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KATE UND HENRY - Die ganze Geschichte

hier erhältlich:

DAS GÖTTLICHE MÄDCHEN

Du kannst das Leben deiner Mutter verlängern - wenn du als Wintermädchen bestehst!

Sie sind nach Eden gekommen, weil es der Wunsch ihrer sterbenskranken Mutter ist. Hier lernt Kate den attraktiven und stillen Henry kennen. Seit der ersten Begegnung fühlt sie sich auf unerklärliche Weise zu ihm hingezogen. Er sieht so gut aus und scheint gleichzeitig so … unendlich traurig sein.
Bald erfährt Kate, warum: Er ist Hades, der Gott der Unterwelt! Und er macht ihr ein unglaubliches Angebot: Er wird ihrer Mutter helfen, wenn Kate sieben Prüfungen besteht und sein geliebtes Wintermädchen wird. Aber ob ihre Seele für ein Winterleben stark genug ist? Bisher haben alle ihr Scheitern mit dem Tod bezahlt.

DIE UNSTERBLICHE BRAUT

Die Götter haben ihren Prinzen entführt. Nur wenn es Kate gelingt, Henrys Vergangenheit und Zukunft zu vereinen, kann sie ihn retten - und sich selbst.Endlich hat Kate die Unsterblichkeit erlangt und steht kurz davor, zur Königin der Unterwelt gekrönt zu werden. Aber sie fühlt sich isoliert wie nie zuvor. Denn je größer ihre Liebe zu Henry wird, dem Herrscher dieser Welt, desto distanzierter gibt er sich. Da wird Henry mitten in der feierlichen Krönungszeremonie vom König der Titanen entführt. Nur Kate kann ihn aus den tiefsten Höhlen des Tartarus befreien. Doch um ihren Weg durch das Labyrinth zu finden, braucht sie die Hilfe ihrer größten Feindin: Persephone, Henrys erste Frau!

DER PREIS DER EWIGKEIT

Neun Monate dauerte Kates Gefangenschaft. Neun Monate, in denen sie eine eifersüchtige Göttin, einen rachsüchtigen Titanen und eine ungeplante Schwangerschaft überlebt hat. Jetzt will die Königin der Götter ihr Kind - und Kate kann nichts dagegen tun. Da bietet ihr Götterkönig Kronos einen Handel an: Wenn sie ihm Ergebenheit schwört, wird er die Menschheit verschonen und ihr das Kind lassen. Doch ihr geliebter Henry, ihre Mutter und der Rest des Rats müssen sterben. Sollte Kate sich hingegen weigern, will Kronos auf der Erde wüten, bis alles Leben ausgelöscht ist.Das Schicksal aller, die sie liebt, liegt in ihren Händen. Kate muss einen Weg finden, das mächtigste Wesen des Universums zu besiegen, selbst wenn es sie alles kostet. Selbst wenn es sie die Ewigkeit kostet.


  • Erscheinungstag: 28.12.2015
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1008
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765279
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Aimée Carter

KATE UND HENRY - Die ganze Geschichte

IMPRESSUM

books2read ist ein Imprint der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg, info@books2read.de

 

 

Copyright © 2011 by Aimée Carter
Originaltitel: “The Goddess Test”
Erschienen bei: Harlequin TEEN, Toronto
Published in Arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.ár.l

Deutsche Erstausgabe Copyright © 2012 bei MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH
Übersetzung: Freya Gehrke

Copyright © 2015 by books2read in der
HarperCollins Germany GmbH Deutschland, Hamburg

 

Demian / Depositphotos, DavidMSchrader, VBaleha, Justdd / Thinkstock
Umschlaggestaltung: Deborah Kuschel

Veröffentlicht im ePub Format im 10/2015

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733785253

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
books2read Publikationen dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

www.books2read.de

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PROLOG

„Wie ist es diesmal passiert?“

Beim Klang ihrer Stimme versteifte sich Henry. Er riss den Blick lang genug von dem leblosen Körper auf dem Bett los, um sie anzusehen. Diana stand an der Tür. Sie war seine beste Freundin, seine Vertraute, seine Familie – in jeder Hinsicht, außer dass sie nicht blutsverwandt waren. Doch nicht einmal ihre Gegenwart half ihm, Ruhe zu bewahren.

„Ertrunken“, sagte Henry, während sein Blick wieder auf die Leiche fiel. „Ich habe sie heute Morgen gefunden, sie trieb im Fluss.“

Er hörte nicht, wie Diana sich bewegte, doch im nächsten Moment spürte er ihre Hand auf der Schulter. „Und wir wissen immer noch nicht …?“

„Nein.“ Sein Ton war schärfer als beabsichtigt, und er zwang sich, ruhiger zu sprechen. „Keine Zeugen, keine Fußspuren, kein irgendwie gearteter Hinweis darauf, dass sie nicht einfach in den Fluss gesprungen ist, weil sie es so wollte.“

„Vielleicht wollte sie es ja“, erwiderte Diana. „Vielleicht hat sie Panik bekommen. Vielleicht war es auch ein Unfall.“

„Ja, oder sie wurde ermordet.“ Ruckartig löste er sich von ihr, ging auf und ab, versuchte, den größtmöglichen Abstand zwischen sich und die Leiche zu bringen. „Elf Mädchen in achtzig Jahren. Versuch nicht, mir zu erzählen, das hier wäre ein Unfall gewesen.“

Diana seufzte und strich mit den Fingerspitzen über die bleiche Wange des Mädchens. „Mit dieser hier waren wir so dicht dran, nicht wahr?“

„Bethany“, fuhr Henry sie an. „Ihr Name war Bethany, und sie war dreiundzwanzig Jahre alt. Meinetwegen wird sie niemals vierundzwanzig werden.“

„Wäre sie die eine gewesen, wäre sie es ebenso wenig geworden.“

Henry schäumte vor Wut, doch als er Diana ansah und das Mitgefühl in ihrem Blick erkannte, verging sein Zorn. „Sie hätte es schaffen sollen“, stieß er hervor. „Sie hätte leben sollen. Ich dachte …“

„Das dachten wir alle.“

Henry sank auf einen Stuhl, und sofort war sie an seiner Seite, strich ihm mütterlich über den Rücken, so wie er es von ihr erwartete. Verzweifelt fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar, die Schultern gebeugt von der vertrauten Last des Kummers. Wie viel sollte er noch ertragen, bevor sie ihn endlich gehen ließen?

„Es ist immer noch Zeit.“ Dianas hoffnungsvoller Ton versetzte ihm einen tiefen Stich, schmerzhafter als alles andere, was an diesem Morgen geschehen war. „Wir haben noch Jahrzehnte …“

„Ich bin fertig.“

Seine Worte schienen durch den Raum zu hallen, während sie neben ihm erstarrte. In den Sekunden, die sie brauchte, um etwas darauf zu erwidern, dachte er daran, es zurückzunehmen. Zu versprechen, dass er es noch einmal versuchen würde. Doch er konnte nicht. Zu viele waren schon gestorben.

„Henry, bitte“, flüsterte sie. „Es bleiben noch zwanzig Jahre. Du kannst nicht aufgeben.“

„Es wird keinen Unterschied machen.“

Sie kniete sich vor ihn hin und zog ihm die Hände vom Gesicht fort. Zwang ihn, sie anzusehen. Ihre Furcht zu sehen. „Du hast mir ein Jahrhundert versprochen, und du wirst mir ein Jahrhundert geben, hast du verstanden?“

„Ich werde nicht zulassen, dass noch ein Mädchen meinetwegen stirbt.“

„Und ich werde dich nicht vergehen lassen, nicht so. Nicht wenn ich dazu irgendwas zu sagen habe.“

Verbittert blickte er sie an. „Und was willst du tun? Noch ein Mädchen finden, das dazu bereit ist? Jedes Jahr eine neue Kandidatin aufs Anwesen bringen, bis eine besteht? Bis es eine über Weihnachten hinaus schafft?“

„Wenn es sein muss, ja.“ Entschlossen sah sie ihn an. „Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit.“

Genervt wandte er den Blick ab. „Ich habe schon Nein gesagt. Darüber werden wir nicht weiter diskutieren.“

„Und ich werde dich nicht kampflos ziehen lassen“, sagte sie. „Niemand könnte dich je ersetzen, ganz egal, was der Rat dazu sagt – und ich liebe dich viel zu sehr, als dass ich dich einfach so aufgeben lassen würde. Ich habe keine andere Wahl.“

„Das würdest du nicht tun.“

Sie schwieg.

Wütend sprang er auf, sodass der Stuhl umkippte, und riss sich los. „Das würdest du einem Kind antun? Es auf die Welt bringen, nur um es dem hier auszusetzen?“ Angewidert deutete er auf die Leiche, die noch immer auf dem Bett lag. „Das würdest du tun?“

„Wenn ich dich damit retten kann, ja.“

„Sie könnte sterben. Ist dir das klar?“

Diana erhob sich ebenfalls, und ihre Augen funkelten, als sie ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. „Mir ist vor allem eins klar: Wenn sie es nicht schafft, werde ich dich verlieren.“

Verzweifelt um Selbstbeherrschung bemüht, wandte Henry sich von ihr ab. „Das ist kein großes Opfer.“

Diana ergriff ihn beim Arm und drehte ihn wieder zu sich um. „Lass das“, stieß sie wütend hervor. „Wag es ja nicht, aufzugeben.“

Er blinzelte, aufgerüttelt durch ihren eindringlichen Ton. Als er den Mund öffnete, um etwas zu entgegnen, erklärte sie: „Sie wird eine Wahl haben, das weißt du genauso gut wie ich. Aber egal, was passiert, sie wird nicht so enden, das verspreche ich dir.“ Lächelnd wies sie auf das leblose Mädchen. „Sie wird jung sein, aber keine Närrin.“

Diesmal brauchte Henry einen Moment, um nachzudenken, was er darauf erwidern sollte. Er wusste, dass er sich an eine trü-gerische Hoffnung klammerte. „Der Rat würde es niemals gestatten.“

„Ich habe bereits gefragt. Da die Frist noch nicht abgelaufen ist, haben sie mir die Erlaubnis gegeben.“

Verärgert biss er die Zähne aufeinander. „Du hast sie gefragt, ohne vorher mit mir zu sprechen?“

„Ja. Weil ich wusste, was du sagen würdest“, erwiderte sie. „Ich kann dich nicht verlieren. Wir können dich nicht verlieren. Wir sind alles, was wir haben, und ohne dich … Bitte, Henry. Lass es mich versuchen.“

Geschlagen schloss Henry die Augen. Jetzt hatte er keine Wahl mehr. Nicht wenn der Rat zugestimmt hatte. Er versuchte sich vorzustellen, wie das Mädchen aussehen mochte, doch jedes Mal, wenn sich ein Bild zu formen schien, schob sich ein anderes Gesicht davor.

„Ich könnte sie nicht lieben.“

„Das müsstest du auch nicht.“ Diana drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Aber ich denke, du wirst es doch tun.“

„Was macht dich da so sicher?“

„Ich kenne dich – und ich weiß um die Fehler, die ich damals gemacht habe. Ich werde sie nicht wiederholen.“

Er seufzte, während seine Entschlossenheit unter ihrem bittenden und doch unbeugsamen Blick immer mehr ins Wanken geriet. Es waren nur zwanzig Jahre, so lange würde er es noch schaffen. Vor allem wenn das bedeutete, ihr nicht noch mehr wehzutun, als er es bereits getan hatte. Und dieses Mal, dachte er mit einem weiteren Blick auf die Tote, werde auch ich meine Fehler nicht wiederholen.

„Ich werde dich vermissen, solange du fort bist“, sagte er, und sie seufzte vor Erleichterung auf. „Aber sie wird die Letzte sein. Wenn sie versagt, war es das für mich, und zwar endgültig.“

„Okay“, erwiderte sie und drückte ihm die Hand. „Danke, Henry.“

Stumm nickte er, und sie ließ ihn los. Auf dem Weg zur Tür blickte sie ebenfalls noch einmal zum Bett, und Henry schwor sich, dass das hier nie wieder passieren würde. Was auch immer geschah – dieses Mädchen würde leben.

