten her seit unserer letzten Begegnung.“

„Es war erst letzten Juni in Chicago“, erinnerte Sabrina sie.

„Ja, natürlich. Sie hatten ziemlichen Erfolg. Viele Leser sind ganz verliebt in Ihre Miss Mailer.“

„Miller“, korrigierte Sabrina sanft.

„Ja, ja, Miss Miller. Sagen Sie, was ist los mit Ihnen und Brett? Haben Sie vor, wieder zu heiraten?“

„Wie bitte?“

„Nun ja, bei Brett klingt das so, als würden Sie beide noch sehr viel Leidenschaftliches miteinander teilen, so talentiert und wild, wie Sie beide sind. Ich werde nie die delikaten Bilder in der Regenbogenpresse vergessen, die Sie zeigten, wie Sie nackt aus Ihrer Hotelsuite in Paris rannten.“

„Susan, im Gegensatz zu Ihnen würde ich das Ganze gern vergessen. Das war eine sehr schlimme Zeit in meinem Leben“, erwiderte sie mit Nachdruck. „Schauen Sie, da ist V.J. Newfield. Ich habe sie lange nicht gesehen. Entschuldigen Sie mich, ja?“

Sabrina entwischte Susan und ging auf V.J. – Victoria Jane Newfield – zu. V.J. war irgendwo in den Fünfzigern oder Sechzigern und schrieb seit Ewigkeiten, zumindest kam es einem so vor. Ihre Romane wirkten finster und beängstigend, aber mehr durch die psychologisch dichte Atmosphäre denn durch plakative Darstellungen von Gewalt, und warfen immer ein bezeichnendes Licht auf die menschliche Natur. Sie war sehr schlank, groß, mit silbernem Haar und einer graziösen Haltung. Sie war eine beeindruckende Frau und würde es zweifellos bis zu ihrem Todestag bleiben.

Sabrina hatte sie gleich zu Beginn der eigenen Karriere kennen gelernt, bei einer Autogrammstunde, die mehrere Autoren gemeinsam gaben. V.J. hatte ihr versichert, das Schönste an solchen gemeinsamen Autogrammstunden sei, dass man immer jemand zum Reden habe, auch wenn niemand vorbeikomme, ein Buch zu kaufen.

„Meine Liebe, stell den Leuten einfach ein Bein, wenn sie vorbeigehen wollen“, hatte sie ihr geraten. „Wenn die glauben, dass wir nur hinter den Tischen voller Bücher sitzen, damit wir ihnen den Weg zur Damentoilette weisen, stelle ihnen ein Bein! Danach entschuldigt man sich überschwänglich, und schon haben wir sie beim Wickel!“ V.J. war großartig gewesen. Seinerzeit schon sehr populär, hatte sie ihre Fans überzeugt, sie müssten unbedingt auch Sabrinas Buch kaufen. Sabrina war ihr bis heute dankbar dafür.

„V.J.!“ rief sie erfreut und näherte sich ihrer Freundin am Buffet, die bei den Kaviar-Crackern offenbar abwog, ob sie zugreifen sollte oder nicht.

„Sabrina, meine Liebe!“ V. J. drehte sich um, lächelte und umarmte sie herzlich. „Ich wollte schon anrufen, um mich zu vergewissern, dass du auch kommst. Ich habe es sehr bedauert, dass du das letzte Mal nicht dabei warst, auch wenn es damals zu dieser Tragödie kam. Ich komme gerade von einer Kreuzfahrt auf dem Nil zurück. Weißt du noch, dass ich dir von meinen Plänen erzählt habe?“

„Ja, und ich freue mich, dass du sie verwirklichen konntest. Wie war’s?“

„Wunderbar. Anregend. Ehrfurcht gebietend. Man spürte den Hauch der Geschichte. Das geht einem unter die Haut. Und ich liebe einfach schöne alte Mumien.“

„Ich habe auch nichts gegen schöne Mamis einzuwenden“, mischte sich Brett ein, der sich offenbar verhört hatte, legte Sabrina einen Arm um die Schultern und lächelte V.J. an. „Mamis sind heutzutage genauso aufregend wie unschuldige Mädchen. Schön, dich zu sehen, V.J. Du siehst fantastisch aus, sexy wie immer. Du bist eine großartige Mami.“

„Meine Kinder sind längst erwachsen“, erinnerte V.J. ihn. „Außerdem reden wir von Mumien, mein Junge, von Mumien, nicht von Mamis. Aber einem unverbesserlichen Schürzenjäger wie dir wären wohl sogar tote Frauen recht. Wie geht’s dir, Brett? Ein Kuss wird akzeptiert, aber nur auf die Wange. Und hör auf, Sabrina zu belästigen. Das Mädchen hatte Verstand genug, deine Exfrau zu werden. Und wenn der richtige Mann für sie da draußen herumläuft, wollen wir doch nicht, dass er sich durch deine törichten Annäherungsversuche abschrecken lässt.“

Brett ließ Sabrina lachend los und küsste V.J. gut gelaunt auf die Wange.

„Ich bin der richtige Mann, V.J.“, beteuerte er wehleidig. „Ich habe mich nur einmal schlecht benommen, und sie verzeiht mir einfach nicht.“

„Mein Junge, ich bin zwar kein Eheberater, aber ich nehme doch an, dass da etwas mehr dahinter steckte. Dennoch…“ Sie prostete ihm lächelnd mit dem Champagnerglas zu. „Gratulation. Wie ich höre, stehst du auf der Liste nur einen Platz unter Creighton.“

Brett neigte in demütigem Dank leicht den Kopf. „Danke, danke. Warum musste Creighton auch unbedingt im selben Monat ein neues Buch rausbringen wie ich? Ich hätte vielleicht die Nummer eins geschafft.“

„Es gibt immer ein nächstes Mal.“

„Wie wahr. Und da wir hier so eine feine Versammlung von Autoren des Mystery-, Spannungs- und Horror-Genres haben, müsste es uns doch gelingen, die Konkurrenz wegzustoßen. Was meinst du?“

„Ich meine, dass es angesichts unseres Aufenthaltsortes von schlechtem Geschmack zeugt, von wegstoßen zu reden“, stellte eine Männerstimme leise fest, und Joe Johnston trat in ihren Kreis. Joe Johnston hätte ein Zwilling von Ernest Hemingway sein können, ein gut aussehender Mann mit buschigem Bart und freundlichem Wesen. Er schrieb eine Serie über einen ziemlich heruntergekommenen, charmanten und faulen Privatermittler, der trotz allem jeden seiner Fälle löste. Joe stieß zur Begrüßung mit Sabrina an und fuhr fort: „Ich meine, wer glaubt denn wirklich, dass Cassandra sich selbst vom Balkon gestürzt hat?“

„Schsch, Joe!“ warnte V.J. „Ich finde es großartig von Jon, dass er wieder eine solche Krimi-Woche abhält, nach allem, was letztes Mal passiert ist.“

„Genau meine Meinung“, bestätigte Joe. „Und deshalb sollten wir nicht davon reden, die Konkurrenz wegzustoßen.“

Susan Sharp gesellte sich zu ihnen. „Wir sollten nicht darüber reden, jemanden wegzustoßen?“ wandte sie ein. „Joe, wir veranstalten hier ein Mörderspiel. Einer von uns wird in die Rolle des Mörders schlüpfen und die anderen so lange auf etwas stoßen, bis sie das Rätsel lösen. Das ist der Sinn des Unternehmens.“

„Richtig, aber das ist alles nur Spiel“, betonte Sabrina.

Susan lachte und erwiderte trocken: „Nun ja, wollen wir hoffen, dass Cassandras Tod nicht nur Spiel war. Könnt ihr euch vorstellen, dass sie plötzlich in dieses Zimmer zurückkommt?“

„Susan, es ist schrecklich, so etwas zu sagen“, tadelte V.J. „Wenn Cassandra plötzlich wieder auftauchte…“

„Wenn Cassandra hier plötzlich lebend auftauchte, würde die Hälfte der Anwesenden über Möglichkeiten nachdenken, sie wieder umzubringen“, erklärte Susan schlicht. „Cassandra war bösartig und grausam.“

„Nicht zu vergessen klug, talentiert und sehr schön“, hob V.J. hervor.

„Vermutlich. Und man bedenke – alle, die bei ihrem Tod anwesend waren, sind heute wieder hier. Die Gästeliste ist genau dieselbe wie damals“, erklärte Susan.

„Ich war damals nicht hier“, wandte Sabrina ein.

Susan ging achselzuckend darüber hinweg, als sei ihre Anwesenheit von geringer Bedeutung. „Jedenfalls waren Sie damals eingeladen. Das Entscheidende ist, dass alle, die damals hier waren, heute wieder hier sind. Ausnahmslos. Und wir sind bereit, uns zu verteidigen, sollten wir beschuldigt werden.“

„Beschuldigt? Des Mordes?“ fragte V.J.

„Wessen auch immer“, entgegnete Susan munter. „Wir haben doch alle unsere kleinen Geheimnisse, nicht wahr?“ Dabei starrte sie V.J. geradezu an.

„Susan, wenn du uns irgendetwas unterstellen willst…“ begann Joe.

„Ach, komm schon, Joe. Wir sind doch alle erwachsen. Jeder wusste, dass Jon ungeachtet seiner äußeren Ruhe und Beherrschung wütend auf Cassandra war. Er glaubte, dass sie eine Affäre hatte, und sie deutete mir mehrmals an, dass das stimmte.“

„Susan, der schlichte Satz: ‚Reich mir die Butter’ veranlasste dich bei mindestens einer Gelegenheit zu der Annahme, zwei Leute hätten eine Affäre“, erinnerte V.J. sie voller Ungeduld.

