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Millionaires Wanted - Sehnsuchtsvolles Verlangen

hier erhältlich:

EIN SOMMER ZUM VERLIEBEN
Maxie führt ein Traumleben auf der griechischen Insel Chymos. Ihr steinreicher Ehemann Angelos umgibt sie mit allem denkbaren Luxus. Doch eines fehlt ihr in diesem Paradies: wahre Liebe. Denn Angelos glaubt, sie wolle nur sein Geld - und lässt sie dafür büßen.

DER MASKENBALL
Maskenball in Venedig! Gianluca hat in Darcy seine Prinzessin gefunden, doch am nächsten Morgen ist er allein in seinem Palazzo. Drei Jahre lang sucht Gianluca nach ihr. Und dann führt eine Anzeige ihn zu seiner Traumfrau: "Ruhiger, ungebundener Mann gesucht …!

KOMM MIT MIR NACH CARACAS
Immer mehr schließt Polly das Baby, das sie von Raul erwartet, ins Herz. Und immer tiefere Sehnsüchte weckt der Diamanten-Tycoon in ihr. Doch für romantische Gefühle scheint kein Platz in seinem Leben. Nur wegen des Kindes nimmt Raul sie mit auf sein Anwesen, oder nicht?


  • Erscheinungstag: 14.09.2020
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 404
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745752663
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Lynne Graham

Millionaires Wanted - Sehnsuchtsvolles Verlangen

1. KAPITEL

Raul Zaforteza nahm ein großes Hochglanzfoto aus der Dokumentenmappe. „Das ist Polly Johnson. In sechs Wochen wird sie mein Kind zur Welt bringen. Ich muss sie vorher finden.“

Da er eine Blondine mit dem Gesicht und der Figur eines Supermodels erwartet hatte, war Digby beunruhigt, als er die zierliche Frau mit langem dunkelbraunem Haar, seelenvollen blauen Augen und einem unglaublich süßen Lächeln sah. Sie wirkte so jung und gesund, dass er sie sich beim besten Willen nicht als Leihmutter vorstellen konnte.

Als Rechtsanwalt in einer renommierten Londoner Kanzlei hatte er, Digby Carson, einige sehr schwierige Fälle gehabt. Doch das hier war neu für ihn: eine Leihmutter auf der Flucht, die entschlossen war, das Baby zu behalten. Mutlos betrachtete er seinen Klienten.

Raul Zaforteza hatte mit Gold- und Diamantminen ein Vermögen gemacht. Er war ein brillanter Geschäftsmann, ein legendärer Polospieler und – den Klatschkolumnen zufolge – ein notorischer Frauenheld. Mit seinen eins neunzig, dem muskulösen Körperbau eines Athleten und dem aufbrausenden Temperament war er eine Furcht einflößende Erscheinung, selbst für ihn, Digby, der ihn schon als Kind gekannt hatte.

„Soweit ich weiß, hat mein Anwalt in New York dich bereits über die Situation informiert“, erklärte Raul ungeduldig.

„Er sagte, es wäre zu vertraulich, als dass er am Telefon darüber sprechen könnte“, räumte Digby ein, der wesentlich älter war als Raul. „Wie, in aller Welt, bist du bloß auf so eine Idee gekommen?“

„Por Dios … Du weißt doch, wie ich aufgewachsen bin“, konterte Raul.

Digby wirkte, als wäre ihm unbehaglich. Als ehemaliger Mitarbeiter von Rauls mittlerweile verstorbenem Vater wusste er, dass Raul keine schöne Kindheit gehabt hatte.

Raul atmete scharf aus. „Ich habe schon vor langer Zeit beschlossen, niemals zu heiraten. Keine Frau soll so viel Macht über mich und vor allem nicht über ein etwaiges gemeinsames Kind besitzen. Aber ich habe Kinder schon immer gemocht …“

„Ja …“

„Viele Ehen werden irgendwann geschieden, und normalerweise werden die Kinder der Frau zugesprochen“, erinnerte Raul ihn zynisch. „Daher erschien mir die Idee mit der Leihmutter als die praktischste Lösung. Es war keine impulsive Entscheidung, Digby, und ich habe keine Mühe gescheut, um sicherzugehen, dass ich eine geeignete Mutter für mein Kind finde.“

„Geeignet?“, wiederholte Digby, denn er wollte gern wissen, was Raul mit seiner Vorliebe für mondäne Blondinen darunter verstand.

„Als mein Anwalt in New York per Annonce eine Leihmutter gesucht hat, sind haufenweise Bewerbungen in der Kanzlei eingegangen. Ich habe einen Arzt und einen Psychologen beauftragt, die vielversprechendsten Kandidatinnen einer Reihe von Tests zu unterziehen, aber die endgültige Auswahl habe natürlich ich getroffen.“

Stirnrunzelnd betrachtete Digby das Foto. „Wie alt ist sie?“

„Einundzwanzig.“

„Und sie war die einzige geeignete Kandidatin?“

Raul verspannte sich. „Der Psychologe hatte einige Vorbehalte, aber Polly verkörperte all das, was ich mir bei der Mutter meines Kindes wünschte. Sicher, sie war jung und idealistisch, aber ihr Beweggrund war nicht Geldgier, sondern der Wunsch, ihrer kranken Mutter eine Operation zu finanzieren.“

„Ich frage mich, ob sie sich unter den Voraussetzungen darüber im Klaren war, worauf sie sich einlässt“, bemerkte Digby.

„Das ist jetzt müßig, denn sie erwartet ein Kind von mir“, meinte Raul trocken. „Aber ich werde sie bald finden. Ich weiß, dass sie vor zwei Monaten im Haus ihrer Patentante in Surrey war. Nur bevor ich sie finde, muss ich wissen, was für Rechte ich in diesem Land habe.“

Digby wollte ihm die schlechten Neuigkeiten erst mitteilen, wenn er alle Fakten kannte. Wenn sich eine Leihmutter in England entschied, das Kind zu behalten, würde kein Richter es ihr wegnehmen.

„Erzähl mir den Rest der Geschichte“, bat er.

Während er sprach, blickte Raul starr aus dem Fenster und dachte dabei daran, wie er Polly Johnson das erste Mal gesehen hatte, und zwar durch den Spionspiegel in der Kanzlei in New York. Sie hatte ihn an eine Porzellanpuppe erinnert.

Sie war ehrlich und couragiert – und so nett. Diese Eigenschaft hatte er noch nie bei einer Frau gesucht, und doch erschien sie ihm äußerst wünschenswert.

Und je länger er Polly beobachtete, desto mehr erfuhr er über sie, und desto mehr wünschte er sich, sie persönlich kennenzulernen, damit er die neugierigen Fragen seines Kindes später auch beantworten konnte. Sein Anwalt hatte ihm aber davon abgeraten und erklärt, nur wenn er anonym bliebe, könne er sich gegen etwaige spätere Forderungen absichern. Andererseits hatte er, Raul, schon immer auf seinen Instinkt vertraut und gegen alle Regeln verstoßen …

Nun musste er sich allerdings eingestehen, dass genau aus dem Grund auch alles schief gelaufen war.

„Nachdem du erfahren hattest, dass sie schwanger ist, hast du sie also in einem Haus in Vermont einquartiert und ihr ein Dienstmädchen, das schon lange für deine Familie arbeitet, zur Verfügung gestellt“, fasste Digby zusammen, da Raul in Schweigen verfallen war. „Und wo war ihre Mutter in der Zeit?“

„Nachdem Polly den Vertrag unterschrieben hatte, ist ihre Mutter in ein Genesungsheim gegangen, um Kraft für die Operation zu sammeln. Sie war sehr krank. Von dem Vertrag wusste sie nichts. Die Ärzte hatten Polly gewarnt, dass ihre Chancen allenfalls fünfzig zu fünfzig standen. Zwei Tage nach der Operation ist ihre Mutter gestorben“, erzählte Raul.

„Das ist bedauerlich.“

Raul warf Digby einen spöttischen Blick zu. Bedauerlich? Polly war am Boden zerstört gewesen, wie ihm Soledad, das Dienstmädchen, berichtet hatte. Daraufhin hatte er sich nicht länger von der Mutter seines Kindes fernhalten können.

Verständlicherweise hatte er befürchtet, sie könnte eine Fehlgeburt erleiden, und geglaubt, er müsste sie moralisch unterstützen. Immerhin war sie erst einundzwanzig und allein in einem fremden Land gewesen und hatte ein Kind von einem Fremden erwartet.

„Deswegen habe ich mich schließlich mit ihr in Verbindung gesetzt“, räumte Raul ein. „Da ich ihr schlecht sagen konnte, dass ich der Vater des Babys bin, musste ich sie täuschen.“

Digby zuckte zusammen. Raul hätte jeglichen Kontakt zu der Frau vermeiden müssen. Doch er war ein beängstigend vielschichtiger Mann. Er war ein rücksichtsloser Konkurrent und ein sehr gefährlicher Feind. An seiner Reserviertheit waren schon viele Frauen verzweifelt. Aber er war auch für seine Menschenfreundlichkeit bekannt und wenigen Auserwählten der beste Freund, den man sich vorstellen konnte.

Raul presste die Lippen zusammen. „Ich habe mir ein Wochenendhaus in der Nähe gemietet und dafür gesorgt, dass unsere Wege sich kreuzen. Meine Identität musste ich nicht leugnen, denn der Name Zaforteza sagte ihr nichts. In den darauf folgenden Monaten bin ich regelmäßig in die Staaten geflogen und habe sie besucht. Ich bin nie lange geblieben. Sie brauchte nur jemanden zum Reden …“ Er verstummte und zuckte die Schultern.

„Und?“

„Nichts und!“ Als Raul sich wieder umdrehte, funkelten seine dunklen Augen spöttisch. „Ich habe sie wie eine kleine Schwester behandelt. Ich habe sie ab und zu besucht, das war alles.“

Digby verkniff es sich, ihn darauf hinzuweisen, dass er ein Einzelkind war und daher gar nicht wissen konnte, wie man eine kleine Schwester behandelte. Er selbst hatte drei Töchter, die allein bei der Erwähnung von Rauls Namen in Ohnmacht fielen. Als er Raul das letzte Mal zum Essen mit nach Hause genommen hatte, hatten sich alle drei in Schale geworfen und um seine Aufmerksamkeit gebuhlt. Selbst seine Frau hatte von ihm geschwärmt.

„Wann ist sie verschwunden?“, erkundigte sich Digby.

„Vor drei Monaten. Soledad ist einkaufen gegangen und hat sie allein gelassen“, gestand Raul grimmig. „Kannst du dir vorstellen, dass ich in den letzten drei Monaten kaum eine Nacht durchgeschlafen habe?“

„Es ist durchaus möglich, dass sie sich für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat …“

„Por Dios … Polly würde mein Kind nicht abtreiben! Sie ist sehr weiblich und sehr liebevoll. So etwas würde sie niemals tun!“, bekräftigte Raul.

