×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Mustang Creek - die große Familiensaga (4in1)«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Mustang Creek - die große Familiensaga (4in1)« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Mustang Creek - die große Familiensaga (4in1)

hier erhältlich:

Die Carson-Familie besitzt eine erfolgreiche und wohlhabende Ranch vor der Stadt Mustang Creek, Wyoming. Doch auch im sonst so harten Cowboy-Alltag kann es mal romantisch werden…

MUSTANG CREEK - SEHNSUCHT IST MEIN WORT FÜR DICH

Hotelmanagerin Grace hätte nie gedacht, dass ein berühmter Filmemacher wie Slater Carson eines Tages ihr Ritter in schimmernder Rüstung sein könnte. Doch als der Sohn ihres Exmannes in Schwierigkeiten gerät, bietet Slater sofort an, sich um ihn zu kümmern und ihn auf seiner Ranch zu beschäftigen. Schnell stellt Grace fest: Slater tut es vor allem für sie - was sein heißer Kuss verrät. Das Glück scheint so nah … aber plötzlich taucht ihr Ex in Mustang Creek auf.

MUSTANG CREEK - LIEBE IST MEIN GEFÜHL FÜR DICH

Wildpferde in der Nähe einer Ranch: Für Lucinda Hale ist das die perfekte Gelegenheit die Tiere zu beobachten! Wenn bloß dieser ignorante Rancher Drake Carson nicht von ihr verlangen würde, dass die Herde möglichst schnell verschwindet. Bei jeder ihrer Begegnungen scheint die Luft zwischen Lucinda und Drake Funken zu sprühen. Und dann küsst er sie plötzlich überraschend zärtlich. Hat dieses Knistern zwischen ihnen etwa doch noch einen anderen Grund?

MUSTANG CREEK - GLÜCK IST MEIN GESCHENK FÜR DICH

Mace Carson hält sich nicht für einen Helden. Damals auf dem College, als er Kelly Wright aus einer brenzlichen Situation rettete, war er in Wirklichkeit einfach nur ein wütender Cowboy, der zufällig auf der richtigen Seite stand. Inzwischen ist Mace erfolgreicher Winzer und plötzlich sieht er sich Kelly erneut gegenüber. Doch diesemal scheint es für ihn genau das Falsche zu sein, auf ihrer Seite zu stehen. Kelly ist nur geschäftlich in Wyoming und alles was sie will ist sein Weingut …

MUSTANG CREEK - EWIG IST DAS GLÜCK FÜR UNS

Seit Mick als Produzent eines Dokumentarfilms zum ersten Mal in Mustang Creek war, denkt er immer wieder an die faszinierende Grafikdesignerin Raine McCall. Als sie jetzt wieder vor ihm steht, kann er die Funken, die zwischen ihnen zu sprühen scheinen, nicht mehr ignorieren. Doch im Wilden Westen Wurzeln zu schlagen, stand bisher definitiv nicht in seinem Drehbuch. Kann er als Großstadtmensch mit einem Mädchen vom Land glücklich werden?

»Linda Lael Miller hat mit charmanten Wester-Romances um Cowboys, die die Herzen ihrer Leserinnen höher schlagen lassen, ihre Bestimmung gefunden. Lustig und herzerwärmend!«
RT Book Reviews

"Eine wunderbare zeitgenössische Western-Trilogie voller Romantik!”
Publishers Weekly

"Linda Lael Miller erschafft lebhafte Charaktere und Geschichten, die Sie niemals vergessen werden!"
Debbie Macomber


  • Erscheinungstag: 22.04.2019
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1424
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745750812
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Linda Lael Miller

Mustang Creek - die große Familiensaga (4in1)

Linda Lael Miller

Mustang Creek – Sehnsucht ist mein Wort für dich

Roman

Aus dem Amerikanischen von Christian Trautmann

MIRA® TASCHENBUCH

image

MIRA® TASCHENBÜCHER
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der Amerikanischen Originalausgabe:

Once a Rancher

Copyright © 2016 by Hometown Girl Makes Good, Inc.
erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Mareike Müller

Titelabbildung: Harlequin Books S.A.

ISBN eBook 978-3-95649-967-8

www.mirataschenbuch.de

Werden Sie Fan von MIRA Taschenbuch auf Facebook!

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. Kapitel

Slater Carson war hundemüde, so wie nach allen Dreharbeiten, aber es war die beste Art von Müdigkeit. Sie bestand aus Stolz und Zufriedenheit darüber, einen Job gut erledigt zu haben, aus Erleichterung und der kribbelnden Vorfreude auf das nächste Projekt.

Der jüngste Film war in einer besonders einsamen Gegend gedreht worden, um zu zeigen, wie der sogenannte Homestead Act – das Gesetz zum Landerwerb – die Entwicklung nicht nur des amerikanischen Westens, sondern des ganzen Landes beeinflusst hatte. Es war seine bisher ambitionierteste Arbeit. Die Menge an Filmmaterial war gigantisch, und als er sich den ungeschnittenen Film auf seinem Computer anschaute, war er sich sicher:

160 Acres würde den Nerv der Zeit treffen.

Ja. Dieser Film würde beim Publikum, ob jung oder alt, ein Erfolg werden.

Seine vorherige Arbeit, eine Miniserie über den Lincoln County War in New Mexico, hatte Preise gewonnen, und die Kritiker hatten ihn mit Lob überhäuft. Er hatte die Rechte für viel Geld an einen der Mediengiganten verkauft. Wie Lincoln County war 160 Acres gute solide Arbeit. Die Forscher, Kameraleute und alle anderen Profis, mit denen er zusammengearbeitet hatte, gehörten zu den besten im Business und hatten sich dem Film mit der gleichen Hingabe wie er gewidmet.

Und das hieß etwas.

Kein Zweifel, das Team hatte hervorragend gearbeitet beim letzten Mal – doch dieser Film war noch besser. Schlicht ein Kunstwerk, was er sich in aller Bescheidenheit eingestehen musste.

„Boss?“

Slater lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und drückte die Pausentaste. „Hallo, Nate“, begrüßte er seinen Freund und persönlichen Assistenten. „Was kann ich für dich tun?“

Genau wie Slater war Nate Wheaton gerade vom Drehort zurückgekehrt, wo er sich um tausende Details gekümmert hatte. Mit Sicherheit war der Mann so erschöpft, wie er aussah. Klein, blond, dynamisch und nicht älter als zwanzig, war Nate das reinste Energiebündel. Dass die Produktion so reibungslos verlaufen war, hatten sie zu einem erheblichen Teil seinem Talent, seiner Beharrlichkeit und seinem scharfen Verstand zu verdanken.

„Äh“, murmelte Nate, der sichtlich herunterkam nach der getanen Arbeit. Und er hatte sich auch jede Erholung verdient. „Da will dich jemand sprechen.“ Er deutete mit dem Kopf Richtung Vorzimmer, rieb sich den Nacken und seufzte entnervt. „Die Lady besteht darauf, dass sie mit dir reden muss, und zwar nur mit dir. Ich habe versucht, sie dazu zu bringen, einen Termin zu vereinbaren, aber sie meinte, es müsse jetzt sein.“

Slater musste selbst ein Seufzen unterdrücken. „Es ist zehn Uhr abends.“

„Auch darauf habe ich sie hingewiesen“, entgegnete Nate und blickte kurz auf sein Handy. „Um genau zu sein, es ist schon fünf Minuten nach zehn.“ Wie Slater hielt auch Nate viel von Genauigkeit, was sowohl Segen als auch Fluch war. „Sie behauptet, es kann auf keinen Fall bis morgen warten. Was immer das ist. Wenn ich nicht in die Küche gegangen wäre, hätte ich das Klopfen gar nicht gehört.“

„Wie hat sie mich überhaupt gefunden?“ Die Crew war spät mit dem Flugzeug gelandet und zur Ranch gefahren. Slater hatte angenommen, niemand außer seiner Familie wisse, dass er in der Stadt war. Oder außerhalb. Wozu auch immer die Lage der Ranch zählen mochte.

Resigniert schaute Nate drein. „Ich habe keine Ahnung. Sie hat sich geweigert, mir das zu verraten. Ich gehe ins Bett. Falls du noch etwas brauchst, weck mich einfach. Aber dazu musst du wahrscheinlich einen Vorschlaghammer mitbringen. Mit etwas anderem wirst du mich nicht wach kriegen.“ Eine Pause, noch ein Seufzer, der noch müder als der vorangegangene klang. „Das waren vielleicht Filmaufnahmen.“

Slater sammelte seine letzten Energiereserven, strich sich durch die Haare und sagte: „Gut, zeig ihr, wie sie hierherkommt, und dann leg dich hin.“

Vermutlich hörte er sich ganz normal an, doch in Wahrheit fühlte er sich völlig erledigt. Er hatte alles für 160 Acres gegeben und noch mehr, und es bestand gerade keine Hoffnung darauf, seinen Akku wieder aufzuladen. Die letzten Kraftreserven hatte er vor Stunden aufgebraucht.

Der Ärger über die Störung rüttelte ein wenig an seiner Gelassenheit, für die er bekannt war. Er war es schließlich gewohnt, bei der Arbeit ständig mit Problemen konfrontiert zu sein, von nervigen bis hin zu apokalyptischen. Aber zu Hause wollte er in Ruhe gelassen werden. Er brauchte Erholung, die Chance, sich zu regenerieren, und nur hier war das für ihn möglich.

Einer seiner jüngeren Brüder führte die Carson-Ranch, während der andere das Weingut bewirtschaftete. Dieses Arrangement funktionierte ziemlich gut. Jeder hatte seinen eigenen Aufgabenbereich, und die Ranch war groß genug, dass sogar Männer relativ friedlich dort lebten. Besonders da Slater ohnehin die Hälfte der Zeit unterwegs war.

„Mach ich.“ Nate verließ das Arbeitszimmer, und ein paar Minuten später ging die Tür wieder auf.

Noch ehe Slater ganz schaltete, stürmte eine Frau herein – möglicherweise die schönste, die er je gesehen hatte –, einen Teenager hinter sich herziehend.

Sie war rothaarig und hatte einen Körper, der einen toten Mann wieder aufgeweckt hätte, von einem müden ganz zu schweigen.

Und Slater hatte eine Schwäche für Rothaarige. In den letzten Jahren war er mit vielen ausgegangen. Diese hier hatte wilde kupferfarbene Locken, die um ihre Schultern hüpften und im gedämpften Licht zu leuchten schienen.

Die Frau wirkte aufgebracht, und es dauerte einen Moment, bis Slater sich gefangen hatte und aufgestanden war. „Ich bin Slater Carson. Kann ich Ihnen helfen?“

Die Besucherin, wer immer sie auch war, hatte nun seine volle Aufmerksamkeit.

Faszinierend.

Die Rothaarige pikste dem Jungen, der gute fünfzehn Zentimeter größer war als sie, nicht allzu sanft den Zeigefinger in die Rippen. Der Junge zuckte zusammen. Er war schlaksig, trug ein Seahawks-T-Shirt, eine schlabbrige Jeans und halb zugeschnürte Schuhe. Er sah verwirrt aus, bereit zur Flucht.

„Los, rede, Freundchen“, befahl die Rothaarige und starrte den Jungen dabei finster an. „Und keine Ausflüchte.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin noch nett“, warnte sie ihn, als er nichts sagte. „Dein Vater würde dir einen Tritt in den Hintern geben.“

Pech, dachte Slater seltsam wehmütig. Sie war verheiratet.

Während er die weitere Entwicklung abwartete, ließ er den Blick über diese Göttin wandern – über das Sommerkleid mit den schmalen Trägern an ihren anmutigen Schultern, das oberhalb ihrer Knie endete, und die seidig schimmernde helle Haut. Sie gehörte zu dieser seltenen Art hellhäutiger Rothaariger ohne Sommersprossen. Allerdings hätte Slater nichts dagegen gehabt, mal zu suchen, ob sich nicht doch irgendwo welche verbargen. Weiße Sandaletten an kleinen Füßen vervollständigten das Ensemble, und die Haare trug sie offen.

Der Junge, ungefähr vierzehn, räusperte sich. Er trat vor und legte eine der Magnetplatten vom Pick-up der Produktionsfirma auf den Tisch.

Slater, bisher ganz gebannt von dem sich hier abspielenden Drama, hatte das Schild gar nicht bemerkt.

Interessant.

„Es tut mir leid.“ Der Junge schluckte und fühlte sich sichtlich elend. Gleichzeitig wirkte er allerdings auch ein wenig trotzig. „Das habe ich genommen.“ Er warf der Frau einen Blick zu und überlegte offensichtlich, gegen sie aufzubegehren, gab diese Idee aber gleich wieder auf. Kluger Junge. „Ich fand es ziemlich cool“, erklärte er aufgeregt. Röte kroch seinen Hals hinauf und in seine Wangen. „Ich weiß, es war falsch, okay? Stehlen ist stehlen, und meine Stiefmutter ist bereit, mir dafür Handschellen anzulegen und mich ins Gefängnis stecken zu lassen. Wenn Sie das auch wollen, Mister, dann nur zu.“

Stiefmutter?

Slater war noch immer benommen wie nach einer Achterbahnfahrt.

„Sein Vater und ich sind geschieden“, erklärte sie knapp. Anscheinend stand ihm seine unausgesprochene Frage ins Gesicht geschrieben.

Hm, dachte er, das ist ermutigend. Sie sah tatsächlich noch fast zu jung aus, um die Mutter des Jungen zu sein. Und jetzt, wo Slater genauer hinschaute, konnte er auch keinerlei Ähnlichkeit zwischen dem Jungen mit seinen dunklen Haaren und Augen und der Frau erkennen.

Endlich wieder bei der Sache, verspürte er einen Anflug von etwas, das er nicht genau benennen konnte, außerdem ein wenig Mitgefühl für den Jungen. Die Frau mochte Anfang dreißig sein und schien diese Situation im Griff zu haben, was nicht bedeutete, dass sie grundsätzlich nicht überfordert war. Es war bestimmt nicht leicht mit dem Jungen.

Slater entschied, dass es an der Zeit war, auch mal etwas zu sagen.

„Danke, dass du es zurückgebracht hast.“ Er blickte den Jungen an, beobachtete aus dem Augenwinkel aber weiterhin unablässig die Frau. „Die Dinger sind nicht gerade billig.“

Der Trotz verschwand ein wenig aus dem Gesicht des Teenagers. „Wie gesagt, es tut mir leid. Das hätte ich nicht tun dürfen.“

„Du hast dir einen Fehler geleistet “, stimmte Slater ihm zu. „Wir alle haben schon mal Dinge getan, die wir nicht hätten tun sollen. Aber du hast versucht, es wiedergutzumachen.“ Nach einer kurzen Pause fügte Slater hinzu: „Im Leben geht es stets darum, welche Entscheidungen wir treffen. Versuch nächstes Mal einfach, es besser zu machen.“ Er grinste kurz. „Ich wäre echt sauer gewesen, wenn ich das da hätte ersetzen müssen.“

Der Junge schaute ihn erstaunt an. „Warum? Sie sind reich.“

Mit diesem Argument war Slater schon mehrfach konfrontiert worden – im Grunde sein ganzes Leben lang. Ja, seine Familie war vermögend, schon seit über einem Jahrhundert. Sie züchtete Rinder, besaß riesige Weideflächen in Wyoming und jetzt auch noch – dank der Wurzeln seiner Mutter im Napa Valley – das mehrere Hektar große Weingut.

„Darum geht es nicht“, entgegnete Slater. Er arbeitete für seinen Lebensunterhalt, und zwar hart, und er verspürte nicht das Bedürfnis, ihm oder sonst wem Rechenschaft abzulegen. „Wie heißt du?“

„Ryder“, antwortete der Junge nach kurzem Zögern.

„Welche Schule besuchst du, Ryder?“

„Die gleiche lahme Schule, in die hier jeder Achtklässler geht. Mustang Creek Middle School.“

Slater hob die Hand. „Auf deine Aufmüpfigkeit kann ich gut verzichten.“

Ryder fing sich. „Entschuldigung“, murmelte er.

Slater war nie verheiratet gewesen, aber er kam gut mit Kindern zurecht; er hatte eine Tochter, und er war mit zwei Brüdern aufgewachsen, die nur ein Jahr auseinander waren, und noch heute, in ihren Dreißigern, gerieten sie gern aneinander. Slater hatte mehr Kämpfe beendet als ein Rausschmeißer in Bad Billie’s Biker Bar and Burger Palace an einem Samstagabend.

„Ich war auch auf dieser Schule“, sagte er, hauptsächlich um das Gespräch am Laufen zu halten. Er hatte es nicht eilig damit, dass die Rothaarige wieder verschwand, besonders da er ihren Namen noch nicht kannte. „Ist gar nicht so schlecht. Unterrichtet Mr. Perkins noch Werken?“

Ryder lachte. „O ja. Wir nennen ihn ‚Das Relikt‘.“

Slater ließ ihm diese Bemerkung durchgehen; sie war ein bisschen gedankenlos, doch nicht boshaft. „Aber es gibt kaum einen netteren Kerl, oder?“

„Ja, stimmt“, meinte der Junge etwas verlegen.

Die Stiefmutter musterte Slater mit einer gewissen Anerkennung, obwohl sie nach wie vor aufgebracht wirkte.

Slater erwiderte den Blick, einfach weil es ihm Vergnügen bereitete. Diese Frau wäre eine ganz neue Erfahrung für ihn, und er hatte noch nie eine Herausforderung gescheut.

Sie hatte gesagt, sie sei geschieden, was eine Frage aufwarf: Welcher verdammte Narr hatte sie ziehen lassen?

Als könnte sie seine Gedanken erraten – eine Frau mit ihrem Aussehen musste an die Aufmerksamkeit der Männer gewöhnt sein –, kniff die Rothaarige die Augen zusammen. Slater glaubte trotzdem, eine Spur Belustigung in ihnen zu erkennen. Sie wurde jedenfalls sichtlich ruhiger, doch sie schien alles wahrzunehmen.

Er lächelte. „Handschellen?“

Sie erwiderte das Lächeln nicht, doch das Funkeln blieb in ihren Augen. „Das war eine Anspielung auf meinen früheren Job“, erklärte sie sachlich. „Ich war Polizistin.“ Einer plötzlichen Eingebung folgend, streckte sie die Hand aus und stellte sich endlich vor. „Grace Emery. Inzwischen leite ich das Bliss River Resort and Spa.“

„Aha“, meinte Slater, auf nichts Bestimmtes bezogen. Eine Expolizistin? Wow, wenn es nach ihm ging, durfte sie ihm jederzeit Handschellen anlegen. „Sie müssen noch ziemlich neu hier sein.“ Andernfalls hätte er sie längst mal getroffen oder wenigstens von ihr gehört.

Grace nickte. Eben noch schwer genervt, wirkte sie jetzt müde, und das löste etwas in Slater aus, ohne dass er zu sagen vermocht hätte, was genau das eigentlich war. „Es ist ein wundervoller Ort. Eine Abwechslung zu Seattle.“ Sie schien sich auf einmal unbehaglich zu fühlen, als hätte sie ungewollt schon zu viel preisgegeben.

Slater wollte sich nach ihrem Exmann erkundigen, doch der Zeitpunkt kam ihm nicht richtig vor. Er wartete, denn er spürte, dass sie mehr sagen wollte, obwohl sie eben noch gezögert hatte.

„Ich fürchte, es war auch für Ryder eine große Umstellung.“ Noch eine Pause. „Sein Vater ist Soldat, in Übersee stationiert. Es war schwer für ihn – für Ryder, meine ich.“

Slater konnte das nachvollziehen. Der Vater des Jungen lebte im Ausland, und der Junge zog aus der Großstadt aufs Land. Überdies war er vierzehn, was an sich schon schwierig genug war. Slater war in dem Alter innerhalb eines einzigen Sommers fast zwanzig Zentimeter gewachsen, gleichzeitig hatte er ein Interesse an Mädchen entwickelt, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, wie er mit ihnen sprechen sollte. O ja, er erinnerte sich noch gut an seine Unbeholfenheit.

Erst jetzt merkte er, dass Grace’ Hand noch in seiner lag. Er ließ sie los, wenn auch widerstrebend.

Und plötzlich fühlte er sich genauso gehemmt wie mit vierzehn. „Meine Familie lebt seit Generationen auf der Ranch“, hörte er sich sagen. „Ich kann also nicht behaupten, dass ich wüsste, wie es ist, irgendwo neu anzufangen.“ Halt doch einfach den Mund, Mann. Aber er schien sich an seinen eigenen Rat nicht halten zu können. „Ich reise viel, und ich bin jedes Mal froh, wieder nach Mustang Creek zurückzukehren.“

Grace wandte sich an Ryder, seufzte und schaute erneut Slater an. „Wir haben Ihre Zeit lange genug in Anspruch genommen, Mr. Carson.“

Mr. Carson?

„Ich bringe Sie hinaus“, bot er an und versuchte nach wie vor seine Verwirrung abzuschütteln. Normalerweise war er ein Mann weniger Worte, doch heute Abend, in Gegenwart dieser Frau, benahm er sich auf einmal wie ein plappernder Idiot. „Dieses Haus ist wie ein Labyrinth. Ich habe das Büro meines Vaters übernommen, wegen der Aussicht, nur liegt es im hinteren Teil des Hauses und …“

Hatte die Frau ihn etwa danach gefragt?

Nein.

Was, zur Hölle, war eigentlich los mit ihm?

Grace schwieg. Der Junge war bereits zielstrebig losmarschiert, und sie folgte ihm. Was hatte er nur für einen Unsinn von wegen Labyrinth geplappert. Verwirrt schritt er hinter Grace her und genoss dabei den sanften Schwung ihrer Hüften.

Aus irgendeinem Grund war seine Müdigkeit vollkommen verflogen.

Grace hatte als Cop reichlich Erfahrung im Umgang mit Männern sammeln können. Bei der Polizei dominierten nach wie vor die Männer, auch wenn Frauen dort auf dem Vormarsch waren. Sie hatte sich längst mit der Wirkung ihres Aussehens auf Männer abgefunden. Dabei hätte sie sich selbst nicht als schön beschrieben; sobald sie in den Spiegel schaute, wurde sie an ihre Unvollkommenheit erinnert. Ihr Mund war einen Tick zu breit, die Nase ein wenig zu sehr aufwärts geschwungen, was ihr eine Frechheit verlieh, der sie gar nicht gerecht wurde. Ihre Haut war viel zu hell, sie würde niemals braun werden, nicht einmal in der Wüste. Ihre Augen waren von einem erstaunlichen Blau – man hatte ihr schon unterstellt, sie trage farbige Kontaktlinsen –, und von ihren Haaren wollte sie lieber nicht reden. Karottenkopf.

Ihre Haare waren ein wildes Durcheinander, es sei denn, Grace ließ sie länger wachsen, und sie verwandelten sich bei entsprechender Luftfeuchtigkeit trotzdem noch in eine wirre Mähne. Zum Glück war es in Wyoming trockener als in Seattle, das ersparte ihr einige Mühe. Die Farbe war unmöglich zu verändern, obwohl sie es schon mit Strähnchen und verschiedenen Behandlungen probiert hatte. Die natürliche Farbe setzte sich stets durch, und mittlerweile hatte sie das akzeptiert.

Slater Carson schien das nicht gestört zu haben.

Im Gegenteil.

Was ihre eigene Reaktion betraf, so war sie sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Ja, sie war abgestumpft, was Männer anging, aber irgendetwas war diesmal anders. Na schön, sie konnte es ruhig zugeben – sie fühlte sich in gewisser Hinsicht geschmeichelt.

Bei der Erinnerung daran, wie diese aufregenden blauen Augen sie gemustert hatten, verspürte sie eindeutig ein Kribbeln. Und Slater Carson selbst war auch kein unangenehmer Anblick mit seinen dunklen gewellten Haaren, unrasiert und der drahtigen, schlanken Cowboy-Statur. Er bewegte sich auch so, und als er sie beim Abschied vielsagend angelächelt hatte, wirkte er selbstbewusst und amüsiert.

Die Botschaft war klar gewesen: Er hätte nichts dagegen, wenn sie sich wieder treffen würden.

Na ja, dachte Grace, Mustang Creek war eine Kleinstadt, wo jeder jeden zu kennen schien, also würden sie sich früher oder später ganz bestimmt irgendwo über den Weg laufen.

Falls er mehr als ein höfliches Hallo erwartete, würde er jedoch enttäuscht werden.

Grace misstraute Männern wie Slater – er sah zu gut aus, war zu privilegiert, zu sehr daran gewöhnt, zu kriegen, was und wann er es wollte. Dieser erlauchte Mr. Carson erinnerte sie ein bisschen zu sehr an ihren Exmann mit diesem Selbstbewusstsein, dieser Erfolgsgewissheit. Er wusste, welcher Platz in der Welt ihm gebührte.

Nein danke. Grace kannte das alles, und nachdem Aufregung und Leidenschaft sich gelegt hatten, war sie in einer Sackgasse gelandet. Von den Nachwirkungen erholte sie sich immer noch.

Entschlossen stieg sie in ihren Wagen, den sie in der gut beleuchteten Zufahrt zum Anwesen der Carsons geparkt hatte, warf die Tür zu und wartete darauf, dass Ryder nicht mehr herumbummelte und sich endlich auf den Beifahrersitz fallen ließ.

So hatte sie sich ihren Abend nicht vorgestellt. Sie hatte sich einen Film herunterladen, Popcorn essen und die Füße hochlegen wollen, in ihrem kurzen Pyjama und mit Nachtcreme auf dem Gesicht.

Es war ein langer Tag im Hotel gewesen, wo sie sich mit einer kaputten Klimaanlage und Handwerkern hatte herum-ärgern müssen, die sich nicht auf die Fehlerursache einigen konnten. Außerdem war da noch ein chronisch zu spät kommender Angestellter, der in seinem Job allerdings richtig gut war, wenn er denn endlich auftauchte. Bis dahin waren die Kollegen jedoch meist schon schwer genervt und verärgert. Und natürlich hatte es die üblichen Beschwerden von Gästen gegeben: über die Wassertemperatur im Pool, die entweder zu kalt oder zu heiß war.

Nach Hause zu kommen und zu beobachten, wie Ryder ein teuer aussehendes Metallschild an die Wand seines Zimmers nagelte, hatte ihre Pläne für diesen Abend zunichtegemacht. Sie war sofort misstrauisch und hatte den Jungen zur Rede gestellt.

Zum Glück war er noch nie ein guter Lügner gewesen und gestand alles.

Daraufhin hatte Grace ihn sich geschnappt und zu den Carsons geschleppt.

Ryder stieg endlich ein und machte die Tür zu.

„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich, hörte sich jedoch kein bisschen reumütig an. Er mied ihren Blick und starrte geradeaus. Sein Ton verriet Trotz, und seine Miene unterstrich diese Haltung.

Grace seufzte im Stillen.

Ryder war ein guter Junge, und Slater Carson hatte vollkommen recht gehabt mit seiner Bemerkung, jeder treffe hin und wieder die falsche Entscheidung. „Du weißt es doch besser.“

„Es ist nur …“

Sie hob eine Hand. „Keine Rechtfertigungen mehr. Du hast etwas gestohlen, und wir haben es zurückgebracht.“

Grace startete den Wagen, schaltete das Licht ein und schaute nach hinten, um rückwärts von der Auffahrt zu fahren.

Ryder blieb eine Weile still. Sie erreichten den Highway, auf dem um diese Uhrzeit kaum etwas los war. Und da sowohl die Ranch als auch das Hotel ein ganzes Stück außerhalb der Stadt lagen, begegneten ihnen nur sehr wenige Autos.

„Er mochte dich.“

Erst vierzehn, und so was fällt ihm auf, dachte Grace, amüsiert über die Bemerkung des Jungen. Dabei schaffte er es nicht, sich seine Unterwäsche vernünftig auszuwählen.

Er mochte dich.

Man konnte eine Frau mögen. Oder mit ihr ins Bett wollen. Grace hatte nicht die Absicht, einem Vierzehnjährigen den Unterschied zu erklären.