„V.J., es kommt darauf an, wie jemand etwas sagt. Tatsache war, Jon glaubte, sie habe eine Affäre, und sie unterstellte ihm dasselbe. Falls beide Recht hatten, gibt es noch zwei Menschen, die in diese Sache verwickelt sind. Und der Himmel weiß, Cassandra hat etliche Karrieren fast zerstört. Jeder von uns hat sie zu unterschiedlichen Zeiten für ihr Urteil über unsere Arbeit verabscheut.“

„Sie haben sie garantiert verabscheut“, sagte eine leise Stimme. Es war die scheue, zurückhaltende Camy, die Susan entschuldigend anlächelte. „Schließlich standen Sie oft in direkter Konkurrenz zu ihr, nicht wahr, Miss Sharp?“

Susan zog eine Braue hoch und sah die junge Frau herablassend an. Die Anschuldigung machte ihr nichts aus, es ärgerte sie aber, von Camy unterbrochen worden zu sein. „Mein liebes Kind, ich habe keine echte Konkurrenz. Aber für die Akten: Ich habe Cassandra Stuart verabscheut. Sie war eine Opportunistin, die Menschen benutzte und manipulierte. Sie sollten dankbar sein für ihren Tod, andernfalls wären Sie längst gefeuert worden. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden.“ Sie drehte Camy den Rücken zu und redete weiter mit den anderen. „Denkt an meine Worte. Jeder hier hatte ein Geheimnis, und vermutlich hatten alle einen Grund, Cassandra Stuart zu hassen.“

„Außer Sabrina“, widersprach Joe ruhig.

Susan sah Sabrina scharf an. „Wer weiß? Vielleicht hat sie genauso viel Grund wie wir alle. Aber Sie hätten sie nicht über die Balkonbrüstung stürzen können, nicht wahr, Sabrina? Sie haben die letzte Einladung hierher abgelehnt. Warum eigentlich? Die meisten Autoren würden töten – verzeihen Sie mir den Ausdruck – für so eine Einladung.“

„Flugangst“, erklärte Sabrina zuckersüß.

Susan ließ sie nicht aus den Augen. „Jede Wette.“ Plötzlich wandte sie sich ab und verließ die Gruppe.

„Ich denke, sie war’s“, sagte Brett mit so schlichter Überzeugung, dass alle lachen mussten.

„Laut Polizei hat niemand es getan“, erklärte Joe.

„Cassandra hat nicht Selbstmord begangen“, kommentierte V.J. „Dafür war sie viel zu selbstverliebt.“

„Aber ich dachte, sie hatte Krebs“, wandte Sabrina ein.

„Hatte sie. Aber der war vielleicht therapierbar“, vermutete Brett.

„Vielleicht ist sie nur gestolpert“, gab Sabrina zu bedenken.

„Wahrscheinlich ist genau das passiert“, bestätigte eine weitere Männerstimme. Sie gehörte Tom Heart. Groß, schlank, weißhaarig, attraktiv und würdevoll, sah er kein bisschen so aus, wie man sich den Autor einiger der schauerlichsten Horrorgeschichten auf dem Markt vorstellte. Er prostete ihnen lächelnd mit dem Champagnerglas zu. „Cheers, Freunde, Gentlemen und Ladys, Brett, Joe, Sabrina… V.J. Schön, euch alle wieder zu sehen. Und Sabrina, Sie haben vielleicht vollkommen Recht. Nach allem, was ich gehört habe, rief Cassandra hinter Jon her. Er hatte ihre Launen satt und ging einfach weg. Vielleicht hat sie sich vorgebeugt, um noch lauter zu rufen, und bekam das Übergewicht. Ah, da ist unser Gastgeber mit der schönen Dianne Dorsey an einem und der exquisiten Anna Lee Zane am anderen Arm.“

Sabrina blickte zur Bibliothekstür. Ihr Gastgeber war in der Tat soeben hereingekommen – mit Stil.

Er trug einen Frack und sah umwerfend gut aus. Seine Größe und sein dunkler Typ wurden durch die elegante Kleidung noch betont. Das schwarze Haar war zurückgekämmt, und die Augen wirkten geheimnisvoll, während er mit den beiden attraktiven Frauen an seinen Seiten redete und lachte.

Anna Lee war eine Autorin, deren Kriminalromane auf wahren Fällen basierten. Sie war etwa Ende dreißig, zart und weiblich. Wenn man den Gerüchten glauben durfte, wählte sie ihre Sexualpartner unbekümmert aus beiden Geschlechtern aus.

Dianne Dorsey galt als die aufstrebende Stimme des Horrorgenres. Es reizte sie, fremdartige Wesen mit einem bizarren Hunger auf Menschenfleisch zu entwickeln. Sie war noch sehr jung, gerade mal zweiundzwanzig, hatte ihren ersten Roman als Junior in der High School geschrieben und ihren zweiten als Senior. Nun, nach dem Abschluss in Harvard, galt sie bereits als alter Hase und hatte vier Bücher auf dem Markt. Sie galt als Genie und hatte schon eine riesige Fangemeinde. Ältere Autoren neideten ihr manchmal den Erfolg in so zartem Alter. Erfolg, der noch dazu anscheinend mühelos erworben war. Sabrina beneidete Dianne nur um ihre Selbstsicherheit in so jungen Jahren. Die zu erlangen, würde sie glatt ihren Augenzahn opfern. Sie hegte allerdings den Verdacht, dass Dianne eine schwierige Kindheit gehabt hatte, dass irgendetwas geschehen war, das sie bereits in früher Jugend zu einer Kämpfernatur hatte werden lassen.

Während sie Dianne beobachtete, merkte sie, dass Anna Lee ihr lächelnd zuwinkte. Sabrina winkte lächelnd zurück.

Als Dianne sie entdeckte, winkte sie ebenfalls lächelnd. Sabrina hob winkend eine Hand. Dianne pflegte den Grufti-Look: ihr Haar war rabenschwarz, ihr Lippenstift war schwarz, ihre Haut war makellos weiß. Sie bevorzugte riesige Medaillons, Schmuck im Stil des Mittelalters und fließende, körperbetonte Kleidung, woraus sie einen sinnlich femininen Stil entwickelte, der sie zu einer einzigartigen, anziehenden Erscheinung machte.

Immer noch lächelnd, merkte Sabrina plötzlich, dass Jon sie betrachtete.

Wieder mal stand sie direkt neben Brett. Nicht nur das, er suchte sogar Körperkontakt.

Sie senkte schnell den Blick und sagte sich, dass sie sich mit niemand einlassen würde. Sie war nicht hergekommen, um jemand wieder zu finden, den sie verloren hatte. Sie war jetzt eine erwachsene Frau mit einer gut laufenden Karriere, vielen Freunden und einer großartigen Familie. Sie war als Gast hier und nahm an einer wichtigen Wohltätigkeitsveranstaltung teil. Es war lediglich der Zuckerguss auf dem Kuchen, dass ihre Karriere durch ihre Teilnahme hier vielleicht noch etwas gefördert wurde.

Lügnerin! neckte eine innere Stimme.

„Ladies und Gentlemen, das Dinner wird in der großen Halle serviert“, verkündete Jon. Er entschuldigte sich bei seinen beiden Begleiterinnen. Und Sabrina musste sich beherrschen, um nicht zurückzuweichen, als er zielstrebig auf sie zukam. „Miss Holloway, Sie sind vielleicht die Einzige hier, die noch nicht mit allen bekannt ist. Entschuldige, Brett, darf ich dir deine Exfrau für einen Moment entführen?“ fragte er leichthin.

„Sicher – für einen Moment“, gestattete Brett freundlich.

Sabrina war gelinde alarmiert, welch wohliges Gefühl sie durchströmte, als Jon sie lächelnd am Arm durch den Raum führte. Sie steuerten auf einen großen schlanken Mann zu, der lockiges blondes Haar und ein hübsches offenes Gesicht hatte. Er sah nach einem Künstler aus und war bis auf einen kleinen Farbspritzer auf der Krawatte makellos gekleidet. „Miss Holloway, ich bin sicher, Sie erinnern sich an Joshua Valine, unseren außergewöhnlichen Bildhauer.“

„Aber ja“, erwiderte Sabrina und erinnerte sich sofort, sobald der Mann sie mit seinen warmherzigen braunen Augen ansah. Sie waren sich flüchtig auf der Buchmesse in Chicago begegnet. Sie hatte Bücher signiert, und einer der Verkaufsrepräsentanten hatte sie miteinander bekannt gemacht. „Wir kennen uns“, sagte sie Jon und gab Joshua Valine die Hand. „Wie schön, Sie wieder zu sehen. Ihre Wachsfiguren sind unglaublich gut. Sehr realistisch und beängstigend! Wie ich von meinem Exmann gefoltert werde, wird mir sicher Albträume bescheren.“

Joshua errötete leicht und schenkte ihr ein Lächeln. „Danke. Verzeihen Sie mir, dass ich Sie auf die Streckbank gelegt habe. Aber Sie werden überleben, wissen Sie?“

Sie lachte leise. „Das sagte man mir bereits.“

„Sie werden auf Befehl des Königs von der Folter befreit.“

Sie nickte und fügte hinzu: „Ich bin froh, dass ich nicht das Opfer von Jack the Ripper bin.“

Joshua zog die Nase kraus und senkte die Stimme. „Susan Sharp ist allerdings gut in der Rolle, finden Sie nicht?“

„Schsch. Susan hat außergewöhnlich gute Ohren“, neckte Jon.

„Sieh dich um, Joshua, ist noch jemand hier, den Sabrina noch nicht kennen könnte?“

„Haben Sie Camy Clark schon kennen gelernt?“ fragte er.