„Du hast dich nach deinen Rechten erkundigt.“ Digby atmete tief durch und straffte sich. „Ich fürchte, nach britischem Gesetz haben unverheiratete Väter keine.“

Raul blickte ihn ungläubig an. „Das ist unmöglich.“

„Du kannst auch nicht anführen, dass sie eine schlechte Mutter wäre. Schließlich hast du sie selbst ausgesucht. Und als reicher Ausländer, der sein Geld dazu benutzt hat, um sie zu einer Entscheidung zu drängen, die sie später bereut hat, wirst du vor Gericht nicht gut dastehen …“

„Aber sie hat Vertragsbruch begangen“, erklärte Raul schroff. „Dios mío! Ich habe keine Lust, die Sache vor Gericht auszutragen. Es muss doch eine andere Möglichkeit geben, das Sorgerecht zu bekommen.“

Digby verzog das Gesicht. „Du könntest sie heiraten …“

Raul warf ihm einen strengen Blick zu. „Falls das ein Witz sein sollte, war er alles andere als komisch.“

Henry zog einen Stuhl für Polly hervor, als sie sich zum Abendessen an den Tisch setzte. Seine Mutter Janice Grey betrachtete sie stirnrunzelnd, denn Polly war jetzt im achten Monat schwanger und sah schlecht aus.

„Wenn du Henry jetzt heiraten würdest, bräuchtest du nicht mehr zu arbeiten“, sagte Janice. „Er könnte dir dabei helfen, das mit dem Nachlass deiner Patentante zu klären.“

„Es wäre das Beste, was du tun könntest.“ Henry, der helles, bereits lichter werdendes Haar hatte und kräftig gebaut war, nickte wichtigtuerisch. „Du musst dafür sorgen, dass du nicht zu viel Erbschaftssteuer zahlst.“

„Ich möchte niemanden heiraten.“ Pollys Züge waren angespannt, und ihr Lächeln wirkte gequält.

Einen Moment lang herrschte peinliches Schweigen, und Mutter und Sohn tauschten vielsagende Blicke.

Schuldbewusst, da sie keinen Appetit hatte, betrachtete Polly ihren Teller. Im Nachhinein war ihr klar, dass es ein Fehler gewesen war, das Zimmer bei Janice zu beziehen. Das Reihenhaus war zwar gemütlich, aber woher hätte sie wissen sollen, dass die Haushälterin ihrer inzwischen verstorbenen Patentante ihr das Angebot nicht ohne Hintergedanken gemacht hatte?

Janice und ihr Sohn kannten die Bedingungen in Nancy Leewards Testament. Sie wussten, dass sie, Polly, eine Million Pfund erben würde, wenn sie innerhalb eines Jahres einen Mann fand und mindestens sechs Monate verheiratet blieb. Und Janice wollte ihr einreden, dass es all ihre, Pollys, Probleme lösen würde, wenn sie Henry heiratete.

Und so berechnend Janice auch sein mochte, wäre es ein fairer Handel gewesen. Schließlich würde sie, Polly, eine ledige Mutter sein und konnte ohne einen Ehemann ohnehin keinen Anspruch auf das Erbe erheben. Henry war alleinstehend, ein richtiges Muttersöhnchen und hasste seinen Job. Mit nur einem Bruchteil der Million würde er sich als Steuerberater selbstständig machen können.

„Babys können sehr anstrengend sein“, erklärte Janice, nachdem Henry den Raum verlassen hatte. „Und ich weiß aus Erfahrung, dass es nicht leicht ist, ein Kind allein großzuziehen.“

„Ich weiß.“ Polly lächelte verträumt, denn sie freute sich auf die Geburt.

Janice seufzte. „Ich meine es doch nur gut mit dir, Polly. Du liebst Henry nicht, aber was hattest du davon, dass du dich verliebt hast?“

Abrupt kehrte Polly auf den Boden der Tatsachen zurück. „Nichts.“

„Es ist doch offensichtlich, dass der Vater des Kindes dich hat sitzen lassen. Und Henry und ich würden dich niemals im Stich lassen.“

Als Polly daran dachte, was Henry für eine Lebensauffassung hatte, unterdrückte sie einen Seufzer.

„Die Leute heiraten nicht immer aus Liebe, sondern aus allen möglichen anderen Gründen“, beharrte Janice. „Sicherheit, Geborgenheit, ein schönes Zuhause.“

„Ich brauche aber mehr.“ Langsam und schwerfällig stand Polly auf. „Ich lege mich noch ein bisschen hin, bevor ich zur Arbeit fahre.“

Atemlos vom Treppensteigen, legte sie sich in ihrem hübsch möblierten Zimmer aufs Bett und schnitt ein Gesicht. Sie würde Henry niemals heiraten, nur um die Bedingungen von Nancy Leewards Testament zu erfüllen.

Sie schämte sich der Tatsache, dass sie sich in einer so ausweglosen Situation befand, nur weil sie Geld gewollt hatte. Ihr verstorbener Vater, ein sehr religiöser Mann, hatte immer behauptet, Geld wäre die Wurzel allen Übels. Und in ihrem Fall hatte es sich leider bewahrheitet.

Ihre Mutter hatte im Sterben gelegen. Doch sie, Polly, hatte es nicht wahrhaben wollen, denn sie war ohne sie groß geworden und hatte kaum Zeit gehabt, sie neu kennenzulernen. Sie hatte einfach nicht glauben wollen, dass das Schicksal so grausam sein konnte.

Wie hatte sie je annehmen können, dass sie in der Lage sein würde, ihr Baby Fremden zu geben? Wie hatte sie je annehmen können, dass sie niemals versuchen würde, zu ihrem Kind Kontakt aufzunehmen? Sie war unglaublich naiv und unreif gewesen. Daher war sie vor einer unhaltbaren Situation davongelaufen, obwohl ihr klar gewesen war, dass man sie verfolgen und irgendwann auch finden würde …

Als sie daran dachte, dass man sie für ihr Verhalten zur Rechenschaft ziehen würde, brach ihr der Angstschweiß aus. Sie hatte einen Vertrag unterzeichnet, indem sie erklärt hatte, dass sie auf ihr Baby verzichten würde. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt, während man eine Riesensumme für die Behandlung ihrer Mutter ausgab, und dann die Flucht ergriffen. Sie hatte das Gesetz gebrochen, und dennoch hatte man sie unter Vortäuschung falscher Tatsachen zur Unterschrift bewogen – aber das konnte sie nicht beweisen.

Manchmal wachte sie nachts auf, weil sie geträumt hatte, dass man sie an die USA auslieferte und vor Gericht stellte, ihr dann das Baby wegnahm und nach Venezuela schickte, wo es bei seinem unmoralischen, skrupellosen Vater ein Leben in Luxus führen würde. Und selbst wenn sie keine Albträume hatte, schlief sie wegen ihrer Schwangerschaft immer schlechter.

Und wenn es ihr besonders schlecht ging, sah sie Raul im Geist vor sich. Raul Zaforteza, dunkelhaarig, atemberaubend attraktiv und gefährlich. Was für eine leichte Beute sie für ihn gewesen war! Denn sie hatte sich hoffnungslos in ihn verliebt – und es war das erste Mal in ihrem Leben gewesen, dass sie sich verliebt hatte. Sie hatte nur von einem Treffen zum nächsten gelebt, immer in der Angst, dass er vielleicht nicht kommen oder ihre Schwangerschaft bemerken würde. Sie lachte hysterisch auf. Die ganze Zeit hatte er gewusst, dass sie schwanger war. Schließlich war er der Vater ihres Babys …

Eine Stunde später fuhr Polly zur Arbeit. Es war ein kühler, regnerischer Sommerabend. Diesmal nahm sie nicht den Bus, denn wenn das Baby erst einmal da war, würde sie jeden Penny brauchen.

Der Supermarkt, in dem sie im Schichtdienst als Kassiererin arbeitete, war hell erleuchtet und gut besucht. Als sie in der Garderobe ihren Mantel auszog, steckte die Filialleiterin den Kopf zur Tür herein und betrachtete sie stirnrunzelnd. „Du siehst sehr müde aus, Polly. Ich hoffe, dein Arzt weiß, was er tut, wenn er dir sagt, dass du immer noch arbeiten kannst.“

Polly errötete, als die Filialleiterin wieder ging. Sie war seit zwei Monaten nicht mehr beim Arzt gewesen, aber bei ihrem letzten Besuch hatte man ihr geraten, sie solle sich schonen. Nur wie sollte sie sich schonen, wenn sie ihren Lebensunterhalt verdienen musste? Und wenn sie Sozialhilfe beantragte, würde man ihr zu viele unangenehme Fragen stellen. Daher fühlte sie sich völlig ausgelaugt.

Bei Dienstschluss war Polly sehr müde und daher froh, dass sie am nächsten Tag freihatte. Sie hängte sich ihre Tasche über die Schulter und verließ den Supermarkt. Jetzt regnete es nicht mehr. Die Lichter der Straßenlaternen spiegelten sich auf dem nassen Asphalt, und das Wasser spritzte von den vorbeifahrenden Autos hoch und auf den Bürgersteig.

Polly ließ den Mantel offen, da sie ihn ohnehin nicht mehr zubekommen hätte. Jetzt dauert es nicht mehr lange, tröstete sie sich. Sie hatte das Gefühl, schon ewig schwanger zu sein, aber bald würde sie ihr Baby als eigenständigen Menschen kennenlernen.

Da sie ganz in Gedanken versunken war und den Kopf gesenkt hatte, merkte sie nicht, dass ihr jemand den Weg versperrte. Erst als sie fast mit ihm zusammenstieß, nahm sie den Mann wahr.

Sie schwankte und schrie auf, doch der Mann umfasste ihre Schultern und hielt sie fest. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie den Kopf zurückbeugte, um ihrem Retter ins Gesicht zu sehen.

Es war Raul Zaforteza. Mit versteinerter Miene blickte er auf sie herab, und ihr jagte ein Schauer über den Rücken.

Vor Entsetzen begann Polly zu zittern, als sie seinem Blick begegnete. Seine Augen funkelten wie die eines Tigers, der im Begriff war, sich auf seine Beute zu stürzen.

„Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem du dich vor mir verstecken könntest“, erklärte er mit dem für ihn so typischen Akzent, der alle möglichen Erinnerungen in ihr wachrief. „Die Jagd ist vorbei.“

2. KAPITEL

„Lass mich los, Raul!“, brachte Polly hervor. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

„Du erwartest ein Kind von mir“, erwiderte Raul ruhig. „Welcher Mann würde da weggehen?“

Plötzlich verspürte sie einen heftigen Schmerz in den Schläfen, und ihr wurde übel. Sie presste eine Hand an die Schläfe.

„Por Dios … Was ist?“ Er verstärkte seinen Griff, als sie schwankte. Im nächsten Moment hob er sie hoch und drückte sie an sich. Als er im Licht einer Straßenlaterne ihr Gesicht sah, fluchte er auf Spanisch.

„Lass mich runter …“ Die Ironie der Situation war ihr durchaus bewusst, denn es war das erste Mal, dass er ihr so nahe kam.

Raul ignorierte jedoch ihren Protest. Auf sein Nicken hin kam die Limousine, die auf der anderen Straßenseite parkte, herüber. Der Chauffeur sprang heraus und öffnete die hintere Tür. Raul verfrachtete Polly auf den Rücksitz, doch bevor er neben ihr Platz nehmen konnte, beugte sie sich heraus, weil sie sich übergeben musste. Dann ließ sie sich auf den Sitz sinken und presste sich ein Taschentuch auf die Lippen. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt.