„Es ist nicht deine Schuld“, brach es aus ihm heraus, bevor er sich bremsen konnte. „Was passiert ist … Ich habe es gestattet. Dich trifft keine Schuld.“

Kurz hielt sie inne und warf ihm ein trauriges Lächeln zu. „Doch.“

Bevor er noch etwas erwidern konnte, war sie fort.

1. KAPITEL

EDEN

Meinen achtzehnten Geburtstag habe ich im Auto auf dem Weg von New York City nach Eden, Michigan, verbracht – damit meine Mutter in der Stadt sterben konnte, in der sie zur Welt gekommen war. Neunhundertvierundfünfzig Meilen Asphalt, immer in dem Wissen, dass jedes Schild, an dem wir vorbeikamen, mich dem näher brachte, was ohne Zweifel der schlimmste Tag meines Lebens werden würde.

Als Geburtstags-Zeitvertreib absolut nicht empfehlenswert.

Ich fuhr die gesamte Strecke. Meiner Mutter ging es zu schlecht, als dass sie lange hätte wach bleiben können – geschweige denn fahren –, aber es machte mir nichts aus. Wir brauchten zwei Tage und eine Stunde für die Reise. Als wir endlich die Brücke zur Oberen Halbinsel überquerten, sah meine Mom furchtbar erschöpft und steif aus, weil sie so lange im Auto gesessen hatte. Beinah wünschte ich mir, nie wieder eine freie Landstraße vor mir zu sehen, aber dazu wäre es noch zu früh gewesen.

Eine Stunde später wurde sie plötzlich lebhafter. „Kate, fahr hier ab!“

Ich warf ihr einen skeptischen Blick zu, setzte aber den Blinker. „Wir müssen erst in drei Meilen vom Freeway runter.“

„Ich weiß. Ich will, dass du dir etwas anschaust.“

Stumm seufzend tat ich, worum sie mich gebeten hatte. In Wahrheit blieb ihr nur noch wenig Zeit, und die Chancen, dass meine Mom später noch einmal würde herkommen können, waren mehr als schlecht.

Überall standen Kiefern, riesenhaft ragten sie über uns auf. Ich entdeckte keine Schilder, nicht einmal Meilensteine, nichts als Bäume und die armselige Schotterpiste, auf der wir unterwegs waren. Nach fünf Meilen begann ich mir Sorgen zu machen. „Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?“

„Natürlich bin ich mir sicher.“ Sie hatte die Stirn ans Fenster gelehnt und sprach so leise, dass ich sie kaum verstand. „Nur noch ein, zwei Meilen.“

„Bis wohin?“

„Wirst schon sehen.“

Eine Meile weiter begann die Hecke. So hoch und dicht, dass unmöglich zu erkennen war, was dahinter lag, erstreckte sie sich am linken Straßenrand. Fast zwei Meilen mussten wir daran entlanggefahren sein, bevor die Hecke im rechten Winkel abknickte und etwas wie eine Grenze zu bilden schien. Die ganze Zeit über starrte Mom gedankenversunken aus dem Fenster.

„Das war’s?“ Ich hatte nicht bitter klingen wollen, aber Mom schien es nicht zu bemerken.

„Natürlich nicht – bieg hier links ab, Liebes.“

Ich tat wie mir geheißen und fuhr um die Kurve. „Sieht wirklich nett aus“, sagte ich vorsichtig und sorgfältig darauf bedacht, meine Mutter nicht aufzuregen, „aber es ist bloß eine Hecke. Sollten wir nicht lieber das Haus suchen und …“

„Da!“ Ihre freudige Erregung traf mich unvorbereitet. „Gleich da vorne!“

Als ich den Hals reckte, sah ich, was sie meinte. Mitten in der Hecke war ein schmiedeeisernes schwarzes Tor. Und je näher wir kamen, desto größer schien es zu werden. Es lag nicht bloß an mir – das Tor war monströs. Es war nicht da, um schön auszusehen. Es war dazu da, jeden vor Ehrfurcht erzittern zu lassen, der auch nur daran dachte, es zu öffnen.

Direkt davor hielt ich und versuchte durch die Stäbe einen besseren Blick auf das Grundstück zu erhaschen. Doch alles, was ich sah, waren nur noch mehr Bäume. Weiter hinten schien das Land abzufallen, aber egal, wie ich mir den Hals verrenkte – ich konnte nicht sehen, was dahinter lag.

„Ist es nicht wunderschön?“ Mom klang versonnen, fast entspannt, und für einen Moment war sie wieder ganz die Alte. Ich spürte, wie sie nach meiner Hand griff, und drückte ihre, so fest ich es wagte. „Das ist der Eingang zu Eden Manor.“

„Sieht … groß aus“, entgegnete ich mit so viel Enthusiasmus, wie ich aufbringen konnte. Besonders erfolgreich war ich nicht. „Warst du jemals da drin?“

Es war eine unschuldige Frage. Aber als ich Moms Blick auffing, hatte ich das Gefühl, die Antwort darauf sei offensichtlich – dabei hatte sie diesen Ort mir gegenüber nie erwähnt.

Eine Sekunde später blinzelte sie, und der Ausdruck verschwand von ihrem Gesicht. „Schon sehr lange nicht mehr“, erwiderte sie tonlos, und ich biss mir auf die Lippe und bereute, was auch immer ich getan hatte, um den Zauber für sie zu zerstören. „Tut mir leid, Kate, ich wollte es nur sehen. Wir sollten weiterfahren.“

Sie ließ meine Hand los. Plötzlich war mir unangenehm bewusst, wie kühl die Luft war. Und als ich aufs Gaspedal trat, griff ich wieder nach Moms Hand. Ich wollte noch nicht loslassen. Sie sagte nichts. Als ich zu ihr hinübersah, hatte sie den Kopf wieder ans Seitenfenster gelehnt.

Eine halbe Meile weiter passierte es. Im einen Moment war die Straße noch frei, im nächsten stand eine Kuh mitten darauf, keine fünf Meter vor uns, und versperrte uns den Weg.

Erschrocken trat ich auf die Bremse und riss das Lenkrad herum. Das Auto schleuderte und machte eine Dreihundertsechziggraddrehung, die meinen Körper wie eine Stoffpuppe gegen die Tür warf. Ich knallte mit dem Kopf ans Fenster, während ich darum kämpfte, den Wagen unter Kontrolle zu bringen, aber es war zwecklos. Genauso gut hätte ich versuchen können, ihn zum Fliegen zu animieren.

Schließlich kamen wir schlitternd zum Stehen – wie durch ein Wunder und ohne in die Bäume zu krachen. Mein Puls raste, und ich rang nach Atem, um mich zu beruhigen. „Mom?“, fragte ich panisch.

Leicht benommen schüttelte sie neben mir den Kopf. „Mir geht’s gut. Was ist passiert?“

„Da steht eine …“ Ich hielt inne, als ich den Blick wieder auf die Straße richtete. Die Kuh war weg.

Verwirrt blickte ich in den Rückspiegel und sah hinter uns eine Gestalt mitten auf der Straße stehen. Es war ein dunkelhaariger Junge ungefähr in meinem Alter, er trug einen schwarzen Mantel, der leicht im Wind flatterte.

Stirnrunzelnd drehte ich mich auf dem Fahrersitz um, um einen besseren Blick auf ihn werfen zu können.

Er war verschwunden. Hatte ich mir das alles nur eingebildet? Als ich mich wieder umwandte, zuckte ich zusammen und rieb mir den schmerzenden Kopf. Das jedenfalls war keine Einbildung.

„Nichts“, sagte ich zittrig. „Ich sitz wohl schon zu lange hinterm Steuer, das ist alles. Tut mir leid.“

Vorsichtig fuhr ich wieder an, warf einen letzten Blick in den Rückspiegel und sah nur die Hecke und eine leere Straße. Mit links griff ich fest ans Lenkrad und suchte mit der anderen Hand erneut die meiner Mutter, während ich mich vergeblich bemühte, den Anblick des Jungen zu vergessen, der sich in mein Gehirn eingebrannt hatte.

In meinem Schlafzimmer tropfte es von der Decke. Zwar hatte der Makler, der uns das Haus unbesehen verkauft hatte, tausend Eide geschworen, dass alles in Ordnung sei, aber ganz offensichtlich hatte der Mistkerl gelogen.

Nach unserer Ankunft packte ich nur aus, was wir für die Nacht brauchen würden – einschließlich eines Topfs, um das Wasser, das unaufhörlich von der Decke tropfte, aufzufangen. Wir hatten nicht viel mitgebracht, nur was irgendwie ins Auto gepasst hatte. Und ich hatte schon im Voraus eine Garnitur Secondhandmöbel ins Haus liefern lassen.

Selbst wenn meine Mutter nicht im Sterben gelegen hätte – ich war sicher, dass ich hier todunglücklich sein würde. Die nächsten Nachbarn wohnten eine Meile von uns entfernt, alles roch nach Natur und in der Kleinstadt Eden gab es nicht mal einen Pizzaservice.

Nein, es Kleinstadt zu nennen war noch milde ausgedrückt. Eden war noch nicht mal auf der Landkarte verzeichnet. Die Hauptstraße war keine halbe Meile lang, und jedes Geschäft schien entweder Antiquitäten oder Lebensmittel zu verkaufen. Kein einziger Klamottenladen – jedenfalls keiner, der jemals Sachen verkaufen würde, die man auch tragen konnte. Es gab nicht mal McDonald’s, Pizza Hut oder Taco Bell – nichts. Nur ein angestaubtes Imbissrestaurant und einen Tante-Emma-Laden, in dem die Bonbons noch aus dem Glas verkauft wurden.

„Gefällt’s dir?“

Mom saß im Schaukelstuhl neben ihrem Bett, den Kopf auf ihr Lieblingskissen gebettet. Das gute Stück war schon so mitgenommen, dass ich nicht einmal mehr wusste, welche Farbe es ursprünglich gehabt hatte. Aber der Stuhl hatte vier Jahre voller Krankenhausaufenthalte und Chemotherapien überstanden. Entgegen jeder Prognose – genau wie Mom.

„Das Haus? Klar“, log ich, während ich ein Laken auf ihre Matratze zog. „Es ist … niedlich.“

Sie lächelte, und ich spürte ihren Blick auf mir ruhen. „Du gewöhnst dich schon noch dran. Vielleicht gefällt es dir später sogar so gut, dass du bleibst, wenn ich nicht mehr da bin.“

Ich presste die Lippen aufeinander und weigerte mich, darauf einzugehen. Es war eine unausgesprochene Regel, dass wir nie darüber sprachen, was passieren würde, nachdem sie gestorben war.

„Kate“, sagte sie sanft, und der Schaukelstuhl knarzte, als sie aufstand. Sofort blickte ich auf, bereit, augenblicklich zu reagieren, falls sie fiel. „Irgendwann müssen wir darüber reden.“

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich sie weiter, während ich das Laken glatt strich und einen dicken Quilt über das Bett breitete. Anschließend griff ich nach den Kissen.

„Nicht jetzt.“ Ich schlug die Decke auf und trat einen Schritt zur Seite, damit sie ins Bett krabbeln konnte. Ihre Bewegungen waren langsam und qualvoll, und ich wandte den Blick ab. Ich wollte nicht sehen, wie sie litt. „Noch nicht.“

Als sie bequem lag, sah sie zu mir auf, die Augen gerötet und müde. „Bald“, sagte sie leise. „Bitte.“

Ich schluckte, antwortete jedoch nicht. Ein Leben ohne sie war für mich unvorstellbar. Und je weniger ich versuchte, daran zu denken, desto besser.