„Ja, sie ist charmant. Sie haben großes Glück, mit ihr zu arbeiten.“

„Sie hat Organisationstalent und ist sehr kompetent. Ich habe wirklich großes Glück mit ihr“, stimmte Jon zu. „Wie ist es…“

Als er sich umdrehte, den Blick durch den Raum schweifen zu lassen, trat ein kräftiger Mann mit rotem Haar und altmodischem Stoppelschnitt zu ihnen. Er warf Jon und Joshua ein Lächeln zu und reichte Sabrina die Hand. „Wir sind uns schon begegnet, aber nur kurz, auf einer Konferenz in Tahoe. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, aber ich bin …“

„Natürlich erinnere ich mich an Sie“, erwiderte Sabrina. „Sie sind Thayer Newby. Ich bin zu jedem Ihrer Vorträge gepilgert. Wahrscheinlich haben Sie mich nicht gesehen, denn die Räume waren immer so voll, wenn Sie gesprochen haben.“

Thayer Newby errötete bis an die Haarwurzeln. Er war zwanzig Jahre lang Polizist gewesen, ehe er zu schreiben begonnen hatte, und seine Vorträge über Polizeiarbeit waren hervorragend.

„Danke!“ Er betrachtete sie und hielt immer noch ihre Hand. Mit leichtem Kopfschütteln fügte er hinzu: „Wie konnte McGraff Sie nur laufen lassen?“ Danach errötete er noch mehr. „Tut mir Leid, das geht mich nichts an. Aber natürlich habe ich dieses Bild gesehen.“

Sabrina hatte Mühe, nicht ebenfalls zu erröten. Sie spürte, dass Jon neben ihr war und sie beobachtete. Und sie wusste natürlich, dass jeder, der dieses Pressefoto kannte, sich fragte, aus welchem Anlass sie splitternackt aus der Flitterwochensuite geflüchtet war.

„Brett und ich haben unterschiedliche Ansichten über die Ehe“, erklärte sie so sachlich wie möglich.

„Aber sie sind Freunde geblieben, was?“ fragte Thayer unbekümmert.

Irgendwie klang das zweifelnd. Sabrina erkannte, dass er sie vermutlich den Abend über mit Brett gesehen hatte und, wie andere auch, vermutete, dass ihre Beziehung über bloße Freundschaft weit hinausging.

„Ja, es ist uns gelungen, Freunde zu bleiben“, bestätigte sie lakonisch.

„Ah, da ist Reggie“, sagte Jon und hob eine Hand. „Kennen Sie Reggie Hampton, Sabrina?“

Alt, jedoch irgendwie alterslos, hätte Regina Hampton ebenso siebzig wie hundertundzehn sein können. Sie hatte Berge von Büchern über eine Amateurdetektivin geschrieben, die Großmutter war und die Fälle in ihrer Gegend mit Hilfe ihrer Katze löste. Reggie war unverblümt, intelligent und amüsant. Sobald sie den Raum betreten hatten, war sie direkt auf sie zugekommen. „Reggie“, begann Jon, „kennst du…“

„Natürlich kenne ich das liebe Kind!“ rief Reggie aus. Sie war klein und dünn und sah aus, als könnte jeder Windhauch sie umpusten. Doch sie umarmte Sabrina mit erstaunlicher Kraft, was Gerüchte bestätigte, dass sie ein zäher alter Vogel sei. „Wie schön, Sie hier zu haben, Sabrina! Jon, wie ist es dir bloß gelungen, dieses hübsche junge Ding zu überreden, einen morbiden, einsiedlerischen alten Mann wie dich in seinem verfallenen Schloss zu besuchen?“

„Auf dieselbe Weise, wie ich dich überredet habe, du alte Streitaxt“, neckte er liebevoll. „Ich habe ihr eine Einladung geschickt.“

„Es ist wunderbar, dass Sie hier sind, Sabrina. Wir brauchen einfach frisches Blut auf diesen Veranstaltungen!“ sagte Reggie.

„Dann wollen wir hoffen, dass wir nicht neues Blut vergießen, was?“ spöttelte Susan und kam boshaft lächelnd auf die Gruppe zu.

„Lasst uns essen – ich bin am Verhungern!“ rief V.J. vom anderen Ende des Raumes. „Jon, du hast doch das Dinner angekündigt, oder? Wenn wir nicht bald essen, werden wir alle dahinscheiden, und das auf gar nicht mysteriöse Weise.“

„Tödlicher Gedanke!“ konterte Joe Johnston.

„Töten! Darum geht’s doch hier“, entgegnete Reggie.

„Richtig, Jon, lass uns essen“, bekräftigte Brett. „Ach übrigens, glaubst du, dass wir ein paar Bierchen haben könnten? Dieser Champagner ist nichts für mich. Wie ist es mit dir, Thayer?“

„Die Bar in der großen Halle ist gefüllt mit Bier vom Fass und allen möglichen einheimischen und importierten Sorten in Flaschen. Bedient euch“, forderte Jon sie auf.

Er sah Sabrina an, und seine Augen waren seltsam dunkel, als er sie studierte und abschätzte und dabei irgendwie abweisend wirkte.

„Entschuldigen Sie mich bitte“, sagte er plötzlich und ging davon.

4. KAPITEL

Reggie Hampton hakte sich bei Sabrina unter. „Meine Liebe, Sie sind eine frische Brise hier. Sagen Sie mir, wie es Ihnen seit Juli ergangen ist.“

Sabrina bemühte sich, Jon Stuart nicht nachzusehen, während er davonschritt. Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit Reggie zu widmen, und erzählte begeistert: „Ich war zu Hause und habe meine Familie besucht.“

„Auf der Farm?“

„Ja. Ich habe inzwischen ein Apartment in New York. Aber ich bin eine Weile bei meiner Familie und meiner Schwester geblieben. Sie hat ein Baby bekommen, ihr erstes. Ein Junge. Natürlich sind wir alle ganz begeistert. Ich bin einige Monate nach der Geburt dort geblieben, um zu helfen.“

„Sie sollten bald selbst Kinder haben.“

„Reggie, heutzutage hat nicht mehr jede Frau Kinder.“

„Aber Sie wollen doch Kinder, oder?“

„Ja, irgendwann, wenn die Zeit reif ist.“

„Werden Sie Brett wieder…“

„Nein. Genug jetzt von mir, Reggie. Wie geht es Ihrer Familie?“

Reggie berichtete kurz von ihren Söhnen, Enkelsöhnen und der neuen Enkeltochter. Unterdessen schlenderten sie zur großen Halle hinüber, in der das Dinner serviert wurde. Die anderen hatten sich bereits um die Bar versammelt und holten sich Drinks.

Brett tauchte wieder auf, um Sabrina mit einem Gin Tonic zu versorgen, und flüsterte ihr dabei glücklich zu, dass er die Platzkarten vertauscht habe, damit sie am Tisch zusammensitzen konnten. Sie setzten sich, und es gab ein vorzügliches Essen mit Fasan und Fisch. Während der Mahlzeit wurde so viel geredet und gelacht, dass man sich an ein Klassentreffen erinnert fühlte. Nach einer Weile erhob sich Jon, dankte ihnen noch einmal für ihr Kommen und erinnerte sie, dass sie nicht nur zum Spaß hier waren, sondern auch zum Wohle der Kinder. Jeder Autor hatte sich eine bestimmte Wohlfahrtseinrichtung für Kinder ausgesucht, und der, der das Rätsel um den Mordfall löste, strich für seine Organisation den Löwenanteil der Spenden ein.

„Wann fangen wir an?“ rief Thayer.

„Morgen früh“, antwortete Jon. „Alle, die ausreichend Energie haben, dürfen den Abend gern für Gespräche miteinander nutzen. Alle, die durch die Zeitverschiebung erschöpft sind, dürfen gern schlafen. Ansonsten verläuft alles ziemlich so wie in den vorangegangenen Jahren. Camy und Joshua haben die Einzelheiten ausgearbeitet. Ich weiß genauso wenig, wer der Mörder ist, wie ihr. Morgen früh bekommt jeder die Charakterisierung seiner jeweiligen Rolle und eine Beschreibung der Situation. Irgendwer wird erfahren, dass er oder sie der Mörder ist, und dann muss er sich an die Arbeit machen, ehe er entdeckt wird. Der Mörder erhält auch eine Liste, in welcher Reihenfolge er seine Opfer umzubringen hat. Die ‚Opfer’ werden mit auswaschbarer roter Farbe umgebracht, und natürlich übernehmen wir alle eventuell notwendigen Reinigungskosten. Sonst noch Fragen?“

„Sicher“, meldete sich Joe Johnston zu Wort. „Selbst wenn ich nicht der Mörder sein sollte, darf ich Susan trotzdem erschießen?“

Gelächter erhob sich und verebbte, als Susan strafende Blicke durch den Saal schleuderte. „Du stehst auch ganz oben auf meiner Abschussliste, Joe“, versprach sie ihm zuckersüß. Sie zielte mit dem Zeigefinger auf ihn und machte ein Plop-Geräusch, als würde sie eine Waffe abdrücken. „Und dann wirst du mit etwas viel Schlimmerem als roter Farbe bedeckt sein!“

„Kommt, kommt, Kinder, benehmt euch“, mahnte Anna Lee Zane nachdrücklich.

„Schon gut, tut mir Leid“, entschuldigte sich Joe.

Anna Lee schüttelte den Kopf, als sei es ebenso schwer, mit Autoren umzugehen, wie mit ungezogenen Kindern.

Jon erhob sich. „Wenn ihr mich bitte entschuldigt, ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen. Bitte fühlt euch wie zu Hause. Wir treffen uns morgen früh um neun hier wieder. Für alle Frühaufsteher steht ab sechs Uhr Kaffee auf dem Buffet bereit.“

Er verließ die große Halle und schloss die Doppeltüren hinter sich. Sabrina sah ihm nach, nagte an ihrer Unterlippe und wünschte plötzlich, sie wäre nicht gekommen.

Brett legte auf dem Tisch seine Hand über ihre. „Möchtest du dir mein Zimmer ansehen?“ fragte er hoffnungsvoll.

Sie zog die Hand zurück und musste lächeln, weil er wie ein Kind sein konnte, beharrlich und unfähig, eine Niederlage einzusehen.