Daher sagte sie nur brüsk: „Der kennt mich doch gar nicht.“

„Er fand dich hübsch.“

Es gab Zeiten, da wünschte sie sich, Ryder würde mehr mit ihr reden. Und dann gab es Momente wie diesen, in denen wünschte sie, er würde genau das nicht tun. „Ich halte es durchaus für möglich, dass er hübscher ist als ich.“

Das brachte Ryder zum Lachen. „Wenigstens hat er sich um Zurückhaltung bemüht. Ich meine, na ja, er hat nicht auf deine …“

Er verstummte, und Grace vermutete, dass es ihm gerade peinlich war, was er beinah gesagt hätte. Sie wollte ihn nicht noch mehr in Verlegenheit bringen, daher hielt sie den Blick auf die Straße gerichtet. „Ja, Mr. Carson war sehr höflich“, räumte sie ein. „Wie läuft es eigentlich mit deinem Naturwissenschaftsprojekt?“

Ryder sprang sofort auf den abrupten Themenwechsel an, obwohl Schule bestimmt nicht zu seinen Lieblingsthemen zählte. „Ganz gut eigentlich. Mein Partner ist doch nicht so blöd, wie er aussieht.“ Er schwieg einen Moment, danach fuhr er fort: „Ich habe mich gefragt, ob er mal bei uns vorbeikommen kann. Würde das klargehen?“

Grace war erleichtert. Sie hatte so sehr darauf gehofft und gewartet, dass Ryder aufhörte, gegen den Umzug nach Mustang Creek zu rebellieren, und neue Freunde fand.

Momentan war sie mit ihrer Elternrolle völlig überfordert.

Und sie schien nicht besser darin zu werden.

Vor einigen Monaten hatte Grace’ früherer Schwiegervater sie aus heiterem Himmel angerufen. Seine Frau war schwerkrank, und sie kamen mit ihrem Enkel einfach nicht mehr zurecht. Es fiel ihm schwer, und er fragte nur äußerst ungern, ob Grace sich um Ryder kümmern könnte, aber da Hank in Übersee war, gab es sonst niemanden, den sie fragen konnten.

Hank, Grace’ Exmann und Ryders Vater, hatte es ihrer Ansicht nach ganz geschickt so eingerichtet, dass er nie verfügbar war, aber natürlich sagte sie das nicht am Telefon.

Sie hatte gar keine Ahnung gehabt, was sie überhaupt sagen sollte. Ryders Mutter hatte wieder geheiratet und eine neue Familie gegründet, und aus unerfindlichen Gründen hatte diese Frau nie viel Interesse an ihrem Erstgeborenen gezeigt. Als sie und Hank geschieden wurden, gab sie Ryder einfach ab und erkundigte sich nicht einmal nach einer Besuchsregelung.

Ryders Mutter verspürte weder das Bedürfnis, ihrem Sohn zum Geburtstag eine Karte zu schicken, noch erkundigte sie sich je telefonisch nach ihm oder schrieb ihm eine E-Mail.

Das machte Grace so wütend um Ryders willen, und es war auch nicht gerade hilfreich, dass Hank emotional eher unbeteiligt und vollauf mit seiner Soldatenkarriere beschäftigt war.

In dieser Beziehung saßen Grace und Ryder im gleichen Boot, nur hatte es für Grace wenigstens noch Handlungsspielraum gegeben. Sie konnte sich von Hank scheiden lassen, was sie ja auch gemacht hatte, und ihr eigenes Leben führen. Diese Wahl hatte sein Sohn nicht.

Deshalb hatte sie eingewilligt und Ryder zu sich genommen, bis Hanks derzeitiger Vertrag endete. Und nun waren sie hier in Mustang Creek, Wyoming, gelandet, und jeder von ihnen versuchte, mit dieser enormen Veränderung zurechtzukommen.

Grace konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. „Das wäre toll, wenn du deinen Freund einmal mit nach Hause brächtest. Ich könnte für euch Pizza bestellen. Wie wäre das?“

Ryder nickte. „Solange die nicht so schmeckt wie die im Hotel, mit Ziegenkäse und diesem Grünzeug drauf, was immer das war. Ich hab versucht, sie zu mögen, aber keine Chance.“

„Artischockenherzen“, half sie ihm. „Was hältst du von den guten alten Peperoni?“

Ryder grinste. „Das wäre klasse.“

„Alles klar, dann machen wir das. Ich muss nur dein Wort darauf haben, dass du mal für fünf Minuten keinen Ärger machst.“ Sie warf ihm einen gespielt strengen Blick zu. „Ich fand es genauso unangenehm wie du, vor Mr. Carson Abbitte zu leisten.“

Ryders Grinsen wurde noch breiter. „Kann schon sein. Aber ich glaube, ihm hat es schon irgendwie gefallen.“

2. Kapitel

Die hohen Fenster im Frühstücksraum neben der Küche des Ranchhauses gaben den Blick frei auf die Teton-Bergkette vor einem strahlend blauen Morgenhimmel. Slater saß auf seinem gewohnten Platz am Tisch, einen Kaffeebecher in der Hand, und bewunderte die Aussicht. An jedem Morgen seines Lebens hatte er sie gesehen, und doch war sie nie zu etwas Selbstverständlichem geworden.

Er war sich durchaus im Klaren darüber, dass er sich als glücklichen Mann bezeichnen konnte.

Stiefelschritte auf den Holzdielen kündigten Gesellschaft an.

„Hey, Showbiz.“ Slaters jüngster Bruder Mace kam herein und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch, ein lässiges Grinsen im Gesicht. Von den drei Brüdern ähnelte Mace ihrem Dad, der bei einem Sturz vom Pferd ums Leben gekommen war, als Slater zwölf war, am ehesten. Manchmal löste allein der Anblick seines Bruders einen Moment der Trauer bei ihm aus.

„Selber hey“, erwiderte Slater. Und was Spitznamen anging, konnte er mit „Showbiz“ ganz gut leben. Beide, Mace und Drake, der mittlere Bruder, benutzten ihn häufig.

Mace nahm sich die Kaffeekanne und füllte einen schon bereitstehenden Becher. Dann gab er einen reichlichen Schuss Milch dazu, schloss die Augen und genoss den ersten Schluck. Als Nächstes öffnete er den Deckel eines Servierbehälters und nahm sich eine große Portion Rührei, Speck und Würstchen, dazu drei Scheiben Toast mit Butter. Das alles würde er tatsächlich vertilgen und wahrscheinlich noch einmal dasselbe nehmen. Slater staunte immer wieder über die Mengen, die Mace essen konnte.

Er selbst war schon fertig mit seinem Frühstück, hatte es jedoch nicht besonders eilig. Er saß nur da, trank seinen Kaffee und schaute zufrieden aus dem Fenster auf die wunderbare Landschaft.

Slater genoss es, zu Hause zu sein. Dieser schlichte Frühstücksraum gefiel ihm viel besser als das elegante Esszimmer auf der anderen Seite der Küche. Der polierte Eichentisch war massiv und bot sechs Personen bequem Platz.

Der Raum diente auch als eine Art Geschirrkammer mit zwei großen Regalen voller antikem Porzellan und Gläsern. Der Spirituosenschrank, den sein Urgroßvater aus England mitgebracht hatte, prangte an der einen Wand, die Buntglasscheiben der Türen leuchteten in den Farben von Edelsteinen. Als Teenager war er hin und wieder in Versuchung gekommen, den Schrank zu plündern, weil er dachte, wie Teenager das eben tun, es wäre ganz nett, sich einmal ordentlich zu betrinken. Doch er hatte den Plan nie in die Tat umgesetzt. Klugerweise hatten seine Eltern den Schrank stets verschlossen gehalten, und Slater brachte nie den Mut auf, das kostbare Erbstück zu beschädigen.

Nein, stattdessen ließ er Bier aus dem Kühlschrank verschwinden und begnügte sich mit einem kleinen Schwips statt einem Vollrausch.

„Angenehmer Morgen“, bemerkte er und beobachtete, wie Mace sich über den Berg Essen auf seinem Teller hermachte.

„Jap“, bestätigte sein Bruder. Mace hatte dunkelbraunes Haar, genau wie ihre Mutter, und klare blaue Augen, und er hatte den grünen Daumen. Das hatte sich bereits früh in seinem Leben herausgestellt. Mit zehn bekam er von seiner Mutter ein Gartenstück, eine Hacke und ein paar Tüten mit Bohnensamen zum Geburtstag. Während die meisten Jungen ein Fahrrad wollten, beschäftigte er sich mit seinem GP, wie Slater und Drake es nannten (GP stand für Gartenprojekt), und so gab es nach einigen Wochen jeden Abend grüne Bohnen, bis sie um Mais oder sogar Spinat bettelten.

Slater war kein wählerischer Esser, aber ein Fan von Spinat war er auch nicht.

Ihre Mutter Blythe, die ihre Wurzeln im Weinland Nordkalifornien hatte, beschloss vor einigen Jahren, selber Wein anzubauen. Es war nur logisch gewesen, dass sie Mace ausgewählt hatte, um dieses Projekt zu leiten. Wenn eine Pflanze Blätter hatte, konnte er sie zum Wachsen bringen – und zum Erblühen –, auf fast jedem Boden.

„Wann bist du zurückgekommen?“, erkundigte Mace sich und nahm sich ein zweites Mal, nachdem er die erste Portion vertilgt hatte. Slater fragte sich, ob der Appetit seines Bruders sich eines Tages rächen und er irgendwo an seinem schlanken muskulösen Körper Fett ansetzen würde.

Bisher gab es dafür nicht die geringsten Anzeichen.

„Ich bin gestern Abend zurückgekommen“, antwortete Slater. Er hatte wie ein Stein geschlafen, konnte sich jedoch vage an Träume von einer gewissen Rothaarigen erinnern. Was keine Überraschung war. Grace Emery war schließlich die letzte Person, die er gesehen hatte, bevor er sich auszog, duschte und ins Bett fiel. Eine Frau wie sie kennenzulernen stellte zudem eine erinnerungswürdige Erfahrung dar, selbst für jemanden, der todmüde war.

Mace nickte.

Slater, normalerweise kein Typ für lockeres Geplauder, redete gleich weiter. „Die Dreharbeiten liefen gut, sodass wir früh fertig geworden sind. Das passiert sonst nie. So viel früher war es gar nicht, aber immerhin.“

„Gut.“ Mace nahm eine Scheibe Toast. „Und jetzt schneidet ihr den Film, oder?“

„Darum kümmert sich hauptsächlich der Regisseur.“

„Was kommt als Nächstes?“

Darüber hatte Slater schon nachgedacht, da er in gewisser Weise immer an das nächste Projekt dachte. „Ich spiele mit dem Gedanken, etwas über die Geschichte Wyomings zu machen. Wie es besiedelt wurde und so – und wie es heute ist. Zu viele Leute glauben anscheinend, der ganze Bundesstaat sei öde und leer, bis auf das eine oder andere Skihotel und ein paar Millionen Schafe. Ich finde, es ist an der Zeit, dieses Bild ein bisschen zu korrigieren.“

Erneut nickte Mace, diesmal mit nachdenklicher Miene. „Du könntest auch etwas über die Ranch erzählen. Über Dads Familie und das Eisenbahngeld, das sein Großvater geerbt hat und mit dem er die Ranch aufgebaut hat. Du könntest sogar etwas über Moms Familie berichten und was sie sich in Kalifornien aufgebaut hat.“ Seine Begeisterung für diese Idee wuchs zusehends. Bestimmt würde Mace liebend gern alle wichtigen Informationen über das Weingut beisteuern. Ohne Rücksicht darauf, dass es unsinnig war, in einer Dokumentation über Wyoming die Geschichte Kaliforniens hervorzuheben.

Slater lächelte – und hörte zu. Sein Bruder war gerade in Fahrt, und manche seiner Ideen waren gut.

„Und was ist mit dieser Ranch?“, fuhr Mace fort. „Wie viele historische Ranchhäuser wurden eigens entworfen, damit sie aussehen wie aus ‚Vom Winde verweht‘? Dahinter verbirgt sich eine Geschichte, vergiss das nicht.“

Dahinter verbarg sich tatsächlich eine Geschichte. Das Haus war damals gebaut worden, um das Heimweh ihrer Urgroßmutter zu lindern, einer jungen Frau aus den Südstaaten, die weit von zu Hause entfernt lebte und sich nach der Plantage ihrer Kindheit sehnte.

Inzwischen hatte Mace sich derartig in seine Ideen hineingesteigert, dass er begeistert mit der Gabel herumwedelte. „Ich glaube, das würde ein tolles Projekt sein. Du könntest es ‚Das Vermächtnis der Carsons: Die Reise einer Familie in den glorreichen Westen‘ nennen.“

„Okay, der Carson-Clan hat sich einen Namen gemacht, das stimmt. Aber es gab auch noch eine Menge anderer Pioniere“, meinte Slater und schmunzelte dabei.

Mace grinste zurück. „Ich hätte nichts dagegen, in einem Film verewigt zu werden.“

In diesem Moment kam Drake herein, gähnend, aber vermutlich nicht wegen Schlafmangels, sondern weil er sich seit dem Morgengrauen draußen um die Pferde gekümmert hatte. „Wieso, kleiner Bruder, sollte irgendwer dich in einem Film verewigen wollen?“

Drake hatte die gleiche Statur wie Slater und Mace – er war groß, schlank und breitschultrig. Nur hatte er, im Gegensatz zu den anderen beiden, dunkelblondes Haar. Er sah aus wie ein Cowboy, konnte reiten, wie Slater es noch bei keinem erlebt hatte, und war einfach am liebsten draußen. Er gähnte erneut, schwang ein Bein über seinen gewohnten Stuhl, setzte sich und griff gleichzeitig nach dem Kaffee. Er machte ein grimmiges Gesicht und knurrte, um seine Bemerkung zu unterstreichen. „Warum solltest du unsterblich werden? So etwas Besonderes bist du gar nicht, außer in deinen eigenen Augen.“

Mace versuchte, sich nicht angegriffen zu fühlen. „Sagt wer?“

„Die Stimme der Vernunft“, erwiderte Drake mit seinem einzigartigen Cowboygrinsen leutselig und deutete auf seinen älteren Bruder. „Hey, Slate, ich habe schon gehört, dass du wieder zu Hause bist. Ich hätte dich früher begrüßen sollen, aber wir treiben gerade eine Herde auf die Südweide, und das hat eine Weile in Anspruch genommen. Na ja, es ist gut, dass du wieder zurück bist.“

Ja, es war wirklich gut, wieder zurück zu sein.

„Mace hat sich ins Zeug gelegt, um mich zu inspirieren.“ Slater trank seinen Kaffee aus. „Er meint, ich sollte unsere Familiengeschichte in den nächsten Dokumentarfilm einfließen lassen.“

„Oje.“ Drake verdrehte die Augen und trank aus seinem Becher. „Da gibt’s aber viele Leichen im Keller. Wenn du vorhast, die ans Licht zu zerren, nur zu. Mir wäre es allerdings ganz lieb, wenn du meinen Namen da heraushalten würdest.“

Mace machte ein skeptisches Gesicht und stieß Drake mit dem Ellbogen an. „Du könntest einen Beitrag über unseren faszinierenden Bruder bringen“, schlug er ironisch vor. „Über sein Liebesleben. Der Titel könnte lauten: ‚Öde im Gebirge‘.“

„Haha.“ Drake warf seinem jüngeren Bruder einen finsteren Blick zu. „Das ist eine brillante Idee. Oh, übrigens war ich längst auf, bevor du deinen Schönheitsschlaf beendet hast. Ich finde, du solltest dich jetzt wieder für eine Weile hinlegen. Anscheinend brauchst du noch mehr Schlaf.“

Slater stand mit dem Becher in der Hand auf. „Ihr zwei müsst euch mal neue Beleidigungen einfallen lassen. Wenn ich das Thema wechseln darf – Mace, beliefern wir eigentlich das Bliss River Resort inzwischen mit Wein? Wie läuft das?“

Seine Brüder tauschten einen Blick und grinsten.

Mace triumphierte. „Ich hatte recht! Unser großer Bruder hat tatsächlich einen Weg gefunden, sie ins Gespräch zu bringen. Du schuldest mir zehn Dollar.“

Drake machte keinerlei Anstalten, seine Brieftasche zu zücken. „Mann, das ging aber echt schnell“, gab er zu. „Hast du so eine Art Radar?“, fragte er Slater. „Piep, piep, hübsche Rothaarige in Reichweite. Alarm und alle Mann auf Gefechtsposition.“

Na schön, allzu geschickt hatte er sich bei dem Versuch, das Gespräch auf Grace Emery zu lenken, nicht angestellt.

Er beschloss trotzdem, es eisern zu leugnen. „Möchte mir jemand erklären, wovon ihr zwei depperten Cowboys eigentlich redet? Ich habe doch bloß gefragt, wie das Geschäft mit dem Hotel läuft.“ So aufgebracht, wie Grace gestern Abend gewesen war, hätte er sie jedenfalls nichts fragen können. Er setzte sich wieder, nahm sich ein kleines Bratwürstchen von Mace’ Resten und biss ab. Harriet Armstrong, die langjährige Köchin und Haushälterin, stellte sie selbst her. Noch ein Grund, warum es nirgendwo so schön war wie zu Hause.

Slater hatte schon in einigen vornehmen Restaurants gegessen, doch was Harriet auftischte, war einfach perfekt. Mit der gleichen scheinbaren Mühelosigkeit führte sie den Haushalt. Er und seine Brüder nannten sie Harry, denn das war der Name, den Blythe für sie benutzte. Harry war wie eine zweite Mutter, die kein Blatt vor den Mund nahm, wenn die Brüder mal wieder ihre Späße trieben.

Mace fühlte sich offenbar verpflichtet, die Wette mit Drake zu erläutern. „Ich habe gewettet, dass du ziemlich schnell mit Grace Emery Bekanntschaft schließen würdest, nachdem du sie gesehen hast.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist mir ein Rätsel, wie du das so schnell machst. Du bist gestern Abend erst nach dem Abendessen angekommen, und jetzt ist Frühstückszeit am nächsten Morgen. Jeder Mann im Umkreis von hundert Meilen verspürt plötzlich das Bedürfnis, dem Spa einen Besuch abzustatten, um einen Blick auf sie zu werfen. Aber du schaffst es irgendwie, dass sie zu dir kommt.“

Nate musste den beiden von Grace’ Besuch erzählt haben, überlegte Slater. Fein. Er würde ihnen aber nicht verraten, weshalb sie bei ihm gewesen war; das gestohlene Schild war eine Sache zwischen ihm und Ryder, und was Slater betraf, war sie erledigt. „Was hat sie für eine Geschichte?“

Mace schien die Frage mit Genuss zu beantworten. „Sie ist geschieden. Der Junge lebt bei ihr, weil ihr Ex irgendein hohes Tier beim Militär und irgendwo im Einsatz ist.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Nach allem, was ich gehört habe, macht sie einen sehr guten Job im Hotel. Der Besitzer hat sie persönlich eingestellt.“

Das waren keine Neuigkeiten. Grace hatte ihm die meisten Details selbst erzählt, außerdem, dass sie früher Polizistin gewesen war. So kurz die Begegnung auch gewesen war, konnte Slater sich doch sehr gut vorstellen, wie die reizende Miss Emery alle ihr gestellten Aufgaben direkt und entschlossen anging. Es war allerdings ein enormer Wandel von der Polizistin zur Hotelmanagerin. Anscheinend steckte eine Geschichte dahinter, und die würde er nur allzu gern kennen. „Interessant.“

Eines musste er seinen Brüdern zugutehalten – sie steckten ihre Nasen normalerweise nicht in die Angelegenheiten anderer Leute, und als Slater auf die Gründe für Grace Emerys Besuch nicht näher einging, beließen sie es dabei.

Mace bemerkte beiläufig: „Um deine Frage zu beantworten – unser Weingeschäft mit dem Hotel läuft gut. Ich habe mal nachgeforscht, welchen Wein wir zusätzlich produzieren sollten. Wie du weißt, will Mom das Unternehmen vergrößern und den Wein landesweit verkaufen. Das Hotel wählt jedenfalls anderen Wein als den, den die Weinhandlungen bei uns bestellen. Die nobleren Weine gehen bei den Hotelgästen besser – die wollen einen körperreichen, ausbalancierten Roten oder großen körperreichen Chardonnay, während im Einzelhandel mehr die leichteren, fruchtigeren Weine verkauft werden. In diesem Jahr werden wir an einigen Wettbewerben teilnehmen, um mehr Medienaufmerksamkeit zu bekommen.“ Er machte eine Pause, aber nur, um Luft zu holen. Wenn Mace über das Weingut sprach und die darin produzierten Weine, war er nur schwer wieder zu bremsen. „Die Schwierigkeit besteht darin, mit dem Wetter hier zurechtzukommen und die Reben zu finden, die den Winter gut überstehen und dennoch qualitativ hochwertig sind. Bisher kaufen wir die meisten unserer Trauben aus anderen Bundesstaaten. Das ist nicht ungewöhnlich, aber ich würde das Pendel gern mehr in unsere Richtung ausschlagen lassen.“

Slater gefiel die Leidenschaft seines jüngeren Bruders für den Weinanbau, denn er wusste, dass auch ihre Mutter sich mit diesem Unternehmen einen Traum erfüllte, nicht nur Mace. Slater, Mace und Blythe waren sehr unterschiedlich, aber Slater konnte sich in beide sehr gut hineinversetzen, weil Filme zu drehen und Wein anzubauen eine Kunst für sich waren. Drake interessierte das hingegen kein bisschen, er war viel zu bodenständig und dauernd in Bewegung. Es war schon beinahe seltsam, wie sehr Tiere und Kinder sich zu ihm hingezogen fühlten. Slater hatte seinen mittleren Bruder oft bei Picknicks oder Grillpartys beobachtet, mit einem Kleinkind auf dem Schoß und drei Hunden zu seinen Füßen. Drake schien sich dieser besonderen Gabe aber gar nicht bewusst zu sein.

„Ich verstehe nicht viel vom Weinanbau“, gab Slater an Mace gewandt zu. „Aber das hört sich gut an. Ich schaffe es, Schimmel auf einem Stück Käse im Kühlschrank wachsen zu lassen, aber das war’s auch schon. Apropos Wein und Käse – ich muss eine Party für die Investoren geben. Die haben sie sich verdient. Ich finde, das Hotel wäre der geeignete Ort dafür.“

Seine beiden Brüder lachten, und Drake zog ein paar Dollarscheine aus der Tasche. Er wählte einen aus und gab ihn Mace. „Du hast gewonnen. Da sind deine zehn Dollar.“

Grace schaute auf den Computerbildschirm und blinzelte mehrmals, um sicherzugehen, dass sie sich nichts einbildete. Die Buchung war hereingekommen, als sie gerade Mittagspause machen wollte, und sie war umfangreich. Slater Carsons Produktionsfirma hatte fünfzehn der besten Hotelzimmer reserviert, ebenso einen Saal und dazu Vorschläge für Gourmet-Menüs erbeten und außerdem bezüglich der Verfügbarkeit des Wellnessbereichs für die Top-Führungskräfte und Investoren nachgefragt.

Die Rechnung würde in die Zehntausende gehen. Grace war noch nicht lange im Hotelgewerbe und ziemlich beeindruckt, aber sie nahm an, dass derartige Ausgaben in der Geschäftswelt nicht unüblich waren.

Allerdings wirkte Slater auf sie nicht wie ein Unternehmer; sie konnte ihn sich nicht im Anzug vorstellen oder dass er eine Rede in der Vorstandsetage hielt. Er sah eher nach Jeans und maßgefertigten Stiefeln aus. Andererseits war sie ihm erst einmal begegnet, noch dazu unter ziemlich peinlichen Umständen. Also war ihr möglicherweise das eine oder andere entgangen.

Trotzdem, sie verfügte über einen guten Instinkt, was Menschen anging, und als Polizistin hatte sie gelernt, auf ihr Bauchgefühl zu hören.

Natürlich war ihr die natürliche Autorität nicht entgangen, die er ausstrahlte. Er war selbstbewusst und besaß sicher Durchsetzungsvermögen, ohne zu dominant zu sein. Andernfalls hätte er Ryder am gestrigen Abend viel härter zugesetzt.

Es war ziemlich klar, dass Mr. Carson eine genaue Vorstellung von dem hatte, was er wollte, und nie zögerte, dieses Ziel auch zu verfolgen.

Unwillkürlich stellte sie einige Vergleiche an – und es gab unbestreitbar Ähnlichkeiten zwischen Slater und Hank, ihrem Exmann. Beide Männer waren stark, zielstrebig und ehrgeizig.

Doch natürlich gab es auch deutliche Unterschiede zwischen ihnen.

Hank war nicht einfach nur ehrgeizig, sondern getrieben. Das konnte auf den ersten Blick sexy wirken; Macht war ja im Grunde auch sexy. Also fühlte sie sich schnell zu ihm hingezogen, trotz ihrer Vernunft, die ihr bei der Polizei immer so zugutegekommen war. Dummerweise hatte sie ihren Platz in Hanks Prioritätenliste falsch eingeschätzt, denn da stand sie ganz unten.

Selbst Ryder rangierte nicht sehr weit oben. An erster Stelle kam Hanks Karriere. Sowohl Grace als auch sein Sohn bedeuteten nur Ablenkung von der Arbeit. Das wurde ihr erst im Nachhinein klar.

Diese Erkenntnis hatte sie gekränkt, und seither war sie vorsichtig geworden. Ein großer Fehler war verzeihlich, zwei kamen einer Katastrophe gleich.

Na schön, sie kannte Slater nicht gut genug, um ihn als Spieler einzuschätzen. Doch hatte sie gelernt, bei dieser Art von Charisma auf der Hut zu sein.

Falls er sie als Eroberung sah – solche Typen waren ihr vor und nach Hank begegnet –, würde sein Ego einen ziemlichen Dämpfer erhalten.

Ohne mich.

Sie schaute über ihren Computermonitor hinweg und betrachtete ihre unmittelbare Umgebung. Das war ein alter Trick, um sich wieder auf die Realität zu konzentrieren, sobald ihre Gedanken abdrifteten.

Grace liebte ihr großes Büro im ersten Stock mit Blick auf den Pool und die Gärten. Es gab einen kleinen Balkon mit zwei kunstvollen Liegestühlen und einem kleinen Tisch mit Glasplatte.

Allerdings hatte sie keine Zeit, sich nach draußen zu setzen und das alles zu genießen.

An diesem Morgen standen aber die Balkontüren offen, und eine angenehm sanfte Brise wehte herein, es duftete nach Kiefern und den üppigen Blumen im Garten.

Das Hotel war ein wunderbarer Ort zum Arbeiten, die Bezahlung großzügig, und bis jetzt war Grace mit den Gästen genauso gut zurechtgekommen wie mit den Kollegen. Kurzum, sie hatte ihr Leben wieder in Schwung gebracht und würde daher keinerlei Komplikationen zulassen.

Ganz besonders nicht durch große dunkelhaarige, gut aussehende Cowboys ausgelöste Komplikationen.

„Hast du die Buchungen gesehen, die ich dir geschickt habe?“

Die Frage kam von ihrer Assistentin Meg, die lächelnd im Türrahmen stand. Meg war jung, voller Energie und frisch von der Hotelfachschule, aber noch unerfahren. Der Hotelbesitzer George Landers war ein alter Freund von Grace’ Vater. Er besaß verlässliche Instinkte, wenn es um die Stellenbesetzungen ging. Schon bald würde Meg das nötige Selbstbewusstsein und die damit einhergehende Autorität besitzen, die man brauchte, um eines seiner Hotels zu leiten. Im Augenblick war sie jedoch noch „nicht trocken hinter den Ohren“, wie George es ausdrückte.

Grace hatte ebenfalls eine Ausbildung im Hotelgewerbe absolviert, und zwar neben ihrer Tätigkeit als Polizistin. Aber sie hatte überhaupt keine Erfahrung, und sie war sich nicht sicher, ob Selbstvertrauen ihre starke Seite war, vor allem wenn sie an einige ihrer Entscheidungen in der Vergangenheit dachte. Dafür konnte sie mit schwierigen Situationen fertig werden, und das wusste ihr Chef, weil er sie kannte. Sie war dafür ausgebildet, unter enormem Druck zu funktionieren. In Wahrheit sah es eher so aus, dass sie das Personal leitete, das das Hotel leitete.