„Morgen früh kommt die Tagesschwester.“ Behutsam küsste ich sie auf die Stirn. „Ich sorge dafür, dass sie alles hat und Bescheid weiß, bevor ich zur Schule fahre.“

„Warum bleibst du heute Nacht nicht hier?“, fragte sie und klopfte auf den leeren Platz neben sich. „Leiste mir Gesellschaft.“

Ich zögerte. „Du brauchst deinen Schlaf.“

Liebevoll strich sie mir mit den kalten Fingerspitzen über die Wange. „Wenn du neben mir liegst, schlafe ich besser.“

Die Versuchung, mich an sie zu kuscheln wie früher, war zu groß. Vor allem jetzt, da ich mich jedes Mal, wenn ich sie verließ, fragen musste, ob es das letzte Mal war, dass ich sie lebend sah. In dieser Nacht würde ich mir das ersparen. „Okay.“

Ich krabbelte neben sie ins Bett und sah nach, ob sie auch gut zugedeckt war, bevor ich mir ein Stück der Decke über die Beine zog. Als ich sicher war, dass sie es warm hatte, umarmte ich Mom und sog ihren vertrauten Duft in mich auf. Selbst nach Jahren stetig wiederkehrender Krankenhausbesuche roch sie immer noch nach Äpfeln und Freesien. Sie gab mir einen Kuss auf den Scheitel, und ich schloss die Augen, bevor mir die Tränen kamen.

„Ich hab dich lieb“, murmelte ich. So gern hätte ich sie fest gedrückt, doch ich wusste, ihr Körper hielt das nicht aus.

„Ich liebe dich auch, Kate“, sagte sie leise. „Morgen früh bin ich genau hier, versprochen.“

Sosehr ich mir das auch wünschte, so wusste ich doch – das war ein Versprechen, das sie nicht mehr lange würde halten können.

In dieser Nacht waren meine Albträume unerbittlich, voll von Kühen mit roten Augen, Flüssen aus Blut und Wasser, das um mich herum stieg, bis ich keuchend aufwachte. Ich schob die Decke weg und wischte mir die feuchte Stirn, besorgt, ich könnte meine Mutter geweckt haben, doch sie schlief immer noch.

Trotz der unruhigen Nacht konnte ich am nächsten Tag nicht zu Hause bleiben. Es war mein erster Tag an der Eden High – einem Backsteinbau, der eher einer großen Scheune als einer Schule ähnelte. Aber es gab auch kaum genug Schüler, dass sich die Mühe gelohnt hätte, überhaupt eine Schule zu bauen – geschweige denn, sie am Laufen zu halten. Mich hier anzumelden war die Idee meiner Mutter gewesen. Nachdem ich mein letztes Schuljahr ausgelassen hatte, um sie zu pflegen, war sie fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass ich meinen Abschluss machte.

Zwei Minuten nach dem Klingeln fuhr ich auf den Parkplatz. Am Morgen war es Mom schlechter gegangen. Und ich traute der Krankenschwester, einer rundlichen, mütterlichen Frau namens Sofia, nicht zu, sich ausreichend um sie zu kümmern. Nicht, dass an ihr irgendetwas bedrohlich gewirkt hätte. Aber ich hatte den größten Teil der vergangenen vier Jahre damit verbracht, für meine Mutter zu sorgen, und wenn es nach mir ging, konnte das niemand so gut wie ich. Fast hätte ich geschwänzt, um bei ihr zu bleiben. Doch meine Mutter hatte darauf bestanden, dass ich hinging. Jetzt war ich zu spät dran.

Wenigstens war ich nicht allein auf meinem Spießrutenlauf über den Parkplatz. Auf halbem Weg zum Eingang bemerkte ich einen Jungen, der hinter mir ging. Er sah nicht alt genug aus, um fahren zu dürfen, und das weißblonde Haar stand fast so sehr ab wie seine übergroßen Ohren. Nach seinem fröhlichen Gesichtsausdruck zu schließen, kümmerte ihn überhaupt nicht, dass er zu spät war.

Er beeilte sich, vor mir zur Eingangstür zu kommen, und zu meiner großen Überraschung hielt er sie mir auf. In meiner alten Schule hatte es nicht einen Kerl gegeben, der so was gemacht hätte.

„Nach Ihnen, Mademoiselle.“

Mademoiselle? Ich starrte zu Boden, damit ich ihm keinen schiefen Blick zuwarf. Nicht nötig, gleich am ersten Tag unhöf-lich zu sein.

„Danke“, murmelte ich, ging hinein und legte einen Schritt zu. Allerdings war er größer als ich, deshalb hatte er mich in null Komma nichts eingeholt. Zu meinem Entsetzen passte er sich meinem Tempo an, statt einfach an mir vorbeizugehen.

„Kenn ich dich?“

Oh Gott. Erwartete er darauf eine Antwort? Glücklicher-weise sah es nicht danach aus, denn er ließ mir keine Zeit, etwas zu erwidern.

„Ich kenn dich nicht.“

Direkt vor dem Sekretariat drehte er sich um und versperrte mir den Weg. Erwartungsvoll sah er mich an und streckte mir die Hand entgegen. „Ich bin James.“

Endlich sah ich sein Gesicht richtig. Er wirkte immer noch jungenhaft, aber vielleicht war er doch älter, als ich zunächst geglaubt hatte. Seine Züge waren kantiger, reifer, als ich erwartet hatte.

„James McDuffy. Wag es zu lachen, und ich bin gezwungen, dich auf ewig zu hassen.“

Da ich keinen anderen Ausweg sah, zwang ich mich zu einem kleinen Lächeln und ergriff seine Hand. „Kate Winters.“

Er starrte mich etwas länger an, als notwendig gewesen wäre, ein dümmliches Grinsen im Gesicht. Als die Sekunden verstrichen, trat ich unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und räusperte mich schließlich. „Äh – könntest du vielleicht …?“

„Was? Oh.“ James ließ meine Hand los und öffnete die Tür. Wieder hielt er sie mir auf. „Nach Ihnen, Kate Winters.“

Ich ging hinein und zog meine Umhängetasche an mich. Hinter dem Tresen im Büro saß eine von Kopf bis Fuß in Blau gekleidete Frau mit seidigem rotbraunen Haar, für das ich meinen rechten Fuß hergegeben hätte.

„Hi, ich bin …“

„… Kate Winters“, unterbrach James mich, der nun neben mir stand. „Ich kenn sie nicht.“

Irgendwie schaffte es die Sekretärin, gleichzeitig zu seufzen und zu lachen. „Was ist es denn diesmal, James?“

„Ich hatte ’nen Platten.“ Er grinste. „Hab den Reifen selbst gewechselt.“

Sie kritzelte etwas auf einen rosa Block, riss das Blatt ab und gab es James. „Du kommst zu Fuß.“

„Tatsächlich?“ Sein Grinsen wurde noch breiter. „Ach Irene, wenn Sie weiter so an mir zweifeln, fang ich noch irgendwann an zu denken, Sie mögen mich nicht mehr. Morgen zur selben Zeit?“

Sie lachte in sich hinein, und endlich ging James. Ich weigerte mich, seinen Abgang zu verfolgen, und starrte stattdessen auf einen Zettel, der auf den Tresen geklebt war. Anscheinend war in drei Wochen Klassenfototag.

„Katherine Winters“, sagte die Frau – Irene –, sobald die Tür ins Schloss gefallen war. „Wir haben auf dich gewartet.“

Geschäftig blätterte sie durch eine Akte, während ich verlegen dastand und wünschte, es gäbe etwas zu sagen. Ich war keine große Rednerin, aber eine Unterhaltung konnte ich schon am Laufen halten, zumindest manchmal. „Sie haben einen schönen Namen.“

Aufmerksam zog sie die perfekt gezupften Augenbrauen hoch. „Habe ich? Freut mich, dass du das findest. Ich mag ihn selbst auch ganz gern. Ah, da ist er ja.“ Sie nahm ein Blatt Papier aus der Mappe und überreichte es mir. „Dein Stundenplan, samt Gebäu-deübersicht. Sollte alles nicht schwer zu finden sein – die Korridore sind farblich markiert. Und wenn du dich doch mal verläufst, frag einfach jemanden. Hier beißt keiner.“

Ich nickte, während ich sah, was als Erstes auf dem Plan stand. Mathe – Thema: Analysis. Na super!

„Danke.“

„Jederzeit, Liebes.“

Ich wandte mich zum Gehen, doch als meine Hand auf dem Türknauf lag, räusperte sich Irene.

„Katherine? Ich … ich wollte nur sagen, wie leid es mir tut. Das mit deiner Mutter, meine ich. Ich kannte sie schon vor sehr langer Zeit, und … na ja. Es tut mir furchtbar leid.“

Ich schloss die Augen. Jeder wusste es. Ich hatte keine Ahnung, woher, aber sie wussten es. Meine Mutter hatte erzählt, dass ihre Familie schon seit Generationen in Eden gelebt hatte. Wie dumm von mir zu glauben, ich könnte hier unbemerkt aufkreuzen.

Mühsam blinzelte ich die Tränen zurück, öffnete die Tür und floh mit gesenktem Kopf aus dem Sekretariat – in der Hoffnung, dass James nicht noch mal versuchen würde, ein Gespräch anzufangen.

Als ich um die Ecke bog, lief ich geradewegs gegen eine Wand. So fühlte es sich zumindest an. Ich prallte zurück und fiel hin, der Inhalt meiner Tasche verteilte sich über den gesamten Korridor. Mit brennenden Wangen und fast wie ein Käfer auf dem Rücken versuchte ich hektisch, meine Sachen zusammenzuraffen, wäh-rend ich eine Entschuldigung murmelte.

„Alles in Ordnung?“

Ich sah hoch. Die menschliche Wand starrte auf mich herunter, und ich sah mich einem Mitglied des Footballteams der Schule gegenüber, unschwer an der Mannschaftsjacke zu erkennen. Offensichtlich waren James und ich heute nicht die einzigen Zuspätkommer.

„Ich bin Dylan.“ Er ging neben mir in die Knie, hielt mir eine Hand hin und half mir auf.

„Kate.“

Als er mir meine Schreibhefte reichte, riss ich sie ihm förmlich aus der Hand und stopfte sie zurück in die Tasche. Zwei Bücher und fünf Mappen später klopfte ich mir die Hose ab. Das war der Moment, in dem ich feststellte, dass er süß war. Nicht bloß für Eden, sondern auch nach New Yorker Standards. Und trotzdem sah er mich auf eine Weise an, die in mir den Wunsch weckte, so wenig wie möglich mit ihm zu tun zu haben.

Bevor ich mich aus dem Staub machen konnte, trat eine hüb-sche Blondine an seine Seite und musterte mich von oben bis unten. Sie mochte lächeln, aber so wie sie sich an ihn lehnte und sich an seinen Arm krallte, hätte sie ihm genauso gut ans Bein pinkeln können. Dylan war ganz offensichtlich besetztes Gebiet.

„Wer ist deine Bekannte, Dylan?“, fragte sie, während ihr Griff um seinen Arm noch fester wurde.

Ausdruckslos sah er sie an, und es dauerte einen Moment, bis er den Arm um sie legte. „Äh, Kate. Sie ist neu.“

Das falsche Lächeln wurde breiter, und die Blondine streckte die Hand aus. „Kate! Ich bin Ava. Ich hab schon so viel von dir gehört. Mein Vater ist Immobilienmakler, er hat mir alles über dich und deine Mom erzählt.“

Jetzt hatte ich wenigstens einen Schuldigen für das Leck in meiner Zimmerdecke. „Hi, Ava“, sagte ich, biss in den sauren Apfel und nahm ihre Hand. „Schön, dich kennenzulernen.“

Die Art, wie sie mich ansah, schrie mir förmlich entgegen, dass sie nichts lieber täte, als mich irgendwo tief im Wald zu begraben. Lebendig. „Ich freu mich auch, dich kennenzulernen.“

„Was hast du in der Ersten?“, fragte Dylan, während er sich fast den Hals verdrehte, um auf meinen Stundenplan zu sehen. „Mathe. Ich … wir können dir den Weg zeigen, wenn du willst.“

Ich öffnete den Mund, um zu protestieren – es gab wirklich keinen Grund, das Schicksal weiter auf die Probe zu stellen, indem ich in Avas Anwesenheit noch länger mit Dylan redete. Doch bevor ich ein Wort sagen konnte, nahm er mich beim Ellbogen und marschierte mit mir den Korridor hinunter. Ich sah zu Ava und wollte mich dafür entschuldigen, dass ich ihr den Freund entführte. Aber als ich die flammende Röte auf ihren Wangen und ihren angespannten Kiefer sah, blieben mir die Worte im Hals stecken.