Niemand sagte etwas, und in einem Anflug von Humor dachte sie daran, dass Raul vermutlich noch nie miterlebt hatte, wie sich jemand übergab. Und obwohl sie sich ihrer Unfähigkeit, ihren Körper zu beherrschen, schämte, hätte sie keine Entschuldigung über die Lippen gebracht.

„Kannst du dich aufsetzen?“

Als sie eine Hand auf den Sitz stützte, zog er sie hoch. Dabei stieg ihr der herbe, leicht exotische Duft seines Aftershaves in die Nase.

„Jetzt hast du mich also gefunden“, erklärte sie, wobei sie es vermied, ihn anzusehen.

„Es war nur eine Frage der Zeit. Zuerst bin ich zu dem Haus gefahren, in dem du wohnst. Janice Grey war nicht gerade entgegenkommend. Zum Glück wusste ich schon, wo du arbeitest“, sagte Raul ausdruckslos.

Polly spürte förmlich die Barriere zwischen ihnen und die spannungsgeladene Atmosphäre. Er hatte sie gefunden. Sie hatte alles getan, um unentdeckt zu bleiben – sie war nach London gezogen, ohne eine Telefonnummer oder eine Kontaktadresse zu hinterlassen, und hatte sogar ihre Freunde belogen. Aber alles war vergeblich gewesen.

Erneut durchzuckte sie ein heftiger Schmerz, und sie kniff die Augen zusammen.

„Was ist?“, erkundigte Raul sich heftig.

„Mir platzt der Schädel“, erwiderte sie benommen und zwang sich, die Augen wieder zu öffnen.

Er betrachtete gerade ihren runden Bauch – fasziniert und bestürzt zugleich.

Und sie betrachtete ihn – sein schwarzes Haar, die dichten, geschwungenen Brauen, die schmale, arrogante Nase, die hohen Wangenknochen und den perfekt geformten, sinnlichen Mund. Er sah so fantastisch aus, dass er stets alle Blicke auf sich zog. Allerdings hätte kaum eine Frau es gewagt, ihn in die Enge zu treiben, denn gleichzeitig strahlte er Härte aus.

Das Baby bewegte sich, und Polly zuckte zusammen.

Daraufhin sah Raul sie fragend an.

„Darf ich?“, fragte er rau.

Erst als sie bemerkte, wie er die Hand ausstreckte, wurde ihr bewusst, was er meinte. Er hatte seine Aufmerksamkeit auf ihren Bauch gerichtet, und der angespannte Zug um seinen Mund war verschwunden.

„Darf ich fühlen, wie mein Kind sich bewegt?“, fügte er hinzu.

Polly warf ihm einen ablehnenden Blick zu und versuchte mit zittrigen Händen, ihren Mantel zuzuziehen. „Fass mich ja nicht an!“

„Vielleicht hast du recht. Vielleicht ist es keine so gute Idee.“ Er rutschte zum Fenster und wirkte jetzt reserviert und eisern beherrscht.

Dennoch erinnerte er sie an ein wildes Tier auf der Flucht. In Vermont hatte er sie nie so angesehen, aber sie hatte immer gespürt, welche Leidenschaft in ihm steckte, und es hatte sie gleichermaßen fasziniert und beängstigt. Äußerlich ganz Weltmann, war er im Grunde seines Wesens alles andere als cool und berechenbar.

„Bring mich nach Hause“, sagte sie angespannt. „Wir können uns morgen treffen, um miteinander zu reden.“

Raul nahm den Hörer ab und sprach auf Spanisch mit seinem Chauffeur. Polly wandte sich ab.

Sie erinnerte sich daran, wie er in Vermont mit Soledad Spanisch gesprochen hatte, und daran, wie nervös und dienstbeflissen diese ihm gegenüber gewirkt hatte. Sie war der Situation, in die er sie gebracht hatte, nicht gewachsen gewesen. Schließlich war sie in seinen Augen nur ein Dienstmädchen gewesen. Raul Zaforteza war kein Mann, der es gewohnt war, auf die Gefühle und Bedürfnisse unbedeutender Mitmenschen Rücksicht zu nehmen, und in Soledads Fall hatte er für diese Überheblichkeit einen höheren Preis bezahlt, als er je ahnen würde.

Als die Limousine sich in Bewegung setzte, kehrte Polly in die Gegenwart zurück und beobachtete Raul, der gerade ein längeres Telefonat auf Spanisch führte. Verstohlen ließ sie den Blick über seine breiten Schultern, die schmale Taille und die muskulösen Beine schweifen.

Ich darf dich nicht anfassen, aber jeder deiner Blicke ist ein visueller Angriff“, bemerkte er scharf, nachdem er das Gespräch beendet hatte. „Ich werde dich zum Frühstück verspeisen, Kleine!“

Ihre Schläfen pochten, und Polly schloss die Augen. So viele Erinnerungen stürmten auf sie ein, dass sie völlig durcheinander war. Raul, zärtlich, lachend, ohne eine Spur von Kälte in den Augen. Und seine Besorgnis galt einzig dem Baby in ihrem Bauch. Sie war für ihn nie etwas anderes gewesen als ein menschlicher Brutkasten, der bei guter Laune und gesund erhalten werden musste.

„Du siehst furchtbar aus“, informierte Raul sie angespannt. „Du hast abgenommen, und dabei warst du sowieso schon schlank …“

„Das kann man mir jetzt wohl nicht mehr vorwerfen.“

„Deine Knöchel sind geschwollen.“

Erschöpft beugte Polly den Kopf zurück. Mittlerweile war es ihr egal, wie sie in seinen Augen aussah. In Vermont hatte sie zehnmal besser ausgesehen, und doch hatte er sich nicht im Entferntesten zu ihr hingezogen gefühlt. Allerdings war es ihr erst im Nachhinein klar geworden. „Du wirst mein Baby nicht bekommen“, warnte sie ihn. „Niemals.“

„Beruhige dich“, wies er sie an. „Wenn du dich aufregst, schadest du dir nur.“

„Meine Gesundheit kommt immer an erster Stelle, nicht?“

„Desde luego … natürlich“, bestätigte er, ohne zu zögern.

Polly zuckte zusammen, weil sie wieder einen stechenden Schmerz verspürte. Sie hörte, wie er ein Fach und anschließend eine Flasche öffnete und etwas in ein Glas goss, und erschrak, als er ihr dann ein kaltes Tuch auf die Stirn presste.

„Ich werde mich jetzt um dich kümmern. Du siehst richtig elend aus“, bemerkte er missbilligend, während er sich über sie beugte. „Ich wollte dich anschreien und dich zum Zittern bringen. Aber wie könnte ich das jetzt noch tun?“

Mühsam öffnete sie die Augen und sah ihn an. In seinen Augen lag ein wütender und frustrierter Ausdruck, der im Widerspruch zu seiner netten Geste stand. Es fiel Raul sehr schwer, nett zu ihr zu sein, das war ihr klar.

„Du hast mich gelehrt zu hassen“, flüsterte sie.

„Das Einzige, was uns verbindet, ist mein Baby. Etwas anderes gibt es nicht“, bekräftigte er. „Wir werden erst miteinander reden, wenn du dich von deinen Gefühlen freimachst und dich auf den Vertrag besinnst.“

Hass flammte in ihr auf. Und genau das brauchte sie, denn der Hass linderte den Schmerz, den Raul ihr zufügte.

„Mistkerl“, brachte sie hervor. „Du verlogener, hinterhältiger Mistkerl …“

Genau in dem Moment stoppte die Limousine. Als der Chauffeur ausstieg, betrachtete Polly verblüfft das hell erleuchtete moderne Gebäude mit dem wunderschön angelegten Grundstück, vor dem er gehalten hatte. „Wo sind wir?“, fragte sie ängstlich.

Eine Schwester in Tracht kam mit einem Rollstuhl aus dem Eingang.

Schweigend stieg Raul aus und ging um dem Wagen herum, um die Tür selbst zu öffnen.

„Du brauchst medizinische Betreuung“, erklärte er.

Entsetzt sah Polly ihn an. Aufgrund ihrer Recherchen in der Bibliothek wusste sie, dass er in dem Ruf stand, besonders rücksichtslos zu sein. „Ich lasse mich nicht von dir in die Klapsmühle sperren!“, rief sie in Panik.

„Deine Fantasie geht mit dir durch, chica. Ich würde der Mutter meines Kindes niemals Schaden zufügen. Und mach ja keine Szene, denn mir geht es nur um deine Gesundheit!“, warnte er sie scharf, während er sich herunterbeugte und sie aus dem Wagen hob.

„Der Rollstuhl, Sir“, verkündete die Schwester.

„Sie ist ganz leicht. Ich trage sie.“ Er ging mit ihr durch die Tür, die sich automatisch öffnete. Die Mutter seines Kindes. Das Stichwort für Rücksichtnahme und Zurückhaltung, überlegte Polly bitter. Schließlich bestand die Gefahr, dass der menschliche Brutkasten versagte. Da sie sich jedoch so elend fühlte, dass ihr alles vor den Augen verschwamm, barg sie den Kopf an Rauls Schulter.

„Ich hasse dich“, murmelte sie dabei.

„Du kannst gar nicht hassen“, tat er ihre Worte ab, während ein grauhaariger, älterer Mann in einem weißen Kittel auf sie zukam.

Raul unterhielt sich auf Spanisch mit ihm, und der Arzt führte sie in ein elegantes Sprechzimmer im Erdgeschoss.

„Warum spricht niemand Englisch? Wir sind doch in London“, beschwerte sich Polly.

„Tut mir leid. Rodney Bevan hat viele Jahre in einer meiner Kliniken in Venezuela gearbeitet. Auf Spanisch kann ich mich besser verständigen.“ Vorsichtig legte Raul sie auf eine Untersuchungsliege.

„Geh weg“, drängte sie ihn.

Doch erst als der Arzt etwas auf Spanisch zu ihm sagte, verließ Raul den Raum und schloss die Tür hinter sich.

„Was haben Sie zu ihm gesagt?“, erkundigte sie sich verblüfft.

Während die Schwester, die ihnen ebenfalls gefolgt war, zu ihr kam, um ihr aus dem Mantel zu helfen, erklärte der Arzt lächelnd: „Sie sind hier der Star, nicht er.“

Die Schwester maß ihren Blutdruck. Polly fragte sich, warum die beiden so ernste Mienen machten.

„Sie müssen sich schonen, Polly“, sagte der Arzt leise. „Ich möchte Ihnen ein leichtes Beruhigungsmittel geben und anschließend eine Ultraschalluntersuchung machen. Sind Sie damit einverstanden?“

„Nein, ich möchte nach Hause“, entgegnete sie ängstlich.

Die Stimmen verstummten, und schließlich riss der Klang von Rauls tiefer Stimme sie aus ihren Gedanken. „Polly, bitte lass die Ärzte tun, was sie tun müssen“, bat er eindringlich.