Die exakten Anweisungen, die Grace erhalten hatte, lauteten: Sorg dafür, dass alle das tun, wofür sie da sind. Ich verlasse mich darauf, dass du dich um alles kümmerst.

Schön, dass es jemanden gab, der an ihre Fähigkeiten glaubte.

Aber vielleicht hatte sie auch einfach nur Glück gehabt.

George Landers hatte mit ihrem Vater das College besucht, und seitdem spielten die beiden Männer an jedem Mittwochnachmittag zusammen Golf. Als George erfuhr, Grace wolle sich beruflich eventuell verändern, lud er sie in sein Büro ein und bot ihr prompt den Job an.

Sie ergriff die Chance. Dass Ryder mit ihr kommen würde, war zwar zu diesem Zeitpunkt nicht klar gewesen, aber damit würde sie nun irgendwie zurechtkommen. Schließlich mochte sie den Jungen sehr.

„Ich wollte es mir gerade ansehen“, antwortete sie etwas verspätet auf Megs Frage. „Sehr gut.“

„Der Name Carson genießt hier in der Gegend einen enormen Ruf.“ Meg, in Jacke und Rock, wie das Unternehmen es verlangte, trat ein und legte einen Stapel Rechnungen auf den Schreibtisch. „Erst vor Kurzem haben sie ein Weingut eröffnet. Der ‚Ranch Hand Red‘ ist einer unserer Bestseller.“

Das war eine wichtige Information. „Den Carsons gehört Mountain Vineyards? Hm.“ Grace tippte etwas auf der Tastatur, und die Website erschien auf dem Bildschirm. Das Gebäude des Weingutes sah malerisch aus. Es handelte sich wohl um eine umgebaute Scheune oder Mannschaftsunterkunft, rustikal, aber massiv, auf hübsche Weise verwittert, mit Schindeldach und hohen Fenstern. Die Berge bildeten einen atemberaubenden Hintergrund.

O ja. Das war authentischer Western-Charme. „Sie sollten für unsere Gäste Führungen und Weinverkostungen veranstalten“, überlegte Grace laut. „Das könnten wir in unsere Angebote aufnehmen, denn nicht jeder kommt zum Wandern oder Skifahren her. Der Wellnessbereich ist schon ein enormer Anziehungspunkt, und dazu könnte das Weingut ausgezeichnet passen.“

„Es kann nicht schaden, mal nachzufragen“, meinte Meg strahlend. Sie sprudelte wie immer vor Begeisterung. „Es wäre doch fantastisch, wenn wir noch mehr solcher Anfragen bekämen, oder? Diese Landschaft hier ist wundervoll, ideal für Firmenevents.“

Megs Fröhlichkeit war absolut echt und deshalb nicht nervend. Grace hatte sie vom ersten Moment an gemocht.

Nachdenklich klopfte sie mit dem Stift auf die Schreibtischunterlage. „Ich frage mich“, murmelte sie, „ob Slater Carson wohl in Erwägung ziehen würde, unser Hotel in einem seiner Filme zu integrieren. Soweit ich weiß, macht er nur historische Dokumentationsfilme. Aber vielleicht ist er ja an einer Art gemeinsamer Werbung interessiert.“

Meg setzte sich mit großen Augen in einen Sessel. „Das ist eher unwahrscheinlich“, sagte sie ehrlich. „Aber wie schon gesagt, es kann nicht schaden, mal zu fragen. Wenn das funktionieren würde …“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Soll ich mal ein Angebot entwerfen?“

Die Idee war tatsächlich ziemlich abwegig, aber das waren die guten zunächst immer. Wer nicht wagt …

Allerdings würde sie irgendwann persönlich mit dem Mann sprechen müssen. Trotzdem war es sinnvoll, ihn erst einmal neugierig zu machen, damit er sich die Möglichkeiten durch den Kopf gehen lassen konnte. Schließlich war Mustang Creek seine Heimatstadt, und die heimische Wirtschaft konnte ihm nicht gleichgültig sein.

„Tu das“, entschied sie. „Lass ihn wissen, dass wir bereit sind zu einem Preisnachlass bei der Veranstaltung, für die er jetzt gebucht hat, und für weitere Buchungen, die er uns in Zukunft beschert. Erwähne auch die Verbindung zum Weingut.“

„Ist so gut wie fertig“, sagte Meg erfreut. Sie war eine attraktive junge Frau mit glänzend braunem Haar, das ihr anmutig auf die Schultern fiel. Ihre Augen waren honigfarben, und sie lächelte fast immer. Insgeheim beneidete Grace die Assistentin um deren nicht ganz so auffällige Erscheinung, besonders die Haarfarbe. Ihre war da, nun ja, deutlich schriller.

Aber sie erinnerte sich an den Rat, den ihre Mutter ihr häufig gegeben hatte: Sei du selbst, und setz immer schön einen Fuß vor den anderen.

Grace wurde wieder ganz geschäftsmäßig. „Ich will für diesen Abend den Chefkoch in der Küche haben“, erklärte sie. „Und ob es ihm nun gefällt oder nicht, wir werden ein schlichtes Menü anbieten – einen Gang Meeresfrüchte, einmal Geflügel, einmal Rind, einmal Schwein und eine raffinierte vegetarische Variante. Keine ausgefallenen Eisskulpturen, nichts mit Flammen.“ Sie grinste Meg an, die sofort verstand. „Ja, manchmal geht es mit Stefano durch, wie du sicher schon bemerkt hast. Ich habe versucht, ihn zu bremsen, aber er hat mich mehrmals darauf hingewiesen, dass ich keine Köchin bin.“

„Stimmt, aber du bist der Boss.“

„Allerdings.“

„Gibt es sonst noch etwas?“

Grace überlegte kurz, dann wagte sie es. „Lade ihn zum Essen ein. Nächsten Donnerstagabend, falls er Zeit hat.“

Meg sah ein wenig verwirrt aus. „Wen? Stefano?“

Grace schüttelte den Kopf. „Slater Carson. Dann werde ich ihm den Vorschlag unterbreiten. Aber ich möchte, dass es ein reines Geschäftsessen wird.“

Meg fragte sich zweifellos, woher Grace den legendären Filmemacher kannte. Aber sie war klug genug, nicht danach zu fragen.

„Das ist eine lange Geschichte.“ Grace beantwortete die unausgesprochene Frage ziemlich gelassen, obwohl sie innerlich keineswegs gelassen war – nicht wenn es um Slater ging.

Meg nickte, verließ das Büro und schloss die Tür leise hinter sich.

Als Grace allein war, schweiften ihre Gedanken in eine ganz andere Richtung ab.

Sie machte sich Sorgen wegen Ryder. Mit dem Diebstahl hatte er eine bedenkliche Grenze überschritten.

Na schön, es war weder ein bewaffneter Überfall gewesen noch Drogenhandel, und sie wollte auch keine zu große Sache daraus machen. Doch sie hatte bei ihrem letzten Job zu viele Kids auf die schiefe Bahn geraten sehen, und meistens fing es mit einem kleinen Vergehen an.

Diebstahl war Diebstahl.

Ryder war ein anständiger, talentierter Junge, aber das allein musste ihn nicht zwangsläufig vor Dummheiten bewahren, denn er war außerdem ein verwirrter und einsamer Junge. Und da sein Vater weit weg war und die Mutter kein Interesse an ihm hatte, war er besonders verletzlich.

Zum ungefähr hundertsten Mal, seit Ryder bei ihr wohnte, sagte Grace sich, dass er sicher nicht richtig kriminell werden würde, solange er bei ihr war. Ganz gleich, ob ihm eine solche Laufbahn vorherbestimmt war.

Nur war ihr Einfluss auf ihn letztlich begrenzt.

In Wahrheit war es an Hank, Verantwortung für seinen Sohn zu übernehmen. Der Junge brauchte seine Liebe und Führung. Sicher, Hank unterstützte ihn finanziell, aber das genügte nicht einmal annähernd.

Blöderweise würde Hank ihr die Schuld geben, nicht sich selbst, falls Ryder hier in Schwierigkeiten geriet.

Interessierte Hanks Ansicht sie überhaupt? Nein.

Ryder interessierte sie schon, sehr sogar.

Sie lächelte. Der Junge konnte bereits gut den harten Burschen mimen, aber zum Glück steckte noch mehr in ihm. Viel mehr.

Er fütterte zum Beispiel heimlich eine streunende Katze, die vor einigen Tagen auf ihrer Terrasse aufgetaucht war. Grace hatte die arme Kreatur ein paarmal gesehen. Das Tier war schwach, dünn und scheu. Als Grace sich ihr zu nähern versucht hatte, war sie in die Büsche gehuscht und hatte sich dort versteckt. Ryder hatte es besser gemacht und ihr Futter oder eine Schale Milch hingestellt. Dann wartete er, am Boden kauernd, beinah vollkommen regungslos.

Tatsächlich tauchte die Katze dann immer wieder nach einer Weile auf und fraß ein paar Bissen oder schlabberte die Milch.

Dieses Bild von Ryder, seine sanfte Geduld mit dem Tier, gab ihr Hoffnung.

Nach Feierabend fuhr sie in die Stadt und ging in den Supermarkt, weil sie Ryders Lieblingsessen kochen wollte, Spaghetti mit Hackbällchen. Sie legte außerdem Kartoffeln in den Einkaufswagen, Zutaten für einen Salat, Dosenfutter für Katzen sowie einen Sack voll Trockenfutter, dazu zwei Keramikschalen.

Ihre Wohnung gehörte zum Hotelkomplex, und als sie vom Einkaufen zurückkam, dachte sie daran, wie glücklich sie sich schätzen konnte, diesen Job zu haben. Natürlich war er anstrengend, aber sie war kranken- und sozialversichert, zahlte Rentenbeiträge und musste nicht für eine Miete oder Hypothek aufkommen.

Und niemand schoss auf sie oder schrie sie an, nur weil sie ein Polizeiabzeichen trug.

Auf dem Parkplatz blieb sie einen Moment stehen, um das Gebäude zu bewundern. Ihre Wohnung bestand aus drei großen Zimmern, von denen sie eines als Arbeitszimmer nutzte, zwei Badezimmern, einer hübschen Küche und einer herrlichen Aussicht auf den Bliss River. Die Wohnung war mit einigen Antiquitäten ausgestattet, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte – eine englische Standuhr, ein Zinnkrug, der auf dem Kaminsims stand, eine wunderschöne gerahmte, sehr alte Kohlezeichnung von Pferden im Schnee mit wehenden Mähnen. Dann hatte sie sich noch in Unkosten gestürzt und eine schokoladenbraune Couch mit Samtkissen gekauft.

Der niedrige rechteckige Couchtisch war ebenfalls neu.

Mit einem heimeligen Gefühl trug sie ihre Aktentasche, die Handtasche und eine Tüte voller Lebensmittel hinein. Ryder brach sein Videospiel ab und sprang auf.

„Brauchst du Hilfe?“, erkundigte er sich scheu lächelnd.

„Ja“, antwortete Grace erfreut. „Im Auto ist noch mehr.“

Ryder lief hinaus und kam mit einer Tüte und dem Sack Trockenfutter zurück. Als Grace seinen Gesichtsausdruck sah, war sie froh, sich für die Aufnahme der Katze entschieden zu haben.

„Was …“, begann er, auf den schweren Sack deutend.

Grace nahm ihm die Einkäufe ab und stellte sie auf die Küchenarbeitsfläche. Sie kramte in der Tüte, bis sie die Porzellanschalen gefunden hatte. „Ich weiß doch, was du vorhattest“, sagte sie.

Es sprach für Ryder, dass er dem Thema nicht auswich. „Er ist so hungrig und verängstigt. Da draußen lauern Gefahren …“

Grace war zutiefst gerührt von dem zärtlichen Ausdruck in Ryders jungem und oft so düsterem Gesicht. Da draußen lauern Gefahren …

Fühlte Ryder sich so verloren wie die kleine Katze? Allein in einer großen, gefährlichen Welt?

Wahrscheinlich.

Grace schluckte und kämpfte gegen die Tränen an. „Es gibt aber ein paar Regeln. Wir fahren so bald wie möglich mit dem Kater zum Tierarzt. Er darf erst ins Haus, wenn er untersucht worden ist. Er muss geimpft und kastriert werden, und du wirst ein paar zusätzliche Arbeiten im Haushalt erledigen, für die Auslagen, die ich habe. Ich kaufe das Futter, aber für alles andere bist du verantwortlich. Dazu gehört auch die Reinigung des Katzenklos. Haben wir eine Abmachung?“

Ryder machte ein ungläubiges Gesicht. „Meinst du das ernst? Ich kann ihn behalten?“

Sie lachte und hätte den Jungen am liebsten umarmt, spürte jedoch, dass es der falsche Zeitpunkt war. Deshalb boxte sie ihn stattdessen nur leicht gegen die Schulter. „Hast du überhaupt irgendetwas von dem mitbekommen, was ich gerade gesagt habe?“

Wie oft hatte man diesem Jungen schon etwas versprochen und ihn dann doch enttäuscht?

„Ja, habe ich“, erwiderte er mit sanfter Stimme. „Danke, Grace. Echt, danke.“

„Hauptsache, du hast zugehört“, sagte sie mit gespielter Strenge. „Das ist dein Kater, nicht meiner. Er wird auf dich angewiesen sein, und das bedeutet eine große Verantwortung für dich.“ In milderem Ton fügte sie hinzu: „Kümmere dich gut um den kleinen Kerl, dann hast du einen treuen Freund. Kann ich mich auf dich verlassen, Ryder? Und er auch?“

Ryders Stimme war heiser, und seine Augen glänzten ein wenig. „Ja“, antwortete er und räusperte sich.

Er wird erwachsen, dachte Grace plötzlich.

Wann war er eigentlich so groß geworden? Sie musste unbedingt mit ihm ein paar neue Anziehsachen kaufen, und zwar möglichst bald.

„Na schön.“ Grace wandte sich ab, um die anderen Lebensmittel auszupacken und damit er sie nicht weinen sah. „Geh jetzt, und füttere deine Katze.“ Dies war die beste Unterhaltung, die Ryder und sie bisher geführt hatten, und sie sollte noch nicht zu Ende sein. Sie blinzelte und schaute über die Schulter. „Wie heißt er denn eigentlich? Hat er schon einen Namen?“

Ryder strahlte. „Bonaparte.“

Grace konnte ihre Überraschung nicht verbergen. „Interessant. Steckt irgendeine bestimmte Bedeutung dahinter?“

„Klar.“ Er stellte den Sack Katzenfutter hin und öffnete ihn, um das Abendessen der Katze in den Napf zu schütten. „Napoleon Bonaparte kam aus bescheidenen Verhältnissen und wurde einer der größten Generäle der Welt. Und er nannte sich Eroberer.“ Mit der zweiten Schale ging er zur Spüle und füllte sie mit Wasser. „Das finde ich sehr beeindruckend.“

„Und wo ist noch mal die Verbindung zwischen dem General und dem Kater?“

Ryder ging mit beiden Näpfen zur Terrassentür und verschüttete dabei ein wenig Wasser. „Ich weiß nicht. Wahrscheinlich gefiel mir einfach die Geschichte. Sieh es mal von der Seite – immerhin habe ich im Geschichtsunterricht aufgepasst.“ Mit dem Ellbogen schob er die Tür auf. „Ich habe dir ja versprochen, dass ich mir mehr Mühe geben werde.“

Auf der Terrasse ging er in die Hocke und stellte die beiden Näpfe hin. Dann schaute er zu Grace.

„Ich wollte nicht hierher“, erinnerte er sie gutgelaunt. „Aber langsam gefällt es mir. Ein bisschen zumindest.“

Grace war gerührt und erfreut zugleich.

Das war doch schon ein Fortschritt.

„Bonaparte ist ein toller Name“, lobte sie ihn.

Sie war sich nicht sicher, ob Ryder sie noch gehört hatte. Aber das spielte letztlich auch keine Rolle. Inzwischen kam die Katze über die Terrassenfliesen angeschlichen, zu ängstlich, um nahe heranzukommen, aber auch zu hungrig, um wegzubleiben.

3. Kapitel

Der dunkelgraue Hengst mit der schwarzen Mähne und dem schwarzen Schweif war die personifizierte Wildheit. Er stand majestätisch da, fast als gehöre er zum frühmorgendlichen Sonnenlicht, das ihn wie eine Aura umgab, während sein Harem aus Stuten in der Nähe graste.

Trotz der Entfernung schien das Tier genau zu wissen, dass es beobachtet wurde; Slater betrachtete den erhobenen Kopf des Pferdes, den direkten Blick, die nach vorn gerichteten Ohren, die kraftvollen Muskeln der Hinterhand. Er schien sowohl zum Kampf als auch zur Flucht bereit zu sein.

Slater stieß einen leisen bewundernden Pfiff aus und reichte das Fernglas an seinen Bruder weiter. „Wow, das ist vielleicht ein Pferd.“

Drake schnaubte nur verächtlich. „Ein verdammter Mistkerl ist das, kann ich dir sagen.“ Er nahm seinen Hut ab, um sich frustriert durch die Haare zu fahren. „Ich wollte wenigstens eine der Stuten von dem Hengst decken lassen, den Tate Calder letztes Jahr gekauft hat. Von dem schwarzen Vollbluthengst. Ich habe sogar schon eine Deckprämie gezahlt.“

Drake klopfte sich mit dem Hut gegen seinen Oberschenkel, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Mit einer leichten Kopfbewegung deutete er zu dem Hengst zwischen den preisgekrönten Stuten, die er entweder gekauft oder selbst gezüchtet hatte. „Aber wegen diesem Biest da draußen kann ich mir das abschminken.“

Slater verkniff sich ein Grinsen. Es gab Momente, da konnte man Drake gut aufziehen. Und es gab Augenblicke, da konnte ein unbedachtes Wort die gleiche Wirkung haben wie ein Streichholz, das man ins trockene Steppengras warf.

Sosehr Slater ein solches Geplänkel Spaß machte, so ungern wollte er richtigen Ärger heraufbeschwören. Also schaute er nur zu dem Hengst und sagte: „Der ist eine Spezies für sich. Dazu geschaffen, klasse Fohlen zu zeugen.“

Drake kniff die Augen zusammen, beruhigte sich aber allmählich. Er schien selbst ein Grinsen unterdrücken zu müssen, obwohl Slater sich da nicht ganz sicher war. „Glaubst du vielleicht, der bringt die Stuten brav zum Stall, damit sie die nötigen pränatalen Untersuchungen über sich ergehen lassen können? Mann, Showbiz, dann warst du aber zu lange unterwegs. Entweder das, oder du hast zu viele Disneyfilme gesehen.“

Slater lachte, nahm das Fernglas wieder und suchte den Horizont ab nach dem Hengst und seinen vierbeinigen Bewunderern. Lächelte in sich hinein. Inzwischen hatte das Tier das Interesse an seinen Beobachtern verloren, und wer könnte es ihm verdenken, bei all den Stuten um ihn herum?

„Hast du Kontakt zum BLM aufgenommen?“, erkundigte Slater sich und ließ das Fernglas sinken. Nein, er hatte in letzter Zeit keine Disneyfilme gesehen. Zwar war er öfter unterwegs, als ihm lieb war, doch gehörte er ebenso hierher wie Drake. Die Ranch war auch sein Erbe und seine Zukunft, in jeder Hinsicht.

Bei der Erwähnung des Bureau of Land Management musste Drake lachen. „Ja, allerdings, ich habe das BLM angerufen“, bestätigte er, belustigt und zugleich angespannt. „Die haben alle Hände voll zu tun mit Wildeseln und Mustangs. Mit anderen Worten: Wenn wir ein paar wertvolle Stuten verloren haben, ist das unser Problem. So sehen die das.“

Slater hob kurz eine Schulter. „Na ja, ist es wohl auch. Wir könnten ein paar Cowboys zusammentrommeln und losreiten. Mal schauen, wie viele von diesen Stuten wir wieder einfangen können.“

Drake seufzte. „Leider müssen wir Prioritäten setzen. Ein paar Kälber fehlen nämlich auch, und deshalb sind schon alle Cowboys unterwegs, um die aufzuspüren und zurückzubringen. Bisher hatten sie kein Glück, denn es hat schon seit einer Weile nicht mehr geregnet. Wer auch immer Vieh stiehlt, hinterlässt keine Spuren.“ Jetzt wirkte er richtig besorgt. „Wenn ich mal raten soll – ich glaube, wir haben es hier mit Wölfen zu tun oder einer großen Raubkatze. Tja, und in dem Fall muss ich wohl eines meiner Gewehre abstauben.“

Slater legte Drake kurz die Hand auf die Schulter. Er wusste, dass sein Bruder in einer Zwickmühle steckte und sich deshalb grämte. Drake liebte Tiere, und zwar alle, und als Rancher hatte er Respekt vor den Gesetzen der Natur. Für einen hungrigen Wolf oder irgendein anderes Raubtier war ein Kalb schlicht und einfach Nahrung. Das sah er ein. Trotzdem musste er natürlich seine Herde beschützen.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte Slater. Er musste ungefähr ein Dutzend dringender Anrufe tätigen, und Papierkram gab es auch noch reichlich zu erledigen. Doch das alles würde er beiseiteschieben, falls Drake ihn brauchte. Er war Filmemacher von Beruf, doch zuallererst war er ein Carson und würde es immer sein.

Ein Rancher.

Aber Drake winkte ab. „Nein, wir kümmern uns darum. Du hast schon genug in deinem Büro zu tun.“ Er deutete auf die Berge, das Weideland, den beeindruckend blauen und weiten Himmel über Wyoming. „Das hier ist mein Büro“, erklärte er mit einem gewissen grimmigen Stolz. „Nicht unbedingt ideal, wenn es bitterkalt ist im Winter und der Wind mit sechzig Meilen pro Stunde weht, wenn einem der Schnee wie Schrapnellsplitter ins Gesicht peitscht. Oder wenn es so heiß ist, dass man die Gluthitze vom Boden aufsteigen spürt und einem das Hemd am Leib klebt. He, aber ich mag es, so wie du es magst, Mr. Showbiz zu sein.“

Slater gab ihm recht und ging zurück zum Haus. Drake meisterte seine Aufgabe in dieser Welt ziemlich gut. Sein Bruder ging die Dinge stets direkt an und tat, was zu tun war.

Sein jüngerer Bruder Mace neigte eher dazu, intuitiv zu handeln.

Er ging die Treppe hinauf und sah seine Mutter, die die Blumen auf der vorderen Veranda goss. Sie schaute lächelnd auf. Blythe Carson war mit siebzig noch immer schlank und jugendlich. Sie trug Jeans und hatte die Haare wie immer locker zurückgesteckt. Ihre natürliche Schönheit musste nicht durch irgendwelche Kosmetika hervorgehoben werden, doch unter dieser sanften femininen Hülle war sie stahlhart. Vielleicht war sie schon so geboren worden. Vielleicht hatte sie die Belastbarkeit auch erst entwickelt nach der Geburt dreier Söhne und dem frühen Tod des geliebten Ehemannes, als sie sein Erbe antreten und eine Ranch übernehmen musste, von der sie wenig bis gar nichts verstand.

Doch sobald sie mit einer Herausforderung konfrontiert wurde, krempelte sie die Ärmel hoch, buchstäblich und sprichwörtlich, und stellte sich ihr.

Der unbeugsame Geist seiner Mutter war einer der Gründe, weshalb Slater ein Interesse für historische Dokumentarfilme entwickelt hatte. Diese tapferen Pioniere hatten so viele Geschichten zu erzählen, und für Slater repräsentierte Blythe genau jene Art, mit der Frauen die Unbilden und Herausforderungen des Westens bewältigt hatten. In seinen Filmen ging es um die Reise, um den Weg, den Menschen zurücklegten in ihrem Leben, wo sie begannen und was aus ihnen wurde. Um das, was man gemeinhin auf dem Land als Mumm oder Schneid bezeichnete.

„Was hast du denn heute vor?“, fragte seine Mutter.

„Arbeiten“, antwortete er. „Ich habe Drake meine Hilfe auf den Weiden angeboten, aber er hat sich schon um alles gekümmert.“

„Er kümmert sich immer um alles. Es fällt ihm schwer, Hilfe anzunehmen. Genau wie einige andere Leute, die ich dir nennen könnte.“

Natürlich spielte sie auf alle drei Söhne an.

„Hm, ich frage mich, von wem wir diese Eigenschaft wohl haben“, erwiderte er.

Blythe verzog das Gesicht.

Er zögerte, ehe er das Haus durch den Seiteneingang betrat. „Kommst du nachher mit aufs Weingut? Du und Mace, ihr könntet mir mal alles zeigen. Seit euer neuer Weinkeller fertig ist, bin ich nicht mehr da gewesen.“

„Ja, sehr gern. Ruf mich auf meinem Handy an, wenn du fertig bist. Oder schreib mir lieber eine Nachricht.“ Obwohl sie eigentlich nicht der gefühlsbetonte Typ war, streichelte sie ihm mit einer kurzen zärtlichen Geste der Zuneigung die Wange. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist.“

Ruf mich auf meinem Handy an. Oder schreib lieber eine Nachricht. Slater musste grinsen, weil es schwer gewesen war, seine Mutter davon zu überzeugen, sich ein Handy anzuschaffen. Inzwischen kommunizierte sie gekonnt auf High-Tech-Level. „Okay, bis später.“

Er ging ins Haus und durch die Eingangshalle mit dem Kronleuchter, der eigentlich in irgendeinem Museum hängen sollte. Das Stück gehörte nicht ursprünglich zum Haus, sondern stammte aus einer viel älteren Zeit, wahrscheinlich Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Es hieß, er stammte aus einem prachtvollen Südstaatenhotel. Die wunderschöne Kreation aus edlem Kristall schien nicht ganz hierher zu passen und wirkte doch zugleich wie an ihrem natürlichen Platz in diesem Ranchhaus in den Bergen und der Prärie.

Für Slater waren diese Dinge nichts Ungewöhnliches. Seine Familie war ungewöhnlich, um es milde auszudrücken.

Er betrat sein Büro, das ehemalige Arbeitszimmer seines Vaters. Hier fühlte er sich wohl, zwischen den seit Generationen in der Familie befindlichen Bücherregalen mit den unzähligen Bänden darin, von denen viele den alten amerikanischen Westen zum Thema hatten. Es gab aber auch Klassiker und zahlreiche andere Sachbücher, Poesie und philosophische Werke ebenso wie die Wildwestromane von Zane Grey und Louis L’Amour.

Slater setzte sich in den alten Ledersessel und schaltete seinen Computer ein. Wie vorausgesehen, erwartete ihn bereits eine Flut an E-Mails, hauptsächlich von Mitarbeitern, in denen es um letzte Details zum Drehort ging.

Diese E-Mails beantwortete er zuerst, und es war wie immer eine zeitaufwendige Tätigkeit.

Es gab eine Nachricht von dem Hotel, das er für das Treffen und gemeinsame Essen am Morgen gebucht hatte. Darin wurde das Datum – erst in einem Monat – bestätigt. Aber es war die zweite Nachricht, die seine Aufmerksamkeit weckte. Er wurde in sachlich-geschäftlichem Ton in der nächsten Woche zu einem Abendessen mit der Hotelmanagerin eingeladen. Und das war niemand anderes als Grace Emery persönlich. Es ging darum, „mögliche gemeinsame Unternehmungen und Werbung zu diskutieren“.

Slater musste grinsen, denn er stellte sich unwillkürlich einige gemeinsame Unternehmungen mit ihr vor.

Sieh mal an, dachte er.

Angesichts des kurzen gereizten Wortwechsels mit der Dame gestern wunderte es ihn, dass die entzückende Miss Emery ihn wiedersehen wollte. Aus welchem Grund auch immer.

Grace war wütend auf ihren Stiefsohn gewesen, und sie hatte den Jungen buchstäblich gezwungen, sich zu entschuldigen. Außerdem hatte sie ganz offensichtlich eine Abneigung gegen Slater gehegt. Und nun wollte sie plötzlich über Geschäftliches mit ihm reden? Noch dazu bei einem Abendessen?