Vielleicht würde meine Mutter mich doch noch überleben.

2. KAPITEL

AVA

Ich war nicht besonders hübsch. Ich wünschte, ich wär’s gewesen, aber ich war einfach bloß ich. Ich hatte nie gemodelt, mir hatten nie irgendwelche Typen hinterhergesabbert und neben den genetisch gesegneten Kindern reicher Eltern war ich in meiner alten Schule immer ein wenig verblasst.

Weshalb ich mir ums Verrecken nicht erklären konnte, warum Dylan mich immer noch anstarrte.

Er beobachtete mich ständig – während des Geschichts- und Chemieunterrichts und sogar in der Cafeteria. Die Nase in ein Buch gesteckt, aß ich allein am Ende eines leeren Tischs. Ich wollte mir gar nicht erst die Mühe machen, Freunde zu finden. Lange würde ich sowieso nicht hier sein, also hätte es wenig Sinn gehabt. Sobald das Ganze hier vorbei wäre, würde ich nach New York zurückkehren und versuchen, das wieder aufzunehmen, was von meinem früheren Leben noch übrig war.

Davon abgesehen war ich es gewohnt, in der Schule allein zu essen. Zu Hause hatte ich auch nicht viele Freunde gehabt, denn meine Mutter war gleich in meinem ersten Jahr an der Highschool krank geworden. Meine Freizeit hatte ich fast ununterbrochen an ihrem Krankenhausbett verbracht, während sie ein ums andere Mal Chemotherapie und Bestrahlung über sich hatte ergehen lassen. Da war nicht viel Zeit geblieben für Pyjamapartys, Dates und Unternehmungen mit Leuten, die nicht im Ansatz verstehen konnten, was wir beide durchmachten.

„Ist hier noch frei?“

Aufgeschreckt sah ich hoch und erwartete schon, Dylan vor mir zu sehen. Stattdessen traf mein Blick den von James, der mit einem Tablett voller Pommes vor mir stand. Er hatte überpropor-tionierte Kopfhörer auf den Ohren und grinste fröhlich vor sich hin. Ich wusste nicht, ob ich entsetzt oder erleichtert sein sollte.

Schweigend schüttelte ich den Kopf, aber das spielte sowieso keine Rolle, da er sich bereits gesetzt hatte. Ich starrte in mein Buch und tat mein Bestes, ihn nicht anzusehen. Vielleicht würde er dann wieder gehen. Doch die Buchstaben verschwammen mir vor den Augen, und ich las denselben Satz viermal hintereinander. Ich war mir James’ Anwesenheit viel zu sehr bewusst, als dass ich mich hätte konzentrieren können.

„Wenn man’s genau nimmt, sitzt du auf meinem Platz“, sagte er beiläufig. Mit einem Griff in seine Tasche zauberte er eine Ketchupflasche hervor, und mir fielen fast die Augen aus dem Kopf, als ich den Versuch aufgab, so zu tun, als würde ich lesen. Wer schleppte denn bitte eine Flasche Ketchup durch die Gegend?

Er musste meinen entgeisterten Blick bemerkt haben, denn als er das Zeug großzügig über seine Pommes verteilte, schob er das Tablett ein Stück zu mir herüber. „Auch welche?“

Ich schüttelte den Kopf. Mein Lunchpaket bestand aus einem Apfel und einem Sandwich. Aber seit James am Tisch saß, hatte ich ein flaues Gefühl im Magen. Nicht, dass ich ihn für keinen netten Typen gehalten hätte – ich wollte einfach nur meine Ruhe haben. Um nicht mit ihm reden zu müssen, biss ich in den Apfel und ließ mir Zeit beim Kauen. James stürzte sich auf seine Pommes, und für ein paar Sekunden wagte ich zu hoffen, das Gespräch sei beendet.

„Dylan starrt dich an“, sagte er. Und bevor ich schlucken und ihm klarmachen konnte, dass ich nichts mit Dylan zu tun haben wollte, deutete James mit dem Kinn auf etwas hinter mir. „Dein Typ wird verlangt.“

Ich runzelte die Stirn und wandte mich um, aber Dylan saß immer noch am anderen Ende der Cafeteria. Trotzdem brauchte ich nicht lange, um zu erkennen, was James meinte. Ava kam direkt auf uns zu.

„Toll“, murmelte ich und ließ den Apfel auf eine Serviette fallen. War es ernsthaft zu viel verlangt, unbehelligt durchs Abschlussjahr zu kommen? Und wenn das wirklich so unmöglich war, konnte ich nicht wenigstens einen Tag haben, um mich einzugewöhnen, bevor das Drama seinen Lauf nahm?

„Kate?“ Avas glockenhelle Stimme war unverkennbar.

Stumm seufzend zwang ich mich, mich zu ihr umzudrehen, und rang mir ein unschuldiges Lächeln ab. „Oh, hi – Ava, richtig?“

Ihre Mundwinkel zuckten. Ich hätte wetten können, dass noch niemand ein zweites Mal nach ihrem Namen gefragt hatte.

„Genau!“, entgegnete sie, die Stimme voll falscher Begeisterung. „Wie schön, dass du dich erinnerst. Also, was ich fragen wollte – hast du morgen Abend schon was vor?“

Außer Bettpfannen zu schrubben, das Bett meiner Mutter neu zu beziehen und ihre Medikamente für die nächste Woche zusammenzustellen? „Ich hab ein paar Dinge zu erledigen. Wieso?“

Sie stieß einen abfälligen Laut aus, bevor ihr wieder einfiel, dass sie versuchte, das nette Mädchen von nebenan zu geben. „Wir machen ein Lagerfeuer im Wald – quasi wie eine Schulparty, nur dass es nicht … na ja, du weißt schon … von der Schule aus ist.“ Sie kicherte und strich sich eine der blonden Locken hinters Ohr. „Jedenfalls wollte ich fragen, ob du mitkommen willst. Ich dachte, das ist vielleicht ’ne nette Art, alle kennenzulernen.“ Über die Schulter warf sie einen Blick zu einem langen Tisch, an dem offensichtlich die Sportler saßen, und grinste. „Zufällig weiß ich, dass einige von denen dich ziemlich dringend treffen wollen.“

War es das, worum es hier ging? Wollte sie mich verkuppeln, damit Dylan die Finger von mir ließ? „Ich geh nicht mit Jungs aus.“

Ava klappte die Kinnlade herunter. „Im Ernst?“

„Im Ernst.“

„Warum nicht?“

Ich zuckte mit den Schultern und blickte hinüber zu James. Der schien fest entschlossen zu sein, Ava nicht anzusehen, wäh-rend er kunstvoll ein Tipi aus Pommes baute. Von ihm hatte ich keine Hilfe zu erwarten.

„Hör zu“, sagte Ava und gab die Schauspielerei auf. „Es ist bloß eine Party. Wenn dich erst mal alle kennengelernt haben, hören sie auch auf, dich anzustarren. Ist doch keine Staatsaffäre. Nur eine Stunde oder so, und du hast deine Ruhe. Ich helf dir sogar mit dem Make-up, deiner Frisur und dem ganzen Kram – du kannst dir eins von meinen Kleidern ausleihen, wenn du reinpasst.“

War ihr überhaupt klar, dass sie mich gerade beleidigt hatte? Ich versuchte abzulehnen, aber sie ließ mich nicht zu Wort kommen.

„Bitte“, sagte sie aufrichtig. „Zwing mich nicht, zu betteln. Ich weiß, dass das wahrscheinlich nicht an das rankommt, was du aus New York gewohnt bist, aber es wird toll! Versprochen.“

Kritisch sah ich sie an, während sie mir einen hilflosen, bittenden Blick zuwarf. Mit einem Nein würde sie sich nicht zufriedengeben. „Okay, meinetwegen.“ Ich gab mich geschlagen. „Ich bleibe eine Stunde. Aber ich brauche weder dein Make-up noch deine Kleider, und danach lässt du mich in Ruhe, okay?“

Ihr Lächeln war zurück, und diesmal wirkte es sogar echt. „Abgemacht. Ich bin um sieben bei dir.“

Nachdem ich ihr meine Adresse auf eine Serviette gekritzelt hatte, schlenderte Ava zurück zu ihrem Tisch. Mit ihrem sünd-haften Hüftschwung zog sie dabei die Blicke wirklich jedes Typen im Raum auf sich. Wütend starrte ich James an, der immer noch hochkonzentriert seine dämliche Hütte baute. „Du bist ja ’ne tolle Hilfe.“

„Sah aus, als hättest du’s im Griff.“

„Ja, super. Danke, dass du mich den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hast.“ Ich griff über den Tisch und nahm mir Pommes von seinem Teller. Dabei achtete ich darauf, die Stützen seines Bauwerks zu erwischen. Prompt stürzte es ein, aber James schien es nicht zu kümmern. Stattdessen warf er sich ebenfalls Pommes in den Mund und kaute nachdenklich.

„Tja“, murmelte er, nachdem er geschluckt hatte. „Sieht aus, als hättest du jetzt offiziell ein Date mit dem Teufel.“

Ich stöhnte.

Als ich nach der letzten Stunde zu meinem Auto ging, holte James mich ein. Aus den Kopfhörern um seinen Hals dröhnte Musik, aber wenigstens hielt er die Klappe. Ich war immer noch sauer, weil er mir nicht geholfen hatte. Deshalb wartete ich, bis wir am Wagen waren, bevor ich ihn zur Kenntnis nahm.

„Hab ich was verloren?“, fragte ich, da mir nichts Besseres einfiel, um mich noch klarer auszudrücken. Ich wollte nicht mit ihm reden.

„Was? Nein, natürlich nicht. Wenn’s so wäre, würd ich’s dir zurückgeben.“ Seine Verwirrung irritierte mich. Verstand er mich wirklich nicht?

Den Schlüssel bereits im Schloss, wartete ich ab und fragte mich, wie lange das wohl noch dauern würde. War es nur am Anfang so, oder musste ich diese Aufmerksamkeit ertragen, bis mein Status als spannendes neues Spielzeug verblasst war? Den gesamten Tag lang war ich angestarrt worden, aber außer James, Dylan und Ava hatte mich niemand angesprochen. Das über-raschte mich nicht. Hier kannten sich alle von Kindesbeinen an. Die Cliquen hatten sie wahrscheinlich schon seit der Vorschule gebildet. Für mich war hier kein Platz, das war mir klar. Und es war vollkommen in Ordnung für mich.

„Ich geh nicht mit Jungs aus.“

Die Worte waren mir rausgerutscht. Doch jetzt, nachdem ich es gesagt hatte, musste ich weitermachen.

„Das hab ich nicht mal zu Hause in New York gemacht. Ich … ich tu’s einfach nicht. Das ist nichts Persönliches. Ich will mich hier nicht rausreden. Aber ich mein das ernst – ich geh nicht mit Jungs aus.“

Statt enttäuscht oder gar niedergeschmettert zu Boden zu blicken, starrte James mich aus großen blauen Augen ausdruckslos an. Während die Sekunden verstrichen, spürte ich, dass meine Wangen warm wurden. Offensichtlich war ein Date mit mir das Letzte gewesen, was er im Sinn gehabt hatte.