Polly öffnete die Augen und blickte ihn an. Sie konnte ihn nicht deutlich erkennen. „Ich traue dir nicht … und ihnen auch nicht … Du kennst ihn!“

Trotz ihres Zustands sah sie, dass er blass wurde und seine Miene sich verhärtete. „Du musst ihm vertrauen. Er ist ein hervorragender Gynäkologe …“

„Er ist ein Freund von dir.“

„Sí, pero … ja, aber er ist auch Arzt“, erwiderte er nachdrücklich.

„Ich möchte nicht einschlafen und in Venezuela aufwachen … Glaubst du, ich wüsste nicht, wozu du fähig bist, wenn du wütend bist?“, brachte sie mühsam hervor.

„Ich habe noch nie das Gesetz gebrochen!“

„Du würdest es aber tun, um das Baby zu bekommen.“

Einen Moment lang herrschte spannungsgeladenes Schweigen.

Raul betrachtete sie mit einem unergründlichen Ausdruck in den Augen, doch sie wusste, dass sie ihn getroffen hatte.

„Es geht dir nicht gut, Polly. Wenn du mir schon nicht vertraust, dann denk wenigstens an das Baby“, sagte er mit bebender Stimme.

Polly nickte, mied allerdings seinen Blick. Kurz darauf spürte sie einen Pikser, und dann wurde sie noch müder.

Während Polly sich in einem Zustand angenehmer Schwerelosigkeit befand, schienen die schlimmsten Augenblicke ihres Lebens noch einmal vor ihrem geistigen Auge abzulaufen.

Ihre früheste Erinnerung war, dass ihr Vater ihre Mutter anschrie und diese weinte. Als sie, Polly, sieben Jahre alt war, war sie eines Morgens aufgestanden, und ihre Mutter war nicht mehr da gewesen. Als sie ihrem Vater Fragen stellte, bekam er einen Wutanfall. Kurz darauf brachte er sie bei ihrer Patentante unter, die ihr erzählte, Leah, ihre Mutter, sei mit einem anderen Mann weggelaufen und würde sich nun scheiden lassen. Irgendwann würde sie sie hoffentlich besuchen.

Leah kam jedoch nicht, und sie, Polly, wurde von ihrer Patentante großgezogen. Erst als sie zwanzig war und sie einige Tage nach der Beerdigung ihres Vaters seine Unterlagen sichtete, fand sie die Briefe, die ihre Mutter ihm geschickt hatte.

Leah war nach New York gegangen und hatte ihren Geliebten irgendwann geheiratet. Sie war ein halbes Dutzend Mal nach England geflogen, um sie zu sehen, doch ihr Exmann hatte es unter anderem dadurch verhindert, dass er sie, Polly, in ein Internat gesteckt und ihren Aufenthaltsort geheim gehalten hatte. Sie war entsetzt, aber auch überglücklich angesichts der Tatsache, dass ihre Mutter sie entgegen den Behauptungen ihres Vaters wirklich geliebt hatte.

In New York traf sie ihre Mutter dann wieder. Ihr Mann war im Vorjahr gestorben, und Leah war vorzeitig gealtert, schwer herzkrank und lebte von Sozialhilfe. Von dem behandelnden Arzt hatte sie, Polly, erfahren, dass ihre Mutter noch eine Überlebenschance hatte, wenn sie von einem weltbekannten Spezialisten operiert würde. Allerdings wäre dieser Eingriff sehr kostspielig.

In meinem Leben ist es immer nur auf und ab gegangen, aber meistens habe ich Pech gehabt, dachte Polly.

Und dann war sie Raul begegnet, und zwar bei einem ihrer täglichen Spaziergänge in den Wäldern von Vermont, wo sie Soledads übertriebener Fürsorge entfliehen und in Ruhe um ihre Mutter trauern wollte. Trotz seiner Freizeitkleidung war er so schick gewesen, dass er selbst auf dem Rodeo Drive Aufsehen erregt hätte, und seine Überraschung angesichts der Tatsache, jemanden dort zu treffen, hatte sehr echt gewirkt.

Sie hatte ihm in die Augen gesehen, und sofort war es um sie geschehen gewesen. Als er sie angelächelt hatte, hatte sie naiverweise geglaubt, es würde wieder aufwärtsgehen. Wie hätte sie auch ahnen sollen, dass es noch schlimmer kommen sollte?

Als Polly am nächsten Morgen aufwachte, stellte sie fest, dass sie ein hässliches Krankenhausnachthemd trug und in einem Einzelzimmer mit einem eigenen Bad lag. Ihr Kopf tat nicht mehr weh, aber sie war immer noch völlig erschöpft.

Sie läutete nach der Schwester, die daraufhin einige Routineuntersuchungen durchführte und ihr dabei half, sich ein wenig frisch zu machen. Ihre Fragen beantwortete sie nur ausweichend. Nach einem Blick auf die Werte verordnete sie ihr strikte Bettruhe und teilte ihr mit, dass Dr. Bevan gegen Mittag nach ihr sehen würde.

Einige Stunden später erschien Rauls Chauffeur und brachte ihren Koffer, in den er offenbar ihren ganzen Besitz gepackt hatte. Dann erschien eine Schwesternhelferin, die ihr dabei half, eines von ihren Nachthemden anzuziehen.

Am späten Vormittag saß Polly im Bett und wartete wütend und ungeduldig zugleich auf Raul. Nervös strich sie sich durch das seidige dunkelbraune Haar, das ihr über die Schultern fiel, den zerknitterten braunen Umschlag, den sie aus dem Koffer genommen hatte, in der Hand.

Schließlich wurde die Tür, die nur angelehnt war, weit geöffnet, und Raul erschien auf der Schwelle.

Pollys Herz setzte einen Schlag aus.

Er trug einen sommerlich leichten, hellen Anzug, in dem er atemberaubend attraktiv aussah, und wirkte sehr gelassen und geradezu schockierend selbstsicher. Sofort verspürte Polly ein erregendes Prickeln, dessen sie sich schämte.

Er musterte sie kühl. „Du siehst schon besser aus“, bemerkte er ruhig.

„Ich fühle mich auch besser“, gestand sie. „Aber ich kann nicht hier bleiben …“

„Natürlich kannst du das. Wo würde man sich sonst so gut um dich kümmern?“

„Ich habe hier etwas, das ich dir gern erklären würde“, sagte sie angespannt.

Raul ließ den Blick zu dem Umschlag schweifen. „Was ist das?“

Sie lachte humorlos auf. „Keine Angst, das ist kein Beweis für die Lügen, die man mir aufgetischt hat … Dein Anwalt war viel zu clever, um irgendwelche Originaldokumente zu behalten, aber ich habe Kopien gemacht …“

Er betrachtete sie stirnrunzelnd. „Dios mío, sag mir endlich, worauf du hinauswillst! Man hat dir damals keine Lügen aufgetischt.“

„Es war sehr raffiniert, mir den Eindruck zu vermitteln, dass man mir einen Einblick in streng vertrauliche Informationen gibt.“

„Was soll das heißen?“

Polly warf den Umschlag ans Fußende. „Wie du mir ins Gesicht sehen und behaupten kannst, ich würde es nie erfahren.“

Raul nahm den Umschlag vom Bett.

„Und tu ja nicht so, als hättest du nichts davon gewusst. Als man mich gebeten hat, den Vertrag zu unterschreiben, habe ich gesagt, ich würde es erst tun, wenn man mir einige Zusicherungen macht, was das Ehepaar betrifft, das mich als Leihmutter engagieren will.“

„Das … Ehepaar?“, wiederholte er stirnrunzelnd, während er die gefalteten Seiten aus dem Umschlag nahm.

„Dein Anwalt hat gesagt, es sei nicht möglich, weil seine Klienten anonym bleiben wollen. Deswegen bin ich gegangen. Achtundvierzig Stunden später bekam ich einen Anruf. Ich habe mich mit einem jungen Mann, der sich als Angestellter der Kanzlei ausgegeben hat, in einem Café getroffen.“ Angewidert verzog sie das Gesicht. „Er hat gesagt, er könnte meine Besorgnis verstehen und würde seinen Job riskieren, wenn er mir Einblick in derart vertrauliche Dokumente gewährt …“

„Was für vertrauliche Dokumente?“, warf Raul grimmig ein.

„Er hat mir ein Porträt dieses vermeintlichen Ehepaars von einer anerkannten Adoptionsvermittlung gegeben. Alle persönlichen Daten waren anonymisiert …“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Stimme bebte. „Und ich war sehr bewegt, denn sie hatten schon so lange versucht, ein Kind zu bekommen …“

„Madre mía …“, stieß Raul hervor, während er sie eindringlich ansah.

„Ich habe die beiden wirklich gemocht und Mitgefühl mit ihnen verspürt. Ich dachte, sie würden wundervolle Eltern sein …“ Sie schluchzte auf und blickte ihn unter Tränen an. „Wie konntest du nur so tief sinken?“

Trotz seiner Sonnenbräune war er blass geworden, und regungslos stand er da.

Polly räusperte sich mühsam. „Ich habe den Angestellten gebeten, mir eine Stunde Zeit zu lassen, damit ich die Unterlagen durchlesen kann, und sie dann heimlich kopiert. An dem Nachmittag habe ich den Vertrag unterschrieben. Ich dachte, ich würde dieses Ehepaar glücklich machen. Ich war so naiv!“

Einen Moment lang herrschte spannungsgeladenes Schweigen. Schließlich erwachte Raul aus seiner Starre und faltete die Blätter auseinander. Dann ging er zum Fenster und blieb mit dem Rücken zu ihr dort stehen. Sie spürte, wie angespannt er war.

Müde sank sie in die Kissen zurück und versuchte, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.

Nach einer Weile drehte er sich wieder zu ihr um. Seine Miene war grimmig. „Ich habe damit nichts zu tun“, erklärte er mühsam beherrscht. „Ich wusste nichts davon, dass du mehr Informationen haben wolltest und dich zuerst geweigert hast, den Vertrag zu unterschreiben.“

„Warum soll ich dir überhaupt noch glauben?“

„Weil ich den Schuldigen zur Rechenschaft ziehen werde“, erklärte er wütend. „Ich hatte keinen Grund, dich derart zu manipulieren, denn es gab andere Bewerberinnen, die viel weniger Skrupel hatten …“

„Ach tatsächlich?“ Dass sie nur eine von vielen gewesen war, freute sie nicht gerade.

Raul war schockiert und wütend, so wütend, dass seine Hände zitterten, als er die Kopien wieder zusammenfaltete. Nun zweifelte sie nicht mehr an seiner Aufrichtigkeit.

„Jetzt weiß ich, warum du mir nicht vertraust. Es war also nicht allein meine Entscheidung, mich dir gegenüber nicht als der Vater des Kindes zu erkennen zu geben, die dich zum Vertragsbruch bewogen hat.“

Polly betrachtete ihn mit einem bitteren Ausdruck in den Augen. „Ich hätte mich niemals darauf eingelassen, wenn ich gewusst hätte, dass sich dahinter ein alleinstehender Mann verbirgt. Und als ich herausgefunden habe, wer du bist, war ich entsetzt …“

Er warf ihr einen erschrockenen Blick zu. „Entsetzt? Was für eine Übertreibung …!“

„Das ist keine Übertreibung. Einem Mann mit deinem Ruf würde ich nicht einmal ein Kaninchen anvertrauen, geschweige denn ein unschuldiges, hilfloses Baby!“, rief sie.