Da niemand in Sichtweite war, reckte er triumphierend die Faust und flüsterte: „Ja!“

Idealerweise würde es nur ein Treffen zwischen ihnen beiden sein. Keine Assistenten, keine Leiter dieser oder jener Abteilung.

Nur Grace und er.

Dummerweise lief es im Leben selten ideal.

Slater ermahnte sich, nicht zu viel in diese unerwartete Einladung hineinzuinterpretieren. Er druckte die Bestätigung für die gebuchte Veranstaltung aus, heftete sie ab und verschickte die Nachricht mit Ort und Datum – Samstag in einem Monat – an seine Gäste.

Nachdem das erledigt war, schrieb er sorgfältig eine Zusage für den zweiten Termin.

Natürlich würde die E-Mail direkt an Grace’ Assistentin gehen, sie hieß anscheinend Meg, aber sicher würde sie selbst die Nachricht auch lesen. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch, noch immer mit einem Lächeln im Gesicht, obwohl längst nicht mehr so triumphierend, sondern eher Ausdruck einer fragileren Gefühlsregung wie Hoffnung.

Trotz ihrer ablehnenden Haltung und bissigen Bemerkungen ihm gegenüber gestern Abend hatte er gespürt, dass die Anziehung nicht nur einseitig war.

Aber möglicherweise irrte er sich in diesem Punkt auch. Vielleicht war die Einladung bloß exakt das, was sie zu sein schien – rein geschäftlicher Natur.

Slater lehnte sich zurück. Nach dem, was seine Brüder ihm über Grace erzählt hatten, hatte sie schon des Öfteren Cowboys einen Korb gegeben. Schließlich war sie eine Geschäftsfrau mit einem anspruchsvollen Job und einem nicht unproblematischen Teenager. Ryder schien zwar ein intelligenter Junge zu sein, aber die Klugen waren oft am schwierigsten. Hinzu kamen ein Umzug von einem Bundesstaat in einen anderen und ein neuer Job. Es brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass romantische Abende momentan nicht sehr weit oben auf Grace Emerys Liste standen.

Genau betrachtet, hatte auch Slater nicht vor, sich mit jemandem einzulassen. Er liebte seine Arbeit, ging mit vielen Frauen aus, von denen er die meisten während der Dreharbeiten kennenlernte, verbrachte so viel Zeit wie möglich mit seiner jungen Tochter Daisy und half seinen Brüdern auf der Ranch und im Weingut. Er fand, das war mehr als genug für einen Mann. Er war überzeugt davon, dass man etwas, was gut funktionierte, nicht ändern sollte. Nein, er wollte sein Leben absolut nicht kompliziert machen.

Nur geschahen eben einige der besten Dinge im Leben ungeplant.

Wie zum Beispiel seine Tochter Daisy.

Nun etwas angespannt, nahm er sein Telefon, scrollte durch die Kontaktliste und hoffte, Raine dieses Mal zu erwischen. Er hatte bereits zwei Nachrichten hinterlassen, doch seine Exfreundin und die Mutter von Daisy arbeitete zu den unterschiedlichsten Zeiten. Ihr lockerer Lebenswandel machte die Kommunikation oft schwierig. Als sie sich meldete, sagte sie lachend: „Tja, ich glaube, Ärger ist wieder in der Stadt.“

Slater lächelte. Als sie noch zusammen waren, hatte er geglaubt, Raine zu lieben. Und sie hatte ganz sicher geglaubt, ihn zu lieben. Ja, der Sex war fantastisch gewesen, aber sie waren damals beide jung und sorglos und genossen die Liebe. Irgendwann wurde ihnen klar, dass es zur Ehe nicht reichte.

„Du glaubst, aha“, erwiderte er nachsichtig. „Ich habe dir mehrere E-Mails geschickt und ein paarmal angerufen. Es gibt Leute, die wären danach weniger erstaunt, dass ich wieder da bin.“ Er sprach in entspanntem Ton, denn er kannte Raine und ihre legendäre Fähigkeit, sich in ihre Arbeit zu vertiefen. Dann nahm sie einfach nichts und niemanden mehr um sich herum wahr, bis auf ihre kleine Tochter. „Zum Glück hat Daisy sich wenigstens gemeldet, und wir haben schon was ausgeheckt. Was machst du heute zum Abendessen? Ich habe meine Tochter seit zwei Monaten nicht gesehen, wenn man von dem Kurzbesuch absieht, um mir ihre Aufführung im Schultheater anschauen zu können. Laut Mom spielt Daisy in diesem Sommer Softball, also werde ich bei so vielen Spielen wie möglich dabei sein.“ Er machte eine kurze Pause. „Anscheinend habe ich als Vater einiges nachzuholen.“

Raine schien das meiste von dem, was Slater gesagt hatte, gar nicht wahrgenommen zu haben. „Abendessen?“, wiederholte sie. Wahrscheinlich dachte sie über irgendein Projekt nach, an dem sie gerade arbeitete. „Ich schätze, das hängt davon ab, ob Harry das Kochen übernimmt. Ich meine, ob wir Zeit haben.“

„Harry kocht“, bestätigte Slater amüsiert. Er hatte mit der Haushälterin schon ein Arrangement getroffen. „Es sei denn, du möchtest lieber in ein Restaurant.“

„Und lasse mir eines von Harrys unvergleichlichen Menüs entgehen? Auf keinen Fall.“

Das freundschaftliche Verhältnis mit Raine stimmte Slater froh. Ihre Beziehung, inzwischen längst nicht mehr auf der romantischen Ebene, war ein interessantes Kapitel in seinem Leben gewesen. Ein Beweis für das alte Sprichwort, dass Gegensätze sich anziehen. Slater glaubte an Wurzeln, Familie, Tradition, während Raine das etwas anders sah. In den grundlegenden Dingen waren sie sich jedoch einig.

Meistens.

Die Erinnerung gab Slater einen Stich. Sie hatten sich schon im Guten getrennt und waren seit sechs Monaten auseinander, als Raine ihn nach einem längeren Aufenthalt bei irgendwelchen Cousinen in New Mexiko besuchte. Da war sie im achten Monat schwanger, und nach dem anfänglichen Schock darüber, plötzlich Vater zu werden, hatte er sich gefreut.

Raine war ein sehr unabhängiger Mensch, und als sie ihre Schwangerschaft feststellte, gab es für sie nicht den geringsten Zweifel, dass sie das Baby wollte. Während ihrer Beziehung hatten sie über das Kinderkriegen nie gesprochen, höchstens in rein hypothetischem Sinne. Ja, ihnen beiden gefiel die Vorstellung, eines Tages ein Baby zu bekommen – später. In irgendeiner unbestimmten fernen Zukunft. Vielleicht hatte sie Slater nicht gleich informiert, doch zweifelte er nie daran, dass es sein Kind war.

Also fragte er Raine, ob sie ihn heiraten wolle.

Sie hatte ihn nur freundschaftlich gegen die Schulter geboxt. „Sei nicht albern. Es würde nicht funktionieren mit uns, das wissen wir beide.“

Slater und Raine lebten nie unter demselben Dach, trotzdem wurden sie drei so etwas wie eine Familie. Er zahlte Unterhalt für Daisy und verbrachte so viel Zeit wie möglich mit ihr. Er liebte sie, wie ein Vater sein Kind lieben konnte. Und Raine war eine hingebungsvolle Mutter.

Es war fraglos eine ungewöhnliche Konstellation, aber Slater hätte nichts ändern wollen, selbst wenn ein Neuanfang möglich gewesen wäre.

Eine Weile hatte er zwar darum gekämpft, er wollte eine ganz traditionelle Familie. Aber am Ende sah er ein, dass Raine recht gehabt hatte. Daisy war ein glückliches, ausgeglichenes Kind. Sie hatte hervorragende Zensuren, viele Freunde und war gesund. Sie hatte ein stabiles Zuhause, sogar gleich zwei, und Eltern, die sie liebten.

So weit, so gut.

„Slater?“ Raines Stimme war wie ein freundlicher Rippenstupser. „Bist du noch da?“

„Ja“, antwortete er.

„Was gibt’s denn zu essen heute Abend? Ist im Grunde nicht wichtig, weil alles köstlich ist, was Harry kocht.“

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten musste er seine abschweifenden Gedanken wieder auf das Gespräch lenken. „Ich habe keine Ahnung, was Harry zusammenrühren wird, aber sie kocht ja schließlich auch, nicht ich. Kommt ihr nun oder nicht?“

„Wir kommen. Die übliche Zeit?“

„Ja. Du kennst ja Harry und ihren Zeitplan. Ihr Haushalt läuft wie ein Uhrwerk.“

„Wir werden pünktlich sein. Als ich das letzte Mal zu spät gekommen bin, behauptete sie, die Spülmaschine sei kaputt, und ich musste das ganze Geschirr per Hand abwaschen, während sie mich dabei beaufsichtigte. Weißt du noch?“

Daran erinnerte er sich noch gut. „Geschah dir recht.“

„Du hast keinen Funken Mitgefühl für mich aufgebracht. Du hast sogar gelacht.“

Slater musste bei der Erinnerung an den Vorfall lachen. „Ich habe dich immer wieder gewarnt, Süße. Pünktlichkeit ist Harry sehr wichtig. Niemand hält den Ablauf ungestraft auf.“

„Na ja, ihr einzigartiges Knoblauchpüree ist mir auch sehr wichtig, also hoffen wir mal, dass es das gibt. Daisy und ich werden Punkt sechs da sein.“

Nach dem Gespräch schrieb er eine Textnachricht an seine Mutter. Eigentlich war das albern, da sie sich im selben Haus aufhielten. Aber das waren nun mal die Kuriositäten des modernen Lebens.

Bist du bereit für den Besuch im Weingut?

Die Antwort folgte prompt.

Ich kann es gar nicht erwarten, dir die Veränderungen zu zeigen, die wir vorgenommen haben. Wir treffen uns vorn.

Slater stand auf, während er mit den Daumen auf seinem Smartphone herumtippte.

Übrigens kommen Raine und Daisy zum Abendessen.

Dann machen wir es kurz. Ich fahre noch in die Stadt, um Eis zu kaufen, wenn wir fertig sind.

Slater tippte im Gehen ein paar Smileys ein, gefolgt von:

Ich hatte auf Harrys Zitronenkuchen gehofft.

Ist schon ins Menü aufgenommen. Aber Daisy liebt nun mal Schokoladeneis, und dank deiner beiden Brüder haben wir fast nichts mehr.

Ich habe eine Idee. Sprechen wir doch persönlich darüber.

Blythe antwortete ebenfalls mit einem Icon, einem Smiley, das die Zunge herausstreckte.

Slater stöhnte und steckte sein Smartphone in die Brusttasche seines Hemdes.

Es würde ein guter Tag werden und ein noch besserer Abend, den er mit den Frauen verbringen würde, die er liebte – der ganz jungen, der älteren und der dazwischen.

In Gedanken noch bei Raine, ging er zur Haustür. Bei ihrem letzten Treffen hatte sie glänzendes dunkles Haar, schulterlang. Aber bei ihrer Impulsivität konnte sie es inzwischen kurz geschnitten oder grün gefärbt haben. Sie hatte freche braune Augen und ein ansteckendes Lachen. Es war dieses Lachen gewesen, das Slater zuerst auf sie aufmerksam gemacht hatte, auf einer Party vor über zehn Jahren. Es war der Beginn einer sechsmonatigen Affäre gewesen. Raine war eine talentierte Grafikdesignerin, die auch Websites gestaltete und erst vor Kurzem eine sehr gute Seite für das Weingut gestaltet hatte.

Seine Gedanken schweiften schon wieder ab, diesmal zu Daisy. Von Anfang an war sie ein Mitglied des Carson-Clans gewesen; alle schlossen sie sofort ins Herz und verwöhnten sie. Von Onkel Drake gab es ein Pony, ein selbst gebautes Puppenhaus von Onkel Mace und ein Prinzessinnenzimmer, das ihre Mutter für Daisys Besuche auf der Ranch entworfen hatte. Irgendwann hatte Slater sie höflich darum bitten müssen, endlich damit aufzuhören, das Kind mit Geschenken zu überhäufen.

Es zeigte keine Wirkung. Zu Weihnachten bekam Daisy ein Fahrrad von Slater – und noch zwei weitere, jeweils eines von jedem Onkel.

Letztlich sah Slater es nicht so eng. Anfangs hatte er befürchtet, Raine könnte mit Daisy wegziehen, weit weg von Mustang Creek, vielleicht in die Großstadt, weil die mehr Möglichkeiten zum Arbeiten für sie bot. Diese Angst legte sich, nachdem geteiltes Sorgerecht vereinbart worden war.

Slater hatte Raine ein Haus in der Stadt gekauft, und sie wurde zu einem geschätzten Mitglied der Gemeinde.

Und Raine war es gewesen, die vorgeschlagen hatte, Daisy solle den Namen Carson annehmen.

Slater trat auf die Veranda hinaus und entdeckte seine Mutter, die bereits auf ihn wartete und unterdessen mit einem der Cowboys plauderte, der die Zügel zweier gesattelter Pferde hielt. Das verwitterte Gesicht des alten Mannes hellte sich auf, und als Slater zu ihnen ging, bekam er als Willkommensgruß einen ordentlich Klaps auf die Schulter. Hätte er das nicht erwartet, wäre er unter dem Hieb womöglich ins Schwanken geraten.

„Slate, schön, dich zu sehen, Junge.“ Red, nach dem Fluss benannt, war ein waschechter Cowboy von der altmodischen Sorte. Außerdem war er wie ein menschliches Barometer. Wenn Slater daheim war, schaute er nie die Wettervorhersage, sondern fragte einfach Red. Der warf dann mit zusammengekniffenen Augen einen Blick hinauf zum Himmel und machte jedes Mal eine neue exakte Voraussage. Slater hätte schwören können, dass der Mann seit dreißig Jahren den gleichen Hut trug, aber vielleicht gefiel ihm einfach der Stil, und er kaufte sich hin und wieder einen neuen.

„Ich bin froh, wieder zu Hause zu sein“, sagte er aufrichtig. „Wenn ich zurückkomme, frage ich mich immer, warum ich überhaupt weggehe.“

„Das frage ich mich auch.“ Red tätschelte einem der Pferde den Hals, einem nervösen Braunen. „Das hier ist Heckfire“, erklärte er Slater. „Ich weiß, du vermisst den alten Walter, aber Drake und ich dachten, dir könnte dieser junge Bursche gefallen.“

Das Pferd war eine schlanke elegante Erscheinung mit glänzendem Fell, und es warf den Kopf zurück, als wollte es die Zügel loswerden. Slater spürte, dass das weniger Rebellion war als der Wunsch nach Bewegung. Dieses Gerede ist langweilig. Lass uns galoppieren!

Ja, Slater vermisste seinen Wallach, den er von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. Doch sein vierbeiniger Freund war fast dreißig Jahre alt geworden, und als Slater sich beim letzten Mal von ihm verabschiedet hatte, wusste er, dass es kein Wiedersehen geben würde.

Er strich über den muskulösen Hals des Pferdes und wurde mit einem leisen Wiehern und neugierigem Schnuppern belohnt, während Red ihm die Zügel gab. „Der ist großartig. Aber … Heckfire?“

„Wir nennen ihn Heck. Der Name stammt von Drake. Sogar als Fohlen war der Bursche schon frech, und da hatte er noch keinen Namen. Dein Bruder meinte: ‚Heck, hat der Feuer unterm Hintern!‘“ Red machte eine Pause, räusperte sich und sah verlegen zu Blythe. „Na, so ähnlich hat er das jedenfalls gesagt. Irgendwie blieb der Name dann hängen.“

Blythe verdrehte die Augen, sagte aber nichts. Red galt auf der Ranch als Institution; er arbeitete schon länger für die Familie, als Slater auf der Welt war. Er war Witwer und nie über den Tod seiner vor langer Zeit gestorbenen Frau hinweggekommen. Noch immer legte er jeden Sonntagnachmittag Blumen auf ihr Grab.

Slater wartete und nickte einmal kurz. Red wollte offenbar noch etwas sagen. „Du musst diesem Sturkopf hier aber noch ein paar Manieren beibringen“, meinte der alte Cowboy, rieb sich das stoppelige Kinn und musterte den Wallach ernst.

„Du weißt ja, dass ich Herausforderungen mag“, entgegnete Slater. „Sobald wir uns einig geworden sind, wird alles gut.“ Mit einem Seitenblick auf seine Mutter fügte er hinzu: „Es ist genau wie bei den Frauen.“

Natürlich stieß Blythe ihm daraufhin den Ellbogen in die Rippen. Fest.

Natürlich hatte er mit dieser Reaktion gerechnet und zuckte kaum zusammen.

Red lachte. „Na, da muss ich dir widersprechen, mein Junge. Kein Mann versteht jemals eine Frau. Das ist eine völlig andere Spezies.“

Blythe verschränkte die Arme vor der Brust. „Wie bitte? Ich – zufällig eine Frau – stehe hier und höre zu. Oder habt ihr beiden Holzköpfe das etwa vergessen?“

„Mrs. Carson, Ma’am.“ Red tippte sich an die Hutkrempe und hielt zuvorkommend ihr Pferd, während sie aufstieg. Slater schwang sich in seinen alten Familiensattel und empfand erneut Trauer über den Verlust von Walter. Aber er war auch angenehm überrascht über den anmutigen Gang des Braunen, als sie im langsamen Galopp die Zufahrt entlangritten. Der alte Cowboy hatte recht, das Pferd ignorierte kleine Kommandos wie ein störrischer Teenager, benahm sich insgesamt aber gut. Slater hatte von frühester Kindheit an mit Pferden zu tun gehabt und erkannte ein gutes Tier sofort, wenn er auf ihm ritt. Er konnte Drake zu diesem Pferd nur beglückwünschen.

Als sie die ersten Rebstöcke erreichten, die für Slaters unerfahrenes Auge gut aussahen, verlangsamten sie das Tempo und stiegen ab. „Mace hat ein Bewässerungssystem installiert, das einen Haufen Geld gekostet hat“, erklärte seine Mutter, während sie neben ihren Pferden zu Fuß gingen. „Aber du weißt ja, dass ich ihm blind vertraue, wenn es um Pflanzen geht. Er ist ein paarmal ins Willamette Valley gefahren und hat euren Onkel in Kalifornien besucht, um praktische Erfahrung bei der Ernte zu sammeln, und inzwischen hat er den Bogen wirklich raus. Er hat verschiedene Stöcke mit überraschendem Erfolg gepflanzt. Wenn es ihm gelingt, die richtigen Trauben zu produzieren, müssen wir vielleicht keine mehr dazukaufen, wie wir es momentan noch tun, sondern können alles selbst anbauen. Der Apfelwein, den er letztes Jahr gemacht hat, war zumindest ein großer Erfolg. Er probiert alles Mögliche aus, von Cranberry bis Pfirsich, außerdem verschiedene Sorten Rotwein, von Merlot bis Zinfandel, und Weißwein von Chardonnay bis Riesling. Ja, er experimentiert gern herum.“

„Er hat sicher Spaß dabei. Mir kommt er manchmal vor wie ein verrückter Wissenschaftler“, sagte Slater. „Ich erinnere mich noch, als er auf dem College war und anfing, sein eigenes Bier zu brauen. Seine Wohnung sah aus – und roch –, als hätte er irgendwo einen Maischbottich geklaut. Ich habe ihn dort einmal besucht, und er überredete mich, mal einen Schluck zu probieren. Ich wollte gar nicht, aber es schmeckte ganz okay. Leider habe ich dann vom Rest des Abends nichts mehr mitbekommen. Ich weiß nur noch, dass ich im Sitzen in einem Sessel schlief, vollständig bekleidet, und beim Aufwachen am Morgen einen fürchterlich steifen Nacken hatte. Ich habe mich geweigert, das Experiment zu wiederholen. Er fand es witzig.“

Blythe grinste. „Die Geschichte habe ich auch schon das eine oder andere Mal gehört. Ich sage es ja nur ungern, aber er macht das immer noch.“

„Wenn ihm seine Gesundheit lieb ist, dann aber besser nicht in meinem Beisein.“ Slater meinte es ernst damit. An jenem Morgen damals war er überdies mit schrecklichen Kopfschmerzen aufgewacht und war sich, was noch viel schlimmer war, wie ein Idiot vorgekommen.

„Ah, diese drei Jungs zu haben ist doch unvergleichlich“, schwärmte Blythe mit ein wenig Ironie in der Stimme.

„Es sei denn, man hat ein kleines Mädchen, das langsam groß wird. Daisys neunter Geburtstag rückt näher. Hast du irgendwelche Ideen?“

„Ja, aber da muss sich jeder selbst drum kümmern, Slater. Beide Onkel haben mir die gleiche Frage gestellt, und denen habe ich auch nicht geholfen.“

„Ich bin Daisys Vater, das ist etwas anderes.“

Seine Mutter bedachte ihn mit einem tadelnden Blick, den er kannte. Und Drake und Mace war dieser Blick sicher auch nicht unbekannt. „Meinst du nicht, es wird Zeit, dass du heiratest und noch ein paar Kinder bekommst?“, fragte sie. „Um Daisys willen natürlich.“

4. Kapitel

Kein Druck.

Nicht den geringsten.

Grace trank ihren morgendlichen Kaffee, schaute auf die Uhr des Computers in ihrem Arbeitszimmer zu Hause und fühlte sich, als hätte sie schon die ganze Woche das Tageslicht nur vom Fenster aus gesehen. Sie brauchte einen langen Spaziergang, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Ryder hatte Ärger in der Schule. Nichts Gravierendes, nur eine Rangelei im Sportunterricht. Aber er wurde auf die Bank verbannt und die ganze Woche vom Sportunterricht suspendiert. Das Schlimmste war jedoch, dass er Grace kein Wort davon erzählt hatte. Der Sportlehrer hatte angerufen.

Die Situation war beunruhigend, um es milde auszudrücken, und Grace fühlte sich überfordert. Der schmale Grat zwischen freundschaftlich und streng entpuppte sich als echte Herausforderung. Aber sie gab weiterhin beharrlich ihr Bestes. Möglicherweise galt das ja auch für Ryder. Es war eine Sache, alleinerziehend zu sein, und noch etwas ganz anderes, ein Kind allein zu erziehen, das nicht das eigene war. Trotzdem liebte sie Ryder, das stand völlig außer Frage. Der Junge hatte Probleme, und das war wenig verwunderlich, da er den Großteil seines jungen Lebens von seinen Eltern vernachlässigt worden war. Dummerweise war das nun auch zu Grace’ Problem geworden, obwohl sie doch gar nichts dafür konnte.

Noch frustrierender war die Erkenntnis, dass Ryders Mutter nie und nimmer helfen würde. Und Hank steckte wer weiß wo – das war absolut geheim. Also musste Grace allein mit dieser Aufgabe fertig werden. Ryder war ein kluger Junge, was die Sache nicht besser machte. Ihm war durchaus klar, dass sie, die gar kein Sorgerecht für ihn hatte, für all das auch nicht zuständig sein sollte. Natürlich war er rebellisch. Der arme Kerl brauchte schließlich jemanden, auf den er wütend sein und bei dem er die Emotionen eines Heranwachsenden abreagieren konnte.

Die ganze Situation brach Grace beinahe das Herz.

An der Hintertür war ein kratzendes Geräusch zu hören. Grace verließ ihr Arbeitszimmer, ging durch die kleine Küche und schaute durch das Fliegengitter hinaus. Bonaparte saß auf der Fußmatte, sah zu Grace auf und miaute. Der Kater sah wohlgenährt aus, seitdem er regelmäßig Futter und viel Liebe bekam.

Er war vollkommen schwarz bis auf einen weißen Fleck auf der Brust, hatte leuchtend grüne Augen und gestattete Grace nach wie vor nicht, ihn zu streicheln. Dabei hatte sie schon beobachtet, wie es Ryder gelang, das Tier auf seinen Schoß zu locken. Das Fell des Katers war nicht mehr struppig, sondern glatt und glänzend, und mittlerweile war er auch deutlich zugänglicher geworden. Allerdings fragte sie sich, wie sie ihn jemals in eine Transportbox bekommen sollte, damit sie mit ihm zum Tierarzt fahren konnten, wo er geimpft und kastriert werden sollte.

Entgegen ihren eigenen Regeln öffnete sie die Tür und rechnete damit, dass das Tier davonlaufen würde. Doch als sie zurücktrat, um Bonaparte hereinzulassen, kam er zögernd und vorsichtig eine Pfote vor die andere setzend, als wollte er fragen: Wohne ich jetzt wirklich hier?

Bonapartes Unbeholfenheit gab Grace einen Stich, der Kater erinnerte sie an Ryder. Misstrauisch, seinen Platz in der Welt noch suchend, dankbar für jede Anerkennung, sich gar danach sehnend, zugleich aber auch unsicher, so war auch der Junge. Auch Ryder wusste nicht so genau, wohin er gehörte und zu wem.

„Ich werde dich mal allein lassen, bis du bereit bist“, sagte sie mit sanfter Stimme zu der Katze. „Ryder wird bald zu Hause sein.“

Und dann werde ich ihn mir vorknöpfen müssen, dachte Grace zerknirscht. Was ich nicht will. Aber zu seinem eigenen Besten, wie es so schön heißt, muss ich es tun.

Bonaparte untersuchte die Fußleiste und setzte sich. Mit seinen grünen Augen beobachtete er jede ihrer Bewegungen, ohne ein einziges Mal zu blinzeln.

Die Katze und Ryder waren wirklich verwandte Seelen.

Keine Frage, die zuvor unterernährte und dürre Katze machte sichtbare Fortschritte.

„Was würdest du an meiner Stelle tun?“, fragte Grace. Sie brauchte einen Gesprächspartner, und sei es nur ein vierbeiniger mit Fell. „Würdest du Ryder Hausarrest geben? Oder wird das alles nur noch schlimmer machen?“ Sie berührte eine Strähne ihres Haars. „Siehst du das? Es ist wahr, was man über Rothaarige sagt. Ich bin berüchtigt für meine direkte Art. Und wenn ich wütend bin, bin ich wütend.“

Ihr Handy gab einen Signalton von sich, der eine eingehende Nachricht ankündigte. Sie holte tief Luft und überlegte, ob sie einen Blick darauf werfen wollte. Am Wochenende wurden einige Manager eines sehr großen Unternehmens erwartet. Die Wünsche der Herren waren teilweise lächerlich gewesen, aber sie wusste, dass das zum Job dazugehörte. Also entschuldigte sie sich dafür, keine Scotchsorte anbieten zu können, die im Umkreis von hundert Meilen um Bliss County nicht erhältlich war. Sie hatte für diesen Abend extra einen Barkeeper engagiert und dem Küchenpersonal Überstundenbezahlung zugesagt. Außerdem hatte sie persönlich jedes einzelne Zimmer überprüft und für jedes den Willkommenskorb des Hotels arrangiert. Sie konnte sich nicht vorstellen, was jetzt noch schiefgehen sollte, doch so, wie ihr Tag verlief, war vermutlich alles möglich.

Ryder kam zu spät von der Schule nach Hause. Sie hoffte, dass er nicht nachsitzen musste. Vielleicht war die Nachricht ja auch von ihm. Sie schaute auf das Handy und sah zu ihrer Erleichterung, dass das tatsächlich der Fall war.

Hab noch mit ein paar Jungs gequatscht und den Bus verpasst. Bin bald da.

Die Nummer kannte sie nicht. Allerdings war in der Schule Handyverbot. Wurde ein Schüler erwischt, musste er das Handy abgeben, und die Eltern konnten es am Nachmittag wieder abholen. Wurde ein Jugendlicher zweimal erwischt, wurde das Handy für mehrere Tage einbehalten. Grace konnte diese Regel gut nachvollziehen. Wie kann man eine Klasse unterrichten, in der alle Schüler ständig auf ihr Handy starren? Doch in Momenten wie diesem wäre es ganz schön, man müsste nicht außer sich vor Sorge sein.

Bin bald da? Irgendein Elternteil musste ihn mitgenommen haben, denn das Hotel und die Wohnanlage befanden sich ein Stück außerhalb von Mustang Creek. Normalerweise setzte der Bus Ryder am Ende der Straße ab, und er musste noch eine Dreiviertelmeile zu Fuß gehen. Die meisten Wohnungen wurden im Sommer an Wanderer und im Winter an Skifahrer vermietet, deshalb war er der einzige Junge, der permanent hier wohnte.