„Nein, ich gehe zu Bett.“

„Das kannst du auch mit mir.“

„Um zu schlafen. Ich gehöre zu den Gästen mit Jetlag. Ich bin gestern Abend spät in London angekommen und war erst heute Nachmittag hier. Ich bin müde.“

„Also gut. Ich bin gleich neben dir. Wenn du also deine Meinung änderst, oder wenn es in der Nacht anfängt zu poltern.“

„Danke, ich werde daran denken.“ Sie winkte den anderen zum Abschied zu und verließ ebenfalls die Halle.

Das Foyer des Schlosses und die herrliche Treppe waren leer. Da die Türen zur Bibliothek und zur Halle geschlossen waren, fühlte Sabrina sich plötzlich sehr allein in dem alten Gebäude.

Sie eilte die Treppe hinauf und den oberen Flur mit seinen normannischen Torbögen entlang zu ihrem Zimmer.

Das war riesig, hatte jedoch trotz Modernisierung sein historisches Flair bewahrt und verströmte eine unglaubliche Wärme und Behaglichkeit. Das Bett stand auf einem mit dickem Teppich belegten Podest. Schwere Vorhänge vor den Balkontüren hielten kalte Zugluft ab. Einbauschrank und Bad waren ebenfalls geräumig, und neben dem massiven Kamin stand ein antiker Schreibtisch. Im Kamin war ein Feuer entzündet worden, das jetzt hell brannte. Als sie eingetreten war, zögerte sie kurz an der Tür und schob dann sorgfältig den Riegel vor.

Sie schüttelte die Schuhe von den Füßen, zog die Strümpfe aus und ging barfuß zu den gläsernen Balkontüren, die die Nacht ausschlossen. In der Ferne erkannte sie hügelige Felder, die schimmernde Oberfläche des kleinen Sees und die dunklen Grate der Berge weit dahinter. Der Ausblick war selbst bei Mondschein atemberaubend schön. Diese Reise war die Chance ihres Lebens.

Trotzdem – sie hätte nicht kommen sollen.

Sabrina atmete tief und zittrig ein. „Also“, fragte sie sich halblaut, „bist du hergekommen, um dich zu überzeugen, dass deine kurze, schillernde Affäre mit ihm vollkommen vorbei und vergessen ist? Oder hast du gehofft, ungeachtet der Konsequenzen noch einmal mit ihm zu schlafen?“

Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Wie demütigend. Würde er noch einmal mit ihr schlafen wollen? Zweifellos hatte sie den Ruf, etwas… flatterhaft zu sein. Man bedenke nur, wie sie Brett verlassen hatte, einfach nackt davonzulaufen…

Seltsam. Brett war okay. Es gefiel ihr, dass sie noch Freunde waren. Irgendwie war es sogar schmeichelhaft, dass er ihr immer noch nachstieg. Was er damals getan hatte, war schlimm gewesen, aber sie hatte sich auch nicht einwandfrei verhalten. Sie hatte ihn geheiratet, ohne ihn wirklich zu lieben.

Weil sie natürlich in Jon Stuart verliebt gewesen war.

Eine kühle Brise umfing sie, und sie erinnerte sich an ihren ersten Besuch in New York. Sie war auf einer Party gelandet, die ihr Verleger für einen anderen Autor gegeben hatte, dessen Stück soeben am Broadway herausgekommen war. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wer der gut aussehende Mann war, den sie da kennen lernte, außer dass er Jon hieß. Er hatte sie zum Lachen gebracht, als er von den Schrecken der Großstadt berichtete und vom todesmutigen Wagnis der ersten Begegnung mit einem New Yorker Taxifahrer, das es zu überleben galt.

Zugegeben, sie hatte zu viel getrunken. Sie war euphorisch gewesen über den Verkauf ihres ersten Buches und begeistert über ihre neue Bekanntschaft. Er hatte ein Auto und erbot sich, sie zum Hotel zurückzufahren.

Während der Fahrt war sie an seiner Schulter eingeschlafen. Als sie das Hotel erreichten, war sie benommen, betrunken und verwirrt gewesen. Sie erinnerte sich, wie sie die Augen geöffnet und sein Gesicht über sich gesehen hatte, die Augen dunkel, schillernd, faszinierend. „Wir sind da“, hatte er gesagt.

Sie hatte genickt, sich jedoch nicht geregt. Und dann hatte er hinzugefügt: „Ich kann dich in dein Zimmer hinauftragen, was ich vermutlich tun sollte. Denn wenn ich dich mit nach Hause nehmen, nutze ich die Situation garantiert aus. Ich kann gar nicht anders.“

Wie sie da auf dem Balkon in der kühlen Brise stand, erinnerte sich Sabrina an ihre Antwort.

„Ja, bitte, tu das.“

Kein Schwips konnte das entschuldigen, sagte sie sich heute. Sie schlang die Arme um sich. Dennoch, es war wunderbar gewesen. Die schönste Zeit ihres Lebens. Sie waren zu seiner Wohnung in der City gefahren, und er hatte sie die Treppe hinaufgetragen. Er hatte sie in seinem Schlafzimmer entkleidet. Selbst bereits nackt, hatte er sie gefragt, ob sie sich ihrer Sache auch wirklich sicher sei…

Dann hatte er sie geküsst, und für den Rest ihres Lebens würde sie nicht vergessen, wie er ihren Körper berührt hatte, die heißen Lippen überall, fordernd, intim. Sie würde sich ewig erinnern, wie er sich angefühlt hatte. Vor allem erinnerte sie sich an das Muttermal an seinem Rücken in Höhe der Taille.

Der Zauber dieser Nacht war unbeschreiblich gewesen. Am nächsten Morgen hatten sie zusammen das Frühstück zubereitet. Später waren sie durch das Metropolitan Museum of Modern Arts geschlendert, hatten chinesisch gegessen und den Abend wieder damit verbracht, sich zu lieben. Absurderweise hatte sie trotz allem erst am folgenden Morgen nach seinem Familiennamen gefragt und erfahren, dass er „der“ Jon Stuart war, der bekannte Autor.

Jon war unter der Dusche gewesen, als seine „Verlobte“ Cassandra plötzlich auftauchte. Im Bademantel, das nasse Haar am Kopf klebend, hatte Sabrina verblüfft die Tür geöffnet. Cassandra hatte sie von oben bis unten mit einem abschätzenden Blick gemessen, nicht etwa ärgerlich, sondern amüsiert. Mit dem Kommentar, sie sei nichts weiter als ein lästiges kleines Flittchen, hatte sie ihr einige Geldnoten hingeworfen und sie aufgefordert zu verschwinden.

Am meisten bedauerte Sabrina heute, dass sie der Aufforderung gefolgt war… nachdem sie das Geld zurückgeworfen hatte selbstverständlich. Sie kam von einer Farm im Mittleren Westen, und trotz einer College-Ausbildung, ein wenig Arbeitserfahrung und einer vierjährigen Beziehung zum Vorsitzenden des Debattierclubs ihres College, war sie unglaublich naiv gewesen.

Jedes Mal, wenn ihr die Szene von damals durch den Kopf ging, fühlte sie sich aufs Neue gedemütigt und sie war wieder wütend auf sich selbst. Wo war ihr Rückgrat gewesen? Warum hatte sie dieser Frau nicht die Stirn geboten? Sie hätte sie herausfordern sollen… aber sie hatte es nicht getan. Vielleicht war sie zu verblüfft gewesen oder zu unsicher. Sie hatte sich ihre Kleidung geschnappt und war gegangen.

Jon hatte ihr keine Versprechungen gemacht. Er war ehrlich zu ihr gewesen. Er hatte sich nach ihrem Leben erkundigt und dann seine Beziehung zu Cassandra gestanden. Angeblich hatten die zwei sich jedoch schon so oft getrennt, dass man kaum noch von einer Beziehung reden konnte. Wenn sie heute an diese Geschichte zurückdachte, erkannte sie, dass sie einfach Angst gehabt hatte, den Kürzeren zu ziehen, wenn Jon sich zwischen ihnen beiden hätte entscheiden müssen. Inzwischen hatte sie gelernt: leben heißt, Risiken einzugehen. Leider kam die Erkenntnis ein bisschen spät.

Jon hatte sie gesucht und in Huntsville aufgestöbert. Allerdings hatte sie ihre Mutter gebeten, ihm zu sagen, sie sei nach Europa abgereist. Er hatte ihr geschrieben, dass er nicht verlobt sei und in jener Nacht, als sie zusammen waren, keinerlei Bindungen gehabt habe. Er hatte sie gebeten, Kontakt mit ihm aufzunehmen, da er ihre Mutter nicht habe überreden können, das Lügen für sie aufzugeben.

Sie war gerade dabei gewesen, sich zu der Erkenntnis durchzuringen, dass es töricht war, ihm nicht zu antworten, als sie hörte, dass er und Cassie den entscheidenden Schritt getan und nach einer Nacht in Las Vegas geheiratet hatten.

Nicht viel später hatte sie Brett geheiratet.

Ende der Geschichte.

Bis sie dann nackt aus der Flitterwochensuite gerannt war. Und Cassandra Stuart war vom Balkon in die wartenden Arme des Todes gestürzt.

Der Wind wurde schärfer. Fröstelnd blickte Sabrina in die Dunkelheit hinaus.

Der Mond stand sehr hoch und mühte sich, durch die Wolkendecke zu scheinen. Die Außenbeleuchtung tauchte den Innenhof unten in schwaches Licht. Das Schloss war U-förmig um den Innenhof herum gebaut. Das Hausmädchen, das sie vorhin auf ihr Zimmer geleitet hatte, hatte ihr erzählt, dass am Ende des linken Flügels das herrschaftliche Schlafzimmer lag, mit Balkons zum Innenhof und zur Rückseite.

Sabrina sah in die Richtung und erkannte im Mondschein auf dem Balkon die Gestalt eines Mannes. Der Wind blähte ihm das Hemd und wehte ihm das Haar zurück. Er stand aufrecht und still da und starrte den Mond an.

Dann drehte er sich um. Sie wusste, er beobachtete sie, und sie beobachtete ihn.