„Ich find dich hübsch.“

Ich blinzelte. Vielleicht hatte ich mich doch nicht geirrt.

„Aber du bist auf einer Skala von eins bis zehn mindestens eine Acht – und ich eine Vier. Wir dürfen gar nicht miteinander ausgehen. Das würde gegen alle Regeln der Gesellschaft verstoßen.“

Mit kritischem Blick versuchte ich herauszufinden, ob er das ernst meinte. Er sah nicht aus, als würde er Witze machen. Au-ßerdem starrte er mich wieder so an – als würde er tatsächlich auf eine Antwort warten.

„Eine Acht?“, platzte ich heraus. Etwas anderes fiel mir nicht ein.

„Vielleicht sogar eine Neun, wenn du dich schminkst. Aber ich mag Achten. Achten lassen sich ihr Aussehen nicht zu Kopf steigen. Anders als Neunen. Und eine Zehn hat keine Ahnung, wie sie es jemals anstellen sollte, was anderes als eine Zehn zu sein – wie Ava.“

Er meinte es ernst. Ich drehte den Schlüssel im Türschloss und wünschte, ich hätte ein Handy. Dann hätte ich so tun können, als würde mich jemand anrufen. „Äh, ja … Danke.“

„Keine Ursache.“ Für einen Moment hielt er inne. „Kate? Kann ich dich was fragen?“

Ich biss mir auf die Unterlippe, um mich davon abzuhalten, ihn darauf hinzuweisen, dass er das gerade getan hatte. „Klar, schieß los!“

„Was hat deine Mutter?“

Ich erstarrte und bekam ein beklommenes Gefühl in der Magengegend. Für einige Augenblicke sagte ich gar nichts, doch James schien auf eine Antwort zu warten.

Meine Mutter und ihre Krankheit waren das Letzte, wor-über ich reden wollte. Es fühlte sich falsch an, damit hausieren zu gehen. Als würde ich sie überall herumreichen. Und selbstsüchtig, wie ich war, wollte ich sie ganz für mich haben in diesen letzten Tagen, Wochen, Monaten – wie lange auch immer uns blieb. Ich wollte, dass diese Zeit nur ihr und mir gehörte. Sie war keine Freakshow, niemand, den alle anstarren konnten, oder ein saftiges Stück Klatsch, über das sie sich die Mäuler zerreißen durften. Ich würde ihnen das nicht erlauben. Niemals würde ich zulassen, dass das Andenken meiner Mutter beschmutzt wurde.

James lehnte sich an mein Auto, und ich sah Mitgefühl in seinen Augen aufflackern. Ich hasste es, bemitleidet zu werden. „Wie lange hat sie noch?“

Ich schluckte. Dafür, dass er null Sozialkompetenz besaß, war ich für ihn wie ein verdammtes offenes Buch. Vielleicht war es aber auch einfach so offensichtlich. „Die Ärzte haben ihr noch sechs Monate gegeben, als ich in die Highschool gekommen bin.“ Mittlerweile umklammerte ich meinen Schlüsselbund so fest, dass mir das Metall in die Haut schnitt. Der Schmerz war eine willkommene Ablenkung, aber er reichte nicht aus, um das Gefühl, als würde mir jemand die Luft abdrücken, zu vertreiben. „Sie hält schon ziemlich lange durch.“

„Und jetzt ist sie bereit.“

Wie betäubt nickte ich. Mir zitterten die Hände.

„Und du?“

Die Luft um uns herum schien für September ungewöhnlich schwer zu sein. Als ich den Blick wieder auf James richtete – wäh-rend ich mir den Kopf zerbrach, um eine Antwort zu finden, die ihn zum Gehen bewegen würde, bevor ich in Tränen ausbrach –, fiel mir auf, dass schon fast alle anderen Autos weg waren.

James griff um mich herum und öffnete die Tür. „Bist du so weit in Ordnung, dass du nach Hause fahren kannst?“

War ich das? „Ja.“

Er wartete, während ich einstieg, und schloss dann sanft die Tür. Während ich den Motor startete, kurbelte ich die Scheibe herunter. „Soll ich dich mitnehmen?“

Er lächelte und neigte leicht den Kopf zur Seite, so als hätte ich etwas Bemerkenswertes gesagt. „Seit Beginn der Highschool bin ich jeden einzelnen Tag nach Hause gelaufen. Durch Regen, Schnee, Hagel, was auch immer. Du bist die Erste, die mir anbietet, mich nach Hause zu fahren.“

Ich wurde rot. „Ist doch kein Ding. Das Angebot steht, wenn du willst.“

Einen Moment lang starrte James mich an, als versuche er, irgendeine Entscheidung über mich zu treffen. „Nein, kein Problem. Ich laufe. Aber danke.“

Ich war nicht sicher, ob ich erleichtert sein oder mich schuldig fühlen sollte, weil ich erleichtert sein wollte. „Dann bis morgen!“

Er nickte, und ich legte den Rückwärtsgang ein. Gerade wollte ich den Fuß von der Bremse nehmen, da stand James wieder neben dem Fenster.

„Hey, Kate? Vielleicht hält sie noch ein bisschen länger durch.“

Ich erwiderte nichts. Denn ich war nicht sicher, ob ich mich dann noch hätte zusammenreißen können. Als ich zurücksetzte, blickte James mir nach. Während ich auf die Straße bog, sah ich ihn im Augenwinkel über den Parkplatz gehen. Er trug wieder seine monströsen Kopfhörer.

Auf halbem Weg nach Hause musste ich rechts ranfahren und mich ausweinen.

Mom verbrachte die Hälfte der Nacht würgend über einem Eimer und ich damit, ihr die Haare zurückzuhalten. Als der Morgen kam und Schwester Sofia erschien, hatte meine Mutter gerade noch genug Kraft, um bei der Schule anzurufen und mich vom Unterricht abzumelden. Dann verschliefen wir beide erschöpft den Tag.

Kurz nach vier, nach einer weiteren Runde grauenhafter Albträume, wachte ich mit hämmerndem Herzen und zitternd wieder auf. Ich konnte immer noch spüren, wie das Wasser meine Lungen füllte, während ich verzweifelt darum kämpfte, Atem zu holen. Noch immer konnte ich die dunklen Schlieren aus Blut sehen, die mich umgaben, während die Strömung mich nach unten zog und ich immer tiefer sank, je stärker ich kämpfte. Ich brauchte mehrere Minuten, um mich einigermaßen zu beruhigen. Als mein Atem wieder halbwegs regelmäßig ging, tupfte ich mir etwas Concealer unter die Augen, um die dunklen Ringe zu verbergen. Dass meine Mutter sich auch noch um mich Sorgen machte, war das Allerletzte, was ich wollte.

Als ich ging, um nach ihr zu sehen, begegnete ich Sofia, die auf einem Stuhl vor der Schlafzimmertür meiner Mom saß. Sie summte leise vor sich hin und strickte an etwas Braunrotem, das vielleicht mal ein Pullover werden sollte. So fröhlich, wie sie aussah, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass auf der anderen Seite der Tür meine Mutter im Sterben lag.

„Ist sie wach?“, fragte ich, und Sofia schüttelte den Kopf. „Haben Sie ihr das Schmerzmittel an den Tropf angeschlossen?“

„Natürlich, Liebes“, antwortete sie freundlich, und ich ließ die angespannten Schultern sinken. „Gehst du zu der Party heute Abend?“

„Woher wissen Sie davon?“

„Deine Mutter hat es mir erzählt“, antwortete sie. „Ist das dein Outfit für nachher?“

Ich blickte auf meinen Schlafanzug. „Ich geh nicht hin.“ Das wäre eine Stunde mit meiner Mutter, die ich für immer verloren hätte, und viele blieben uns nicht mehr.

Sofia schnalzte missbilligend mit der Zunge, woraufhin ich ihr einen rebellischen Blick zuwarf. „Würden Sie nicht dasselbe tun, wenn es Ihre Mutter wäre? Ich will den Abend lieber mit ihr verbringen.“

„Aber ist das auch das, was sie sich für dich wünscht?“, entgegnete Sofia und ließ ihr Strickzeug sinken. „Dass du dein Leben auf Eis legst, während du darauf wartest, dass sie stirbt? Glaubst du, das würde sie glücklich machen?“

Ich wandte den Blick ab. „Sie ist krank.“

„Sie war schon gestern krank, und sie wird auch morgen krank sein“, erwiderte Sofia sanft. Ich spürte ihre warme Hand in meiner, doch ich entzog mich ihr und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie würde wollen, dass du einen Abend für dich hast.“

„Das wissen Sie nicht“, konterte ich in unsicherem Tonfall, der die erdrückenden Gefühle widerspiegelte, die sich weigerten, Ruhe zu geben. „Sie kennen sie nicht. Also hören Sie auf, so zu tun, als wäre es anders.“

Sofia erhob sich und legte ihr Strickzeug vorsichtig auf den Stuhl. „Ich weiß, dass du alles bist, wovon sie spricht.“ Sie sah mich an, ein trauriges Lächeln auf den Lippen, das für mich unerträglich war.

Sofort senkte ich den Blick und starrte auf den Teppich.

„Sie wünscht sich nichts mehr, als zu wissen, dass es dir ohne sie gut gehen wird. Dass du glücklich sein wirst. Meinst du nicht, es ist ein oder zwei Stunden deiner Zeit wert, ihr ein bisschen Frieden und Zuversicht zu geben?“

Ich knirschte mit den Zähnen. „Natürlich, aber …“

„Kein Aber.“ Sofia straffte die Schultern, und obwohl sie genauso groß war wie ich, schien sie mich plötzlich zu überragen. „Sie will, dass du glücklich bist, und so viel kannst du ihr zugestehen, indem du heute Abend ausgehst und ein paar Freunde findest. Ich bleibe hier und kümmere mich darum, dass sie versorgt ist. Ein Nein lasse ich nicht gelten.“

Ich schwieg und starrte Sofia an, mein Gesicht war heiß vor Zorn und Frustration. Und sie starrte zurück, gab keinen Millimeter nach, bis ich schließlich den Blick abwenden musste. Sie wusste nicht, wie kostbar jede Minute mit meiner Mutter für mich war, und ich konnte es ihr offenbar nicht verständlich machen. Aber sie hatte recht. Wenn es meine Mom glücklich machte, würde ich zur Party gehen.

„Meinetwegen.“ Mit dem Ärmel wischte ich mir über die Augen. „Aber wenn ihr was passiert, während ich weg bin …“

„Das wird es nicht“, beruhigte mich Sofia. „Ich versprech’s. Vielleicht merkt sie nicht mal, dass du fort bist. Und wenn du zurückkommst, wirst du ordentlich was zu erzählen haben, oder?“

Wenn es nach Ava ging, dann auf jeden Fall, da war ich sicher.

3. KAPITEL

DER FLUSS

Meine letzte Hoffnung war, dass Ava vergessen würde, mich abzuholen. Aber als ich mich um fünf nach sieben widerwillig auf die Veranda schleppte, erblickte ich in der Auffahrt einen bulligen Range Rover, neben dem mein Auto wie ein Spielzeug aussah. Meine Mutter hatte noch immer geschlafen, als ich ein paar Minuten zuvor versucht hatte, nach ihr zu sehen. Statt mich zu ihr zu lassen, um sie zu wecken und mich zu verabschieden, hatte Sofia mich nach draußen gescheucht. Mittlerweile war ich ziemlich gereizt.

„Kate!“, rief Ava vergnügt, als ich die Beifahrertür öffnete. Meine miese Laune schien sie überhaupt nicht zu bemerken. „Ich bin so froh, dass du mitkommst. Du hast doch nichts Ansteckendes, oder?“

Mühsam riss ich mich zusammen, kletterte hinein und schnallte mich an. „Ich bin nicht krank.“

„Nicht schlecht“, plapperte Ava weiter. „Du hast echt Glück, dass deine Mutter dich schwänzen lässt.“

Ich ballte meine Hände zu Fäusten und sagte nichts. Glück war nicht ganz der passende Ausdruck.