Ungläubig sah er sie an. „Was ist mit meinem Ruf?“

„Lies doch die Zeitungsartikel über dich“, sagte sie verächtlich. Er führte weder ein geregeltes noch ein anständiges Leben.

Mühsam beherrscht, atmete er scharf ein. „Woher nimmst du das Recht, über mich zu urteilen? Es tut mir aufrichtig leid, dass man dich manipuliert hat, um dich zur Unterschrift zu bewegen, aber das ändert nichts an der Situation. Das Kind, das du erwartest, ist immer noch meins!“

Polly wandte den Kopf ab. „Und meins.“

„Ein salomonisches Urteil. Willst du damit vorschlagen, dass wir ihn oder sie in zwei gleiche Hälften teilen? Ich werde bis zum bitteren Ende kämpfen, um zu verhindern, dass dieser Schwachkopf, den ich gestern Abend kennengelernt habe, mein Kind großzieht“, fügte er überraschend aggressiv hinzu.

Sie blinzelte verwirrt. „Welcher Schwachkopf?“

„Henry Grey hat mir mitgeteilt, dass du mit ihm verlobt bist. Du glaubst vielleicht, es geht mich nichts an, aber wenn es um das Wohlergehen meines Kindes geht, dann betrifft es auch mich!“

Verblüfft über Henrys Behauptung, beobachtete sie, wie Raul wie ein Tiger im Käfig im Zimmer auf und ab ging, und fragte sich dabei verzweifelt, warum sie sich danach sehnte, ihn in den Armen zu halten und zu trösten.

„Du solltest jetzt gehen, Raul“, ließ sich plötzlich eine Männerstimme vernehmen.

Polly blickte zur Tür, und auch Raul wirbelte herum. Auf der Schwelle stand Rodney Bevan.

„Gehen?“, wiederholte Raul ungläubig.

„Hier sind nur Besucher willkommen, die keinen Wirbel verursachen“, erklärte der Arzt ernst.

Polly, die auf einer Liege lag und ein Baumwollkleid in demselben Blau ihrer Augen trug, drehte das Gesicht zur Sonne und genoss die warmen Strahlen. An einem Sommertag wie diesem war es im Garten der Klinik besonders schön. Selbst Henrys Besuch konnte ihr die Freude daran, wieder im Grünen zu sein, nicht verderben.

Henry warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. „Man sollte meinen, du fühlst dich hier wohl.“

„Es ist so erholsam.“

Erst nach drei Tagen ohne ihn und seine Mutter war ihr bewusst geworden, wie sehr ihr die beiden auf die Nerven gingen. Nun, da Raul sie gefunden hatte, brauchte sie sich nicht mehr zu verstecken, und sobald sie mit ihm im Reinen war, würde sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen.

„Mutter findet, du solltest nach Hause kommen“, erklärte Henry missbilligend.

„Du hast mir immer noch nicht erklärt, warum du Raul erzählt hast, wir seien verlobt.“

„Ich dachte, das wäre klar. Weil ich gehofft hatte, dass er uns dann in Ruhe lässt. Wieso taucht er jetzt plötzlich auf? Er macht alles nur noch komplizierter. Er tut ja gerade so, als würdest du ihm gehören.“

Es war seltsam, dass Rauls besitzergreifendes Verhalten sogar einem derart unsensiblen Mann wie Henry aufgefallen war. Nur war es nicht sie, sondern das Baby, das er zu besitzen glaubte. Es ist wirklich eine verfahrene Situation, dachte sie unglücklich. Das Baby war auch seins und würde es immer bleiben.

„Es war nett von dir, mich zu besuchen, Henry“, sagte Polly leise. „Sag deiner Mutter, ich bin ihr sehr dankbar, aber ich komme nicht zu euch zurück …“

„Wovon redest du?“ Henry war ganz rot im Gesicht geworden.

„Ich will dich nicht heiraten … Es tut mir leid.“

„Ich komme in einigen Tagen wieder, wenn du wieder du selbst bist.“

Als er ging, dachte sie daran, dass sie sich so gut fühlte wie schon lange nicht mehr, weil sie Zeit zum Nachdenken gehabt hatte.

Sie setzte sich langsam auf, und im selben Moment erschien Raul auf der anderen Seite des Gartens. Er blickte sich suchend um, sah sie jedoch nicht, weil sie halb von einigen Büschen verborgen war.

Er trug einen sehr schicken hellgrauen Anzug, und sein Haar schimmerte blauschwarz im Sonnenlicht. Er wirkte so männlich und strahlte so viel Sinnlichkeit aus, dass ihr Herz sofort schneller klopfte.

Dann fragte sie sich, wie sie je hatte glauben können, dass ein so toller Mann wie er sich für sie interessierte. Wenn er eine Frau attraktiv fand, schlief er wahrscheinlich gleich beim ersten Treffen mit ihr, aber bei ihr, Polly, hatte er keinerlei Annäherungsversuche unternommen. Zuerst war sie ihm gegenüber sehr befangen gewesen, doch er hatte sich ihr gegenüber so untadelig verhalten und so viel Interesse gezeigt, dass sie ihre Unsicherheit bald abgelegt hatte.

Sie hatte tatsächlich geglaubt, dass dieser notorische Frauenheld ein anständiger Kerl sei, der eine Frau erst besser kennenlernen wollte, bevor er mit ihr intim wurde. Sie hatte geglaubt, er wäre perfekt. Sie hatte geglaubt, er würde sich zu ihr hingezogen fühlen, weil er sie immer wieder besucht hatte …

Als Raul sie nun entdeckte, senkte Polly beschämt den Kopf.

„Was machst du hier draußen?“, fragte er, als er näherkam. „Ich bringe dich nach oben in dein Zimmer.“

„Ich darf rausgehen, solange ich es nicht übertreibe.“

„Wir gehen rein“, verkündete er. „Hier können wir nicht über vertrauliche Dinge reden.“

Sie schwang die Beine hinunter und stand auf. Im Aufzug konnte sie es nicht vermeiden, ihn anzusehen. Er stand ihr gegenüber, ohne die beiden Schwestern zu beachten, die ihn bewundernd betrachteten, und musterte sie eindringlich.

Eine Frage brannte ihr auf der Seele. Warum engagierte ein umwerfend attraktiver heterosexueller Mann von einunddreißig eine Leihmutter? Warum hatte er nicht einfach geheiratet? Oder warum hatte er nicht einfach eine der unzähligen blonden Püppchen, mit denen er eine Affäre gehabt hatte, überredet, ein Kind von ihm zu bekommen?

Kaum hatte Polly sich in ihrem Zimmer aufs Sofa gesetzt, verzog Raul den Mund und sagte: „Du bist immer noch wütend auf mich wegen Vermont. Wir sollten es aus der Welt schaffen, weil es die Dinge unnötig kompliziert macht.“

Sofort verspannte sie sich. „Natürlich bin ich noch wütend, aber ich sehe keinen Sinn darin, darüber zu reden. Es gehört der Vergangenheit an.“

Er schlenderte zum Fenster und schob eine Hand in die Hosentasche, sodass der Stoff über seinem muskulösen Schenkel spannte. Polly ertappte sich dabei, wie sie geistesabwesend einen Teil der männlichen Anatomie betrachtete, den sie noch nie zuvor betrachtet hatte. Beschämt errötete sie und wandte schnell den Blick ab.

Es ist so seltsam, überlegte sie bitter. Es war seltsam, von einem Mann schwanger zu sein, mit dem sie nie geschlafen hatte, ja, mit dem sie nie in irgendeiner Weise intim gewesen war. Und Raul Zaforteza war ein ausgesprochen maskuliner Mann. Warum, in aller Welt, hatte er sich entschieden, ein Kind im Labor zu zeugen?

„Ehrlich gesagt, wollte ich dich von Anfang an kennenlernen“, erklärte Raul angespannt und riss sie damit aus ihren Gedanken.

„Aber warum?“

„Weil mir klar war, dass mein Kind irgendwann Fragen nach dir stellen wird.“

Sie schauderte, weil seine Beweggründe so prosaisch waren.

„Ich wusste, dass dir der Tod deiner Mutter sehr nahe gegangen ist“, fuhr er ruhig fort. „Du brauchtest moralische Unterstützung … Und wer sonst hätte sie dir geben sollen? Wenn du nicht herausgefunden hättest, dass ich der Vater des Babys bin, wärst du auch nicht so aus der Fassung gewesen. Und findest du nicht, dass es an der Zeit ist, mir zu sagen, woher du es weißt?“

Unwillkürlich stellte sie sich vor, wie er Soledad und die anderen Mitglieder ihrer Familie, die alle auf seiner Ranch in Venezuela arbeiteten, hinauswarf, und schluckte. „Du hast dich verraten. Dein Verhalten … Na ja, ich bin misstrauisch geworden und dann von allein darauf gekommen.“

„Du lügst … Soledad hat es dir erzählt.“ In seine Augen trat ein grimmig-amüsierter Ausdruck, als sie zusammenzuckte. „Ich hätte es mir denken können. Zwei Frauen wochenlang unter einem Dach. Ihr habt euch angefreundet …“

„Sie konnte es nur nicht ertragen, so zu tun, als würde sie dich nicht kennen“, fiel sie ihm ins Wort.

„Mir ist klar, dass ich einen Fehler gemacht habe“, räumte Raul zu ihrer Überraschung ein. „Ich hätte nicht nach Vermont kommen dürfen.“

Ein Fehler? Er war so aalglatt und so beherrscht. Am liebsten hätte sie ihm das Gesicht zerkratzt, um ihn zumindest eine Sekunde lang spüren zu lassen, was sie durchgemacht hatte.

„Und arbeiten Soledad und ihre Familie noch für dich, nun, da du es weißt?“, erkundigte sie sich steif.

Raul lächelte ironisch. „Ihre Familie schon, aber Soledad ist nach Caracas gegangen, um sich um ihre Enkel zu kümmern, während ihre Tochter arbeitet.“

Ein leises Klopfen an der Tür kündigte die Schwesternhelferin an, die den Tee brachte. Ungeachtet der Tatsache, dass Besucher nichts zu essen oder zu trinken bekamen, bat Raul sie, ihm einen Kaffee zu bringen, und sie eilte errötend davon.