Es war Jon. Wie sie so dastand und ihn betrachtete, fragte sie sich, ob er litt, ob er seine Frau vermisste, ob er über ihren Tod nachsann.

Er hob eine Hand zum Gruß.

Sabrina wich in den Türrahmen zurück. Ein Schrei wollte sich ihrer Kehle entringen, als sie plötzlich glaubte, jemand sei hinter ihr.

Einen Moment lang übermannte sie eine eigenartige Furcht. Sie stand auf einem Balkon. Und wie auch die Umstände gewesen sein mochten, Cassandra war von einem Balkon gestürzt, nicht weit von hier. Sie war in die Arme der Poseidonstatue unten gefallen. Sein Dreizack hatte sie aufgespießt, und sie war sofort tot gewesen, ehe ihr Mann zu ihr zurücklaufen konnte. Poseidon stand immer noch unter dem Balkon, wenn auch die Rosenbüsche, die seinen Brunnen umgaben, nicht mehr blühten.

In Kenntnis dieser Vorgänge war es leicht, der Fantasie die Zügel schießen zu lassen und sich einzubilden, dass jemand hinter ihr stand, bereit, sie zu stoßen.

Doch als sie herumfuhr, war niemand da. Sie ging ins Zimmer zurück und vergewisserte sich, dass der Riegel noch vorgeschoben war.

In jedem Gästezimmer stand eine Flasche Brandy.

Sabrina hasste Brandy. Doch jetzt schenkte sie sich ein Glas ein und trank naserümpfend einen großen Schluck. Wenn du diese Woche überleben willst, musst du deine überhitzte Fantasie abkühlen, sagte sie sich.

Brett gegenüber hatte sie vorgegeben, müde zu sein, und das stimmte auch. Sie zitterte vor Erschöpfung durch Zeitverschiebung und Schlafmangel.

Trotzdem wurde sie nicht schläfrig.

Sie blieb noch stundenlang wach, trank Brandy, verzog bei jedem Schluck angewidert das Gesicht und las einige Magazine, die sie sich für den Flug gekauft hatte.

Sie hatte V.J.s letztes Buch dabei, und nachdem sie die Magazine durchhatte, begann sie darin zu lesen, bis sie merkte, dass ihre Konzentration nachließ. Schließlich legte sie sich hin, um auszuruhen.

Doch auch als sie endlich eingeschlafen war, wälzte sie sich unruhig im Schlaf und hatte beängstigende Träume.

In der Dunkelheit der Nacht schlich er die Stufen hinunter, leise wie ein Geist. Er versuchte sich einzureden, dass alles gut werden würde, dass er keine Angst zu haben brauchte.

Doch er hatte Angst. Denn er liebte sie.

Sie hatten ihr Treffen arrangiert, trotzdem war er plötzlich lächerlich unsicher. In dem alten Kellergewölbe war ihm auf einmal, als würden längst tote Mörder wieder lebendig, als verhöhnten sie ihn mit der Behauptung, er sei nicht besser als sie, obwohl er die Tat nicht selbst ausgeführt hatte. Das Licht war blass, bläulich und warf teuflische Nebel über die Gesichter von Folterknechten und Schwertkämpfern. Henker in ihren schwarzen Masken schienen sich zu bewegen, ihn herauszufordern, zu warnen.

Er kam zu der Szene mit Lady Ariana Stuart auf der Folterbank. Einen Moment blieb er stehen und vergaß Angst und Vernunft. Sie war von allen Figuren die schönste. Der Ausdruck von Unschuld und Aufrichtigkeit in ihren Augen war realistisch und sehr typisch für Sabrina Holloway. Erneut verblüfft über die Ähnlichkeit mit der lebenden Frau, die ihm nun wieder begegnet war, wollte er hinlangen, sie berühren und die Schöne aus den bedrohlichen Fängen des Biestes retten.

„Mein Liebling.“

Das Flüstern holte ihn in die Gegenwart zurück, und er fuhr herum. Sie war gekommen. Sie eilte auf ihn zu, und er umarmte sie. „Warum hast du solche Angst? Warum müssen wir uns im Geheimen treffen?“ fragte er sanft.

Sie schüttelte den Kopf an seiner Brust. „Es ist alles so gefährlich. Ich weiß, dass sie es wissen. Ich weiß, dass wir in Gefahr sind. Ich wünschte nur…“

„Hab keine Angst. Mach dir keine Sorgen, ehe es Grund dazu gibt.“

Sie schüttelte wieder den Kopf und wich zurück. „Du hast keine Ahnung, wie bösartig, wie gefährlich sie sein können!“

„Unser Spiel ist gefährlich, mein Schatz. Wir dürfen nicht überreagieren. Wir müssen warten, lauschen, beobachten und… abwarten, was geschieht.“

Sie lehnte sich an ihn. „Ich habe solche Angst. Halt mich fest.“

Er tat es und spürte, wie sie den Körper an seinen drängte, ihn berührte. Sie zerrte an seiner Kleidung. Ihre Hände fanden nacktes Fleisch. Zu seinem Erstaunen wurde er augenblicklich hart, da heftiges Verlangen ihn durchzuckte. Er sah sich in der makaberen Umgebung um, erstaunt, irgendwie angewidert und vielleicht gerade deshalb heftig erregt.

„Jemand könnte kommen. Sieh nur, wo wir sind…“

Sie schienen ihn anzustarren, die Scharfrichter in ihren schwarzen Kapuzen, Mörder, Henker, Halunken. Jeanne d’Arc, heilig an ihrem Pfahl auf dem Scheiterhaufen.

Sie lachte leise, und der Klang ihres Lachens ging ihm unter die Haut. Aufstöhnend ließ er sich mit ihr nieder, und innerhalb von Sekunden lagen sie ausgestreckt auf dem kalten Boden. Halb nackt, in bläuliches Licht getaucht, war sie unersättlich, als sie sich auf ihm bewegte. Sie schrie auf, und er versuchte, sie zum Schweigen zu bringen. Doch sie lachte nur, und als sie beide erschöpft waren, lag sie neben ihm und betrachtete die sie umgebenden Gesichter. „Das hat Spaß gemacht, es war wie eine Orgie“, spottete sie.

„Du machst mir Angst.“

„Komm schon. Es war, als würden alle zusehen. Das hat mich unheimlich angemacht.“

Er zögerte. „Du hast… ihr gern zugesehen“, vermutete er und erkannte plötzlich die Wahrheit.

Sie zuckte die Achseln. „Na und? Das hat mich auch angemacht.“

„Aber es ist gefährlich, uns hier so zu treffen“, sagte er ihr. „Alles, was wir tun, ist gefährlich. Die Tage, die jetzt kommen, sind gefährlich. Wir wissen nicht, was die anderen wissen, was sie gesehen haben, was sie vielleicht vermuten…“

„Wir werden vorsichtig sein“, flüsterte sie. „Es wird alles gut. Aber ich muss bei dir sein…“

Er nickte leicht.

Sie wusste, wie sie zu ihm durchdrang, wie sie sein Verlangen weckte. Denn er liebte sie. Natürlich.

Er schloss kurz die Augen, öffnete sie und erschrak.

Sie sah ihn an. Lady Ariana Stuart hatte sich ihm zugewandt und betrachtete ihn mit ihren großen, weit stehenden schönen blauen Augen.

Sie beobachtete alles.

Er konnte ihren Blick spüren. Wie sie ihn ansah, ihn betrachtete. Beobachtete…

Es erregte ihn.

Und doch war es gefährlich.

Er war erregt und ängstlich zugleich.

Es war, als wisse sie…

Ich will Jon Stuart nicht, das hatte Sabrina sich immer wieder eingeredet. Sie war nicht mehr jugendlich naiv. Sie war jetzt älter und weiser. Doch in ihren Träumen lag sie nackt im Bett, wartete und sehnte sich…

Denn er war da. Groß, schwarz gekleidet, stand er neben ihr…

Es war Jon.

Nein, war er nicht. Die große Gestalt war von blaugrauem Nebel umwallt und veränderte sich mit jedem Luftzug.

Es war der Folterknecht, bereit, sie zu quälen und zu zerstören. Doch sie war gefangen, festgebunden, unfähig, sich zu bewegen und zu fliehen. Starke Seile hielten sie. Alles, was sie tun konnte, war, mit einem flehenden, in Wachs gegossenen Blick aufzuschauen in die Augen des Todes.

Sie wachte erschrocken auf, zitternd und schweißgebadet. Ruckartig richtete sie sich auf und sah sich um.

Das Zimmer war leer. Das Feuer im Kamin war fast heruntergebrannt. Mondschein fiel herein.

Sie sah deutlich, dass sie allein war, vollkommen allein.

Und doch schien es ihr…

Da war etwas bei ihr, ein Duft, ein Gefühl, da lag etwas in der Luft. Sie wurde das Gefühl nicht los, jemand sei hier gewesen. Jon etwa? Oder vielleicht Brett? Oder die Gestalt eines mittelalterlichen Folterknechtes in Wachs?

„Du hast zu viel Zeit im Kellergewölbe verbracht“, sagte sie sich leise. Doch ihre Verunsicherung blieb.

Sie stand auf und prüfte die Tür. Der Riegel war noch vorgeschoben. Sie hatte geträumt, denn sie war allein.

Zitternd rollte sie sich wieder im Bett zusammen und versuchte weiterzuschlafen. Doch der Mond begann unterzugehen, und bald würde die Morgendämmerung anbrechen.

Sie setzte sich wieder hin. „Zur Hölle mit dem ganzen Mist!“ schimpfte sie vor sich hin.

Schließlich stand sie auf, duschte und fand sich als Erste in der großen Halle zum Sechsuhrkaffee ein.

Doch nicht einmal der Kaffee und das Tageslicht konnten ihr sonderbares Gefühl verdrängen, sie sei nicht allein gewesen…

Je länger Sabrina darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, jemand war bei ihr gewesen in dem verschlossenen, verriegelten Zimmer.