Grace riss die Tür auf, als sie einen Wagen vorfahren hörte. Sie wollte dem Elternteil danken, wer immer es war, bevor sie Ryder hineinscheuchte und ihm die Leviten las für seine Prügelei in der Schule.

Draußen stand ein Pick-up mit einem Schild auf der Seite, das ihr bekannt vorkam. Als Ryder aus dem Wagen sprang, tat es auch der Fahrer. Die Sonne schien auf sein dunkles Haar. Lebhafte blaue Augen, diese markanten Gesichtszüge, die gerade Nase und der sinnliche Mund … Slater Carson. Er war anders gekleidet als bei ihrer letzten Begegnung, geschäftsmäßiger in Hemd und Anzughose, zu der er jedoch Cowboystiefel trug. Sein lässiges Grinsen passte zu seinem Gang, als er um den Wagen herumkam. „Ich habe unterwegs etwas gefunden, was Sie vielleicht wiederhaben wollen. Hab ihn aufgelesen, als er die Straße entlangging.“

Sie bedachte Ryder mit strengem Blick. „Danke, Mr. Carson. Ich muss gestehen, dass ich schon ganz krank vor Sorge war.“ An Ryder gewandt sagte sie: „Geh, und füttere deine Katze, und falls du Hausaufgaben aufhast, denk nicht mal an Videospiele und Fernsehen. Und räum auch dein Zimmer auf.“

Ryder besaß offenbar noch seinen Selbsterhaltungstrieb, denn er widersprach nicht, sondern ging eilig hinein.

„Schuldgefühle. Gute Strategie. Meine Mutter hat die früher auch immer bei mir angewendet. Genau genommen macht sie das heute noch. Hey, der Junge hat den Bus verpasst. Kommt vor.“

„Der Junge“, informierte sie Slater in strengem Ton, „war in der Schule in eine Prügelei verwickelt und wurde vom Sportunterricht ausgeschlossen. Er hat es mir nicht einmal erzählt, und nun ist er so damit beschäftigt, mit irgendwelchen Jungen herumzualbern, dass er den Bus verpasst. Um die Wahrheit zu sagen, ich bin gerade ein bisschen sauer auf ihn.“

„Das merke ich.“ Slater wirkte ein wenig belustigt, aber zugleich auch mitfühlend. „Ryder anscheinend auch, so eilig, wie er es hatte hineinzukommen. Wahrscheinlich holt er schon den Staubsauger. Ach, übrigens heiße ich Slater. Mr. Carson ist für meinen Bankmanager reserviert.“

„Und Sie können mich Grace nennen“, sagte sie ein wenig gefasster. „Ich bin Ihnen wirklich dankbar dafür, dass Sie Ryder nach Hause gefahren haben, Mr. Cars… ich meine Slater.“

„Kein Problem.“

Sie sollte irgendetwas tun. Warum fiel ihr das Reden schwer? Das passierte ihr doch sonst nie. „Kann ich Ihnen ein Glas Eistee anbieten?“

Na schön, das war lahm, wie Ryder sagen würde, aber besser als nichts.

„Ich war sowieso unterwegs zum Hotel, um mit einem Freund etwas zu trinken, der an diesem Wochenende für eine kleine Konferenz hier ist. Und da entdeckte ich Ryder, wie er die Straße entlangging.“

Sein Freund, das musste einer der Topmanager sein – oder ein wichtiger Investor. Vermutlich würde sie das bald genug herausfinden.

Grace betrachtete ihn. „Ich nehme an, wir stehen in Ihrer Schuld. Einen nicht unerheblichen Anteil unseres Firmenkundengeschäfts haben wir wahrscheinlich Ihnen zu verdanken. Ich habe gesehen, dass einige Gäste aus Kalifornien kommen, und ich glaube, das geht auf Ihre Kontakte zum Film und zu Investoren zurück.“

Er bestätigte das nicht, noch bestritt er es. „Diese Gegend liegt abseits der bekannten Pfade. Es ist schwer, sich im Trubel einer Großstadt wirklich zu erholen. Möchten Sie meinem Freund und mir Gesellschaft leisten?“

Grace war mehr als nur ein bisschen unvorbereitet auf diese Einladung. Sicher, sie musste zurück ins Hotel, nachdem Ryder nun endlich zu Hause war. Aber es stand noch eine Unterhaltung mit ihm auf ihrer To-do-Liste. Nur hatte sie überhaupt nicht damit gerechnet, ausgerechnet mit Slater Carson etwas zu trinken. Zumindest nicht heute Abend.

Andererseits war das gute Öffentlichkeitsarbeit.

Oder aber … es könnte für sie ganz privat gefährlich werden.

Er riskierte etwas.

Als Slater Ryder Emery am Straßenrand entdeckt hatte, hielt er an und bot dem Jungen an, ihn mitzunehmen. Der junge Mann – fast schon ein Mann – schien froh zu sein. Slater wusste, dass er sich in einer schwierigen Situation befand. Ryder lebte bei seiner Stiefmutter, besuchte eine neue Schule, führte ein ganz neues Leben. Er musste jedoch auch lernen, einigen Dingen ins Auge zu sehen, denn bei allem Unglück konnte er sich doch ziemlich glücklich schätzen. Slater wusste nichts über die Eltern des Jungen, nur dass sein Vater beim Militär diente und beide Eltern nicht da waren, im Gegensatz zu Grace. Und genau deswegen konnte der Junge sich glücklich schätzen.

Slater, Drake und Mace hatten ihren Vater viel zu früh verloren. Unglück. Aber ihnen blieben ihre Mutter, Harry, Red und einige andere Leute, die ihren Schmerz linderten. Und deshalb konnten sie sich glücklich schätzen. Sollte Daisy ihn jemals fragen, warum er und Raine nie geheiratet hatten, dann würde er ihr die Wahrheit sagen. Dass sie einander mochten, aber nicht gut zusammenpassten, und dass es besser war, diesen Fehler gar nicht erst zu machen, sich später scheiden zu lassen. Freunde zu bleiben schien eine hervorragende Lösung zu sein, und sie beide liebten Daisy.

Vielleicht ein bisschen sehr einfach dargestellt, aber immerhin wahr.

Grace war ganz offensichtlich sehr erleichtert darüber gewesen, dass der Junge heil nach Hause gekommen war. Die Zuneigung war also kein Problem. Sie hatte sich nur Sorgen gemacht, wie Eltern es nun einmal tun, das war alles.

„Hören Sie, Grace, ich habe keine Ahnung, ob Ryder den Bus hätte erwischen können oder nicht, aber er hat ihn bestimmt nicht absichtlich verpasst.“

Noch hatte sie auf seine Einladung nicht geantwortet. Er beobachtete sie und stellte fest, dass sie genauso schön war wie bei ihrer ersten Begegnung. Und ebenso wütend. Heute trug sie ein ärmelloses Oberteil aus Spitze, dazu einen blauen Rock, und beides passte gut zu ihrer Haut und Haarfarbe. „Stehen Sie eigentlich immer auf seiner Seite?“, fuhr sie ihn an.

Immer? Über dieses Wort erschrak sie anscheinend genauso wie er. Sie stutzte und musste sich sichtlich fangen. „Verzeihung. Ich meinte, es ist das zweite Mal, dass er innerhalb weniger Tage Mist baut. Sie sind sehr verständnisvoll, während ich mich über seine Gedankenlosigkeit maßlos ärgere. Am liebsten würde ich ihm Hausarrest geben, bis er achtzehn ist. Andererseits möchte ich wissen, wie er sich fühlt und wie es ihm geht. Aber ich werde keine Antworten auf meine Fragen bekommen. Wie dem auch sei, ich nehme Ihre Einladung gerne an. Vielen Dank. Wenn ich hierbleibe, werde ich Ryder sicher heftig zusammenstauchen. Wieder einmal.“ Sie machte eine Pause. „Ich hole nur schnell meine Handtasche. Kann ich bei Ihnen mitfahren? Dann gehe ich nachher zu Fuß zurück.“

Grace wandte sich in einem Wirbel aus rotgoldenen Haaren und Verärgerung um und marschierte in die Wohnung. Hübsche lange Beine und ein fester Po. Slater mochte den Anblick. Und er teilte die Ansicht, dass die zornige Rothaarige und der rebellische Teenager eine Weile getrennt sein sollten, ehe sie ihre nächste Unterhaltung führten. Im Wagen hatte Ryder angespannt gewirkt, deshalb hatte Slater ihn in Ruhe gelassen. Erstens ging es ihn nichts an, und zweitens erinnerte er sich noch gut daran, wie er in dem Alter gewesen war. Damals war er bei der kleinsten Kritik an die Decke gegangen, nur um sich später, nach einigem Nachdenken, eingestehen zu müssen, dass seine Eltern vielleicht doch keine kompletten Idioten waren.

Jetzt, wo er selbst Vater war, wusste er, dass seine Ansichten zuerst auf Verachtung treffen konnten, nur um später doch respektiert zu werden.

Grace kehrte mit einer schwarzen Ledertasche über der Schulter und entspannter zurück. „Er hat sich entschuldigt“, erklärte sie Slater, der ihr die Beifahrertür aufhielt. „Das ist doch schon was. Ich habe ihm nur gesagt, dass ich wieder zur Arbeit gehe. Er hat sich ganz von allein entschuldigt.“

„Das ist ein großer Schritt.“ Er warf die Tür zu und stieg auf seiner Seite ein. „Im Reich der Teenager gibt es ein ungeschriebenes Gesetz – man entschuldigt sich nie für etwas, es sei denn, man ist bereit, zuzugeben, dass man im Unrecht war. Ich glaube, ich war dreißig, als ich diesen Punkt erreichte.“

Was war das bloß mit ihm und der Art, wie diese Frau lachte? Der Klang ihres Lachens war … nun, es mochte ein Klischee sein, aber das Wort musikalisch kam ihm in den Sinn. Ihre Reaktion amüsierte ihn – und erregte ihn. Vielleicht lag es auch daran, wie sie diese sexy Beine übereinanderschlug. Oder wie ihre Brüste sich unter ihrer Bluse abzeichneten, sobald sie sich vorbeugte.

Es war lange her, dass er sich so für eine Frau interessiert hatte wie für diese.

Möglicherweise noch nie.

Dieser Gedanke verstörte ihn.

Es ist nur Lust, sagte er sich und fuhr rückwärts aus der Einfahrt. Er kannte sie schließlich kaum, also handelte es sich lediglich um körperliche Anziehung. Allerdings schien das Schicksal dafür zu sorgen, dass er ihr über den Weg lief. Und sie ihm. Sie nahm ihn auf die gleiche Weise wahr wie er sie …

Er fragte sich, wie ihr Leben als Polizistin wohl gewesen war, und konnte nur ahnen, was sie sich alles hatte anhören müssen. In dieser Branche hatte man es nicht immer mit den vornehmsten Mitgliedern der Gesellschaft zu tun. Im Plauderton fragte er: „Wie lange waren Sie bei der Polizei?“

„Acht Jahre.“ Zu seiner Enttäuschung zog Grace ihren Rock ein wenig herunter und meinte schulterzuckend: „Es war eine interessante Erfahrung. Ich dachte mal voller Neugier und Optimismus, eine kriminalistische Ausbildung und der Glaube an Gerechtigkeit würden einen Menschen dazu befähigen, etwas zum Guten zu verändern.“

„Ich nehme an, die Optimistin hat sich in eine Zynikerin verwandelt?“

Sie dachte einen Moment darüber nach. „Eigentlich nicht. Die Optimistin gibt es nach wie vor, nur älter und weiser. Sie hat etwas über die Welt, in der wir leben, gelernt, über Menschen ganz allgemein, und das war nicht alles nur gut. Aber die Sterne funkeln immer noch am Nachthimmel.“

Slater lachte. „Ja, die sehe ich auch hin und wieder. Ich glaube, Sie werden Mick Branson mögen. Das ist der Freund, mit dem wir uns treffen. Er ist ein wichtiger Investor und auch ein guter Freund von mir. Aber seien Sie gewarnt, er kann der zurückhaltendste, selbstbeherrschteste Mensch sein, den ich kenne. Er besitzt einen sehr trockenen Humor, der hinter dieser Fassade lauert und den man deshalb nicht immer bemerkt. Ich wollte ihn schon mal fragen, ob er jemals die Geduld verliert. Ich vermute es, aber seine Miene und seine Worte verraten einfach nichts.“

Grace’ Lippen bogen sich ein wenig, doch vermochte er nicht einzuschätzen, ob das ein Lächeln war oder ob sie bloß das Gesicht verzog. „Klingt nach einem interessanten Typen. Ich glaube, meine Assistentin hat mit Mr. Branson am Telefon gesprochen. Sie schien unsicher zu sein, ob er mit den Arrangements nun zufrieden ist oder nicht. Ich freue mich, ihn persönlich kennenzulernen und mir selbst ein Urteil bilden zu können.“

„Na, viel Glück. Bei Mick muss man stets zwischen den Zeilen lesen.“ Das Hotel befand sich nur eine halbe Meile von dem Apartmentkomplex entfernt, und Slater fuhr bereits auf einen freien Parkplatz. „Aber er wird Sie mögen, das weiß ich. Selbstbewusste Frauen sind sein Ding. Selbstbewusste und schöne Frauen natürlich noch mehr.“

Hoffentlich gefällt sie Mick nicht zu sehr, dachte er und kam sich gleich wie ein Idiot vor.

„Das ist ja ein geschicktes Kompliment“, bemerkte Grace.

„Ich sage nur die Wahrheit.“

„Und doch waren Sie derjenige, der mich dazu eingeladen hat, ihn kennenzulernen.“ Grace schnallte sich ab. „Habe ich schon erwähnt, dass selbstbewusste Männer mein Ding sind?“

„Bisher noch nicht.“ Er stieg aus und ging um den Wagen, um ihr die Tür aufzuhalten. „Ist bestimmt ganz angenehm, das Büro in der Nähe zu haben.“

„Manchmal ja, manchmal nein.“ Sie ging auf seinen Themenwechsel ein. „Ich reise beruflich nicht so viel wie Sie. Genau genommen verlasse ich mein Büro nie.“

„Hat beides Vorteile.“ Zum ersten Mal berührte er sie, legte sacht eine Hand auf ihren Rücken, während sie auf den Haupteingang des Hotels zugingen. „Dies hier ist Ihr Territorium. Ich war schon mal hier, aber nie in der Diamond Trail Bar. Gehen Sie nur vor, ich folge Ihnen.“

„So gefällt es mir.“

Ihr Blick ließ ihn innehalten. Flirtete sie etwa? Auf diese möglicherweise sexuelle Anspielung fiel ihm keine spontane Erwiderung ein. Dabei fehlten ihm nur äußerst selten die Worte. Besonders in solchen Situationen. Slater begleitete sie ins Foyer und fragte sich, ob er klug handelte oder eher wie ein Idiot.

Vermutlich würde eine imaginäre Abstimmung ihm den Idioten-Award einbringen. Grace Emery war der widerborstige Typ, und offenbar war ihr Leben kompliziert, vor allem wegen Ryder. Bei Slater war es nicht anders: Sein Leben zwischen Daisy und seiner Arbeit bewegte sich auch nicht gerade in ruhigen Bahnen.

Aber nichts Gutes auf dieser Welt ist einfach, wie seine Mutter zu sagen pflegte.

Die Diamond Trail Bar befand sich auf der Bergseite und war mit großen Fenstern ausgestattet, die einen herrlichen Blick offenbarten. Erhöhte Tische aus Walnussholz, ein riesiger, aus Flusssteinen gemauerter Kamin sowie eine elegante Bar neben einem kleinen Springbrunnen, der aus dem gleichen Lavastein war wie der Tresen, machten den Raum äußerst wohnlich. Als Grace hereinkam, winkte der Barkeeper ihr zur Begrüßung. „Ich trinke während der Arbeit nicht. Werden Sie sich vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn ich ein Wasser nehme?“

„Nein, aber als jemand, der ein geschäftliches Interesse an einem Weingut hat, werden Sie doch sicher gelegentlich ein Gläschen trinken?“

„Ich liebe Wein“, erwiderte sie. „Und ich liebe den Wein von Mountain Vineyards. Besonders den Pinot Noir und den Chardonnay. Ihr Bruder ist sehr talentiert.“

„Ich bilde mir gern ein, das liegt in der Familie“, feixte Slater. „Talent, meine ich. Aber in meinem Fall nicht, was Wein angeht. Da ist unser Tisch. Mick ist schon da. Wie gesagt, ich glaube, Sie werden ihn mögen.“

Erneut schaute sie Slater lachend an.

Mick stand auf, als er sie entdeckte, und in seinen dunklen Augen lag ein humorvoller Ausdruck. Er stammte aus New Mexico, und er hatte die Anmut der Lateinamerikaner, vermutlich ein Erbe der alten Adelsfamilien, die vor vierhundert Jahren aus Spanien gekommen waren und sich im Südwesten niedergelassen hatten. Tatsächlich strahlte er etwas Adeliges aus, und möglicherweise war es ein Fehler, ihn Miss Emery vorzustellen, aber Slater hatte das Gefühl, dass sie ihn genug mochte und er deshalb keine Angst zu haben brauchte.

Wenn er raten sollte, würde er darauf tippen, dass ihr schlichte Cowboys lieber waren als mächtige Manager und Vorstandsvorsitzende.

Oder war das bloß Wunschdenken?

Bisher hatte sie die Einladung zum Abendessen, die er heute Morgen per Post erhalten hatte, noch mit keinem Wort erwähnt. Er beschloss, sich davon nicht beunruhigen zu lassen. Vorerst.

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Branson.“ Grace schüttelte Mick die Hand und setzte sich. „Ich bin die Hotelmanagerin. Ich weiß, Sie haben schon mit Meg, meiner Assistentin, telefoniert. Ich hoffe, alles ist zu Ihrer Zufriedenheit.“

„Absolut bis jetzt. Schönes Hotel.“ Branson setzte sich auch wieder.

„Das freut mich.“

Slater nahm neben Grace Platz. Er deutete damit keine persönliche Beziehung an … na ja, vielleicht doch. Schließlich bestand kein Zweifel daran, dass die meisten Männer sie betrachteten wie er selbst, nämlich voller Bewunderung. „Mustang Creek liegt abgeschieden, deshalb ist es ein wunderbarer Ort, um Geschäfte zu machen, ohne irgendwelchen Ablenkungen ausgesetzt zu sein.“

Mick schaute aus dem Fenster, das eine herrliche Aussicht auf die Tetons bot. Dann wandte er sich wieder an Grace. „Ich bin mir da nicht ganz sicher. Dieser wundervolle Anblick lenkt einen schon ein wenig ab.“

„Netter Spruch“, sagte Slater trocken. „Ich wette, den hat die Lady schon mal gehört.“

Branson lächelte geheimnisvoll „Da hast du wahrscheinlich recht“, gab er zu.

Grace lachte nur und schüttelte über die beiden den Kopf.

Mick wandte sich an Slater. „Verrate mir doch, in welche Richtung du dich als Nächstes bewegen wirst, jetzt, wo die Dreharbeiten beendet sind.“

Slater erwog ernsthaft das Wyoming-Thema, das sein Bruder vorgeschlagen hatte. Nachdem ein junger Mann an ihrem Tisch gewesen war, um die Bestellung aufzunehmen – ein Bier für ihn, ein Wasser für Grace und ein Bourbon on the rocks für Branson –, antwortete er: „Was würdest du von einer Geschichte über die Pioniere halten, die diese Gegend besiedelt haben? Die Schauplätze sind fantastisch, wie du ja selbst gerade festgestellt hast, und es gibt einige Leute, die ich persönlich kenne und die ihre Familiengeschichte gerne erzählen. Bisher haben sich die meisten Filme auf historische Ereignisse konzentriert, mit einem, wie ich finde, etwas allgemeinen Blick auf die amerikanische Geschichte. Wie wäre es einmal damit, eine kleine Stadt in Wyoming in den Mittelpunkt zu stellen, ihre Gründung und die Veränderungen, die sich im Lauf der Zeit bis heute vollzogen haben?“

„Du meinst Mustang Creek.“ Mick rieb sich nachdenklich das Kinn. „Das ist eine interessante Idee. Die Geschichte deiner Familie ist auch lang. Mir gefällt dieser persönliche Aspekt. Wenn du mir ein Treatment ablieferst mit einigen visuellen Ideen, werde ich es mir anschauen und meinen Partnern vorstellen.“ Mick leitete, wie Grace erfuhr, eine große Investitionsfirma, die auf Film und Musik spezialisiert war.

Mehr konnte Slater nicht verlangen. Bis jetzt hatte er ja nur eine vage Idee davon, was er filmisch umsetzen könnte. Aber so fingen Projekte eben an. „Hört sich gut an.“

„Für jemanden wie mich, der zugezogen ist, klingt das faszinierend“, meldete Grace sich zu Wort, als die Getränke kamen. Sie trank einen Schluck von ihrem Wasser. „Das Hotel wurde vor fünfzehn Jahren erbaut, aber vorher stand an gleicher Stelle ein altes Hotel. Slater erinnert sich bestimmt daran. Der Besitzer erzählte mir, er habe zwar an eine Renovierung gedacht, aber vom finanziellen Standpunkt aus betrachtet, war es sinnvoller, das alte Gebäude abzureißen und ein modernes Hotel mit Wellnessbereich zu bauen. Im Keller lagern aber noch viele Kartons mit Fotos von berühmten Gästen, vom ehemaligen Hotel, außerdem antike Skier, sogar eine alte Bar, die sicher sehr schön aussähe, wenn man sie restaurieren würde. Es sind auch noch Ausschnitte da von Zeitungen aus Denver, Helena und Cheyenne. Ich habe einen Blick auf die Sachen geworfen und mich gefragt, warum der Besitzer das Zeug nicht der Historischen Gesellschaft gespendet hat. Dann bin ich schnell wieder aus diesem Keller verschwunden. Das neue Hotel wurde auf dem Fundament des alten gebaut. Da unten ist es dunkel wie im Kerker. Der Keller ist riesig, aber zum Glück gibt es Licht. Wenn irgendetwas davon für Sie von Interesse ist, werde ich meinen Boss mal fragen, ob Sie es sich ansehen dürfen. Ich glaube nicht, dass er etwas dagegen hat. Wahrscheinlich wird er von der Aussicht auf kostenlose Werbung begeistert sein.“

Sie holte tief Luft und erschauerte dramatisch. „Allerdings werde ich an der Erkundung des Kellers nicht teilnehmen. Beim letzten Mal, als ich da unten war, sah ich direkt vor mir eine Spinne, die war so groß wie meine Hand. Ich rannte schnell wieder nach oben und rief einen Kammerjäger an.“

Was sie über das Recherchematerial zu berichten hatte, hörte sich sehr interessant an. Außerdem amüsierte sich Slater über ihre Spinnenangst. „Grace, Sie waren früher Polizistin. Ich nehme an, da haben Sie eine Waffe getragen und Gangster verhaftet. Und Sie fürchten sich vor einer Spinne? Im Ernst?“

„Ja, im Ernst“, erwiderte sie unbeirrt. „Ich mag keine Schlangen, Mäuse oder Stechinsekten, deshalb meide ich sie. Mein Motto lautet: Haltet euch von mir fern, dann halte ich mich auch von euch fern. Bei Spinnen kriege ich eine Gänsehaut.“

Mick betrachtete sie hingerissen. „Sie waren früher Polizistin?“

Der Gesichtsausdruck seines Freundes ärgerte Slater ein wenig, denn er schien sagen zu wollen: He, Sie dürfen mir jederzeit Handschellen anlegen.

„Kommt mir vor wie in einem anderen Leben“, sagte sie. „Wie ich Slater schon erzählt habe, am Anfang habe ich den Job geliebt, aber man brennt sehr schnell aus. Wenn man bei der Polizei arbeitet, ist fast jeder, mit dem man es zu tun bekommt, unglücklich, sowohl die Opfer als auch die Täter. Hier im Hotel kümmere ich mich um kleine Pannen und Urlauber, die gute Laune haben. Ich mag die strahlenden Gesichter und ihre Begeisterung über die wundervolle Zeit, die sie bei uns verbringen.“

„Das kann ich gut verstehen.“

Sie erhob sich. „Apropos, ich muss nachsehen, ob es neue Krisenherde gibt, wie zum Beispiel eine defekte Eismaschine oder fehlende Handtücher in irgendwelchen Zimmern. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Mr. Branson. Oh, die Drinks gehen übrigens auf mich.“ Sie nahm einen Zwanziger aus ihrer Handtasche und legte ihn auf den Tisch.

Slater protestierte sofort. „Ich habe Sie eingeladen. Auf keinen Fall.“

„Sie würden mir einen Gefallen tun, wenn Sie die Drinks bar bezahlen und den Beleg aufheben. Versuchen Sie bitte nicht, galant zu sein und mit Ihrer Kreditkarte zu zahlen. Ich leite eine interne Ermittlung gegen Bargeldtransaktionen.“ Sie klang weiterhin sehr freundlich, doch in ihrer Stimme schwang ein knallharter Unterton mit. „Guten Abend, Gentlemen.“ Die beiden Männer schauten ihr hinterher. „Ich hätte bestimmt nichts dagegen, wenn sie mich untersuchen würde“, murmelte Mick mit dem Anflug eines Grinsens. „Allerdings nicht polizeilich.“

Slater nickte. „Tja, das überrascht mich nicht. Ich hatte Bedenken, euch miteinander bekannt zu machen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich mag sie, Mick.“

Sein Freund schwenkte den Bourbon in seinem Glas. „Habe ich laut und klar verstanden. Ich bin ganz gut darin, Leute zu durchschauen, und ich sage dir, du hast eine Chance.“ Dann wurde sein Ton gleich wieder geschäftsmäßig. „Was sie über die Schätze im Hotelkeller erzählt hat, macht mich neugierig. Die Idee fängt an, mir wirklich zu gefallen.“

5. Kapitel

Slater Carson versuchte sie in den Wahnsinn zu treiben.

Einige Tage nach dem spontanen Treffen mit seinem Freund Mick hatte er angerufen und gefragt, ob er Ryder zu einem Footballspiel mitnehmen könne. Aber nicht in der Nähe, o nein, sie würden mit einem Privatflugzeug nach Laramie fliegen, zusammen mit einem Freund von ihm, und spätabends wieder zurück sein. Slater versicherte ihr, dass ein erfahrener Pilot die Maschine fliegen würde. Sein Freund Tripp Galloway hatte eine Chartergesellschaft besessen und von einem Freund und früheren Kunden sehr begehrte Tickets an der Fünfzig-Yard-Linie bekommen. Ob sie etwas dagegen habe?

Kein bisschen. Grace brauchte eine Pause, und sie vermutete, dass es Ryder ähnlich ging.

Zuerst hatte er Ärger wegen einer Prügelei in der Schule bekommen. Dann hatte sie eine E-Mail erhalten vom Direktor wegen eines Vorfalls im Englischunterricht. Offenbar war er zu seinem Lehrer frech gewesen und hatte während einer Grammatiklektion eine unpassende, besserwisserische Bemerkung über das Conditional Tense gemacht. (Zweifellos waren seine neuen Freunde in schallendes Gelächter ausgebrochen.) Deshalb lag ihr eigentlich nichts ferner, als Ryder für sein Fehlverhalten auch noch zu belohnen. Andererseits wäre er bei diesem Ausflug in sicherer Entfernung.

Zu ihr.

Die Schule hatte gerade erst angefangen, und sie bekam schon Elternbriefe? Der Junge musste sich schleunigst am Riemen reißen, sonst würde er das ganze Halbjahr zu kämpfen haben, möglicherweise das ganze Jahr.

Sie hoffte, ihr vorwurfsvolles Schweigen auf der Fahrt zur Ranch würde Ryder deutlich vermitteln, was sie ihm zu verstehen geben wollte. Sie hätte ihm auch endlos Vorträge über die Wichtigkeit der Hausaufgaben halten können. Natürlich könnte sie die Schultern zucken und anführen, er sei ja nicht einmal ihr Sohn, was also kümmere es sie. Nur dass sie ihn eben jetzt als ihren Sohn betrachtete und es sie sehr wohl kümmerte.