„Das wird dir echt gefallen heute Abend“, fuhr sie fort, wäh-rend sie aus der Auffahrt zurücksetzte, ohne den Rückspiegel auch nur eines Blickes zu würdigen. „Alle sind dabei, du wirst Massen von Leuten kennenlernen.“

„Kommt James auch?“ Unwillkürlich verspannte ich mich, als Ava den Fuß aufs Gaspedal drückte und der Range Rover einen Satz nach vorn machte, bei dem mein Magen nicht ganz mitkam.

Einen Sekundenbruchteil lang sah Ava so aus, als sei sie schon von dem bloßen Gedanken angewidert. Fast hätte ich meine Frage zurückgenommen, aber der Ausdruck verschwand so schnell von ihrem Gesicht, wie er aufgetaucht war. „James ist nicht eingeladen.“

„Oh.“ Ich ließ das Thema fallen. Ich hatte sowieso nicht erwartet, dass James kommen würde – er und Ava bewegten sich schließlich nicht gerade in denselben Kreisen. „Und Dylan?“

„Natürlich.“ Ihr fröhlicher Tonfall klang so falsch, wie ihre Nägel aussahen, und als ich im schwachen Licht der Innenbeleuchtung zu ihr hinübersah, hätte ich schwören können, dass in ihren Augen etwas Unangenehmes aufgeblitzt war. Zorn vielleicht oder Eifersucht.

„Ich will nichts von ihm“, stellte ich klar, für den Fall, dass sie es immer noch nicht begriffen hatte. „Ich hab’s ernst gemeint, als ich gesagt hab, dass ich mit Dates nichts am Hut hab.“

„Ich weiß.“ Aber die Art, wie sie sich weigerte, mir ins Gesicht zu sehen, sprach Bände, und ich seufzte. Eigentlich hätte es mir egal sein sollen, aber in New York hatte ich so viele Jungs gesehen, die ihre Freundinnen ausgenutzt hatten, während sie in Wahrheit längst nach einer anderen Ausschau hielten. Das ging nie gut aus. Egal, wie sehr Ava mich hassen mochte – das hatte sie nicht verdient.

„Warum bist du überhaupt mit ihm zusammen?“

Einen Moment lang sah sie überrascht aus. „Weil er Dylan ist“, sagte sie, als wäre die Antwort offensichtlich. „Er ist süß, hat was im Kopf und ist Kapitän der Footballmannschaft. Warum sollte ich nicht mit ihm zusammen sein wollen?“

„Oh, keine Ahnung“, gab ich zurück. „Vielleicht weil er ein Schwein ist, das bloß mit dir zusammen ist, weil du umwerfend aussiehst und mit ziemlicher Sicherheit Cheerleader bist?“

Pikiert reckte sie das Kinn. „Ich bin sogar der Captain. Und der Captain des Schwimmteams.“

„Ganz genau.“

Ava wirbelte das Lenkrad herum, und die Reifen quietschten auf dem Asphalt, als der Wagen eine scharfe Kurve beschrieb. Vor meinem inneren Auge blitzte das Bild einer Kuh mitten auf der Straße auf, und ich kniff die Augen zusammen und betete stumm.

„Wir sind schon ewig zusammen“, setzte Ava nach. „Ich werde ihn ganz sicher nicht abschießen, bloß weil so ein Mädchen, das sich für was Besseres hält, daherkommt und mir sagt, ich wäre dumm, mit ihm zusammen zu sein.“

„Ich halte mich nicht für was Besseres“, erwiderte ich gepresst. „Ich bin einfach nur nicht hierhergezogen, um Freunde zu finden.“

Sie schwieg, während wir durch die Dunkelheit fuhren. Zuerst dachte ich, sie würde gar nichts mehr sagen. Und als sie es eine Minute später doch tat, sprach sie so leise und klang so kleinlaut, dass ich mich anstrengen musste, sie zu verstehen.

„Daddy hat gesagt, deine Mom ist ziemlich krank.“

„Tja, Daddy hat recht.“

„Tut mir leid“, sagte sie. „Ich wüsste nicht, was ich ohne meine Mom machen sollte.“

„Ja“, murmelte ich. „Ich auch nicht.“

Als sie das nächste Mal abbog, hatte ich nicht mehr das Gefühl, wir würden gleich aus der Kurve fliegen. „Kate?“

„Mhm?“

„Ich liebe Dylan. Wirklich. Selbst wenn er nur mit mir zusammen ist, weil ich Cheerleader bin.“

„Vielleicht ist er das ja gar nicht“, bemerkte ich und lehnte meinen Kopf ans Fenster. „Vielleicht ist er anders.“

Sie seufzte. „Vielleicht.“

Ava parkte ihr spritfressendes Monstrum an einer dunklen Straße auf dem Seitenstreifen. Über uns ragten Bäume empor, und der Mond zeichnete ihre Schatten auf den Boden. Trotzdem hätte ich im Leben nicht sagen können, wo wir waren. Nicht ein anderes Auto war in Sicht, geschweige denn ein Haus.

„Wo sind wir?“, fragte ich, als sie in den Wald vorausging.

„Das Lagerfeuer ist da weiter hinten“, erklärte Ava, während sie geschickt den tief hängenden Ästen auswich. Ich hatte nicht so viel Glück dabei. „Ist ganz in der Nähe.“

Leise fluchte ich vor mich hin, während ich ihr folgte. Meine Hoffnung, schnell wieder verschwinden zu können, war dahin. Ich würde hier festsitzen, bis Ava wieder fuhr – außer ich ließe mich von einem meiner zahlreichen Verehrer mitnehmen.

Beim Gedanken daran verzog ich das Gesicht. Da würde ich lieber laufen.

„Es ist gleich auf der anderen Seite der Hecke“, sagte Ava, und ich blieb stehen. Hecke?

„Meinst du die Hecke um dieses riesige Grundstück?“

„Du kennst es schon?“ Ava wandte sich zu mir um.

„Meine Mom hat mir davon erzählt.“

„Oh – na ja, das ist der Ort, wo wir unsere Partys feiern. Daddy kennt den Besitzer, und der hat absolut nichts dagegen.“

Irgendetwas an der Art, wie sie das sagte, verursachte mir ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend, und ich erinnerte mich an die Silhouette, die ich im Rückspiegel zu sehen geglaubt hatte. Aber mir blieb keine große Wahl. Vielleicht sagte sie die Wahrheit. Sie hatte keinen Grund, mich anzulügen, oder? Davon abgesehen war der einzige Weg durch diese Hecke, von dem ich wusste, das Tor an der Straße – und von dem waren wir meilenweit entfernt.

„Wie sollen wir denn da reinkommen?“

Sie ging weiter, und mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. „Dahinten ist ein Bach. An der Stelle ist eine Öffnung in der Hecke, durch die man klettern kann, und die Party ist gleich auf der anderen Seite.“

Ich wurde blass, als die grauenhaften Albträume vom Ertrinken wieder hochkamen. „Ich muss aber nicht schwimmen, oder?“

„Nein, wieso?“ Sie musste etwas in meinem Ton wahrgenommen haben, denn sie blieb wieder stehen und sah mich an.

„Ich kann nicht schwimmen. Hab’s nie gelernt.“ Das war die Wahrheit, aber von meinen Albträumen wollte ich ihr nicht erzählen. Es war schon schlimm genug, dass ich sie Nacht für Nacht von Neuem durchleben musste. Wenn ich Ava das gestand, würde sie es mit Sicherheit bloß gegen mich verwenden.

Sie lachte leise, und ich hätte schwören können, dass sie auf einmal fröhlicher klang. „Ach, keine Sorge, du musst nicht schwimmen. Im Wasser liegen Steine, auf die man treten kann. So kommt man leicht auf die andere Seite.“

Jetzt konnte ich die Hecke sehen. Meine Hände waren feucht, und mein Atem ging stoßweise – und ich glaubte nicht, dass das etwas mit unserem zügigen Tempo zu tun hatte.

„Gleich da vorn.“ Sie deutete auf eine Stelle ungefähr zehn Meter vor uns. Durch die Nachtluft war das Geräusch von flie-ßendem Wasser zu hören, und ich musste all meine Willenskraft aufbringen, um Ava weiter zu folgen.

Als wir am Wasser ankamen, fiel mir die Kinnlade herunter. Das war kein Bach, sondern ein verdammter Fluss. Die Strömung sah nicht besonders stark aus, aber mit Sicherheit stark genug, um mich wegzutragen, wenn ich fiele. Und ohne nennenswertes Licht war es fast unmöglich, die Steine zu entdecken, von denen Ava gesprochen hatte. Über das Loch in der Hecke hatte sie allerdings die Wahrheit gesagt. Es war klein, als hätte der Fluss sich dort gerade so weit verengt, dass die Zweige über ihm zusammenwachsen konnten. Wir würden über Steine balancieren und uns bücken müssen, um durchzukommen, aber es war machbar, ohne schwimmen zu müssen.

„Mir nach“, sagte Ava mit gedämpfter Stimme. Sie hielt die Arme ausgestreckt, um die Balance zu halten, und trat in den Fluss. Suchend tastete sie umher, bis sie einen großen, flachen Stein fand. „Hier fängt der Weg an – alles in Ordnung mit dir?“

„Mir geht’s gut“, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Mit höchster Sorgfalt setzte ich meine Füße exakt dorthin, wo Ava hingetreten war, und hielt wie sie die Arme ausgestreckt. Aber mit jedem Schritt hatte ich das Gefühl, gleich würde ich in das dunkle Wasser zu meinen Füßen fallen. Sie duckte sich unter der Hecke hindurch, und ich konnte nicht mehr sehen, wo sie entlangging. Mir wurde übel, als Panik mich erfasste, und ich legte eine zitternde Hand an die Zweige der Hecke. Dann bückte ich mich und tastete mich Schritt für Schritt weiter.

Wie durch ein Wunder schaffte ich es trocken auf die andere Seite. Von da an gab es keine Steine mehr, und ich musste springen, um wieder auf festen Boden zu gelangen, aber ich schaffte es – und war in Sicherheit. Erleichtert seufzte ich. Wenn Ava dachte, sie würde mich noch mal durch dieses Loch kriegen, war sie verrückt.

Als ich aufsah, fiel mein Blick als Erstes auf Ava, wie sie den Reißverschluss an ihrem Rock öffnete. Das Top lag schon am Boden. Darunter trug sie einen Bikini, die Farben waren in der Dunkelheit nicht auszumachen.

„Was tust du da?“

Sie ignorierte mich. Statt nachzubohren, sah ich mich erst einmal um. Wir waren auf bewaldetem Gelände, und hätte ich es nicht besser gewusst, wäre ich überzeugt gewesen, dass wir immer noch auf der anderen Seite der Hecke waren. Alles sah genau gleich aus.

„Tut mir leid, Kate“, sagte Ava. Sie zog einen Müllsack aus der Tasche ihres Rocks und legte ihre säuberlich gefalteten Sachen hinein.

„Es tut dir leid? Was tut dir leid?“

„Dass ich verschwinde.“ Sie warf sich den Müllsack über die Schulter und schenkte mir ein breites Lächeln. „Nimm’s nicht persönlich. Wenn Dylan nicht so auf dich stehen würde, könnten wir vielleicht sogar Freundinnen sein. Aber ich bin mir sicher, du verstehst, warum das hier sein muss.“

„Warum was sein muss?“

„Das.“ Sie trat ins Wasser und schauderte. Anscheinend war es so kalt, wie es aussah. „Sieh das als Warnung, Kate. Lass die Finger von meinem Freund. Das nächste Mal wird es viel, viel schlimmer werden.“

Und mit diesen Worten sprang sie kopfüber in den Fluss.

Zwei Dinge geschahen gleichzeitig: Erstens begriff ich, was hier los war. Sie ließ mich hier zurück, in dem vollen Bewusstsein, dass ich Angst vor dem Wasser hatte. Es gab keine Party. Sie hatte das alles geplant.