5. KAPITEL

Sabrina hatte hämmernde Kopfschmerzen und war so müde und erledigt, dass sie kaum aufrecht sitzen konnte.

Und natürlich war die Erste, die zum Frühstück in der großen Halle erschien, Susan Sharp.

„Guten Morgen! Schön, Sie zu sehen!“ sagte Susan mit einer Munterkeit, die doppelt ärgerlich war. „Ist das nicht ein geradezu hinreißendes Schloss? Ich habe geschlafen wie ein Baby.“

„Das Schloss ist schön“, bestätigte Sabrina.

Susan zog sich an dem polierten Eichentisch den Stuhl neben ihr zurück. „Können Sie glauben, dass Cassandra das Schloss absolut hasste?“

„Tatsächlich?“

Susan nickte grimmig und rührte Süßstoff in ihren Kaffee. „Sie hasste es. Ich habe nie verstanden, warum Jon das toleriert hat.“ Achselzuckend fügte sie hinzu: „Ehrlich gesagt, ich habe nie verstanden, warum er sie überhaupt geheiratet hat.“

„Nun ja, sie war schön. Und klug“, hörte Sabrina sich erwidern.

Susan zog die Nase kraus. „Schon… nun ja, Jon sieht ja auch nicht übel aus. Er hätte Dutzende Frauen haben können. Und hatte wohl auch tatsächlich Dutzende. Warum hat er ausgerechnet sie geheiratet?“

„Er muss sie wohl geliebt haben.“

„Ja, vielleicht. Aber ich kann Ihnen eines verraten: Vor ihrem Tod war er so weit, sich von ihr scheiden zu lassen.“

„Woher wissen Sie das?“

Susan gab Milch in ihren Kaffee. „Weil ich hier war, wie Sie wissen. Die zwei haben sich gestritten wie die Kesselflicker. Jon hat das Landleben immer sehr geliebt. Er ist nicht mit Geld aufgewachsen, wissen Sie. Seine Familie erbte dieses Schloss, aber das war eher ein Desaster und eine große finanzielle Belastung. Als Jon das Erbe antrat, saß sozusagen der Pleitegeier auf dem Dach. Cassandras Familie schwamm im Geld. Ihr hat es nie an irgendetwas gemangelt. Es liegt Jon sehr am Herzen, Wohlfahrtseinrichtungen für Kinder zu unterstützen, und seine Krimi-Wochen bringen einiges Geld dafür ein.“

Nach einem Schluck Kaffee fuhr sie fort: „Cassandra mochte diese Veranstaltungen nicht, und sie verabscheute die Hälfte seiner Freunde. Sie konnte V.J. nicht ausstehen, weil die sich nicht von ihr beeindrucken ließ. V.J. sagte immer, was sie dachte… Sie wissen, wie sie ist. Cassie quälte Jon jedes Mal, wenn er so eine Krimi-Woche abhielt. Sobald die Woche anlief und Cassie als Gastgeberin fungieren sollte, fiel ihr plötzlich ein, sie könne das alles nicht ertragen. Dann machte sie eine Szene oder verschwand einfach. Ich weiß, dass Jon sich kurz vor ihrem Tod entschlossen hatte, endgültig Schluss mit ihr zu machen.“

„Ja, vielleicht hatten die beiden Probleme“, räumte Sabrina ein, „aber woher wollen Sie wissen, dass ihre Ehe am Ende war?“

„Weil ich Jon kenne“, schnurrte Susan. Sie lehnte sich zurück und hob in einer lässigen Geste die Finger mit den langen Nägeln. „Aber Jon hat sich nicht als Einziger mit Cassandra gestritten. Cassie und Anna Lee Zane waren die Woche über alles andere als zivilisiert miteinander umgegangen. Zum einen hatte Cassie im Nationalen Fernsehen ein vernichtendes Urteil über Annas letztes Buch abgegeben. Und zum anderen sieht Anna natürlich hinreißend aus und ist seit langem mit Jon befreundet. Cassandra hat nie begriffen, was Freundschaft ist, schon gar nicht zwischen Mann und Frau, selbst wenn diese Frau bisexuell veranlagt ist. Allerdings muss ich gestehen, dass ich solche Freundschaften auch nicht ganz verstehe. Ich meine, es ist doch schwer, einen Mann zu mögen und nicht mit ihm schlafen zu wollen.“

Susan hob kurz die Schultern und fuhr fort: „Aber das ist jetzt nicht der Punkt. Cassie hat auch Tom Heart in einer Beurteilung fertig gemacht, was ihn die Aufnahme in eine wirklich wichtige Anthologie kostete, die letztes Jahr herauskam. Und natürlich befürchtete sie auch, dass Jon mit einem weiblichen Hausgast schlief. Sie selbst schlief aber angeblich auch mit jemand anders. Ich weiß nicht, ob das wirklich zutrifft oder nicht, denn sie verehrte Jon. Das tat sie wirklich. Sie wusste nur einfach nicht, wie sie sich als seine Frau verhalten sollte. Sie war ständig eifersüchtig und forderte ihn dauernd heraus. Gerade so, als müsste sie ihn wissen lassen, dass andere Männer sie anziehend fanden, dass sie ein Sonderpreis war, den er gefälligst zu würdigen hatte. Jon reagierte nie freundlich auf Drohungen. Andererseits stieß sie ständig Drohungen gegen jedermann aus – sie schien dauernd ein Damoklesschwert über die Köpfe anderer halten zu müssen.“

„Und Sie haben natürlich auch mit ihr gestritten.“

„Natürlich“, gestand Susan lächelnd. „Ich sagte schon, dass ich sie gehasst habe. Sie war das schlimmste Luder, das die Menschheit je kannte.“

„Ach, jetzt komm aber!“ beschwichtigte Brett und ging zum Buffet. Er schenkte sich Kaffee ein und nahm an Sabrinas anderer Seite Platz. „War Cassie wirklich so ein Ekel? Oder wurde sie nur missverstanden? Vielleicht war es auch schwer, mit Jon Stuart verheiratet zu sein und sich jeder seiner Launen zu fügen. Sie liebte das Großstadtleben, Glamour und Aufregung, und er verkroch sich gern hier auf dem Land und sah dem Wind beim Wehen zu.“

„Das ist nicht wahr“, widersprach Susan entschieden und verteidigte Jon. „Er hat auch Wohnungen in London, New York und L.A.“

„Armer Junge“, bemerkte Brett trocken.

„Armer Junge, in der Tat!“ schnaubte V.J. verächtlich, als sie hereinkam, und wuschelte Brett die Haare. „Als würdest du finanziell darben nach deinem neuen Vertrag!“

Brett lächelte verlegen. „Okay, also ich bin auch kein armer Junge. Im Moment ist das Glück mir hold. Und ich werde demnächst richtig reich sein. Du solltest mich wirklich wieder heiraten, Sabrina.“

„Keine Chance, fürchte ich.“

„Dann schlaf mit mir. Männer zeigen sich gegenüber ihren Geliebten immer äußerst großzügig. Und wir waren gut zusammen oder?“

Susan und V.J. starrten sie geradezu an.

„Brett!“ empörte sie sich.

Er ignorierte ihren Protest und wandte sich stattdessen wieder Susan zu. „Ich staune, dass du Jon heute so verteidigst. Dabei warst du damals absolut überzeugt, dass er Cassie umgebracht hatte.“

„Sei nicht albern. Er war doch draußen, als sie stürzte.“

„Er könnte jemand angeheuert haben, es für ihn zu erledigen“, erwiderte Brett und zog die Brauen hoch.

„Ist das nicht ziemlich taktlos, wie wir hier herumsitzen und darüber debattieren, ob unser Gastgeber ein Mörder ist?“ fragte V.J.

„Schließlich ist dies eine Krimi-Woche“, hielt Brett dagegen.

Wie aufs Stichwort kam Camy Clark mit einem Stapel Briefumschlägen in den Raum. „Guten Morgen allerseits.“

„Allerseits ist nicht da“, entgegnete Susan schnippisch.

Sabrina fragte sich stirnrunzelnd, warum Susan ständig derart ruppig zu Jons Assistentin sein musste. Camy störte niemand, sie war zurückhaltend und trat kaum in Erscheinung.

„Es ist zwar noch früh“, begann Camy, „aber wenn Sie wollen…“

„Ah, Sie haben unsere Rollenbeschreibungen und Anweisungen“, fiel Brett ihr ins Wort und schenkte ihr ein hinreißendes Lächeln.

Camy errötete lächelnd. „Ja, in der Tat. Denken Sie bitte dran, jeder darf zwar erfahren, welche Rollen die anderen spielen, aber mehr auch nicht. Im Verlauf des Spiels erhalten Sie weitere Anweisungen. Der Mörder kennt natürlich seine Rolle als Täter und weiß, wo er die Mordwerkzeuge bekommt. Und denken Sie auch daran, dass der Mörder einen Komplizen haben kann. Wer getötet wird, lebt als Geist weiter und darf die übrigen Mitspieler vor drohender Gefahr warnen und helfen, das Rätsel zu lösen.“

„Ich sterbe vor Neugier auf meinen Umschlag“, sagte Susan mit Betonung auf dem Wort sterbe.

Die anderen lachten. Als Camy begann, die Umschläge zu verteilen, kamen immer mehr Mitspieler in die Halle. Anna Lee sah hinreißend aus in Keilhose und schulterfreiem Top. Reggie trug das unvermeidliche geblümte Kleid. Tom Heart, groß und würdevoll, war in Jackett mit Flanellhose gekleidet. Thayer Newby kam in salopper Hose und einem T-Shirt. Joe Johnston war leger in Golfhemd und Baumwollhose gekleidet. Joshua Valine sah nach Künstler aus in einem Jeanshemd mit Farbspritzern, weißem T-Shirt und Workerhose. Dianne Dorsey trug einen knöchellangen Rock und ein ärmelloses Strickoberteil. Und dann kam Jon.