Sehr.

Möglicherweise war es ihr sogar zu wichtig.

Nein, dachte sie, ein Kind konnte einem gar nicht wichtig genug sein. Und Ryder war in gewisser Hinsicht noch ein Kind, ob er es nun wahrhaben wollte oder nicht. Sicher, er entwickelte sich allmählich zum Mann, und Grace hatte ihm sogar schon vorsichtshalber einen elektrischen Rasierer gekauft, den er natürlich noch nicht brauchte, zumindest nicht jeden Tag. Ihr war klar, dass sie irgendwann auch ein Gespräch über Safer Sex mit ihm würde führen müssen. Die Schule leistete da mit dem Aufklärungsunterricht schon gute Arbeit – er war eines Tages kichernd darüber nach Hause gekommen –, trotzdem mussten sie beide darüber reden, unter vier Augen. Dafür wäre Hank ihr etwas schuldig. Allerdings bezweifelte sie, dass Ryder auf ihn hören würde, sollte er plötzlich auftauchen und die Vaterrolle ausfüllen wollen.

Verständlicherweise war Ryder wütend auf beide Eltern. Seine Mutter sollte eigentlich jetzt für ihn da sein, nicht Grace. Und was Hank betraf, so war seine Treue zur Armee und seinem Land ja bewundernswert, nur zahlte sein Sohn für diese Hingabe einen hohen Preis. Genau wie Grace, als sie und Hank noch verheiratet gewesen waren.

„Ich hoffe, dir ist klar, dass ich dich diesen Ausflug nur machen lasse, weil ich dich nicht bestrafen will. Enttäuscht bin ich dennoch sehr von dir. Ich brauche dein Wort darauf, dass du dir in der Schule mehr Mühe geben wirst.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Warte, lass es mich noch einmal anders formulieren. Ich will dein Wort darauf, dass du dir überhaupt mehr Mühe gibst.“

Ryder starrte eine Weile aus dem Fenster auf der Beifahrerseite, ohne ein Wort zu sagen. Grace stand schon kurz davor, zu schreien, als er kleinlaut meinte: „Ich kriege Englisch nicht hin, selbst wenn ich es versuche. Deshalb habe ich es aufgegeben. Wozu soll ich mir noch Mühe geben, wenn ich eh eine schlechte Note bekomme?“

„Und deshalb warst du deinem Lehrer gegenüber frech? Deshalb habe ich Post vom Direktor bekommen?“

Erneut antwortete er nicht, sondern schaute wieder aus dem Fenster.

Grace fuhr auf die Landstraße, die zur Carson Ranch führte. Vieh graste auf dem Weideland, und die Nachmittagssonne verlieh der Landschaft ein beinah mystisches Leuchten. „Das scheint ein Dauerthema zwischen uns zu sein. Meinst du nicht, du solltest mit mir darüber sprechen, wenn etwas schiefläuft? Wenn ich von einem Problem nichts weiß, kann ich dir wohl auch schlecht helfen, es zu lösen.“

„Es ist mein Problem.“ Er machte wieder dieses verdrießliche Gesicht, was ihr missfiel.

Wegen des Viehgitters musste sie das Tempo verringern. „Es wird dein Problem sein, wenn du in der Frittenbude dein Geld verdienen musst, statt aufs College zu gehen, nur weil du in Englisch versagt hast. Wie wäre es mit Nachhilfe? Das könnte doch helfen.“

Sie würde ihm selbst Nachhilfe geben, nur hatte sie das Gefühl, dass es dadurch zu noch mehr Reibereien zwischen ihnen kommen könnte. Außerdem war sie am späten Nachmittag und frühen Abend oft weg.

„Ich bin nicht dumm. Ich mag nur Englisch nicht.“

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dich als dumm bezeichnet zu haben, Ryder. Das würde ich nie, und das weißt du. Im Gegenteil. Ich bin vor allem deswegen frustriert, weil ich genau weiß, wie klug du bist und dass du es viel besser könntest.“

Immerhin widersprach er ihr diesmal nicht. „Kann sein“, murmelte er, und es klang wie eine Entschuldigung.

Glücklicherweise war dies der Moment, als sie in die Zufahrt zur Ranch einbogen und unter dem riesigen Schildbogen mit dem Carson-Emblem hindurchfuhren, einem großen C und zwei galoppierenden Mustangs. Vorsichtig lenkte Grace den Wagen auf das Haus zu und wechselte das Thema. „Ich hoffe, du hast daran gedacht, dich mit Sonnencreme einzucremen.“

Vermutlich hatte sie den empörten Blick von ihm verdient. Sie verkniff sich mühsam ein Lachen. „Was? Echte Männer kriegen keinen Sonnenbrand, oder wie?“, scherzte sie und hoffte, die Stimmung wieder aufzuhellen.

Slater kam gerade mit einer kleinen Kühlbox aus dem Haus und winkte ihnen zu. Bei ihrem letzten und einzigen Besuch hier war es dunkel gewesen, deshalb schaute sie sich erst einmal um, als sie parkte und ausstieg. Das Haus war riesig, und nun verstand sie auch, weshalb alle drei Söhne auf der Ranch lebten. Mit seinen roten Backsteinmauern und weißen Säulen könnte es genauso gut zwischen hohe Bäume passen, von denen Louisianamoos herabhing, wie in diese Berglandschaft. Es war ein schönes Haus. Stufen führten zu einer breiten Veranda hinauf, auf deren einer Seite Schaukelstühle standen und auf der anderen ein Tisch mit Glasplatte und Stühlen. Töpfe mit blühenden Blumen sorgten für einen bunten Farbtupfer und waren offenbar Mrs. Carsons Handschrift. Grace konnte sich jedenfalls beim besten Willen den Rancher, den Winzer oder den Filmproduzenten nicht mit Gießkanne in der Hand vorstellen.

„Genau pünktlich, das ist großartig“, begrüßte Slater die beiden. „Wir müssen in einer halben Stunde auf der Startbahn sein. Danke, dass Sie Ryder mitkommen lassen, Grace.“

„Ich danke Ihnen dafür, dass Sie an ihn gedacht haben.“ Sie sagte das in sehr sachlichem Ton, und seine Reaktion waren ein verwegenes Lächeln und ein amüsiertes Funkeln in diesen unglaublich blauen Augen. Der Mann war ganz im Cowboy-Stil gekleidet, mit Jeanshemd, Jeans und Stiefeln sowie Hut auf dem Kopf.

In diesem Moment kam ein Mädchen aus dem Haus gestürmt, rannte die Stufen herunter und ergriff Slaters Hand. Sie trug eine pinkfarbene Jeans, eine geblümte Bluse und kleine karierte Tennisschuhe. Grace schätzte sie auf neun oder zehn, noch in der Grundschule. Mit aufgeregter Stimme fragte sie: „Daddy, geht’s endlich los?“

Daddy?

„Ja, in ungefähr einer Minute. Daisy, das ist übrigens Grace, und der Große da neben ihr ist Ryder.“

Slaters Tochter war das Abbild ihres Vaters, mit vollem dunklen Haar, langen Wimpern und denselben intensiven blauen Augen. Sie lächelte scheu. „Hallo.“

Grace erwiderte automatisch ihr Lächeln und wusste selbst nicht, warum sie so aus der Fassung geraten war. Slater war Mitte dreißig, es war also wenig überraschend, dass er ein Kind hatte. Nur hatte er nie erwähnt, dass er verheiratet oder (wahrscheinlicher) geschieden war – oder dass er eine Tochter hatte. Andererseits war sie ihm ja auch erst ein paarmal begegnet, dreimal, um genau zu sein, da war er wohl kaum dazu verpflichtet, ihr gleich seine Lebensgeschichte zu erzählen.

„Freut mich, dich kennenzulernen, Daisy.“

Zum Glück war Ryder höflich genug, gleich Hallo zu sagen, ohne dazu genötigt werden zu müssen.

Slater deutete die Miene des Jungen richtig. „Keine Sorge, die Ladys gehen nicht zu dem Spiel. Daisy und ihre Mutter gehen essen und shoppen. Ihr Interesse für Football entspricht in etwa meinem für Shopping Malls und Eisdielen.“

Wie aufs Stichwort trat nun eine Frau aus dem Haus und kramte in ihrer Handtasche. „Sorry, ich habe mein Handy in Daisys Zimmer liegen lassen, als wir ihre Kleidung durchgesehen haben.“

Grace musterte sie unwillkürlich. Dunkle schulterlange Haare, modische Frisur, braune Augen, hohe Wangenknochen, gertenschlanke Figur … sehr attraktiv.

Slater meinte trocken: „Ich hab’s längst aufgegeben, darauf zu warten, dass du mal pünktlich bist. Deshalb habe ich Spielraum bei der Ankunfts- und Abflugzeit eingeplant. Grace, dies ist Raine McCall. Raine, Grace Emery. Ich werde dir Ryder vorstellen, sobald wir im Auto sitzen. Sind alle bereit?“

Seine Ex, oder was auch immer sie war, lächelte Grace entschuldigend an. „Ich fürchte, Slater hat recht. Egal, wie sehr ich es auch versuche, ich komme dauernd zu spät.“ Raine strahlte freundlich und machte einen sehr unkomplizierten Eindruck. „Drake und Mace haben mir schon erzählt, dass Sie ein echter Hingucker sind, und die haben nicht übertrieben. Ich würde sonst was tun für eine solche Haarfarbe.“ Sie deutete zum Pick-up. „Wenn Sie mitkommen wollen, steigen Sie ein.“

„Ich … kann nicht.“ Grace fühlte sich überrumpelt. „Ich habe noch jede Menge zu erledigen. Trotzdem danke für die Einladung.“

„Dann eben ein andermal. Ich beeile mich jetzt lieber, sonst würgt Slater mich noch.“ Raine winkte und lief zum Wagen, und kurz darauf waren alle an Bord, und der Motor wurde angelassen. Grace stieg in ihren Wagen und folgte der fröhlichen kleinen Gruppe die Auffahrt entlang. Sie war erstaunlich durcheinander. Dabei war sie an einer Beziehung überhaupt nicht interessiert, schon gar nicht erneut mit einem Mann, der dauernd unterwegs war und sie viel zu sehr an ihren Ex erinnerte. Nicht nur das, Slater hatte auch sein Päckchen zu tragen.

Und sie hatte schon genug mit ihrem eigenen zu tun.

Warum kümmerte es sie also, dass er ein Kind hatte mit einer schönen Exfrau? Vorausgesetzt, es war tatsächlich seine Ex.

Mit dieser Frage musste sie sich bei einem Glas Eistee beschäftigen, allerdings erst nachdem sie bei ihrem Wagen einen Ölwechsel hatte vornehmen lassen, ihre Routineuntersuchung beim Zahnarzt absolviert hatte, bei der Bank und beim Quilt-Laden gewesen war, den sie in der Stadt entdeckt hatte. Sie wollte sich etwas gönnen und ihr Schlafzimmer verschönern, und ein farbenfroher Quilt könnte genau das Richtige sein.

Sie hatte also nicht gelogen, was ihren komplett verplanten Nachmittag anging. Sie hatte nur selten frei, und wenn, musste sie das ausnutzen.

Nach all den Erledigungen setzte sie sich vielleicht hin und las den „neuen“ Roman, den sie sich vor drei Monaten gekauft hatte und der seitdem immer noch eingeschweißt auf dem Couchtisch lag. Neulich hatte sie ihn tatsächlich abstauben müssen.

Zu ihrem Glück hatte der Held der Geschichte strahlend blaue Augen, gewelltes dunkles Haar und ein unvergessliches Lächeln.

Sie erreichten das Stadion pünktlich zum Anstoß.

Ryder hatte den Flug in der eleganten Privatmaschine genossen, und das konnte Slater gut nachvollziehen. Ein Charterflugzeug war definitiv besser, als mit einer kommerziellen Airline zu fliegen, und Wyomings unvergleichliche Landschaft machte die Sache noch beeindruckender. Es war ein windiger Tag, deshalb war der Flug ein wenig unruhig, aber sie landeten sicher und konnten in den am Rollfeld wartenden Wagen einsteigen, der sie zum Stadion brachte. Außerdem hatte Slater für Raine und Daisy ein Taxi organisiert.

Im Stadion hatten sie VIP-Plätze mit ungehindertem Blick auf das Spielfeld. Selbst das übliche, mehr oder weniger gespielte Gelangweiltsein eines Teenagers verschwand, zumindest für diesen Nachmittag. Ryder hatte sich auf der Fahrt vom Flughafen ein wenig mit Daisy unterhalten, in kurzen Sätzen und hauptsächlich, weil sie ihn unablässig ausfragte. Allerdings war sie weder unfreundlich noch herablassend gewesen. Tripp hatte den Jungen vor der Landung für eine Weile ins Cockpit eingeladen, und als der Junge auf seinen Platz zurückkehrte, hatte er ein breites Grinsen im Gesicht.

Natürlich konnte ein Vierzehnjähriger, der in einem Privatflugzeug zu einem Footballspiel flog, das er aus der VIP-Loge verfolgen durfte, es nicht erwarten, seinen Schulfreunden davon zu erzählen. Vielleicht würde er auch noch erwähnen, dass Slater Filmproduzent war und Tripp Pilot. Ryder schien ein Junge zu sein, der von persönlicher Zuwendung profitierte, besonders von der eines männlichen Erwachsenen.

Slater würde Grace einmal um ein Gespräch unter vier Augen bitten müssen. Als er mit ihrer Assistentin Meg sprach, hatte die ihm ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass es bei der Einladung zum Abendessen um geschäftliche Dinge gehen würde. Er hatte sich damit abgefunden, dass die Konferenzmanagerin dabei sein würde, denn man hatte ihn gefragt, ob er seinen Assistenten mitbringen wolle. Normalerweise hätte er das auch getan, nur war Nate nach Boulder geflogen, um seine Eltern zu besuchen und ein wenig wohlverdiente Zeit mit seiner Freundin zu verbringen. Slater wollte ihn mit der Nachricht, er plane bereits ein neues Projekt, das zu verwirklichen er kaum erwarten könne, noch eine Weile verschonen.

„O Mann, das war knapp. Fast wäre er abgefangen worden.“ Ryder hüpfte praktisch auf seinem Sitz, nahm sich aber zusammen. Ihm entging kein Spielzug. „Hat einer von euch Football auf der Highschool oder auf dem College gespielt?“

Tripp antwortete: „Ja, wir beide. Da wir auf einer Ranch aufwuchsen, sind wir außerdem Rodeos geritten. Wenn du nächstes Jahr auf die Highschool gehst, wirst du feststellen, dass Mustang Creek ein Rodeoteam hat. Außerhalb der Rodeosaison spielten wir Football. Basketball und Baseball auch.“

Das lenkte Ryder für einen Moment vom Spiel ab. „Sie meinen, Sie sind Bullen und Broncos geritten und so was? Das ist ja cool.“

„Keine Bullen“, schränkte Slater ein. „Die waren zu gefährlich. Aber Broncos haben wir geritten, Kälber mit dem Lasso gefangen und Stiere, solche Sachen eben. Nach dem College bin ich zwei Sommer hintereinander zu Rodeos gefahren, aber einige Knochenbrüche später entschied ich, dass ich lieber nicht auf Krücken herumhumpeln will oder morgens aufwachen und mich fühlen, als sei ich von einem Lastwagen überrollt worden.“

„Ich bin noch nie auf einem Pferd geritten. Wollte ich aber immer.“

Ryder sagte das ganz ohne großes Bedauern, doch Slater und Tripp sahen sich betreten an. Für sie war das, als wäre er noch nie Fahrrad gefahren.

Gebrüll auf den Tribünen lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Spielfeld. Die Teams waren in etwa gleich stark, deshalb war das Spiel ausgeglichen, temporeich und spannend. Slater hätte schwören können, dass Ryder vier Hot Dogs aß, aber er und seine Brüder waren als Teenager nicht anders gewesen und hatten ihr Essen wie hungrige Wölfe verschlungen, behauptete Harry. In den letzten Spielminuten schickte er Raine eine Textnachricht, damit sie sich am Flugzeug treffen konnten. Sie antwortete ihm prompt:

Wir werden da sein. Meine Füße tun mir weh, und mein Konto ist geplündert. Vielleicht braucht meine Kreditkarte auch ein Aspirin.

Das konnte Slater sich gut vorstellen. Raine liebte es, nach Antiquitäten und Kunsthandwerk zu stöbern, aber bei Daisy waren Malls besonders beliebt, weshalb sie meistens dort einkaufen gingen.

Als sie sich wieder trafen, war das Taxi beladen mit Taschen und Kartons. Daisy, das Energiebündel, sah müde aus. Sie hatte Ryder eine Art Riesenkeks mitgebracht, den der Junge noch vor dem Abflug verspeiste, wie Slater amüsiert beobachtete. „Meintest du das ernst, dass du reiten lernen möchtest?“, fragte er jetzt.

Ryder blickte von den Resten seines Kekses auf und zerknüllte die Verpackung. „Ja, klar.“

„Pferde sind Wesen, die man von Grund auf kennen muss. Zufällig nörgelt mein Bruder herum, ihm fehle noch ein Stallbursche. Das wären so tägliche Dinge wie das Reinigen des Sattelzeugs und Boxen ausmisten. Nur damit du gewarnt bist. Aber wenn du den Job willst, für ein paar Stunden nach der Schule, könntest du anschließend reiten. Ich versuche, jeden Tag wenigstens einmal abends kurz auszureiten. Natürlich muss Grace erst ihre Erlaubnis geben.“

„Macht sie wahrscheinlich nicht. Sie ist sauer auf mich.“ Ryder senkte den Blick. „Ich kriege eine echt schlechte Zensur in Englisch in diesem Halbjahr. Ich hab versucht, ihr zu erklären, dass ich da einfach nicht gut bin.“

Raine, die der Unterhaltung gelauscht hatte, meldete sich zu Wort. „Hey, Slate, du könntest deine Mutter fragen, ob sie sich Ryders Hausaufgaben ansieht, bevor er mit der Arbeit im Stall beginnt. Die ist viel geduldiger mit Daisy, als ich es bin bei solchen Dingen. Stimmt doch, oder, Daze?“

Daisy gähnte. „Ja, stimmt. Ich hatte Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung, und sie hat mir geholfen, besser zu werden.“

Slater hörte zum ersten Mal von Rechtschreibproblemen. Lag es daran, dass er so viel unterwegs gewesen war? Schuldgefühle meldeten sich, doch er verdrängte sie und nickte Raine zu. Wahrscheinlich war ihre Idee gut, denn Blythe war früher Lehrerin gewesen und hatte schon ihm und seinen Brüdern bei ihren Hausaufgaben-Traumata geholfen. Mathe war Slaters Nemesis gewesen, doch seiner Mom war es tatsächlich gelungen, ihm die Grundkenntnisse so weit zu vermitteln, dass er danach bessere Zensuren schrieb.

„Ich werde mit meiner Mutter und mit Grace sprechen“, wandte er sich an Ryder. „Aber nur, wenn du wirklich daran interessiert bist.“

Ryder reagierte zwar nicht gerade mit Begeisterung, aber doch deutlich positiv.

6. Kapitel

Grace war unangenehme Situationen dank ihrer Polizeiarbeit gewöhnt, aber sie hasste es, Leute zu entlassen. Die Abteilungsleiter des Hotels übernahmen die Einstellungen und Entlassungen normalerweise in ihren Bereichen. Aber Diebstahl war etwas anderes, und sie musste als Geschäftsführerin entscheiden, ob Anzeige erstattet werden würde wegen eines kriminellen Vergehens oder nicht.

Die ausgesprochene Rachsucht des betreffenden Angestellten machte ihr die Sache nicht unbedingt leichter.

David Reinhart, sonst stets freundlich bis an die Grenze zur Unterwürfigkeit, knallte sein Namensschild sowie die Schürze mit einer solchen Heftigkeit auf den Tisch, dass dabei fast die Vase mit den frischen Blumen, die Grace im Supermarkt gekauft hatte, umgekippt wäre. „Sie rothaariges Miststück“, zischte Reinhart zornig. „Ich leiste hervorragende Arbeit! Die Gäste lieben mich!“

„Sie kommen chronisch zu spät. Pam hat sie zweimal offiziell verwarnt, und bei uns gilt, nach drei Ermahnungen folgt die Kündigung.“ Grace sprach in ruhigem Ton. „Ich stimme Ihnen zu, die Gäste lieben Sie. Trotzdem entlasse ich Sie.“

„Ich bin manchmal ein bisschen spät dran. Na und?“ Seine Stimme war voller Wut, und er ballte die Fäuste. Grace fragte sich beiläufig, ob sie ihre gut ausgebildeten Selbstverteidigungstechniken benötigen würde, ehe das Gespräch vorbei war. „Wenn ich hier bin, reiße ich mir den Arsch auf!“

„Mal abgesehen von Ihrer Unfähigkeit, pünktlich zu erscheinen, haben Sie am Ende fast jeder Schicht Geld entwendet oder Kreditkarten von Hotelgästen benutzt“, warf sie ihm vor, zum eigentlichen, größeren Problem kommend. „Es ist mir zwar ein Rätsel, wie Sie an den Manager-Code gekommen sind. Sie nehmen nur Bargeld, was glücklicherweise heutzutage nicht mehr die bevorzugte Zahlungsmethode ist. Aber in der Bar wird häufiger bar bezahlt als im Restaurant, das haben Sie gewusst. Allerdings wurden Sie unvorsichtig.“ Sie wartete, bis ihre Worte Wirkung zeigten, und fuhr gelassen fort: „Pam erwähnte mir gegenüber, sie sei froh, nicht mehr so viele Bareinnahmen zu haben. Da war ich alarmiert. Und jetzt raten Sie mal. Unsere Prüfungen haben ergeben, dass an bestimmten Tagen nie die Summe in der Kasse war, die sich darin hätte befinden müssen. Wenn Sie arbeiteten, stimmte der Betrag kein einziges Mal.“

„Ich arbeite an fünf verdammten Abenden pro Woche.“ Reinharts Auftreten war immer noch aggressiv, aber er wirkte schon nicht mehr ganz so selbstsicher. Mit einem nervösen Ruck lockerte er seine Krawatte. „Und ich habe Neuigkeiten für Sie. Pam schafft ihre Arbeit nicht, außerdem ist sie einfach nur dämlich. Sie hat vergessen, was Sie ihr aufgetragen haben. Das ist alles. Beweisen Sie es doch.“

Es stimmte, die ältere Frau war manchmal bei Hochbetrieb überfordert, und das war auch der Hauptgrund dafür, dass Grace David Reinhart nicht anzeigte. Wenn Pam vor Gericht zugab, Aufgaben nicht erledigt zu haben, würde Reinhart ungeschoren davonkommen.

Aber Grace war noch nicht fertig. „Ein paar Gäste riefen an und meinten, ihre Kreditkartennummer sei von jemandem benutzt worden. Die Zahlungen erfolgten alle im Wellnessbereich, und es handelt sich um teure Sachen, die man sicher online gut verkaufen kann. Was Sie vermutlich getan haben. Sie unterschätzen die wenigen Leute, die ihre Abrechnungen genauestens prüfen.“ Sie holte tief Luft. „Das alles wirft ein schlechtes Licht auf das Hotel. Allein für die ständigen Verspätungen kann ich Sie feuern, also muss ich Ihnen die Diebstähle gar nicht nachweisen, es sei denn, Sie drängen mich dazu. Sollten Sie dumm genug sein, das zu tun, können Sie sich darauf verlassen, dass ich Sie festnageln werde. Soll ich weitermachen, Mr. Reinhart, oder sind Sie schlau genug, schleunigst von hier zu verschwinden, solange Sie noch können?“

Es war wirklich eine Schande. Reinhart war ein großer, gut aussehender und eigentlich sympathischer junger Mann, und die Gäste mochten seinen unkomplizierten Charme wirklich. Aber sie war Kriminellen wie ihm schon begegnet. Obwohl der frühere, inzwischen im Ruhestand befindliche Manager ihn eingestellt hatte, war Grace misstrauisch geworden. Also überprüfte sie ihn und stellte dabei fest, dass er seine Referenzen gefälscht hatte. Die lange Liste der Jobs, die er plötzlich aufgab, machten sie noch misstrauischer. Er war außerdem vom College geflogen. Das war zwar noch kein Beweis für Diebstahl, aber eine charakterliche Empfehlung war es auch nicht unbedingt.

„Der harte Cop.“ In seinen Augen lag ein gewisses Glitzern, das ihr gar nicht gefiel, weil sie es schon zahllose Male gesehen hatte. Das jeweilige Gegenüber gab ihr damit zu verstehen, dass sie zu weiblich war und zu schwach, um sich zu verteidigen.

Falls er das wirklich glaubte, irrte er sich gewaltig.

Einen langen Moment starrten sie einander nur an.

Und dann klopfte jemand an die Tür.

Reinhart hob die Hand fies lächelnd. „Ich wollte sowieso gehen.“

Als er die Tür öffnete, stand Slater Carson auf der anderen Seite.

Slater schaute dem jungen Mann nach, der an ihm vorbeieilte. Dann wandte er sich an Grace. „Passt es gerade nicht?“

Grace winkte ab. „Eigentlich ist es sogar ein ziemlich gutes Timing. Wir waren ohnehin fertig, aber ich glaube, das Gespräch wäre nicht ohne weitere Drohungen zu Ende gegangen, und ich hätte mir wohl noch üblere Sachen als ‚rothaariges Miststück‘ anhören müssen.“

In Slaters Augen trat plötzlich ein gefährliches Funkeln. „Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen. Bin gleich wieder da.“ Er wirbelte herum.

„Carson, stopp!“ Grace stand auf, gerührt, aber auch verärgert. Mit fester Stimme, wie sie es in ihrer Polizeilaufbahn gelernt hatte, rief sie ihn zurück. „Bleiben Sie hier! Das meine ich ernst. Ich war mal die Person, die gerufen wurde, um Streit zwischen starken Männern zu schlichten. Die Sache ist geklärt. Und jetzt verraten Sie mir, ob Sie aus einem bestimmten Grund hier sind.“ Sie wartete, dass er ihr zuhörte. „Ryder scheint ja viel Spaß bei dem Footballspiel gehabt zu haben. Hat er sich gut benommen?“

Slater blieb stehen und drehte sich um. Widerstrebend.

Sie fragte sich, ob er vorbeigekommen war, um ihr eine weitere schlaflose Nacht zu bescheren. Neulich hatte sie nämlich einen unglaublichen erotischen Traum gehabt. Obwohl Slater Jeans und ein schlichtes weißes Hemd trug, das seine breiten Schultern betonte, hatte sie dank dieses Traumes keinerlei Mühe, sich vorzustellen, wie Mr. Carson nackt aussah.

Gut. Viel zu gut.

Hoffentlich errötete sie jetzt nicht. Bei ihrer hellen Haut fiel das sofort jedem auf.

„Ryder hat sich sehr gut benommen. Ich freue mich, dass es ihm Spaß gemacht hat. Es war für alle toll.“

Grace war erleichtert, das zu hören.

Das Lämpchen an ihrem Telefon auf dem Schreibtisch leuchtete auf – die Rezeption rief an. „Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment. Ich muss dieses Gespräch entgegennehmen.“ Sie deutete auf einen Sessel. „Nehmen Sie doch Platz.“

Slater setzte sich, aber nicht in einen der komfortablen Plüschsessel vor ihrem Schreibtisch, sondern mit einer anmutigen Bewegung auf die Schreibtischkante. Dadurch war er ihr für Grace’ Begriffe viel zu nah. Grace löste das kleine Problem, das ihr am Telefon geschildert wurde (es ging um den Dienstplan) und widerstand dem Impuls, mit ihrem Bürosessel zurückzurollen, um Abstand zu Slater zu bekommen. Sie rollte nur ein paar Zentimeter, in der Hoffnung, ihre Nervosität so besser verbergen zu können.

Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung, das verriet seine belustigte Miene. Slater war sich seiner Wirkung auf sie sehr wohl bewusst. „Wie sind Sie eigentlich an diesen Job gekommen?“, erkundigte er sich.