Das Zweite passierte, als Ava auf das Wasser traf. Statt ihr hinterherzusehen, wie sie wegschwamm, hörte ich ein Übelkeit erregendes Knacken, als ihr Kopf auf einen Stein aufschlug. Und dann trieb sie auch schon schlaff in der Strömung davon.

Ich zuckte zusammen. Während ich ihr noch wie paralysiert nachsah, hatte das Wasser Ava bereits mehrere Meter weitergetragen, aber sie bewegte sich nicht. Sie musste beim Aufprall bewusstlos geworden sein.

Gut.

Nein, nicht gut, widersprach der moralische Teil meines Gehirns hartnäckig. Gar nicht gut. Wenn sie tatsächlich ohnmächtig war und nicht bloß benommen, würde sie ertrinken, falls die Strö-mung sie nicht an Land trieb.

Innerlich stöhnte ich laut auf. Sollte sie ruhig leiden – der Fluss war nicht besonders breit. Irgendwann würde sie schon wieder zu sich kommen und ans Ufer gelangen.

Aber diese Moralapostelstimme in meinem Kopf machte mich darauf aufmerksam, dass ich, sollte Ava etwas passieren, verantwortlich wäre. Und auch wenn sie versucht hatte, mir einen grausamen Streich zu spielen, konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass einem weiteren Menschen in meinem Leben etwas Furchtbares geschah. Ich hatte bis an mein Lebensende genug von Tragödien.

Mein Körper hatte sich in Bewegung gesetzt, bevor ich eine Entscheidung treffen konnte. Im Schwimmen mochte ich eine Niete sein, aber rennen konnte ich. Im Laufen streifte ich die hochhackigen Schuhe ab und hatte schon die Hälfte der Strecke bis zu Ava zurückgelegt, bevor ich überhaupt begriff, was ich da tat. Die Strömung schien stark zu sein, aber nicht so stark, wie ich anfangs gedacht hatte. Schnell hatte ich Ava eingeholt und machte schlitternd Halt am matschigen Ufer, bevor ich mich einem vollkommen anderen Problem gegenübersah – dem Wasser.

Bilder aus meinen Albträumen schossen durch meinen Kopf, aber ich schob sie beiseite. Ava trieb mit dem Gesicht nach unten in der Mitte des Flusses, ich konnte unmöglich warten, bis sie näher kam. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich ließ sie ertrinken, oder ich sprang ihr hinterher in den Fluss. Mir blieb kaum eine Wahl. Widerwillig stürmte ich in das eiskalte Wasser und kämpfte mich mit mühseligen, von der Strömung gebremsten Schritten platschend und spritzend in ihre Richtung. Mit dem Zeh blieb ich an einem Stein hängen und fiel, tauchte der Länge nach unter, und bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte die Strömung mich auch schon erfasst.

Panik stieg in mir auf, sobald mein Kopf unter Wasser geriet. Aber ich war bei Bewusstsein, und auch wenn ich nicht schwimmen konnte, war der Fluss wenigstens nicht tief. Anders als in diesen grauenvollen Albträumen gelang es mir, den Boden unter den Füßen zu finden und mich aufzurichten, und ich stieß durch die Oberfläche. Ich kämpfte mich vorwärts, um Ava zu erreichen, und sobald sie in Reichweite war, packte ich sie am Arm und riss sie in meine Richtung. Mein Herz schlug schmerzhaft schnell in meiner Brust, aber ich versuchte so ruhig wie möglich zu atmen. Wenn Ava aufwachte, würde ich sie umbringen. Und wenn es auf dieser Welt so etwas wie Gerechtigkeit gab, würde sie genäht werden müssen und eine Narbe in ihrem hübschen kleinen Gesicht davontragen.

Ich zog Ava ans Ufer und aus dem eisigen Wasser heraus, unvorstellbar erleichtert, wieder trockenen Boden unter den Füßen zu haben. Obwohl sie höchstens eine halbe Minute im Fluss gewesen war, wurde ihre Haut schon blau, und ich drehte sie auf die Seite, in der Hoffnung, es würde helfen, falls sie Wasser geschluckt hatte.

„Ava?“, fragte ich und ließ mich neben ihr auf die Knie sinken. Meine Zähne klapperten. „Ava – wach auf.“

Sie regte sich nicht. Ich beugte mich über sie, wartete darauf, dass sie Luft holte, aber sie tat es nicht. Ich schluckte den Kloß des Entsetzens in meinem Hals hinunter. Ich musste sie beatmen.

Schnell rollte ich sie auf den Rücken und drückte auf ihr Zwerchfell: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs …

Ich blickte auf sie hinab und wartete. Nichts.

„Wenn das ein Scherz sein soll …“ Ich versuchte es wieder. Eine Mundzu-Mund-Beatmung würde ich ihr erst geben, wenn mir keine andere Wahl blieb.

In diesem Moment bemerkte ich die klaffende Wunde an ihrem Kopf. Ich begriff nicht, wie ich sie vorher hatte übersehen können – ihr Haar war blutgetränkt. Für einen Moment hörte ich auf mit der Herzmassage, um nachzusehen, wie schlimm es war.

Es war nicht bloß ein Schnitt. Mir drehte sich der Magen um, als ich ihr Haar beiseiteschob, um die Wunde anzusehen. Die Oberseite ihres Schädels war nicht länger gerundet – sie war flach.

Ich stieß einen spitzen Schrei aus und schlug mir die Hand vor den Mund, kurz davor, mich zu übergeben. Selbst in der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass es nicht nur Blut und Haare waren, was ich sah. Ihre Kopfhaut lag frei und löste sich teilweise ab, und darunter glänzte ein eingeschlagener Schädel und Stück-chen von – oh Gott, ich wollte nicht einmal darüber nachdenken.

Schnell legte ich meine Finger an ihren Hals, suchte vergeblich nach einem Puls. Mein Atem ging mittlerweile in raschen Stößen, und die Welt schien sich zu drehen, als ich reflexartig mit der Herzmassage weitermachte. Sie konnte nicht … Das war unmöglich. Es war ein Streich, bloß ein geschmackloser Scherz, der damit enden sollte, dass ich meinen traurigen Hintern zum Eingangstor schleppen und nach Hause laufen musste. Sie sollte doch nicht …

„Hilfe!“, schrie ich, so laut ich konnte, und heiße Tränen strömten mir übers Gesicht. „So hilf ihr doch jemand!“

4. KAPITEL

DER FREMDE

Schluchzend presste ich wieder und wieder meine Hände auf Avas Zwerchfell. Sie konnte nicht tot sein. Noch vor zwei Minuten hatte sie mich angefaucht wegen … Ja, weswegen eigentlich? Es spielte keine Rolle mehr. Mit dem Handrücken wischte ich mir die Augen und holte tief und bebend Luft. Nein. Unmög-lich. Das geschah gerade nicht wirklich.

„Hilfe!“, schrie ich und blickte wild um mich, verzweifelt auf ein Zeichen hoffend, dass irgendjemand in der Nähe war. Doch alles, was ich zu allen Seiten sah, waren Bäume, und das einzige Geräusch, das ich hören konnte, war das Rauschen des Flusses. Selbst wenn auf diesem Grundstück überhaupt jemand lebte, hätte er meilenweit entfernt sein können.

Ich blickte wieder auf Ava, und ihr Gesicht verschwamm, als meine Augen sich wieder mit Tränen füllten. Was sollte ich nur tun?

Mit bebenden Schultern stolperte ich ein paar Schritte zurück und sank wieder zu Boden, saß da und starrte auf Ava. Ihre Augen standen weit offen, unbewegt, leblos. Keine Regung war zu sehen, während das Blut langsam aus ihrer Kopfwunde lief. Es war sinnlos.

Ich zog die Knie an die Brust, unfähig, meinen Blick von ihr loszureißen. Was würde jetzt geschehen? Wer würde uns finden? Ich konnte sie nicht hier zurücklassen. Ich musste hierbleiben, bis uns jemand fand. Oh Gott, meine arme Mutter – was würden die Leute sagen? Würden sie denken, ich hätte Ava umgebracht? Hatte ich das nicht auch irgendwie? Hätte ich nicht zugestimmt, mit ihr herzukommen, wäre sie niemals kopfüber in den Fluss gesprungen.

„Kann ich dir helfen?“

Mein Herz setzte einen Schlag aus. Neben mir stand ein Mann – ein Junge? Ich konnte es nicht sagen, denn sein Gesicht war zum Teil in der Dunkelheit verborgen. Doch was ich erkennen konnte, ließ mir den Atem stocken. Sein Haar war dunkel, und der Mantel, den er trug, war lang und schwarz und wehte leicht im kalten Wind.

Ich hatte ihn mir also doch nicht eingebildet.

„Sie ist …“ Ich konnte es nicht aussprechen.

Langsam kniete er sich neben Ava und untersuchte sie. Er musste sehen, was ich sah – den blutigen Kopf, den reglosen Körper, den unnatürlichen Winkel, in dem ihr Hals abgeknickt war. Doch statt panisch zu reagieren, sah er zu mir auf, und mich durchfuhr ein Schock. Seine Augen hatten die Farbe von Mondlicht.

Keine zwei Meter hinter mir hörte ich ein Rascheln. Erschrocken wandte ich mich um und sah eine schwarze Deutsche Dogge mit wedelndem Schwanz auf uns zukommen. Der Hund setzte sich neben den Fremden, und er kraulte ihn hinter den Ohren.

„Wie heißt du?“, fragte er ruhig.

Mit zitternden Händen strich ich mir das nasse Haar hinter die Ohren. „K-Kate.“

„Hallo, Kate.“ Seine Stimme hatte etwas Beruhigendes an sich, war fast melodisch. „Ich bin Henry, und das ist Cerberus.“

Jetzt, nachdem er näher gekommen war, konnte ich sein Gesicht sehen, und irgendetwas daran wirkte seltsam. Er konnte nicht mehr als ein paar Jahre älter sein als ich, höchstens zweiundzwanzig, und selbst das war schon großzügig geschätzt. Und er war zu schön, um hier mitten in den Wäldern herumzulaufen. Er hätte auf den Titelseiten von Modemagazinen sein sollen, statt seine Zeit unbeachtet auf der Oberen Halbinsel Michigans zu vergeuden.

Aber seine Augen fesselten meine Aufmerksamkeit. Selbst in der herrschenden Dunkelheit leuchteten sie hell, und es fiel mir verdammt schwer, mich von seinem Blick loszureißen.

„M-meine Freundin“, setzte ich mit zitternder Stimme an. „Sie ist …“

„Sie ist tot.“

Sein Ton war so sachlich und endgültig, dass sich mir der Magen umdrehte. Das bisschen Abendessen, das ich runtergekriegt hatte, verabschiedete sich wieder, als mich die grauenvolle Realität dieses Abends traf wie ein Blitz.

Schließlich, als das Würgen aufhörte, setzte ich mich wieder auf und wischte mir den Mund ab. Henry hatte Ava so hingelegt, dass sie aussah, als würde sie schlafen, und jetzt fixierte er mich mit seinem Blick, als wäre ich ein scheues Tier, das er nicht verjagen wollte. Betreten schaute ich weg.

„Sie ist also deine Freundin?“

Ich hustete schwach, während ich versuchte, das Schluchzen hinunterzuschlucken, das in mir aufzuwallen drohte. War sie das? Natürlich nicht. „J-ja“, brachte ich heraus. „Warum?“

Ich hörte Stoff rascheln und öffnete die Augen. Henry war dabei, seinen Mantel über Ava zu breiten. So, wie man Leichen bedeckt. „Ich wusste nicht, dass Freunde so miteinander umgehen, wie sie dich behandelt hat.“

„Sie … Es war bloß ein Scherz.“

„Du hast es nicht besonders lustig gefunden.“

Nein, hatte ich nicht. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.