Auch er war salopp gekleidet in Jeanshemd, dessen Ärmel er aufgerollt hatte, und eng anliegenden Jeans. Sein dunkles Haar war noch feucht, als hätte er gerade geduscht. Sabrina fragte sich unwillkürlich, ob er lange geschlafen hatte, weil er lange auf gewesen und rastlos durch sein nächtliches Schloss gewandert war. Ihre Tür war verriegelt gewesen. Na wenn schon. Nur, weil sie ihre leichtsinnige sexuelle Begegnung vor einigen Jahren nicht vergessen konnte, gab es keinen Grund anzunehmen, dass Jon noch irgendein Interesse an ihr hegte. Ihr Ruf war schließlich nicht der beste.

Sie stand auf, um sich Kaffee nachzuschenken. V.J. trat neben sie und hielt ihr die Tasse hin, damit sie auch ihr einschenkte.

„Aha, du beobachtest unseren Gastgeber“, stellte V.J. mit gedämpfter Stimme fest, während Jon Camy und Joshua begrüßte, um sich ihre letzten Anweisungen anzuhören.

„Er ist ein interessanter Mann“, erwiderte Sabrina gleichmütig.

„Und natürlich bleibt die Frage, ist er ein Mörder? Hält Susan ihn wirklich dafür? Allerdings glaube ich kaum, dass sie Cassies Tod als Mord einstuft. Falls Jon seine Frau umgebracht haben sollte, wäre das in Susans Augen gerechtfertigter Totschlag.“ V.J. nippte an ihrem Kaffee. „Ich fürchte, die Hälfte der hier Versammelten hält die Tötung von Cassandra Stuart für einen Dienst an der Menschheit.“

„Ladies!“ tadelte Reggie von hinten. „Wir sollen nicht schlecht von den Toten reden.“

„Auch dann nicht, wenn die Toten viel Schlimmes angerichtet haben?“ raunte Joe Johnston hinter ihr.

„Sabrina“, sagte Camy und kam quer durch den Raum auf sie zu. Sie blieb stehen, errötete und berichtigte sich: „Miss Holloway.“

„Sabrina bitte.“

Camy errötete wieder. „Ihr Umschlag. Jetzt bekommen Sie erst nur Ihre Rollen zugeteilt. Anweisungen, was Sie tun und wohin Sie sich begeben sollen, erhalten Sie später.“

„In Ordnung, danke.“

„Haben Sie auch meinen Umschlag?“ fragte V.J.

Camy überreichte ihn ihr und gab einen weiteren Reggie.

„Autsch!“ rief Reggie aus und blickte lächelnd auf. „Ich bin die Rote Lady – eine Stripperin, die versucht, sich zu bessern, oder wenigstens so tut als ob.“

„Großartig“, stöhnte Thayer Newby auf und spannte die Muskeln. „Ich bin der weibische Tänzer JoJo Scuchi.“

„JoJo Scuchi?“ wiederholte Brett lachend.

„Sieh erst mal in deinem Umschlag nach“, warnte ihn Thayer.

Brett las seinen Brief und verzog das Gesicht. „Ich bin Mr. Buttle, der Butler. Ich stehe auf Platz zwei der Bestsellerliste der New York Times, und die machen mich zum Butler!“ klagte er.

Sabrina las ihre Anweisung und begann zu lachen.

„Und wer bist du, meine Liebe?“ erkundigte sich Brett.

„Die Herzogin, ich leite den Kirchenchor.“

„Wie treffend. Die Lady, die nackt aus der Flitterwochensuite rannte“, betonte Susan, und ihr Blick wanderte zwischen Sabrina und Brett hin und her. „Keiner von euch beiden hat den Vorfall je erklärt“, bemängelte sie verschlagen.

Sabrina lebte nun schon lange mit dieser Erinnerung, doch jedes Mal spürte sie wieder den Zorn von damals in sich aufwallen und ihre Wangen rot werden. Besonders, da Jon diesen Wortwechsel aufmerksam verfolgte. Etwa auf eine Antwort wartend?

Wohl eher nicht, denn er war derjenige, der Susan antwortete. „Und ich finde, dass sie niemandem eine Erklärung dafür schuldig sind, Sue.“

Susan öffnete den Mund, als wolle sie widersprechen, schloss ihn jedoch gleich wieder zu und reckte nur leicht trotzig das Kinn vor.

„Aber Susan“, fuhr Joe Johnston fort und las Sabrinas Brief über deren Schulter hinweg, „die Herzogin leitet den Kirchenchor nur am Tag. Nachts wirft sie sich in ein hochklassiges Callgirl-Outfit!“

„He, es ist ein dreckiger Job, und irgendwer muss ihn machen“, verteidigte Brett sie. „Hat der Butler auch was damit zu tun?“

„Der Butler ist immer der Mörder“, neckte Reggie.

„Ich meine doch, ob er was mit dem Sex zu tun hat“, erläuterte Brett.

„Du garantiert“, seufzte V.J.

„Weißt du, ich habe es schon immer mal mit ‘ner älteren Frau machen wollen“, verriet er ihr.

„Älter als was?“ fragte V.J. scharf.

Er lächelte unschuldig. „Älter als Gott, Darling. Das bist du doch, oder?“

„Halt dich zurück, mein Junge!“

Plötzlich begann Dianne Dorsey zu lachen. Sabrina beugte sich vor, um an V.J. vorbeizusehen. Wie gewöhnlich war Dianne in Schwarz gekleidet. Schwarze Jeans, schwarze Rüschenbluse, schwarze Socken, schwarze Wanderstiefel. „Ihr werdet nie erraten, wer ich bin.“

„Wer?“ fragte V.J. pflichtschuldig.

„Mary, die Hare-Krishna-Jüngerin!“

Alle lachten.

„Susan, wer bist du?“ erkundigte sich V.J.

Susan schauderte und sah Camy vorwurfsvoll an. „Ich bin Carla, das Callgirl mit dem Tripper.“

Allgemeines Gelächter folgte, doch Susan war nicht amüsiert. Sie warf Camy einen bösen Blick zu. „Das haben Sie absichtlich gemacht!“

„Sue, kühl dich ab!“ riet Brett.

„Camy hat die Rollen nicht erfunden, das weißt du. Wir beschäftigen Autoren von der Spiel-Company“, erklärte Jon ungeduldig und fügte seufzend hinzu: „Glaube mir, meine ist schlimmer.“

„Warum, wer bist du denn?“ fragte sie.

„Ich bin der Beschränkte Dick“, erklärte Jon trocken, „Serienkiller, angeblich geheilt von seiner Cousine, der Psychologin Sally Sadist.“

„Das bin ich!“ rief Anna Lee.

„Und ich bin Nancy, die böse Schwester, die von Sally Sadist angestellt wurde, um auf dich aufzupassen. Nancy, die böse Schwester!“ wiederholte V.J. schaudernd.

„Und das hältst du für schlimm?“ sagte Joe Johnston lachend. „Ich bin Tilly, der Transvestit, die Mutter vom Beschränkten Dick.“

„Hallo, Mom“, grüßte Jon, und wieder lachten alle.

„O nein!“ stöhnte Tom Heart auf und sah Joe an.

„Was ist?“ fragte der.

„Ich bin der Dad vom Beschränkten Dick. Was bedeutet, dass du meine Frau bist. Herrje!“

„Also, Baby, du schläfst auf der Couch“, erklärte Joe ihm.

Während sie sich untereinander neckten, trug Jennie Albright, die Haushälterin, mit zwei Hausmädchen die Platten mit Speisen herein und stellte sie aufs Buffet. Jon dankte ihnen und erklärte: „Das Frühstück ist serviert. Während wir essen, wird Joshua uns die Waffen zeigen, mit denen wir eventuell umgebracht werden. Wir warten, bis sich alle gesetzt haben.“

Unter lautem Gerede und lockerem Scherzen füllte man sich die Teller, und schließlich nahmen alle ihre Plätze am Tisch ein. Sabrina war froh, neben V.J. zu sitzen und nicht neben Susan. Brett gelang es allerdings, den Platz an ihrer anderen Seite zu ergattern. Er versuchte ganz eindeutig, den Eindruck zu erwecken, dass sie ein Paar waren.

Jon nahm seinen Platz am Ende des Tisches zwischen Thayer Newby und Anna Lee Zane ein. Anna sagte etwas zu ihm, und er senkte lächelnd den Kopf. Sabrina fragte sich unwillkürlich, ob zwischen den beiden etwas gewesen war, da laut Gerüchten sowohl Cassandra wie Jon während der letzten Krimi-Woche außereheliche Beziehungen unterhalten hatten. Doch das Gerede über die Vergangenheit der beiden beruhte größtenteils auf Spekulationen. Nur eines war Tatsache: Cassandra Stuart war tot.