Die Kaffeetasse in einer Hand, sank er auf den Sessel gegenüber von Polly. „Fühlst du dich hier wohl?“

„Sehr sogar.“

„Aber offenbar langweilst du dich. Ich werde dir einen Videorekorder und einige Videos und Bücher schicken lassen. Ich hätte eher daran denken sollen.“

„Mein Aufenthalt hier muss dich ein Vermögen kosten, und das gefällt mir nicht“, erklärte sie unvermittelt. „Besonders weil ich mich nicht an den Vertrag halte.“

Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. „Du brauchst etwas Zeit und Ruhe, um darüber nachzudenken. Ich will dich nicht unter Druck setzen …“

„Du setzt mich schon unter Druck, wenn du im selben Raum bist“, erwiderte Polly unbehaglich. „Und dass du meine Rechnungen bezahlst, macht es nur noch schlimmer.“

„Was immer auch passiert, ich bin der Vater deines Babys und daher auch für dich verantwortlich.“

„Ich bin es leid, von anderen ständig zu hören, dass ich nicht weiß, was ich will oder was ich tue.“ Sie hob das Kinn und begegnete seinem Blick. „In den letzten Monaten bin ich erwachsen geworden …“

Raul hob die Hand in einer so selbstverständlichen Geste, dass Polly automatisch verstummte. „Du hast kurz nacheinander innerhalb eines Jahres die drei Menschen verloren, die dir am wichtigsten waren – deinen Vater, deine Mutter und deine Patentante. Das beeinflusst natürlich dein Urteilsvermögen. Ich möchte dir nur eine weitere Möglichkeit aufzeigen.“

Er stellte die Tasse ab und stand geschmeidig wieder auf. Polly beobachtete ihn nervös und befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge.

Als er daraufhin den Blick zu ihrem Mund schweifen ließ, war die Atmosphäre plötzlich äußerst spannungsgeladen. Eine dunkle Röte überzog seine Wangen. Er wandte sich ab und ging zum Fenster, um es weiter zu öffnen.

„Es ist stickig hier drinnen … Wie gesagt, möchte ich dir eine andere Möglichkeit aufzeigen“, fuhr er ausdruckslos fort. „Du willst diesen Trottel Henry Grey doch nicht allen Ernstes heiraten …“

Polly straffte sich. „Woher willst du das wissen?“

Seine Miene verhärtete sich. „Ihm geht es nur ums Geld. Er würde eine Frau, die ein Kind von einem anderen erwartet, keines Blickes würdigen, wenn sie keine Erbin wäre.“

Polly zuckte zusammen. „Du weißt also von dem Testament meiner Patentante …“

„Natürlich. Und die gute Nachricht ist, dass du Henry nicht heiraten musst, um das Geld zu erben und noch einmal von vorn anzufangen. Du bist erst einundzwanzig. Das ganze Leben liegt noch vor dir. Warum willst du dir einen Langweiler wie Henry ans Bein binden? Ich bin bereit, dir die Million zu geben, damit du ihm den Laufpass gibst.“

Entsetzt sah sie ihn an und stand auf. „W…wie bitte?“, fragte sie stockend.

Raul drehte sich wieder zu ihr um. „Du hast mich richtig verstanden. Vergiss das alberne Testament, und vergiss erst einmal auch das Baby … Servier einfach nur diesen Trottel ab.“

Heftiger Zorn flammte in ihr auf, und sie machte einen Schritt auf Raul zu. „Wie kannst du es wagen, mich zu bestechen, damit ich tue, was du willst?“

Er warf ihr einen höhnischen Blick zu. „Caramba! Dir wäre es doch bestimmt lieber, allein zu bleiben und reich zu sein, wenn Henry die einzige Alternative ist, oder?“

Ohne zu zögern, nahm sie den Krug, der auf dem Nachttisch stand, und schüttete ihm das Wasser ins Gesicht. „So, jetzt weißt du, was ich von deinem Angebot halte! Diesmal stehe ich nicht zum Verkauf, und es wird auch nie wieder der Fall sein.“

Klitschnass stand Raul da und sah sie fassungslos an.

„Es tut mir nicht leid“, erklärte sie schroff.

„Por Dios … Ich gehe jetzt lieber, bevor ich noch etwas sage oder tue, was mir hinterher leidtut!“, sagte er mühsam beherrscht. Dann verließ er das Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

3. KAPITEL

Am nächsten Tag wurde gegen Mittag ein Videorekorder mit einer ganzen Sammlung Videos geliefert und in Pollys Zimmer aufgestellt.

An dem Abend saß Polly in Tränen aufgelöst da und sah sich Filme wie Der Sieger, Pretty Woman und Sabrina an. Raul Zaforteza kannte ihren Geschmack viel zu gut und weckte Gefühle in ihr, die ihr bis dahin fremd gewesen waren. Ich hasse ihn, sagte sie sich. Und sie hasste ihn noch mehr, wenn sie spürte, wie sie seiner überwältigenden Anziehungskraft erlag.

Schlimmer noch, Raul verstand sie besser als sie ihn. In Vermont hatte sie sich ihm anvertraut, während er sie lediglich beurteilt hatte. Und warum? Weil sein Kind irgendwann Fragen nach ihr stellen würde.

Polly schauderte, als sie an sein Eingeständnis dachte. Doch wie oft hatte Raul betont, dass der Vertrag das Einzige war, was sie beide miteinander verband? Und warum konnte sie sich damit nicht abfinden?

Raul hatte ihr, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Million Pfund geboten, damit sie Henry fallen ließ und allein blieb. Und warum hatte er das getan? Weil er nicht wollte, dass sie heiratete. Denn wenn sie es tat, würde ein anderer Mann sein Kind großziehen. Also warum hatte sie ihm dann nicht gesagt, dass sie Henry heiraten wollte?

Sie hatte so getan, als wäre sie mit Henry verlobt, um den Eindruck zu vermitteln, dass sie ihr Leben wieder etwas mehr im Griff hatte. Doch Raul kannte das Testament ihrer Patentante, und ihm war klar, dass Henry sie nur des Geldes wegen heiraten wollte. Allmählich fühlte sie sich ihm schutzlos ausgeliefert.

Aber was wusste sie schon über Männer? Es war lächerlich, bald ein Kind zur Welt zu bringen und trotzdem keine Ahnung zu haben. Doch ihr Vater war ein strenger, puritanischer Mann gewesen und hatte es ihr unmöglich gemacht, sich in dieser Hinsicht normal zu entwickeln. Sogar ihre Freundinnen hatte er ständig kritisiert und damit oft verschreckt.

Als Teenager hatte sie für einen Jungen geschwärmt, aber dieser hatte schnell das Interesse verloren, als ihr Vater ihr verbot, mit ihm auszugehen. Als sie später ihr Studium begonnen hatte, das sie nie beendet hatte, musste sie bei ihm wohnen bleiben und ihm den Haushalt führen. Außerdem unterstützte sie ihn bei seiner Gemeindearbeit und auch bei der Büroarbeit, als er mit seinem Schreibwarenhandel rote Zahlen zu schreiben begann.

Gelegentlich ging sie heimlich auf Partys, konnte es allerdings nicht richtig genießen, weil sie ihren Vater deswegen angelogen hatte. Wenn ein Junge dann mit ihr knutschte, ließ sie es geduldig über sich ergehen und fragte sich dabei, warum man so viel Aufhebens darum machte.

An der Universität lernte sie auch jemanden kennen. Genauso wie seine Vorgänger war er nicht bereit, ihren Vater um Erlaubnis zu bitten, mit ihr ausgehen zu dürfen. Zuerst fand er es noch komisch, dass er sie nur tagsüber sehen konnte. Eines Tages nahm er sie mittags mit in seine Wohnung und versuchte, sie ins Bett zu bekommen. Als sie sich weigerte, nannte er sie eine „langweilige kleine Jungfrau“ und tröstete sich bald darauf mit einem anderen Mädchen, das keine Liebe als Gegenleistung für Sex erwartete.

Erst Raul Zaforteza hatte sie gelehrt, was es bedeutete, jemanden körperlich zu begehren …

An diesem Abend konnte Polly nicht einschlafen. Eine Krankenschwester brachte ihr um zehn eine Tasse Tee und eine Zeitschrift.

Wie sonst auch blieb die Tür zu ihrem Zimmer angelehnt, damit die Nachtschwester nach ihr sehen konnte, ohne sie aufzuwecken. Als Polly daher aus den Augenwinkeln sah, wie die Tür weiter geöffnet wurde, wandte sie sich lächelnd um, erstarrte jedoch, als sie statt der Schwester Raul sah.

„Wie bist du hier reingekommen?“, flüsterte sie erschrocken.

Raul lehnte sich gegen die Tür, bis diese ins Schloss fiel. Er trug einen schwarzen Smoking, in dem er sehr elegant aussah. „Ich habe den Pförtner und die Nachtschwester beschwatzt.“

Er kam ans Bett und stellte einen Eisbecher auf die Decke. „Pfefferminz, dein Lieblingseis – ein Friedensangebot“, meinte er lächelnd.

Plötzlich war Polly hellwach. Ihr Herz klopfte schneller, ihr Mund wurde ganz trocken, und das Blut schoss ihr ins Gesicht. Raul nahm den Teelöffel von der Untertasse, die auf dem Nachttisch stand, und legte ihn auf den Eisbecher.

„Iss, bevor es schmilzt“, forderte er sie auf und setzte sich lässig ans Fußende.

Dass er sich noch daran erinnerte, dass Pfefferminz ihre Lieblingseissorte war, und sich so viel Mühe gemacht hatte, verblüffte sie.

Mit zittriger Hand nahm sie den Deckel vom Becher. „Henry hat gelogen“, gestand sie unvermittelt. „Wir sind nicht verlobt. Ich werde ihn nicht heiraten.“

Raul lächelte jungenhaft, und sie betrachtete ihn fasziniert.

„Du könntest es viel besser treffen als mit ihm, cielita“, erwiderte er sanft.

„So schlimm ist Henry gar nicht. Er war ehrlich zu mir und hat nicht einmal so getan, als wäre er in mich verliebt …“

Er lachte leise, und ein Schauer rieselte ihr über den Rücken. „Henry hat keinen Geschmack.“

Einen Moment lang herrschte spannungsgeladenes Schweigen.

Polly rutschte unbehaglich hin und her. „Warum hast du dich entschieden, eine Leihmutter zu engagieren?“, fragte sie. „Ich verstehe das nicht.“

Raul verspannte sich. „Ich wollte ein Kind haben, solange ich noch jung genug bin, um mit ihm spielen zu können …“

„Und du bist nicht der richtigen Frau begegnet?“, hakte sie nach, als er verstummte.

„Ich mag Frauen, aber meine Freiheit ist mir noch wichtiger. Belassen wir es dabei.“

„Es tut mir leid, dass ich den Vertrag unterschrieben habe.“ Gequält sah sie ihn an. „Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee gekommen bin, dass ich es durchziehen könnte … Aber zu dem Zeitpunkt habe ich wahrscheinlich nur an meine Mutter gedacht.“

„Ich hätte niemals dich aussuchen dürfen. Der Psychologe war davon überzeugt, dass dir nicht klar war, wie schwer es sein würde, das Kind wegzugeben. Er meinte, du wärst zu ernst, zu idealistisch …“

Polly runzelte die Stirn. „Und warum habt ihr mich dann ausgewählt?“

Raul zuckte die Schultern. „Ich mochte dich. Ich wollte kein Kind von einer Frau, die mir unsympathisch ist.“

„Ich wünschte, du hättest auf den Psychologen gehört“, erwiderte sie bedauernd.