Klasse. Eine relativ normale, aber auch sehr neugierige Frage. Eine, die sie beantworten konnte, im Gegensatz zu anderen Fragen, die er ebenso gut hätte stellen können, so wie beispielsweise: Warum sehen Sie mich so an? Als würden Sie an etwas ganz Bestimmtes denken, falls es irgendwo eine bequeme Liegefläche gäbe …

„Ich habe auf der Akademie neben Kriminologie auch Wirtschaft belegt. Mein Dad war Polizist in Seattle. Er ist schon im Ruhestand, aber damals war er ein Top-Polizist. Ich habe ihn bewundert, deshalb trat ich in seine Fußstapfen. Nach fünf Jahren Dienst entschied ich mich, in der Abendschule eine Ausbildung zur Hotelfachfrau zu machen. Ich hatte Hotelmanagement als Wahlfach belegt, weil ich dachte, dass ich da leicht gute Zensuren bekommen kann. Aber es war alles andere als leicht. So ganz hat es mich nie losgelassen, und ich habe immer wieder mal überlegt, den Beruf zu wechseln. Außerdem geriet meine Ehe in die Krise, und ich brauchte etwas, um mich abzulenken.“

Slaters Miene deutete darauf hin, dass er verstand. Vielleicht verstand er sie ja tatsächlich.

„Da wir beim Thema sind“, sagte sie. „Wieso Filmproduzent?“

Er zuckte die Schultern. „Bis zu einem gewissen Punkt ist es eine ähnliche Geschichte wie bei Ihnen. Aus einer Laune heraus studierte ich Film und war fasziniert. Während des Studiums jobbte ich in verschiedenen Bereichen, einschließlich Ton, Kamera und half sogar, Drehorte vorzubereiten. Das ist harte körperliche Arbeit und lag mir. Alles lag mir. Ich bin meine ganze Kindheit hindurch viel draußen gewesen, und wir filmen hauptsächlich draußen.“ Er machte eine Pause. „Das ist eine perfekte Überleitung zum Grund für meinen Besuch. Ich habe Ryder versprochen, mit Ihnen darüber zu reden. Ich hoffe, ich bringe Sie damit nicht in Verlegenheit, aber ich habe ihm vorgeschlagen, ein bisschen auf der Ranch zu arbeiten. Natürlich nur, wenn Sie damit einverstanden sind.“

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Er brachte sie tatsächlich in Verlegenheit. Wenn sie Ja sagte, konnte Ryder im schlimmsten Fall verletzt werden oder in neue Schwierigkeiten geraten. Und wenn sie Nein sagte, der Junge es aber unbedingt wollte, würde sie definitiv die Böse sein.

Wie so häufig schien Slater ihre Gedanken genau zu kennen. „Wenn Sie dem Jungen wirklich Disziplin beibringen wollen, stecken Sie ihn mit einer Mistgabel und einer Schubkarre in den Stall. Das ist harte körperliche Arbeit, und er lernt dabei mit Tieren umzugehen. Ryder möchte gern reiten, und als Ausgleich für seine Arbeit könnte er Reitunterricht bekommen. Meine Mutter wird regelmäßig einen Blick auf seine Hausaufgaben werfen. Und die ist die unerbittlichste, wenn auch sanfte Kritikerin, der ich je begegnet bin.“ Er verlagerte das Gewicht ein wenig auf der Schreibtischkante. „Was das angeht, können Sie sich gern noch Drakes und Mace’ Ansichten dazu anhören.“ Dann fügte er hinzu: „Sehen Sie es mal von der Seite: Er wird beschäftigt sein.“

Grace nahm an, dass es noch mehr Aspekte gab, unter denen man das Angebot betrachten konnte. Da war zum Beispiel die wundervoll gefährliche Möglichkeit, dass Slater versuchte, durch Ryder an sie heranzukommen. Allerdings sprachen ihre hoch entwickelten Instinkte da eine andere Sprache.

Andererseits schienen seine Absichten ganz genau so wie in ihrem Traum zu sein, davon war sie überzeugt. Allerdings benutzte er Ryder in Wahrheit nicht, um an sein Ziel zu gelangen. Das würde seine Cowboy-Ehre gar nicht zulassen.

„Ich hoffe, Ihre Mutter ist dieser Herausforderung gewachsen, denn Ryder wird definitiv eine sein.“ Sie merkte, wie ihr Widerstand bröckelte. Schließlich bestand Ryders Problem zum Teil darin, dass er nicht genug Aufsicht hatte. Grace musste an zu vielen Abenden arbeiten.

Es war nicht ihre Schuld oder Ryders, sondern einfach eine Tatsache.

Wenigstens hatte er jetzt Bonaparte, der ihm Gesellschaft leistete. Nur konnte man von der Katze schlecht erwarten, dass sie ihn dazu animierte, seine Hausaufgaben zu machen. Und sie konnte ihm nicht das geben, was Ryder am meisten brauchte – einen starken männlichen Einfluss in seinem Leben.

Slater richtete sich auf. „Mom hat drei Cowboys großgezogen. Mace und Drake waren nicht einfach, lagen sich dauern in den Haaren wegen irgendwas. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.“

„Na ja, ich nehme an, dafür waren Sie ein Engel“, bemerkte Grace mit gerunzelter Stirn.

Er grinste. „Kein Kommentar. Wie dem auch sei, wenn es Ihnen recht ist, kann Ryder mit dem Bus zur am nächsten gelegenen Haltestelle fahren und von dort zu Fuß zur Ranch gehen. Das ist nicht weit. Bei schlechtem Wetter muss er sich einfach warm anziehen, das machen wir auch. Ich erwarte von ihm, dass er seine Arbeit gut macht, aber ich glaube, das hat er begriffen. Sobald er seine Aufgaben erledigt hat und geritten ist, die Hausaufgaben mit Mom gemacht und Harry ihn mit Abendessen versorgt hat, fahre ich ihn nach Hause.“

Sie würde nicht einmal kochen müssen? Grace nahm an, dass es bei diesem großzügigen Angebot irgendeinen Haken gab.

„Harry ist eine Frau, nehme ich an?“, erkundigte sie sich.

„Unsere Haushälterin“, bestätigte Slater. „Und zweite Mutter.“ Er ging zur Tür. „Also bis bald.“

Er verschwand einfach so, als wäre die ganze Angelegenheit geklärt, obwohl sie, genau betrachtet, noch gar nicht eingewilligt hatte.

Wie, um alles in der Welt, war das jetzt passiert? Und bekam Slater Carson eigentlich immer seinen Willen?

Wenn es so war, wie sie vermutete, steckte sie in großen Schwierigkeiten.

Slater wärmte das Mundstück in der Hand, und Heck wehrte sich nur kurz dagegen, dann konnte er dem Pferd das Zaumzeug anlegen. Nachdem er den Sattelgurt überprüft hatte, stieg er auf. Drake erwartete ihn bereits vor dem Stalltor, nicht allzu geduldig. Er saß auf seinem Lieblingspferd, einem Appaloosa-Wallach namens Starburst.

Sie ritten im Trab, vorbei an der umzäunten Weide nahe dem Haus in Richtung des nördlichen Weidelandes, bevor sie ein schnelleres Tempo anschlugen.

Es war ein herrlicher Abend, die Berge und ihre schneebedeckten Gipfel leuchteten beinah rubinrot im Licht der untergehenden Sonne, und die Luft schmeckte frisch wie edler Wein. Könnte Mace diese Atmosphäre in Flaschen bringen, würden sie mit Mountain Vineyards ein Vermögen machen.

Nach einer Weile kamen sie an das Ufer eines kristallklaren Flusses und ritten mit den Pferden im Schritttempo hindurch. Die Espen verfärbten sich bereits und gaben der Landschaft eine goldene Note. Der Winter war im Anmarsch, und Slater freute sich darauf. Weihnachten war etwas ganz Besonderes in Mustang Creek, und er mochte den Wechsel der Jahreszeiten.

„Siehst du dieses kleine Kiefernwäldchen da drüben?“ Drake zeigte in die Richtung. „Wir haben vor einigen Tagen hier ein Reh gesehen, und es war ziemlich übel zugerichtet. Ich bezweifle, dass jetzt noch etwas von ihm übrig ist. Aber als wir es entdeckten, da war es gerade erst gerissen worden. Mir sträubten sich jedenfalls die Nackenhaare. Ich zog mein Gewehr und hätte schwören können, dass ich beobachtet werde. Ich werde ja nicht so leicht nervös, aber ich hatte ein richtig mulmiges Gefühl. Und dann diese vermissten Kälber – na ja, ich habe nicht mal Fellstücke oder Knochenreste gefunden.“

Solche Dinge passierten hin und wieder auf einer Ranch, auch wenn sie grausig waren. „Wölfe?“, vermutete Slater.

„Kann sein.“ Drake schob seinen Hut ein Stückchen höher. Seine Miene verriet eine gewisse Anspannung. „Nur war der Kadaver dieses Rehs eine ziemliche Strecke geschleppt worden, und das Tier war groß. Ich habe gesehen, wie Wölfe einen Hirsch so lange abwechselnd gehetzt haben, bis er nicht mehr konnte. Die verstehen sich also darauf, als Team zu arbeiten. Aber ich will eine Raubkatze auch nicht ausschließen.“

Wie die meisten Farmer und Rancher romantisierten die Carsons Wölfe nicht. Es waren geschickte Raubtiere.

„Hast du den preisgekrönten Stier eigentlich aus dem äußeren Weidegebiet geholt?“, erkundigte Slater sich.

Drakes Miene wurde düster. „Ich habe daran gedacht. Aber diese Kreatur ist beängstigender als jeder Berglöwe. Und er wird noch aggressiver, wenn wir ihn dort wegtreiben. Bei unserem letzten Versuch brach er aus, da war die Hölle los. Wir hatten das reinste Rodeo mit ihm an diesem Tag.“ Drake lächelte jetzt ein wenig. „Der will wahrscheinlich einfach keine Veränderungen. Tja, und ich muss zugeben, dass ich ihn für seine starke Überzeugung bewundere.“

Slater war stets beeindruckt, wie gut Drake nahezu jedes Tier auf der Ranch kannte, und er amüsierte sich über seine Wortwahl. „Der arme alte Bursche.“ Slater rückte seinen Hut gerade. „Nur du machst dir über die Vorlieben eines Bullen von einer halben Tonne Gewicht solche Gedanken.“

Trocken erwiderte Drake: „Du solltest lieber mich bemitleiden, nicht den Bullen. Als der alte Sherman ausrückte, lachten sich die Cowboys schlapp, weil ich für ihn eine Spur aus Äpfeln auslegte. Wie bei Hänsel und Gretel, nur dass die Brotkrumen streuten. Ich versuchte diesen Mistkerl in den Anhänger zu locken. Red hat sich nicht mehr eingekriegt vor Lachen.“ Drake schob seinen Hut wieder tiefer ins Gesicht. „Insgeheim hoffte ich, der alte Narr würde vor Lachen vom Pferd fallen. Wäre ihm recht geschehen.“

Slater versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich über diese Geschichte amüsierte. „Na ja, ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.“

Drake musterte ihn. „Ich will ja nicht das Thema wechseln, aber wie läuft es?“

„Wie läuft was?“

„Das mit Grace Emery.“

Slater wollte irgendetwas Unverbindliches erwidern und beugte sich vor, um den Hals seines Pferdes zu tätscheln. „Ich wüsste nicht, was da laufen sollte.“

„Ach nein? Was ist sie denn? Einfach nur eine nette Lady, die man zum Tee einlädt? Ich hatte eher den Eindruck, du würdest gern näher bekannt werden mit ihr. Zum Beispiel durch Bettgeflüster.“

„Haha“, erwiderte Slater. „Du bist nicht halb so witzig, wie du denkst.“ Er reagierte ziemlich empfindlich, dabei wusste er doch, dass Drake und Mace immer geradeheraus sagten, was sie dachten. Also nahm er einen neuen Anlauf. „Ich mag Grace, das bestreite ich gar nicht. Sie ist nicht nur schön, sondern auch klug und großzügig. Sie erzieht den Sohn ihres Ex ganz allein.“ Er beruhigte sich wieder. „Ich bin dir übrigens dankbar dafür, dass du den Jungen im Stall arbeiten lässt. Als unser Dad starb, konnten wir uns auf Mom verlassen, auf Red und auf Harry und alle anderen hier. Ryder hat das nicht. Er kann natürlich auf Grace zählen, aber seine leiblichen Eltern sind nicht da für ihn. Wahrscheinlich kommt er langsam dahinter, dass er allen, die etwas für ihn tun, zu Dank verpflichtet sein müsste. Natürlich läuft das Leben nicht immer glatt, diese Lektion muss jeder lernen. Aber schwer ist es für Ryder vermutlich trotzdem.“

Drake lenkte sein Pferd schweigend um ein Loch herum. Nach einigen Minuten sagte er: „Als Dad starb, lag ich im Bett und dachte nach – was würden wir tun? Ich hatte schreckliche Angst. Dabei traute ich Mom fast alles zu. Nur war es ohne Dad …“

„Du warst nicht der Einzige, der sich so gefühlt hat“, erinnerte Slater seinen Bruder. Er hatte die gleiche Panik und Verunsicherung gespürt – trotz der Liebe und Unterstützung aller Leute um ihn herum. „Ich hielt Dad für unzerstörbar. Superman in Chaps und Stetson. Das war natürlich ein Irrtum, niemand ist unsterblich. Kannst du dir vorstellen, wie Ryder sich fühlt, wenn sein Vater sich an einem gefährlichen, feindseligen Ort aufhält?“

„Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.“ Drakes Profil zeichnete sich als Silhouette im Licht der untergehenden Sonne ab.

„Es ist sehr großzügig von dir, den Jungen einzustellen.“

„Ich bitte dich, Slate. Hast du jemals daran gezweifelt, dass ich dem Jungen helfen will? Außerdem stolpert man nicht gerade über Personal zum Ausmisten der Ställe. Die werden ihm alle gern Lassotricks beibringen, um die Arbeit bloß nicht selbst machen zu müssen.“ Er dachte eine Weile darüber nach, wie er es immer tat. „Ich werde Red bitten, ihn einzuarbeiten, obwohl der alte Trottel ihm wahrscheinlich gleich am ersten Tag ein Ohr abkauen wird.“

Darüber mussten sie beide lachen.

„Ich glaube, Ryder wird ziemlich schnell lernen.“ Zumindest hoffte Slater das. Intelligent genug war der Junge. Allerdings musste er nicht bei schlechtem Wetter von der Bushaltestelle eine ganze Meile laufen, um Ställe auszumisten. Er konnte es deutlich bequemer haben, in der gemütlichen Wohnung, die zum Hotelkomplex gehörte. Da konnte er sich vor den Fernseher setzen oder am Computer spielen und herumgammeln.

„Verdammt, sieh mal zum Bergrücken.“ Drake atmete hörbar aus, während er zur Baumgrenze zeigte. „Dieses Pferd wird mir vorzeitig weiße Haare bescheren.“

Slater schaute in die angedeutete Richtung. Im dämmrig werdenden Licht hob sich das prachtvolle graue Pferd deutlich von seiner Umgebung ab und wirkte beinah geisterhaft. Von der Stute und den Fohlen war nirgends etwas zu sehen.

Das Tier schnaubte warnend und wieherte, ehe es sich aufbäumte und anschließend durch das hohe Gras davongaloppierte.

„Ich glaube, der Hengst hat dir gerade gesagt, dass du verschwinden sollst.“ Slater musste Hecks Zügel straffen, damit sein Pferd ruhig blieb.

„Ja, ich hab’s mitbekommen“, meinte Drake und riss sich den Hut vom Kopf, um verärgert damit auf seinen Oberschenkel zu schlagen.

Slater verlagerte sein Gewicht im Sattel und dachte daran, wie gern er den Hengst gefilmt hätte. „Ja, er hat dir wirklich gesagt, dass das hier sein Territorium ist und wir uns verdünnisieren sollen. Und zwar dauerhaft.“

Drake schaute noch immer hoch zum Bergrücken, wo kein Pferd mehr zu sehen war. „Ja, das war unmissverständlich.“

„Ich bin ehrlich gesagt ziemlich gespannt auf seine Fohlen“, sinnierte Slater.

Drake widersprach nicht. Er legte seine Hände auf den Sattelknauf und starrte weiterhin nachdenklich zu der Stelle, an der das Pferd Sekunden vorher noch gestanden hatte. „Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn er inzwischen weitergezogen wäre. Ich kann nicht zulassen, dass er unsere Zäune niedertrampelt. Es ist so schon Arbeit genug, sie ständig zu reparieren, und ich will auch nicht, dass er uns weitere Stuten abspenstig macht.“ Der Anflug eines Grinsens huschte über sein Gesicht, und er wechselte das Thema. „He, vielleicht solltest du diese Taktik bei deiner hübschen Rothaarigen anwenden. Tritt ihre Tür ein, wirf dir die Frau über die Schulter, und schlepp sie weg.“ Er zeigte mit dem Daumen dorthin, wo der Hengst gestanden hatte. „Bei ihm funktioniert das.“

„Das ist so was von politisch unkorrekt“, erwiderte Slater. „Außerdem würde sie mich wahrscheinlich über den Haufen schießen.“ Inzwischen hatte er Grace mehrmals wütend erlebt. Er hatte es zwar genossen, sie zu beobachten, aber er wusste auch, dass sie sich besser durchsetzen konnte als viele Männer. „Ich probiere es lieber erst einmal mit Raffinesse, bevor ich zu solch drastischen Methoden greife. Wir haben demnächst eine Verabredung zum Abendessen, leider nur geschäftlich. Aber ich hoffe, sie anschließend irgendwie noch zu einem Drink in ihrer Wohnung überreden zu können.“ Ryder fiel ihm ein. „Blöd nur, dass wir nicht allein sein werden.“

Ja, selbst das würde eine Herausforderung darstellen.

Er lebte auf einer großen Ranch, auf der viel Betrieb herrschte, und sie hatte einen Teenager als Mitbewohner. Er überlegte, ob er sie zu einem privaten Essen einladen sollte, aber so einfach, wie sich das anhörte, war das auch nicht. Im Hotelrestaurant gab es mit Sicherheit das beste Essen in der ganzen Gegend, von den grandiosen Burgern bei Bad Billie’s mal abgesehen. Nur arbeitete Grace im Hotel, und ein Imbiss kam für ein romantisches Dinner zu zweit auch eher nicht infrage.

Ein ungestörter Platz wäre ideal, doch dazu wäre ein gewisser Aufwand nötig.

Sein Bruder wendete das Pferd, indem er leicht am Zügel zog und Druck mit den Knien ausübte. „Dir wird schon was einfallen. Du hast noch nie Probleme bei Frauen gehabt. Na los, ich wollte schon die ganze Zeit wissen, wie Starburst sich in einem kleinen Rennen in der Ebene gegen Heck schlägt.“

Der große Braune musste die Worte verstanden haben, denn er wirbelte so unvermittelt herum, dass Slater fast aus dem Sattel geworfen wurde. Und er war ein guter Reiter. Der Wallach startete derartig schnell, dass Slater seinen Hut verlor.

Dafür verlor Drake das Rennen.

7. Kapitel

An diesem Abend war Grace spät dran.

Es war der Abend des Geschäftsessens mit Slater. Und nur sie beide würden teilnehmen, wie sich herausgestellt hatte, und deshalb war sie ein wenig nervös. Ohne die Gegenwart anderer Personen gab es für sie beide keinen Grund, der gegenseitigen Anziehung nicht nachzugeben. Nun, bis auf die Anwesenheit von Ryder.

Zum Glück musste sie nur das Hühnchen in den Ofen schieben, den Tisch decken und sich umziehen. Sie hatte ein wenig geschummelt und vom Hotelkoch den berühmten Salat mit Rucola, Feta und getrockneten Cranberries zubereiten lassen; die Zwiebelvinaigrette war sehr beliebt im Haus, und Grace musste nur noch alles mischen. Die zweimal gebackenen Kartoffeln wurden nach einem Rezept ihrer Mutter zubereitet. Dann musste sie nur noch ihr Kostüm gegen legere Kleidung tauschen – und sich entspannen –, und alles wäre gut.

Als die Konferenzmanagerin heute Morgen anrief, um sich für den Abend zu entschuldigen, weil ihre Tochter krank war, hatte Grace eine vermutlich idiotische Entscheidung getroffen. Sie rief Slater an und disponierte das Treffen um. Sie würden nicht im Hotelrestaurant, sondern in ihrer Wohnung essen. Allein.

Er war sofort einverstanden, was sie als sehr schmeichelhaft empfand. Nur musste sie jetzt allmählich mit den Vorbereitungen fertig werden. In diesem Moment entdeckte sie ein Paar – zweifellos schmutziger – Jungssocken auf dem Wohnzimmerfußboden. Auf der Couch befanden sich Katzenhaare, und falls jemand die Tür zur Wäschekammer öffnete, würde er vermutlich den überquellenden Wäschekorb sehen. Als Grace die Socken aufsammelte und in den Wäschekorb werfen wollte, gab der Anblick ihr recht.

Tatsächlich sah der Wäscheberg aus, als könnte sich jederzeit eine Lawine daraus lösen.

Grace holte tief Luft, beruhigte sich dann und stopfte eine Ladung in die Waschmaschine. Während die Maschine lief, reinigte sie die Couch mit einer Fusselrolle, und nachdem sie diese nicht besonders angenehme Arbeit erledigt hatte, nahm sie schlichte quadratische Teller – weiß, aber nicht pompös – aus einem der Küchenschränke und deckte den Tisch. Ihr blieb noch genügend Zeit, ihr Leinenkostüm, das sie heute bei der Arbeit getragen hatte, gegen Jeans und eine ärmellose pinkfarbene Bluse einzutauschen. Sie putzte sich die Zähne und trug hinterher, als i-Tüpfelchen, Lippenstift auf.

Ryder würde gemeinsam mit Slater kommen und sich bestimmt freuen. Das Küchenpersonal mochte ihn und hatte ihm ein leckeres Essen mitgeschickt. Vor Kurzem hatte er schon einmal etwas davon bekommen, als Grace Reste von ihrem Essen mitgebracht hatte – Rindfleisch und Nudeln. Das hatte sie ihm jedenfalls erzählt. In Wahrheit handelte es sich um Bœuf Stroganoff von der Karte des Spas mit magerem Filet, Biopilzen und griechischem Joghurt statt Sourcreme, mit einer Kelle über handgemachte Buchweizennudeln gegossen.

Als sie merkte, dass sie noch barfuß war, schlüpfte sie rasch in Ledersandaletten.

Sie würde Slater den Wein aus dem kleinen Vorrat, den sie hielt, auswählen lassen.

Sandte sie ihm eine Botschaft? Könnte sein. Es wäre hilfreich, wenn sie wüsste, wie die Botschaft eigentlich lautete, aber im Augenblick war es ihr egal.

Sie wärmte gerade Knoblauchbrot im Ofen auf, als Slater vorfuhr. Das Brot war aus der Bäckerei des Hotels, nach alter Tradition gebacken, und würde sie wie eine geniale Köchin dastehen lassen. In Wahrheit konnte sie zwar kochen, aber eine Superköchin war sie nicht. Wenn jemand ausgeraubt wurde, konnte sie eingreifen, das hatte sie gelernt. Aber wenn jemandem die Sauce Hollandaise misslang, musste er selbst damit klarkommen.

Ryder kam durch die Hintertür herein und brachte einen Schwall erdiger Gerüche nach Pferd und Mist mit und meinte ohne Begrüßung: „Ich geh duschen.“ Er streifte seine Turnschuhe ab und warf sie hinaus auf die Veranda. Vermutlich hatte Slater ihm das gesagt, und sie war dankbar dafür.

Slater folgte dem Jungen in gemächlicherem Tempo in die Wohnung. „Eine häusliche Göttin bei der Arbeit, wie ich sehe. Es duftet herrlich. Kann nicht behaupten, dass es meine Gefühle irgendwie verletzt, wenn wir hier essen. Ich mag das Hotel, aber ich ziehe lieber Jeans und Stiefel an statt Hemd und Krawatte.“ Er schaute auf seine Füße, und als er Grace wieder ins Gesicht sah, funkelten seine Augen. „Keine Sorge, die sind sauber. Die dreckige Arbeit hat Ryder gemacht.“

Grace lächelte und war idiotisch nervös. „Wie geht es ihm?“, erkundigte sie sich.

„Alles in allem ganz gut. Wird schon, sobald er sich an die Arbeit gewöhnt hat. Und es braucht ein bisschen Zeit, sich ans Schei… ans Mistschaufeln zu gewöhnen. Ryder ist mit Begeisterung dabei, und das ist ein gutes Zeichen. Was seine Hausaufgaben betrifft, weiß ich nur, dass er sie gemacht und mit meiner Mutter zusammen durchgesehen hat.“ Er grinste. „Ich habe nichts dazu gesagt, weil ich glaube, je weniger Leute ihm im Nacken sitzen, desto besser reagiert er.“

Bei Grace endeten Diskussionen über die Hausaufgaben regelmäßig damit, dass Ryder mürrisch schwieg und sie genervt vor sich hin murmelte.

„Das hört sich doch gut an.“

Slater ging zur Arbeitsfläche und stellte zwei Flaschen darauf. „Die bringe ich von meinem Bruder, der möchte, dass wir den Wein probieren. Sie und ich sind so etwas wie die Zielgruppe. Er erwartet keine ausschweifende Beurteilung, sondern braucht bloß ahnungslose Trottel, die bereit sind, sein neuestes Gebräu zu verkosten. Er wollte wissen, was es zu essen gibt. Ich wusste es nicht, deshalb hat er mir einen mittelschweren Roten und einen trockenen Weißen mitgegeben. Ich habe keine Ahnung, was wozu passt. Wahrscheinlich würde ich beide zu Bohnen aus der Dose essen, also sind Sie ganz allein für diese Entscheidung zuständig.“

„Es gibt Hühnchen und einen Dip, der im Restaurant sehr beliebt ist. Außerdem noch den legendären Salat des Hotels. Bohnen sind leider aus, das tut mir leid. Das Kartoffelgericht mit überbackenem Käse ist ein Rezept meiner Mutter. Wahrscheinlich hat es unglaublich viele Kalorien, aber es ist lecker. Ich würde sagen, wir testen beide Weine und setzen uns für die geschäftliche Besprechung auf die Terrasse.“

Slater trug ein weiches graues Baumwollhemd, das er in die Jeans gesteckt hatte, und sein dunkles Haar war lang genug, um ihn ein bisschen rebellisch aussehen zu lassen. Allerdings war er heute frisch rasiert. Bei ihrer letzten Begegnung hatte er die Rasur anscheinend schon mehrere Tage aufgeschoben. Er sah sexy aus, aber Slater würde vermutlich auch von oben bis unten mit Schlamm besudelt noch sexy aussehen.

„Wenn alle Geschäftsessen von Frauen veranstaltet würden, die so schön sind wie Sie, würde ich deutlich lieber daran teilnehmen. Normalerweise meide ich solche Meetings. Haben Sie einen Korkenzieher?“

Nach dieser unerwarteten Einleitung brauchte Grace ein paar Sekunden, um auf seine Frage zu reagieren. „Oberste Schublade, rechts neben der Spüle.“

Verlegen ging sie mit einem kleinen Tablett, auf dem sich Vorspeisen und zwei Weingläser befanden, nach draußen auf die Veranda. Der Kater folgte ihr hoffnungsvoll. Immerhin bettelte er nicht. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, ein solches Verhalten würde hier nicht geduldet werden. Die Katze gehorchte besser als Ryder und hatte das akzeptiert.

Grace setzte sich in einen Sessel neben dem Glastisch und beobachtete, wie Slater die Fliegentür geschickt mit dem Ellbogen zumachte. Er schaute auf den cremigen roten Peperoni-Dip auf dem Tablett, die Rohkostplatte und die Cracker. „Weißwein war wohl eine gute Entscheidung?“

„Im Moment ist eine gute Entscheidung das, was Sie mir einschenken.“

„Hatten Sie einen langen Tag?“ Vorsichtig schenkte er ihr Wein ein, registrierte jedoch ebenso, dass sie sich zurücklehnte und die Beine übereinanderschlug. Offenbar beherrschte der Mann Multitasking.