Joshua räusperte sich lächelnd und setzte zu einer kleinen Rede an. „Ladies und Gentlemen, ich möchte Ihnen jetzt die Situation erklären. Der Beschränkte Dick ist heimgekehrt, um das rechtmäßige Erbe des Familienvermögens anzutreten, da sein älterer Bruder, der Beschränkte Darryl, vorzeitig und auf unnatürliche Weise das Zeitliche segnete. Da der Beschränkte Dick den meisten Nutzen aus dem Tod seines Bruders zieht, ist er natürlich auch der Hauptverdächtige. Es ist jedoch Ihre Aufgabe, sich auf die klassische Tätersuche zu begeben, um herauszufinden, wer dem Beschränkten Darryl den Garaus gemacht hat.“

Er sah kurz in die Runde und fuhr fort: „Jeder im Haus hat eine Vergangenheit und verbirgt ein Geheimnis. Und es wird sich letztlich zeigen, dass jeder einen Grund hatte, Darryl umzubringen. Der oder die Killer haben natürlich Angst vor dem, was die anderen wissen könnten, und werden deshalb einen nach dem anderen aus dem Weg räumen. Hier haben wir nun eine Reihe von Mordinstrumenten. Der Killer treibt sein Unwesen, bis er gefasst wird oder der gesamte Haushalt ausgelöscht ist.“

„Schießen Sie los“, sagte Joe. „Was sind das für Waffen?“

„Okay, wir beginnen mit der Pistole“, erklärte Joshua und zeigte ihnen die fragliche Waffe. „Schießt rote Farbe.“ Er fuhr fort, indem er die anderen Spielzeugwaffen hochhob und beschrieb. „Gewehr, schießt rote Farbe. Bowiemesser, komplett mit Blutsack. Klappmesser, Pfeil und Bogen, schwere Vase, Seil mit Schlinge, Gift – dabei handelt es sich um einen Traubensaft, der Ihren Mund garantiert vierundzwanzig Stunden blaurot färbt – und zu guter Letzt ein Kerzenhalter. Das wär’s, Ladies und Gentlemen. Überall im Schloss werden Hinweise verteilt sein, und weitere Anweisungen für die einzelnen Personen werden Ihnen im Verlauf der Woche zukommen. Ich warne Sie alle. Der erste Mord ist für irgendwann heute geplant, also seien Sie vorsichtig. Ach ja, und wer mag, ob lebendig oder tot, kann jeden Abend um sieben zur Cocktailstunde erscheinen, worauf das Dinner um acht folgt. Dabei darf der Fall diskutiert werden. Noch jemand Kaffee?“ fragte er unvermittelt.

„Nur wenn Sie ihn vorkosten“, spottete Anna Lee trocken. „Sicher“, erwiderte Joshua. Er holte die Kaffeekanne vom

Buffet, schenkte sich eine Tasse ein, trank und ging dann weiter zu Anna Lee, um ihr nachzuschenken. Er strich sich das blonde Haar zurück, beugte sich zu ihr hinunter und neckte: „Man kann hier wirklich nicht vorsichtig genug sein.“

„Ich möchte auch noch etwas Kaffee“, bat Jon und hielt ihm die Tasse hin. „Spät eingeschlafen“, erklärte er.

„Tod durch Vergiften!“ sagte V.J. schaudernd. „Na ja, ich wollte sowieso eine Diät machen. Ohne Essen kann ich leben, aber nicht ohne Kaffee.“

„Und niemals ohne einen guten Gin und Tonic“, ergänzte Reggie.

„Nein, niemals ohne Bier“, korrigierte Brett.

„Nun ja, was Kaffee und Essen und sogar Cocktails und Bier angeht, langt ruhig zu“, bat Jon. „Das Spiel beginnt erst, wenn wir alle das Speisezimmer verlassen. Dann geht jeder für etwa eine Stunde auf sein Zimmer, damit Camy und unser Meisterbildhauer die Waffen, die wir gerade gesehen haben, verstecken können. Falls jemand die Waffe entdeckt, mit der er oder sie umgebracht werden sollte, darf er sie gegen den Killer verwenden. Aber bis dahin erlegt euch keine Zurückhaltung auf. Greift zu.“

„Wenn das so ist, hätte ich gern noch ein kleines bisschen mehr Toast“, sagte V.J. und imitierte einen leichten schottischen Akzent.

„Für mich bitte Schinken“, sagte Joe.

„Ich auch bitte noch Toast, V.J.“, rief Sabrina.

Und plötzlich hatten alle am Tisch wieder Hunger. Sie aßen wie ein Trupp Holzfäller, dem etliche Stunden Schwerstarbeit bevorstand. Doch schließlich begann einer nach dem anderen die Halle zu verlassen. Als Sabrina sah, dass Brett ging, blieb sie bewusst noch zurück, senkte den Blick und trank ihren Kaffee. Als sie den Blick hob, stellte sie erstaunt fest, dass nur noch sie und Jon im Raum waren. Er saß ihr am Tisch gegenüber und beobachtete sie.

„Es ist wirklich schön, dich wieder zu sehen“, gestand er mit leicht rauer Stimme, den prüfenden Blick auf sie gerichtet.

Zu ihrem Leidwesen merkte sie, wie unruhig ihr Herz reagierte. „Nett, dass du das sagst.“

Er lehnte sich zurück, ohne sie aus den Augen zu lassen. Ihr war, als durchbohre er sie mit seinem Blick. Deshalb suchte sie rasch nach einem unverfänglichen Gesprächsthema.

„Also, bist du der Killer?“ fragte sie.

Er zog eine Braue hoch. „Redest du vom Spiel oder vom wahren Leben?“

Sie errötete. „Vom Spiel.“

„Wenn ich es wäre“, erwiderte er bedächtig, „dürfte ich es dir nicht sagen. Ebenso wenig wie du es mir sagen dürftest. Das wäre nicht fair gegenüber den anderen.“ Er beugte sich vor, und ein schwaches Lächeln umspielte seinen Mund. „Aber willst du nicht auch wissen, ob ich im wahren Leben ein Killer bin?“

Sie starrte ihn geradezu an, und das Frühstück lag ihr plötzlich schwer im Magen. „Jon, ich bin nicht hergekommen, um dich zu verhören oder unglückliche Erinnerungen zu wecken.“

„Warum nicht? Die meisten anderen sind genau deshalb hier, sowohl Freunde wie Feinde. Willst du nicht die Wahrheit erfahren? Oder bist du damals einfach nur weggelaufen, weil ich dir schlichtweg egal war?“

Sie wollte darauf nicht antworten, hielt jedoch seinem Blick stand und fragte: „Also, hast du Cassandra getötet? Was für eine Frage. Wenn du sie getötet hättest, könntest du es mir nicht sagen, oder? So gesehen besteht eigentlich kein Unterschied zwischen dem Spiel und dem wahren Leben.“

„Da besteht sogar ein großer Unterschied. In Bezug auf das Spiel darf ich dir nicht verraten, ob ich der Killer bin oder nicht. Im wahren Leben kann ich dir versichern, bei allem, was mir heilig ist, dass ich meine Frau nicht umgebracht habe. Glaubst du mir?“

„Ja.“

Er lehnte sich stirnrunzelnd zurück. „Warum? Warum solltest du mir glauben?“

„Nun ja, ich…“

„Was? Wolltest du sagen, du kennst mich?“ fragte er herausfordernd und zuckte die Achseln. „Sie kennt mich“, wiederholte er spöttisch.

„Ich gebe nicht vor, dich wirklich zu kennen“, entgegnete sie ärgerlich. „Aber du warst nicht in ihrer Nähe, als sie stürzte.“

„Sie wurde gestoßen“, stellte er schlicht fest.

Sabrina hob die Hände. „Woher willst du das wissen?“

„Weil ich Cassandra kannte. Sehr gut sogar. Sie liebte sich viel zu sehr, um Selbstmord zu begehen.“

An dem riesigen Tisch sitzend, die dunklen Augen durchdringend auf sie gerichtet, glich er ganz der Vorstellung von einem mittelalterlichen Laird, einem machtvollen Beherrscher seiner Domäne. Doch in seiner Stimme schwang eine Spur Bitterkeit mit, und trotz seiner schroffen Art merkte sie, dass er in den Jahren seit Cassandras Tod sehr gelitten haben musste. Ob er sie trotz ihrer Streitereien wirklich geliebt hatte? Oder war er längst mit einer anderen zusammen gewesen? War da vielleicht eine Affäre tragisch schief gelaufen? Hatte es einen anderen Mann für Cassandra gegeben, gegen den Jon Stuart immer noch einen Groll hegte?

Er sah sie forschend an, als suche er etwas, ohne dass sie ahnte, was. Seit ihrer letzten Begegnung waren die Linien um seine Augen tiefer geworden. Er war leicht gealtert, und das machte ihn noch attraktiver. Er hatte nichts von seiner Anziehung verloren, im Gegenteil.

War sie verrückt? Selbst wenn er seine Frau nicht umgebracht hatte, konnte er trotzdem ein Killer sein. Viele Leute würden es geradezu für ein Wunder halten, wenn er nicht irgendwie in den Tod seiner Frau verwickelt wäre…

Er beobachtete sie abwartend.

„Wie ich das sehe, kann man sich in solchen Dingen nie wirklich sicher sein. Auch wenn du sie gut gekannt hast, kannst du nicht absolut ausschließen, dass es Selbstmord war. Vielleicht ist sie ja auch ausgerutscht und gestürzt. Vielleicht war sie nur zu sorglos. Keiner von uns weiß wirklich, was in einem anderen vorgeht.“

„Cassandra hat sich nicht umgebracht.“

„Vielleicht willst du das glauben.“

„Vielleicht ist es die Wahrheit.“

„Jon, sie hatte Krebs. Vielleicht dachte sie, dass…“

„Sie war bereits in Behandlung.“

„Aber sie war eine Frau, und Frauen können eitel sein. Vielleicht hatte sie Angst, ihr Haar zu verlieren oder ihr gutes Aussehen und als Folge davon auch dich.“

Er schüttelte ungeduldig den Kopf. „Sie wusste von dem Krebs, als wir heirateten. Sie sagte es mir, also wusste ich, was uns bevorstand. Sie hat sich nicht umgebracht. Und sie verfügte über eine gute Körperbeherrschung. Sie ist nicht ausgerutscht.“

„Dann bist du also überzeugt, dass sie von irgendwem ermordet wurde.“

„Ja.“

„Aber wer…?“

Er beugte sich wieder vor, und sie erkannte, wie aufgewühlt er war, am heftigen Pochen seiner Halsvene.

„Jemand hat sie umgebracht“, sagte er schroff, „aber nicht ich. Trotzdem geht meine Suche nach dem Täter dich nichts an. Ich möchte nicht, dass du dich da in irgendeiner Weise einmischst.“

„Aber…“

„Warum bist du mir weggelaufen?“ fragte er unvermittelt.

„Was? Ich… ich…“

„Stammele nicht herum. Und sag mir nicht, dass es zu lange her ist und du nicht weißt, wovon ich rede.“

Sie hob die Hände. „Cassandra kam. Und ich ging.“

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