Er lachte grimmig. „Ich höre nie zu, wenn ich etwas auch nicht hören will. Meine Mitarbeiter wissen das. Deswegen hat man dir auch diese Lügen aufgetischt. Der Mann, mit dem du dich getroffen hast, war ein Anwalt, der noch nicht lange in der Kanzlei tätig war. Erst nachdem du unterschrieben hattest, hat er seinem Boss erzählt, was er getan hat. Er hatte wohl eine Belobigung erwartet, aber man hat ihn gefeuert.“

„Wirklich?“, meinte sie überrascht.

„Sí …“ Er presste die Lippen zusammen. „Aber mein Anwalt hielt es nicht für nötig, mir davon zu erzählen. Er dachte, keiner von uns würde je davon erfahren.“

Den Blick gesenkt, aß Polly das Eis, das köstlich schmeckte. Sie war sich überdeutlich bewusst, dass Raul sie beobachtete. Einerseits fühlte sie sich geschmeichelt, andererseits machte es sie nervös, zumal es draußen im Flur ganz still war.

Dann verspannte sie sich plötzlich und stöhnte auf, als das Baby sich bewegte.

Raul beugte sich vor. „Qué … Was ist?“, fragte er besorgt.

„Das Baby. Nachts ist es immer am lebhaftesten.“ Als sie den fragenden Ausdruck in seinen Augen sah, errötete sie. Spontan zog sie die Bettdecke ein Stück herunter. Obwohl sie ein Baumwollnachthemd trug, war sie sehr befangen.

Er rückte ein Stück näher und legte ihr vorsichtig die Hand auf den Bauch. Als er spürte, wie das Baby sich bewegte, lächelte er strahlend. „Weißt du schon, ob es ein Junge oder Mädchen ist?“

„Ich wollte es nicht wissen“, gestand sie mit bebender Stimme, weil die Berührung sie nervös machte. Andererseits rührte es sie, dass er so fasziniert war. „Ich lasse mich lieber überraschen.“

Langsam zog er die Hand zurück und deckte Polly wieder zu. Seine Hände zitterten leicht, und sie fragte sich, warum. Er war ihr so nahe, dass ihr das Atmen schwer fiel, und sie hoffte, er merkte es nicht. Sie wollte etwas sagen, um von sich abzulenken, doch ihr fiel beim besten Willen nichts ein.

„Du bist manchmal so süß …“, bemerkte er leise.

Hilflos betrachtete sie ihn und ließ den Blick über sein glänzendes schwarzes Haar und seine hohen Wangenknochen bis zu seinen sinnlichen Lippen schweifen. Wie schon so oft zuvor überlegte sie, wie er wohl schmeckte, und erschrak dann über die Richtung, die ihre Gedanken nahmen. Als sie erschrocken aufsah, hielt sein Blick sie gefangen.

„Und unglaublich verlockend“, fügte Raul hinzu, bevor er langsam den Kopf neigte.

Er gab ihr genügend Gelegenheit, sich zurückzuziehen, doch sobald seine Lippen ihre berührten, war es um Polly geschehen. Aufstöhnend schob er die Hand in ihr Haar, während er ein erotisches Spiel mit der Zunge begann.

Heftiges Verlangen flammte in ihr auf und weckte ein ganz neues Körpergefühl in ihr, das die Sehnsucht nach mehr wachrief. Sie schob die Hände in sein Haar und ließ sie dann über seine Wangen gleiten. Nur undeutlich nahm sie das Summen wahr, das irgendwo in der Nähe zu hören war.

Unvermittelt löste Raul sich von ihr, fluchte etwas auf Spanisch und sprang vom Bett. Benommen beobachtete Polly, wie er sein Handy aus der Innentasche seines Smokingjacketts nahm. Es war immer noch so still im Raum, dass sie die hohe Frauenstimme am anderen Ende der Leitung hören konnte.

„Dios … Ich komme gleich runter“, sagte er kurz angebunden, bevor er das Telefon ausschaltete und wieder einsteckte.

„Tut mir leid, aber ich muss jetzt los. Jemand wartet im Wagen auf mich.“ Er presste die Lippen zusammen und strich sich durchs Haar. Den Ausdruck in seinen Augen konnte sie nicht erkennen. „Bis bald. Buenas noches.“

Kaum hatte er das Zimmer verlassen, schlug Polly die Decke zurück und stand auf. Sie eilte zum Fenster, das zur Straße hinaus lag, und zog die Gardine zurück. Draußen stand die Limousine … und davor ging eine attraktive Blondine in einem kurzen roten Kleid auf und ab. Schließlich stellte sie sich neben dem Wagen in Positur.

Polly lief zur Lampe, um sie auszuschalten, und eilte wieder zurück zum Fenster. Raul kam gerade aus dem Gebäude, und die Blondine warf sich ihm in die Arme. Polly wich vom Fenster zurück und lehnte sich an die Wand. Ihr war schwindelig, und sie zitterte am ganzen Körper. Sie ekelte sich vor sich selbst.

Warum hatte sie ihm nicht eine Ohrfeige verpasst? Warum hatte sie zugelassen, dass er sie küsste? Sie fühlte sich unendlich gedemütigt und legte sich deprimiert wieder ins Bett. An diesem Abend war Raul mit seiner neusten Eroberung ausgegangen, und sie konnte nicht fassen, dass er zwischendurch sie besucht hatte, als hätte er alle Zeit der Welt.

Warst du nicht leichte Beute für ihn? höhnte eine innere Stimme. Und er hatte sie, Polly, nicht einmal geküsst, weil er sich zu ihr hingezogen fühlte.

Er hatte gespürt, wie das Baby sich bewegte. Es war eine beunruhigend intime und ergreifende Erfahrung für sie beide gewesen. Zum ersten Mal hatten sie beide etwas gemeinsam erlebt, was das Baby betraf. Und Raul war ein sehr sinnlicher Mann, der sich daher zu dem Kuss hatte hinreißen lassen. Dass es ihm anschließend selbst unangenehm gewesen war, hatte sein überstürzter Abschied bewiesen. Sicher würde so etwas nie wieder passieren.

Doch sie, Polly, hatte sich so lange nach einem Kuss von ihm gesehnt, und dieser hatte all ihre Erwartungen übertroffen. Jetzt verachtete sie sich und schämte sich ihrer heftigen Reaktion darauf. Ich hasse ihn, sagte sie sich. Und dass ich mich zu ihm hingezogen fühle, hat nichts mit Liebe zu tun.

An dem Tag, als sie herausgefunden hatte, wie Raul sie in Vermont hintergangen hatte, hatte sie aufgehört, ihn zu lieben. Trotzdem war sie völlig durcheinander, weil ihre Beziehung zueinander so vielschichtig war. Sie war nicht seine Geliebte, erwartete aber ein Kind von ihm, und sie konnte nicht einmal behaupten, dass sie Freunde waren.

Am nächsten Tag kam ein wunderschöner Blumenstrauß von Raul. Polly bat die Schwesternhelferin, ihn zu verschenken, denn sie wollte nicht ständig an Raul erinnert werden.

Am Nachmittag rief er an. „Wie geht es dir?“, fragte er.

„Ich habe viel um die Ohren“, erwiderte sie schrill. „Muss ich wirklich noch hier bleiben?“

„Rods Ansicht nach ja. Hör zu, nächste Woche muss ich geschäftlich verreisen. Ich wollte dir eine Telefonnummer geben, unter der du mich erreichen kannst, wenn du mich brauchst.“

„Das wird bestimmt nicht der Fall sein. Schließlich werde ich hier gut versorgt.“

„Okay. Ich rufe dich an …“

Polly atmete tief durch. „Mir wäre es lieber, wenn du es nicht tun würdest.“

„Ich halte nichts von solchen Gesprächen am Telefon. Es ist typisch weibliche Kriegsführung“, erklärte Raul grimmig.

„Ich wollte nur etwas Zeit für mich haben“, konterte sie angespannt. „Du bist vielleicht der Vater meines Kindes, aber wir haben keine persönliche Beziehung zueinander.“

„Wir sehen uns, wenn ich aus Paris zurück bin, Polly.“

Auch nachdem Raul aufgelegt hatte, umklammerte Polly krampfhaft den Hörer. Sie wollte Raul nicht sehen, und sie wollte nicht von ihm hören. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, doch das hatte nichts mit ihm zu tun. Während der Schwangerschaft waren Frauen oft überempfindlich.

Am Ende der nächsten Woche kam Raul wieder. Es war Vormittag, und Polly hatte gerade ein weites rotes Jerseykleid mit V-Ausschnitt und kurzen Ärmeln angezogen, als es an der Tür klopfte. Sie verließ das Bad, die Bürste in der Hand, denn sie war noch dabei, sich zu kämmen.

Bei seinem Anblick setzte ihr Herz einen Schlag aus. Raul trug einen marineblauen Nadelstreifenanzug, der perfekt saß und seinen muskulösen Körper daher besonders gut zur Geltung brachte. Er wirkte geradezu überwältigend attraktiv und dynamisch. Ihr schien es, als hätte sie ihn eine Ewigkeit nicht gesehen, und sie musste sich zwingen, nicht auf ihn zuzugehen.

Schließlich kam er auf sie zu und nahm ihr lässig die Bürste aus der Hand. Dann umfasste er ihre Schultern, drehte sie um und kämmte vorsichtig ihr verklettetes Haar, bevor er ihr die Bürste wieder reichte. „Ich möchte mich für mein Verhalten neulich entschuldigen“, erklärte er.

Polly verspannte sich und errötete. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen“, erwiderte sie betont locker. „Es war doch nur ein Kuss.“

Im Badezimmerspiegel sah sie, dass seine dunklen Augen aufleuchteten und er ein wenig den Mund verzog. „Bueno. Hast du Lust, heute mit mir zu Mittag zu essen?“

Überrascht drehte sie sich zu ihm um. „Gern.“ Sie konnte es kaum erwarten, die Klinik endlich einmal zu verlassen.

Im Foyer kam ihnen Janice Grey entgegen.

„Oh, wolltest du mich besuchen?“, fragte Polly bestürzt. „Wir wollten gerade essen gehen.“

„Das überrascht mich.“ Janice zog eine Braue hoch. „Ich dachte, du solltest dich hier ausruhen.“

„Ich sorge dafür, dass sie sich nicht überanstrengt, Mrs. Grey“, sagte Raul und lächelte höflich. „Bei der Gelegenheit möchte ich Ihnen gleich dafür danken, dass Sie Polly so unterstützt haben.“

Janice lächelte schwach und wandte sich dann an Polly. „Henry hat mir erzählt, dass du nicht zu uns zurückkommst.“ Sie warf Raul einen unverhohlen feindseligen Blick zu. „Höre ich etwa Hochzeitsglocken läuten?“

Polly wurde erst blass und dann rot. Einen Moment lang herrschte spannungsgeladenes Schweigen.

„Polly wird Sie sicher auf dem Laufenden halten, Mrs. Grey“, kam Raul ihr zu Hilfe.

„Ich bin froh, dass du ihr nicht von unserer Vereinbarung erzählt hast“, bemerkte er, als er ihr wenige Minuten später in die Limousine half. „Aber warum hast du so unbehaglich gewirkt?“

Sie dachte an jene verrückten Wochen in Vermont, als ihre Fantasie mit ihr durchgegangen war und sie sich ausgemalt hatte, Raul zu heiraten. Nun wollte sie nicht mehr daran erinnert werden. Fieberhaft suchte sie nach einer Ausrede.