Sie nickte und bedankte sich, als er ihr das Glas reichte. „Ich musste die monatliche Lunchrunde der Ortsgruppe der Audubon Society heute vorbereiten. Ob Sie es glauben oder nicht, die streiten sich und diskutieren dermaßen lautstark, mittlerweile haben sie den vom Restaurant am weitesten entfernten Saal bekommen. Anscheinend wecken gewisse Arten von Falken und Hüttensängern große – und nennen wir es ruhig wilde – Leidenschaft in einer Gruppe ansonsten würdevoller Personen. Ich habe mal reingeschaut, den Service überwacht, und glauben Sie mir, wenn jemand mit dem Thema Helmspecht anfängt, geht es sofort darum, ob eine Unterart, der Elfenbeinspecht, überhaupt noch existiert. Und dann geraten die sich in die Haare.“

Slater lachte, während er es sich in einem Korbsessel gemütlich machte und die Beine ausstreckte. „Wenn mich nicht alles täuscht, galt er mehr als ein halbes Jahrhundert lang als ausgestorben, bis ihn vor zehn Jahren angeblich jemand entdeckte – in einem Sumpf in Louisiana. Da ich mich nicht in Sümpfen aufhalte, weil meine Einstellung zu Alligatoren in etwa Ihrer zu Spinnen entspricht, werde ich diese Sichtung wohl nie bestätigen können. Aber ich bin Amateur-Vogelbeobachter.“

Sie hätte nicht gedacht, dass er sich vor irgendetwas fürchtete. Andererseits war wahrscheinlich nichts, was Slater anging, schlicht oder vorhersehbar. „Sie reisen viel und bekommen sicher viele verschiedene Landschaften zu sehen. Erwägen Sie immer noch, einen Film über die Besiedelung von Bliss County zu machen?“

„Jetzt gerade sogar“, gab er zu, betrachtete sein Weinglas und probierte zögernd einen Schluck. „Hey, der ist ziemlich gut. Ich mag ihn nicht zu süß, aber dieser ist angenehm ausgewogen. Mace meint, er hat Chardonnaytrauben verwendet, den Wein aber nicht im Eichenfass gelagert.“ Grace kostete ebenfalls den Wein und war begeistert. Der Wein war leicht und frisch, ohne dadurch Charakter einzubüßen. „Er bekommt meine Stimme, was auch immer das bewirken mag. Ich werde ihn unserem Einkäufer empfehlen.“

„Mein Bruder ist den Weinanbau wirklich rasant angegangen. Wenn Sie ihn kennenlernen, werden Sie das selbst sehen. Mace hat Gartenbau studiert, was keinen aus der Familie sonderlich überrascht hat. Drake wollte eigentlich Tierarzt werden, aber er hatte schon damit begonnen, die Ranch zu leiten, deshalb entschied er sich für Betriebswirtschaft. Auch keine große Überraschung. Es geht ihm ums Gleichgewicht in der Natur, was erstaunlich ist angesichts der Arbeit, der er nachgeht.“

„Das klingt, als seien Sie drei sehr verschieden.“

„Sind wir zweifellos auch.“ Er hob sein Glas. „Was ist mit Ihnen? Keine Geschwister?“

Draußen setzte die Dämmerung ein und erzeugte Schatten auf der kleinen Veranda. „Einen älteren Bruder. Er lebt in Dallas und ist Buchhalter. Wir halten per Telefon oder E-Mail Kontakt und sehen uns Weihnachten. Er hat zwei kleine Töchter, und ich mag seine Frau sehr. Unsere Eltern leben in Seattle.“ Grace fing allmählich an, etwas lockerer zu werden. Ihre vorangegangene Anspannung war durchaus nachvollziehbar gewesen. Sie musste sich um alles kümmern, das Essen vorbereiten, und dann noch die Sorge darum, ob Ryder seine Aufgaben auf der Ranch auch gut bewältigte und seine Hausaufgaben machte. Vermutlich sollte sie sich jeden Tag einen Moment zum Durchatmen nehmen.

Wie jetzt, mit einem Glas Wein und einem faszinierenden Mann, während ihre Füße in luftigen Sandaletten steckten, an einem schönen ruhigen Abend. Perfekt.

Bis Bonaparte beschloss, auf ihren Schoß zu springen und sich dort mit rostigem Schnurren zusammenzurollen. Er zuckte mit dem Schwanz, ehe er die Augen zumachte, um zu schlafen. Erstaunlich, immerhin hatte er sich vor dieser plötzlichen Zuneigungsbekundung seinerseits von ihr nicht einmal streicheln lassen.

Vielleicht lag es am Wein und dass der stressige Tag von ihr abfiel, jedenfalls sagte Grace in diesem Augenblick genau das, was sie schon seit einiger Zeit beschäftigte. „Erzählen Sie mir von Raine.“

Raine?

Vorsichtig fragte Slater: „Was wollen Sie denn wissen?“

„Sind Sie verheiratet, geschieden, getrennt?“

Verheiratet? Glaubte sie das? Es wurde Zeit, ein paar Dinge klarzustellen.

Vielleicht lag es daran, dass Slater in einer Kleinstadt aufgewachsen war. Er hatte irgendwie angenommen, Grace wüsste, was zwischen ihm und Raine passiert war, denn das war kein Geheimnis. Da ihre Frage ihn überrascht hatte, brauchte er einen kurzen Moment, ehe er antworten konnte. „Nichts von alledem. Wir sind ein paar Monate lang miteinander ausgegangen, das war vor ungefähr zwölf Jahren.“ Er lächelte schief. „Na ja, anscheinend sind wir nicht nur ausgegangen. Die meiste Zeit während ihrer Schwangerschaft war ich wegen Dreharbeiten unterwegs, und sie besuchte Verwandte. Ich hatte also keine Ahnung, dass ich Vater einer Tochter werden würde. Das erfuhr ich erst einen Monat vor Daisys Geburt. Das war ein … interessanter Moment in meinem Leben. Raine und ich waren uns einig, dass es auf die traditionelle Weise niemals zwischen uns funktionieren wird. So aber verstehen wir uns richtig gut, und meine Familie liebt sie. Unsere gemeinsame Tochter ist zwar verwöhnt, aber ansonsten ein ganz normales Mädchen, finde ich.“

„Ich habe mich nur gefragt.“ Grace’ Miene war schwer zu deuten, aber ihre Worte klangen wie ein Geständnis. Das schwindende Sonnenlicht fing sich in ihrem glänzenden Haar. „Raine scheint nett zu sein, und sie kam mir interessant vor.“

„Sie ist die typische Künstlerin“, erklärte Slater. „Unkonventionell und definitiv jemand, der seinen eigenen Weg geht. Das ist Raine. Sie ist außerdem eine wundervolle Mutter und eine tolle Freundin.“ Er überlegte, ob er ganz offen sein sollte. Warum nicht? „Haben Sie sich das wegen meines offenkundigen Interesses an Ihnen gefragt? Das gäbe es nicht, wenn ich verheiratet oder mit jemandem zusammen wäre.“ Während er in sanftem Ton weitersprach, beobachtete er sie. „Nur damit das geklärt ist.“

„Das habe ich auch nicht angenommen.“ Sie sah ihm in die Augen. „Das Gleiche gilt auch für mich, da wir gerade dabei sind, Dinge klarzustellen.“

Er grinste und genoss den Anblick ihrer schönen Füße in diesen Riemchensandaletten. „Werden wir uns jetzt darüber streiten, wie moralisch wir beide sind?“

Die Andeutung eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. „Vielleicht. Ich muss Sie warnen – ich bin leicht erregbar.“

O ja, dachte er. „Na, das klingt doch vielversprechend.“ Er warf ihr über den Rand seines Weinglases hinweg einen Blick zu.

Wenn es eines gab, was Grace nicht kontrollieren konnte, dann wann sie errötete. Er fand es anziehend, besonders da sie üblicherweise selbstsicher und nüchtern auftrat. „So meinte ich das nicht“, erwiderte sie.

„Wie schade.“ Slater nahm eine noch entspanntere Haltung in seinem Sessel ein. „Sollen wir mit dem geschäftlichen Teil des Abends weitermachen? Sie wollen, dass das Bliss River Resort and Spa im Abspann meines nächsten Films auftaucht, nicht wahr? Und außerdem Sequenzen des alten Hotels, das an dieser Stelle gestanden hat. Im Gegenzug erhält die Crew angemessene Unterkünfte, wenn wir in der Gegend von Mustang Creek filmen.“

Grace wirkte für einen Moment nervös, fing sich aber gleich wieder. „Das ist in etwa richtig, ja. Ich habe mit dem Hotelbesitzer gesprochen, und er bittet darum, dass Sie den aktuellen Namen des Hotels nennen, wenn Sie Dinge oder historische Fotografien aus dem alten Hotel verwenden. Es genügt schon eine kleine Erwähnung, dass das ursprüngliche Gebäude durch ein modernes Wellnesshotel ersetzt wurde. Sie könnten ein Bild des alten Hotels zeigen und dann das neue. Wenn wir ins Geschäft kommen, dürfen Sie alles haben, was Sie wollen.“

Slater wusste natürlich, dass sie die historischen Fotos und Gegenstände aus dem Keller des Hotels meinte, dennoch konnte er sich nicht bremsen. Die Vorlage war einfach zu gut. „Alles?“

„Aus dem Keller“, stellte Grace nachdrücklich klar, obwohl sie amüsiert wirkte.

„Tja, Pech für mich, denn Sie werden wohl kaum einen Fuß dorthin setzen.“

„Das glauben Sie nicht. Dass es Pech ist, meine ich.“

Das war erneut vielversprechend. Sie war nicht der Typ für irgendwelche Spielchen, und das gefiel ihm. Die Anziehung zwischen ihnen war stark, und mittlerweile schien sie ihm sehr positive Signale zu senden.

Grace streichelte die Katze auf ihrem Schoß. „Haben wir einen Deal?“

Da es keinerlei Nachteile für Slater gab, bestätigte er prompt. „Ja, haben wir – wenn Mick Geldgeber findet, was er normalerweise schafft, und der Film auch tatsächlich realisiert wird. Eigentlich habe ich keinen Zweifel daran, dass er Erfolg haben wird, denn Mick will den Film unbedingt machen. Aber ich gebe keine Versprechen, die ich nicht halten kann.“

Sie senkte die Lider. „Gut zu wissen.“

„Dann wäre der geschäftliche Teil des Abends erledigt?“

Die Brise wehte ihr eine der rotgoldenen Locken ins Gesicht, und sie strich sie fort. „Da werden Sie von mir keinen Protest hören. Ich habe dem Hotel schon genug von meiner Zeit gewidmet.“

„Dann gehört der restliche Abend ganz uns.“ Er sah ihr in die Augen.

„Und der Katze. Bonaparte.“ Sie streichelte das Tier erneut und lächelte, als das Öffnen der Kühlschranktür zu hören war. „Und einem Teenager, der kurz vorm Verhungern ist.“ Sie setzte die Katze behutsam auf die Backsteinterrasse und sagte zu Slater: „Entschuldigen Sie mich einen Moment, ich muss das unvermeidliche Erdnussbutterbrot verhindern und Ryder ein richtiges Essen geben.“

„Glauben Sie mir, der schafft beides“, erwiderte Slater und erinnerte sich an das Footballspiel.

„Stimmt auch wieder. Der Umsatz des Supermarktes hat sich vermutlich verdoppelt, seit wir hergezogen sind. Probieren Sie den Dip, und lassen Sie sich etwas einfallen, was ich dem Koch dazu sagen kann. Genau wie beim Wein Ihres Bruders handelt es sich nämlich um ein neues Rezept.“

Als Grace drinnen verschwand, beobachtete die Katze – Bonaparte – Slater kritisch. Das Tier vertraute ihm nicht genug, um auf seinen Schoß zu springen. Stattdessen rollte es sich unter Grace’ Korbsessel zusammen. Als Grace wieder nach draußen kam, begann das Schnurren von Neuem. „Sie haben da einen gar nicht so heimlichen Verehrer“, sagte Slater. „Und dem Koch können Sie ausrichten, dass der Dip hervorragend ist.“

„Gut. Im Wellnessbereich haben wir einen anderen Koch als im Hotelrestaurant, aber beide wollen gehätschelt werden. Sie konkurrieren miteinander und verstehen sich zwangsläufig nicht besonders. Alles, was die beiden glücklich macht, macht mich glücklich.“

„Sie haben einen stressigen Job.“ Slater kannte das. Der Zeitplan einer Produktion, ganz zu schweigen von den sich in die Haare geratenden Egos der unterschiedlichen Künstlertypen – das ergab manchmal sehr lange und anstrengende Tage. „Was macht Miss Grace Emery denn zur Entspannung?“

„Lesen.“ Sie winkelte die Beine unter sich an. „Klassische Musik hören. Spazieren gehen. Mehrmals die Woche Yoga im Spa.“

Ihre Antwort überraschte ihn nicht sonderlich. „Ich habe einen anderen Vorschlag.“

„Das glaube ich gern.“

Er musste über ihren spöttischen Ton lachen. „Na ja, das auch. Aber eigentlich wollte ich fragen, ob Sie reiten.“

„Pferde?“ Sie schüttelte den Kopf, was ihre schulterlangen Haare in Bewegung brachte. „Ich fürchte, nein. Ich habe es ein- oder zweimal gemacht, aber da muss ich ungefähr dreizehn gewesen sein.“

„Möchten Sie es noch mal ausprobieren? Wir haben hier eine wunderschöne Landschaft, und im Sattel kann man sie am allerbesten genießen“, versuchte er sie zu überzeugen. „Ich werde Ihnen ein ganz braves Pferd aussuchen, versprochen. Nichts entspannt mich so gut wie ein Ausritt am Abend.“

Jede Frau, an der er ernsthaft interessiert war – und trotz der üblichen Zweifel war er an dieser hier sehr interessiert –, musste ein Pferd reiten können.

Sie blickte skeptisch drein. „Ich habe keine Ahnung, wie man reitet.“

„Ich bringe es Ryder bei. Ihnen könnte ich es auch beibringen. Überlegen Sie es sich.“

Der Wecker ihres Handys klingelte. Sie tippte auf das Display und stand auf. „Das Essen ist fertig. Zum Glück für Sie hatte ich heute Abend viel Hilfe – obwohl ich selbst ganz gut koche, wenn ich mal Zeit dazu habe.“

Im Nu war er aufgesprungen und griff nach ihrer Hand. „Grace.“

Sie schaute ihn fragend an, und er zog sie näher zu sich heran, legte ihr einen Arm um die Taille und sagte sanft: „Ich habe keine Lust auf einen verlegenen Abschiedskuss an der Tür. Und wie du vielleicht schon bemerkt hast, bin ich auch nicht unbedingt der geduldige Typ. Deshalb will ich es unbedingt jetzt tun. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.“

Offenbar hatte sie nicht. Zärtlich berührten sich ihre Lippen, doch jeder romantische Vorsatz verschwand, sowie Grace seinen Kuss erwiderte, langsam zuerst, aber dann mit einer Leidenschaft, die Slaters Vorstellung davon, wie sie im Bett sein würde, noch übertraf. Sie küsste ungebändigt und wild. Körperliche Anspannung erfasste ihn an allen Stellen seines Körpers, und da er durch die dünne Bluse spüren konnte, wie ihre Brustwarzen hart wurden, schien sie ähnlich auf diesen Kuss zu reagieren.

Es tat gut, zu wissen, und zwar mit absoluter Sicherheit, dass die Anziehung nicht einseitig war. Und ein fantastischer Kuss war ein sehr guter Anfang. Slater nahm sich Zeit und genoss es, Grace in den Armen zu halten.

„Grace, ich … Oje, Mann. Sorry. Ich wollte nicht … ich meine …“

Als sie Ryders Stimme hörten, lösten sie sich voneinander. Grace’ Wangen waren gerötet, doch ihre Stimme war fest. „Kein Problem. Was gibt es denn?“

Slater war nicht froh über die Unterbrechung, aber er hatte Mitleid mit dem Jungen. „Alles klar?“, erkundigte er sich.

„Ich … ich habe gerade mit meinem Dad telefoniert“, meinte Ryder durch das Fliegengitter hindurch, noch immer ein wenig stammelnd. „Er bekommt demnächst Urlaub und will herkommen, falls das in Ordnung ist.“

8. Kapitel

Nein, das war absolut gar nicht in Ordnung.

Grace war noch ganz benommen von diesem wundervollen Kuss, und jetzt diese Neuigkeit?

Das hatte ihr noch gefehlt – ihr Exmann in Mustang Creek. Hank war gegen die Scheidung gewesen und glaubte vermutlich immer noch, dass Grace wieder „zu sich kommen“ würde, wenn er nur seinen Charme spielen ließe. Typisch.

Hank hatte es gefallen, zu einer willigen Bettgenossin heimzukommen, die sich auch noch um den Haushalt kümmerte, die kochte und Geburtstagsgeschenke für seine Familie kaufte – was selbstverständlich seine Aufgabe gewesen wäre – und obendrein den Rasen mähte. Und das alles neben ihrer eigenen Berufstätigkeit.

Ach ja, und dass sie dann noch in ihrer freien Zeit seinen Sohn großzog, nun, dafür war er ihr sicher dankbar. Das war genau die Art von profaner Verantwortung, mit der Ryders leibliche Eltern nicht behelligt werden durften.

Wer, außer Hank, besaß die Dreistigkeit, ohne jede Vorwarnung in Grace’ sorgfältig wiederaufgebautes Leben hineinzuplatzen?

Sie hatte das Gefühl, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Sie konnte Hank nicht bitten wegzubleiben; Ryder musste seinen Vater sehen.

„Ich werde ihm ein Zimmer im Hotel reservieren.“ Ihr Ton war schärfer, als sie beabsichtigt hatte, deshalb fuhr sie milder fort: „Gegen einen kleinen Spaziergang hat er sicher nichts einzuwenden. Mache ich ja auch dauernd.“

„Ich dachte, er könnte mein Zimmer haben“, sagte Ryder eilig. „Es ist doch nur für einen Monat, und ich kann auf der Couch schlafen.“

Einen Monat? Grace musste sich zusammenreißen, um nicht entsetzt dreinzublicken. Auf gar keinen Fall würde sie ihre Wohnung einen Monat lang mit Hank teilen. Und ihr Bett schon gar nicht. „Ich kann im Hotel wohnen“, sagte sie leicht seufzend. „Ich bin ja sowieso ständig dort.“

Ryder hob trotzig das Kinn. „Das ist deine Wohnung, Grace. Er wirft dich nicht raus, nur weil er so tut, als wollte er Zeit mit mir verbringen. Mal abwarten, wie lange er überhaupt durchhält.“

Sie könnte das so stehen lassen, zumal er vermutlich recht hatte, was die Dauer des Aufenthaltes anging. Aber er irrte sich auch.

„Nein, Ryder, er tut nicht so.“ Hank interessierte sich in erster Linie für Hank, keine Frage, aber sie wusste, dass er seinen Sohn liebte. Er war nur einfach nicht dafür geschaffen, ein richtiger Vater zu sein. Vom Tag ihrer Heirat an hatte er erleichtert sämtliche Erziehungsaufgaben Grace überlassen, und davor hatte Ryder mehr oder weniger bei seinen Großeltern gelebt. Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. „Er ist ein vielbeschäftigter Mann mit sehr viel Verantwortung. Er hat Opfer gebracht für seinen Beruf. Du und ich leider auch. Wie dem auch sei, wenn er sagt, er will einen Monat mit dir verbringen, meint er es, glaube ich, auch ernst.“ Slater hatte während ihrer Unterhaltung mit Ryder kein Wort gesagt, wofür sie ihm dankbar war. Es war schließlich ihr Problem, und deshalb wäre ihr eine Einmischung auch gar nicht recht gewesen. Sie hatte acht Jahre mit einem männlichen Gegenüber verbracht, das sie beschützen wollte, obwohl sie sehr gut allein zurechtkam. Abgesehen von der Szene mit David Reinhart schien Slater sich ganz gut zurückhalten zu können.

Ryder sah aus, als wollte er noch weiter darüber diskutieren, doch sie brachte ihn mit seiner Lieblingsablenkung auf andere Gedanken: Essen. „He, im Ofen stehen Rindfleisch und Nudeln für dich. Hast du Bonaparte schon gefüttert?“

Diese Katze war beunruhigend schlau. Als sie ihren Namen hörte – vielleicht war es auch das Wort „gefüttert“, kam sie unter dem Korbsessel hervor und lief zur Fliegengittertür. Sie schaute hoffnungsvoll hoch. Ryder stand einen Moment da, ohne zu reagieren. Aber dann ließ er Bonaparte doch hinein und verzichtete auf eine weitere Diskussion.

„Gut gemacht“, meinte Slater, als Grace sich wieder zu ihm umdrehte. „Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass er bei den Hausaufgaben zwei Stücke Schokoladenkuchen gegessen hat.“

„Klingt nach einem harten Los.“

„Kann es durchaus sein. Du hast Harry noch nicht kennengelernt. Sie hat es gern, wenn alles nach ihrem Willen geht.“

Grace seufzte. „Ich hoffe, mein Gesichtsausdruck hat nicht verraten, wie ich es finde, dass Hank bei uns wohnen will. Ich will Ryders Gefühle nicht verletzen, schließlich handelt es sich um seinen Vater. Aber du hast sicher gemerkt, dass ich meinen Ex nicht einen ganzen Monat bei uns haben will.“

Hanks Eltern waren gute Leute, Großeltern, die für Ryder da waren und in ständigem E-Mail-Kontakt mit Grace standen. Wieso konnte Hank nicht bei denen wohnen?

„Ja, das ist mir nicht entgangen“, entgegnete er. „Ich bin kein Experte, aber ich hatte den Eindruck, dass Ryder nicht genau weiß, was er von dem Besuch halten soll. Wenn ich mal raten soll, würde ich darauf tippen, dass er insgeheim darauf hofft, dass alles gut geht, aber lieber auf nichts zählt.“

Sie setzte sich wieder in ihren Sessel und griff nach ihrem Weinglas. „Dann haben wir ähnlich reagiert.“

Slater setzte sich auch wieder. „Wir können gern darüber sprechen, müssen wir aber nicht. Liegt bei dir.“

Sie lächelte müde. „Falls es dir nichts ausmacht, würde ich erst über die ganze Angelegenheit nachdenken und ein andermal darüber reden.“

„Gern.“

„Du bist ausgesprochen charmant.“

Er grinste. „Das ist eine raffinierte Bemerkung. Du musst mich in jeder Sekunde im Auge behalten, denn ich nutze jede Chance. Zum Beispiel wenn dein Ex hier bei Ryder ist, würdest du dann mit mir ein Wochenende verreisen? Ich muss mir ein paar Drehorte für meinen neuen Film ansehen.“

Das war ziemlich direkt, aber das sollte es wohl auch sein. Charmant und direkt.

Allerdings gefiel ihr seine direkte Art. „Könnten wir machen, wenn ich frei bekomme.“ Grace reagierte vorsichtshalber neutral. Möglicherweise würde sie dringend wegmüssen, wenn Hank da war. Abgesehen davon war das aber ein sehr angenehmer Kuss gewesen.

Na ja, ein aufregender, sinnlicher Kuss. Sie würde bestimmt nicht enttäuscht sein, wenn sie eines Tages das ganze Slater-Carson-Programm wollte.

„Ich wollte dich ohnehin fragen“, fuhr er fort. „Schon vor dieser neuesten Entwicklung. Also glaub nicht, dass mein Vorschlag nur damit zusammenhängt.“

„Andernfalls wäre ich auch enttäuscht gewesen.“ Grace zeigte ihr bestes neckendes Lächeln, das sie unter diesen Umständen zustande brachte. Es war nicht so, als hätte sie nicht dann und wann mit dem Auftauchen von Ryders Vater gerechnet. Nur gewöhnte sie sich allmählich daran, dass die Familie aus ihr und Ryder bestand.

Oh, und Bonaparte. Drei also. Eine dreiköpfige Familie. Was sie daran erinnerte, dass sie demnächst wirklich zum Tierarzt mussten. Gleich morgen würde sie einen Termin machen. Tatsächlich hatte sie gegen ihre eigenen Regeln verstoßen und den Kater ohne vorherige tierärztliche Untersuchung und Kastration ins Haus gelassen.

Trotzdem, sie waren eine dreiköpfige Familie.

Nicht ganz mit dem festen Zusammenhalt wie bei den Carsons, aber sie kamen klar. Sie aßen gemeinsam, und Ryder trug den Müll raus, wenn auch widerwillig. Manchmal stritten sie sich, manchmal schauten sie einen Film zusammen. Und sie teilten sich die wachsende, wenn auch zögerliche Zuneigung des Katers …

Eigentlich hatte sie gedacht, Hank würde seinen Sohn nach Seattle kommen lassen. Anscheinend hatte er das ehemalige gemeinsame Haus zum Verkauf angeboten, und vielleicht war es schon verkauft. Grace hatte das Haus geliebt, während Hank keinerlei sentimentale Gefühle damit verband. Allerdings war er auch nur selten dort gewesen. Sie hätte es bei der Scheidung bekommen können, nur hatte sie da schon beschlossen, aus der Großstadt weg und an einen ruhigen Ort zu ziehen.

„Ich hole mal lieber unser Essen aus dem Ofen“, erklärte sie, entschlossen, den Rest des Abends zu genießen.

Überraschenderweise gelang ihr das.

Zum Erfolg des Abends trug die Tatsache bei, dass das Essen köstlich schmeckte. Es war ihr ein Rätsel, wie Slater so fit bleiben konnte, obwohl er aß wie ein Hafenarbeiter nach einem harten Arbeitstag.

Hinterher tranken sie koffeinfreien Kaffee auf der Terrasse, und zu ihrer Enttäuschung hielt er Wort und bemühte sich gar nicht erst um einen Gutenachtkuss. Nachdem er fort war, ging sie in ihr Arbeitszimmer und schickte George Landers, dem Besitzer des Hotels, eine kurze E-Mail, in der sie ihn darüber informierte, dass das Treffen erfolgreich gewesen sei. Dann scrollte sie durch ihre Nachrichten und fand eine von Hank. Kurz und prägnant, aber so war er.

Danke, dass du mich aufnimmst. Bin momentan in Washington, D. C. Bis bald.

Was ihr Privatleben betraf, so war das aus mehreren Gründen schlechtes Timing. Natürlich war sie nach einem Geschäftsessen mit Slater noch nicht mit ihm zusammen, aber eine Einladung für einen Wochenendausflug war schon etwas anderes.

„Grace?“

Ryder stand im Türrahmen, in mit Elchen bedruckter Pyjamahose und einem schwarzen T-Shirt mit dem Logo seines Lieblingscomputerspiels. Trotz seiner schlaksigen Größe sah er sehr jung aus. Eine Haarsträhne fiel ihm über die eine Braue. Grace hatte beschlossen, ihn anziehen zu lassen, was er wollte, um unnötige Streitereien zu vermeiden – sie brauchte ihre Kraft für Auseinandersetzungen mit ihm um wichtigere Dinge. Allerdings befürchtete sie, dass sein Vater ihn sofort zum Frisör schleppen würde.

„Ist es in Ordnung, wenn ich weiterhin nach der Schule zur Ranch gehe, auch während mein Dad hier ist?“

Das war eine berechtigte Frage. „Ja, ich glaube schon. Das wäre verantwortungsvolles Handeln. Wenn man einen Job annimmt, geht man eine Verpflichtung ein. Gerade dein Vater sollte dafür Verständnis haben.“

Ryder sah erleichtert aus, was ihr etwas über seine Unsicherheit im Hinblick auf den bevorstehenden Besuch verriet. Sie selbst war ja auch nervös.

Vielleicht sollte sie noch einmal auf diesen Kuss zu sprechen kommen. Zögernd begann sie: „Slater und ich …“

„Ihr mögt euch. Das ist nicht gerade ein Geheimnis. Ich bitte dich, Grace, das war mir schon klar, als du mich an diesem einen Abend in sein Büro auf der Ranch geschleift hast.“

Autor