„Janice war sehr nett zu mir … aber sie hätte mich nie bei sich aufgenommen, wenn sie nicht von dem Erbe gewusst hätte. Sie konnte nicht verstehen, warum ich Henry nicht heiraten wollte, um Anspruch auf das Geld erheben zu können.“

„Jetzt brauchst du dich nicht mehr zu entscheiden. Du bist sowieso noch zu jung für die Ehe, gatita.“

Einen Moment lang herrschte beklommenes Schweigen. Polly war sehr angespannt und wünschte bereits, sie hätte seine Einladung nicht angenommen. Sicher wollte Raul sich beim Essen mit ihr über die Zukunft des Babys unterhalten. Diesmal würde sie versuchen, so ruhig und sachlich wie möglich zu bleiben.

„Ich bin sehr nervös“, gestand sie dennoch. „Kannst du mir nicht einfach sagen, ob du mich nach der Geburt verklagen willst oder nicht?“

Raul verzog den Mund. „Schön wär’s. Ich finde es zwar ungerecht, aber in diesem Land habe ich als Vater deines Kindes keine Rechte.“

„Wirklich?“ Verblüfft sah sie ihn an. „Aber was ist mit dem Vertrag?“

„Vergiss den Vertrag. Glaubst du allen Ernstes, ich würde eine so private Angelegenheit vor Gericht austragen?“

„Daran habe ich überhaupt nicht gedacht.“ Sie war unendlich erleichtert. „Ich hatte nur Albträume, dass man mich an die USA ausweist.“

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „In einer Situation wie dieser sind drastische Maßnahmen nicht angebracht.“

Glaubte er, sie überreden zu können? In der Hinsicht brauchte er sich keine Hoffnungen zu machen, denn sie war entschlossen, ihr Baby zu behalten. Allerdings verspürte sie zunehmend Schuldgefühle, weil es ihm gegenüber nicht fair war. Also mussten sie einen Kompromiss finden.

Nur wie sollte dieser Kompromiss aussehen? Raul hatte sich entschieden, eine Leihmutter zu engagieren, weil er ein Kind, aber keine Partnerin wollte. Doch egal, was jetzt passierte, er würde niemals das alleinige Sorgerecht für sein eigenes Kind bekommen.

Kurz darauf trafen sie in seinem Apartment im Londoner Stadtteil Mayfair ein, und Polly fühlte sich angesichts der luxuriösen Einrichtung befangen. Ein Diener servierte ihnen das Essen, das köstlich schmeckte, und Raul berichtete von seiner Geschäftsreise nach Paris. Er war ein sehr guter Erzähler, doch sie musste ständig daran denken, wie er sie in Vermont mit seinem gesellschaftlichen Schliff getäuscht hatte.

Inzwischen kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, dass er im Grunde sehr distanziert war und nicht über persönliche Dinge sprach. Er hatte ihr lediglich erzählt, dass er keine nahen Verwandten mehr hatte, dass er Geschäftsmann und viel auf Reisen war und dass er in Venezuela geboren worden war.

Raul betrachtete sie mit einem unergründlichen Ausdruck in den Augen. „Ich habe den Eindruck, dass du mit deinen Gedanken ganz woanders bist.“

„Vielleicht bin ich müde“, erwiderte Polly unbehaglich.

Sofort schob er seinen Stuhl zurück und stand auf. „Dann solltest du dich eine Weile in einem der Gästezimmer hinlegen.“

„Nein … wir müssen miteinander reden“, sagte sie angespannt. „Ich möchte es hinter mich bringen.“

Sie stand ebenfalls auf und setzte sich in einen Sessel. Der Diener servierte ihnen Kaffee. Raul ging nervös zum Fenster und blickte sie dann an. „Mach nicht so ein ängstliches Gesicht. Ich komme mir sonst vor wie ein Tyrann.“

Polly umfasste ihre Tasse mit beiden Händen. „Das bist du nicht. Du bist sehr geduldig und verständnisvoll.“

Er machte eine beredte Geste. „Ich weiß vielleicht eine Lösung. Bitte hör mir zu.“

Sie verspannte sich.

„Als du schwanger geworden bist, hast du nicht damit gerechnet, irgendwann einmal die Verantwortung für das Kind zu übernehmen“, erklärte er.

Polly nickte langsam.

„Ich glaube, du bist zu jung, um ein Kind allein zu erziehen. Soviel ich weiß, hast du eine persönliche Beziehung zu dem Baby entwickelt und machst dir Sorgen um seine Zukunft. Aber wenn du es behalten willst, gibst du die Freiheit auf, die für die meisten Frauen in deinem Alter selbstverständlich ist.“

Sie warf ihm einen trotzigen Blick zu. „Das weiß ich. Aber was ich nicht kenne, werde ich wohl kaum vermissen …“

„Aber du könntest diese Freiheit jetzt haben. Du solltest dein Studium wieder aufnehmen“, sagte Raul ruhig. „Wenn ich das Kind mit nach Venezuela nehmen darf, kannst du es regelmäßig besuchen, und ich werde dich über seine Entwicklung auf dem Laufenden halten. Es soll wissen, dass du seine Mutter bist, aber in erster Linie werde ich für es sorgen.“

Dass er so kompromissbereit war, verblüffte sie. Er bot ihr an, bis zu einem gewissen Grad gemeinsam für das Kind da zu sein, und das war wesentlich mehr, als sie erwartet hatte.

„Ich glaube, jedes Kind braucht eine Mutter und einen Vater“, erwiderte sie verlegen.

„Das ist unmöglich.“

„Ich wurde von meinem Vater großgezogen, und es verging kein Tag, an dem ich mich nicht nach meiner Mutter gesehnt habe.“

„Vielleicht wird es ja ein Junge.“

„Ich glaube nicht, dass es einen Unterschied macht. Ich muss für mein Kind da sein und mein Bestes tun, um ihm eine gute Mutter zu sein.“ Es fiel ihr sehr schwer, ihre Gefühle in Worte zu fassen. „Und du hast recht, ich hätte mir vorher darüber klar sein müssen. Ich kann es nur damit erklären, dass ich mir nicht einmal annähernd vorstellen konnte, was eine Schwangerschaft für mich bedeuten würde.“

Raul warf den Kopf zurück und blickte sie eindringlich an. „Wenn du wirklich meinst, was du sagst, dann musst du mit nach Venezuela kommen.“

„Nach Venezuela?“, wiederholte Polly entgeistert.

„Ich werde dir dort ein Haus einrichten.“

Sie blinzelte verwirrt. „Ich könnte niemals …“

„Por Dios … Frag dich mal, ob du fair bist. Wenn das Kind seine Mutter braucht, dann braucht es auch seinen Vater. Und es wird alles erben, was ich besitze“, erinnerte er sie ebenso stolz wie ungeduldig.

„Geld ist nicht alles, Raul …“

„Ich rede von einem Lebensstil, den du dir nicht einmal im Entferntesten vorstellen kannst“, konterte er trocken, woraufhin sie errötete. „Denk doch praktisch, Polly. Mein Kind muss sein venezolanisches Erbe, die Sprache, Land und Leute, kennenlernen. Ich habe nicht die Zeit, so oft nach England zu kommen, um eine Beziehung zu meinem Kind aufzubauen.“

Polly versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, in Venezuela zu leben: Raul finanzierte ihren Lebensunterhalt, kam und ging, wann es im passte, während er eine blonde Freundin nach der anderen hatte. Und irgendwann würde er heiraten, davon war sie überzeugt. Sie würde immer eine Außenseiterin sein, weder Familie noch Freunde haben, und alle würden glauben, sie wäre eine ehemalige Geliebte. Niemals würde sie in der Lage sein, ein solches Leben zu führen.

„Raul … Ich möchte mit meinem Kind in England bleiben. Ich möchte nicht in Venezuela leben, wo du mich auf Schritt und Tritt überwachst. Du hast das Recht, an der Entwicklung deines Kindes teilzuhaben … aber anscheinend vergisst du, dass es dabei auch um meine Zukunft geht. Irgendwann wirst du heiraten und noch mehr Kinder bekommen …“

Raul atmete scharf aus. „Lieber würde ich sterben als heiraten!“

„Aber ich werde bestimmt nicht allein bleiben“, gestand sie.

„Das ist Erpressung, Polly!“ Vor Zorn war er blass geworden, und seine Augen blitzten. „Ich will nicht, dass irgendein anderer Mann mein Kind großzieht.“

Nun wurde sie auch wütend. Glaubte er wirklich, er könnte von ihr verlangen, dass sie in den nächsten zwanzig Jahren wie eine Nonne lebte?

Polly straffte sich und stand auf. „Du bist so unglaublich egoistisch!“, warf sie ihm vor.

Sichtlich verblüfft, kam er auf sie zu. „Ich fasse nicht, dass du es wagst, mir das an den Kopf zu werfen …“

„Wie du selbst gesagt hast, bist du es gewohnt, von den Leuten nur das zu hören, was du hören willst“, konterte sie. „Ich gehöre jedenfalls nicht dazu.“

„Ich wollte dir gegenüber fair sein …“

„Und was bringst du für Opfer?“, rief sie, bebend vor Zorn. „Du bist ein Playboy und genießt deine Freiheit, stimmt’s?“

„Warum nicht?“, erwiderte er ungerührt. „Schließlich schwöre ich den Frauen keine ewige Liebe oder mache irgendwelche Versprechungen …“

„Weil du es nie musstest, nicht? Wenn ich dich so reden höre, verachte ich die Frauen, obwohl ich selbst eine bin. Aber am meisten verachte ich dich, Raul.“ Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten. „Mit deiner Doppelmoral bist du nicht besser als ein Neandertaler! Du willst dieses Kind, aber dein Kinderwunsch ist nicht so stark, dass du bereit bist, wie andere Männer auch eine Verpflichtung einzugehen. Und was bietest du mir an?“

„Die einzigen beiden Lösungen, die es gibt. Und ich werde mich nicht bei dir entschuldigen, denn du willst den Tatsachen nicht ins Auge blicken“, sagte Raul scharf.

„Das nennst du ‚Tatsachen‘? Was habe ich denn für eine Wahl? Entweder muss ich mein Kind fast völlig aufgeben oder wie eine Nonne in Venezuela leben.“

Er warf ihr einen grimmig-amüsierten Blick zu. „Willst du lieber mit jedem schlafen?“

„Das habe ich nicht gemeint, und das weißt du genau!“

„Aber du würdest ohne diese albernen Dinge wie idealistische Liebe und ewige Treue auch nicht das Bett mit mir teilen, stimmt’s, querida?“, fragte er leise, woraufhin sie förmlich erstarrte. „Du siehst, wir haben beide ganz unterschiedliche Vorstellungen.“

Polly wurde aschfahl. „Ich will nicht das Bett mit dir teilen.“

„Oh doch, das willst du. Das Verlangen war von Anfang an da.“

Entsetzt wich sie zurück. „Nein …“

„Ich habe die Situation nicht ausgenutzt, weil mir klar war, dass du hinterher nur weinen würdest.“

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