„Du hast Angst vor Wasser, und trotzdem bist du hinter ihr hergesprungen. Obwohl sie dich zurücklassen wollte.“

Überrascht starrte ich ihn an. Woher wusste er das?

„Warum?“, fragte er, und ich zuckte hilflos mit den Schultern. Was erwartete er von mir zu hören?

„Weil sie … Sie hatte nicht verdient zu …“ Sie hatte nicht verdient zu sterben.

Für einen langen Moment blieb Henry stumm und sah auf Avas verhüllte Leiche hinunter. „Was würdest du tun, um sie zurückzubekommen?“

Ich bemühte mich, zu begreifen, was er da sagte. „Zurückzu-bekommen?“

„Zurück in dem Zustand, in dem sie war, bevor sie ins Wasser gesprungen ist. Lebendig.“

Trotz all meiner Panik kannte ich die Antwort bereits. Was würde ich tun, um Ava zurückzubekommen? Was würde ich tun, um den Tod davon abzuhalten, endgültig seinen Würge-griff um die letzten Fetzen meines Lebens, die er noch nicht gestohlen hatte, zu schließen? Meine Mutter hatte er schon gezeichnet, wartete in den Schatten, um sie mir wegzunehmen, rückte jeden Tag näher. Sie mochte bereit sein, aufzugeben, aber ich würde niemals aufhören, um sie zu kämpfen. Und ich würde den Teufel tun, ihm direkt vor meiner Nase ein weiteres Opfer zuzugestehen. Vor allem, da es allein mein Fehler war, dass Ava überhaupt hier war. „Alles.“

„Alles?“

„Ja. Kannst du ihr helfen?“ In mir flammte eine irrationale Hoffnung auf. Vielleicht war er Arzt. Vielleicht wusste er, wie man sie wieder in Ordnung bringen konnte.

„Kate … Hast du je die Geschichte von Persephone gehört?“

Meine Mutter liebte griechische Mythologie, und als Kind hatte sie mir die Geschichten immer vorgelesen. Doch was hatte das mit all dem hier zu tun? „Was? Ich – ja, vor langer Zeit“, antwortete ich verwirrt. „Kannst du sie wieder in Ordnung bringen? Ist sie – kannst du? Bitte?“

Henry stand auf. „Ja, wenn du mir eine Sache versprichst.“ „Was immer du willst.“ Ich erhob mich ebenfalls, wagte gegen alle Vernunft, zu hoffen.

„Lies noch einmal den Mythos von Persephone, und du wirst es begreifen.“ Er trat auf mich zu und strich mit den Fingerspitzen über meine Wange. Ich zuckte zurück, doch meine Haut fühlte sich an, als stünde sie in Flammen, wo er mich berührt hatte. Dann steckte er die Hände in die Taschen, unberührt von meiner Zurückweisung. „In zwei Wochen ist Herbst-Tagundnachtgleiche. Lies, und du wirst begreifen.“

Er trat zurück und ließ mich stehen. Verwirrt wandte ich mich in Avas Richtung und fragte: „Aber was ist mit …“

Doch als ich aufsah, war er fort. Verständnislos und mit tauben Füßen stolperte ich ein paar Schritte umher und schaute mich hektisch um. „Henry? Was ist mit …“

„Kate?“

Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Ava. Ich fiel neben ihr auf die Knie, zu verängstigt, um sie zu berühren, doch ihre Augen waren offen, und sie blutete nicht mehr. Sie war am Leben.

„Ava?“, keuchte ich.

„Was ist passiert?“ Mühsam kämpfte sie sich in eine sitzende Position und wischte sich das Blut aus den Augen.

„Du – du hast dir den Kopf gestoßen und …“ Ich verstummte. Und was?

Langsam stand Ava auf und begann gleich wieder zu schwanken, doch ich stützte sie mit zitternden Händen. „Alles in Ordnung?“, fragte ich benommen, und Ava nickte. Ich legte ihr den Arm um die nackte Taille, um sie aufrecht zu halten. Henrys Mantel war fort. „Lass uns zusehen, dass du nach Hause kommst.“

Bis ich an diesem Abend in mein Bett kroch – nachdem ich das Blut unter meinen Fingernägeln weggeschrubbt hatte –, hatte ich es beinah geschafft, mir einzureden, Henry sei nicht real. Dass die Begegnungen mit ihm reine Einbildung gewesen waren. Es war die einzig logische Erklärung. Ich hatte mir den Kopf angestoßen, als ich in den Fluss gesprungen war, und im Auto war ich übermüdet gewesen. Mit Ava war die ganze Zeit alles in Ordnung gewesen, und Henry …

Henry war nur ein Traum.

An diesem Wochenende klingelte das Telefon fast stündlich, bis ich den Stecker aus der Wand zog. Meine Mutter brauchte ihre Ruhe, und nach dem, was passiert war, wollte ich mich nur noch von der Welt abschotten und ihr Gesellschaft leisten. Ich wusste nicht, wer da anrief, und es war mir auch egal.

Der eiskalte Fluss hatte mir nicht gerade gutgetan, und ich verschlief den größten Teil des Wochenendes in dem Schaukelstuhl am Bett meiner Mutter. Es war ein unruhiger Schlaf, durchzogen von denselben Albträumen, die ich schon seit unserem Eintreffen in Eden gehabt hatte. Bloß dass jetzt ein weiterer dazugekommen war. Darin spielte sich alles genauso ab wie in jener schrecklichen Nacht, Ava sprang in den Fluss und schlug sich den Kopf an, und ich stürzte mich ins Wasser, um sie zu retten. Doch wenn ich dann ihren Körper aus dem Wasser zog, war es nicht ihr Gesicht, das ich erblickte, blass und leblos, während sich das Blut auf dem Boden sammelte. Es war mein eigenes.

In der Nähe meiner Mutter musste ich einen Mundschutz tragen. Ich fühlte mich fiebrig, hatte Gliederschmerzen und einen stechenden Husten tief in der Brust, den ich nicht wieder loswurde. Aber irgendjemand musste sich um sie kümmern. In der Hoffnung, dann würde ich mich besser fühlen, schluckte ich alles an Medizin, was ich dahatte. Als der Montag schließlich kam, war ich wieder so weit auf den Beinen, dass ich glaubte, die Schule ein weiteres Mal durchstehen zu können.

Sobald ich in der Mittagspause die Cafeteria betrat, heftete sich James an meine Fersen, das tägliche Tablett voll Pommes bereits in der Hand. Munter plapperte er drauflos. Er erzählte von einer neuen CD, die er sich am Wochenende gekauft hatte, und bot mir sogar an, mal reinzuhören, doch ich schüttelte den Kopf. Ich war nicht in der Stimmung für Musik.

„Kate?“ Wir hatten uns hingesetzt, und er hatte seine Pommes bereits in Ketchup ertränkt. „Du bist heute ganz schön still. Geht’s deiner Mom gut?“

Ich sah von meinem unberührten Sandwich hoch. „Sie hält sich wacker.“

„Was ist dann los?“ Der Ausdruck auf seinem Gesicht machte unmissverständlich klar, dass er nicht lockerlassen würde.

„Nichts. Ich war bloß das ganze Wochenende über krank, das ist alles.“

„Ach ja, richtig.“ Er schob sich einen Pommes in den Mund. „Du warst Freitag nicht da. Ich hab die Hausaufgaben für dich mitgenommen.“

„Danke.“ Wenigstens bohrte er nicht weiter nach.

„Bist du mit Ava auf diese Party gegangen?“

Ich erstarrte. War es so offensichtlich? Hatte mich etwas in meinem Gesichtsausdruck verraten? Nein, er wollte sich nur unterhalten.

„Kate?“

Super. Jetzt wusste er, dass etwas nicht stimmte. „Tut mir leid“, murmelte ich und rutschte auf meinem Stuhl ein wenig nach unten.

„Ist auf der Party irgendwas passiert?“

„Es gab keine Party.“ Ihn anzulügen hatte keinen Sinn. Er müsste sich einfach nur umhören, um die Wahrheit herauszufinden – wenn er sich je die Mühe machen würde, mit anderen Leuten zu sprechen. „Bloß Ava und ein blöder Scherz.“

„Was für ein blöder Scherz?“ Die Art, wie seine Stimme plötz-lich tiefer klang und seine Augen schmaler wurden, hätte meine Alarmglocken schrillen lassen sollen. Aber ich war zu beschäf-tigt damit, mir eine plausible Antwort auszudenken. Wie hätte ich das Unmögliche beschreiben sollen, das dort am Fluss passiert war? Er würde mir niemals glauben. Ich glaubte mir ja nicht einmal selbst. Und Ava …

Innerlich schlug ich mir gegen die Stirn. Das Ganze war schließlich ein Streich gewesen, oder? Nicht bloß, dass sie mich zurückgelassen hatte, sondern auch, wie sie sich den Kopf angeschlagen hatte und wie Henry aufgetaucht war und vorgespielt hatte … was immer es war, das er getan hatte. Wahrscheinlich war er irgendjemandes großer Bruder. Vielleicht sogar der von Ava.

Aber was war mit ihrem Schädel? Wie sie aufgehört hatte zu atmen? Der abgeknickte Hals? Konnte das wirklich alles inszeniert gewesen sein?

„Wenn man vom Teufel spricht“, sagte James und hob die Augenbrauen, als er über meine Schulter sah. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer es war.

„Kate!“, stieß Ava ein wenig gekünstelt hervor und setzte sich neben mich, ohne auf eine Einladung zu warten. Unwillkürlich verspannte ich mich und umklammerte meinen Apfel so fest, dass ich spürte, wie das Fruchtfleisch unter der Schale nachgab.

„Äh, hi.“ Was, um alles in der Welt, sollte ich zu ihr sagen? „Wie – wie war dein Wochenende?“

Sie schwang die Beine unter den Tisch und setzte ihr Tablett ab. Anders als James hatte sie sich ein Hähnchen-Sandwich und einen Berg Kroketten geholt. Sie konnte unmöglich jeden Tag so viel essen und trotzdem so dünn bleiben.

„War okay. Du weißt schon, ich hab mich ausgeruht, war zum Schwimmen und so.“ Sie biss von ihrem Sandwich ab und machte sich nicht die Mühe, zu schlucken, bevor sie weitersprach. „Ich hab versucht, dich anzurufen, aber du bist nicht rangegangen. Hat mein Dad mir die falsche Nummer gegeben?“

Fast hätte ich mich verschluckt. Das war Ava gewesen? „Nnein, das war unsere Nummer.“ Ich starrte zu James, versuchte ihn mit reiner Willenskraft dazu zu bewegen, irgendetwas zu sagen, aber er schien mit größter Sorgfalt darauf bedacht, uns nicht anzusehen.

„Ich war krank, deshalb bin ich nicht drangegangen.“

„Aber jetzt geht’s dir besser, oder?“

Ich zögerte. „Ja, ich fühl mich besser.“

„Oh, das ist perfekt! Ich hab gehofft, du würdest diese Woche mal vorbeikommen. Wir haben einen Swimmingpool, und ich dachte, vielleicht kann ich dir das Schwimmen beibringen.“

Mit offenem Mund starrte ich sie an. Nach allem, was passiert war, wollte sie, dass ich mit ihr schwimmen ging? „Ich – ich schwimme nicht.“ Und nach dem, was am Freitag passiert war, wollte ich nicht einmal mehr auch nur in die Nähe eines Gewäs-sers kommen, ob natürlich oder künstlich. Ich fand es unnötig grausam, einen blöden Scherz derart auszudehnen, und im Stillen wünschte ich, sie würde es endlich gut sein lassen.

Ava machte einen Schmollmund, und es war offensichtlich, dass irgendetwas in meiner Stimme oder meinem Gesichtsausdruck mich verraten haben musste. „Du bist doch nicht böse wegen der Sache, die passiert ist, oder?“ Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber sie wirkte fast nervös. „Ich meine … Darüber wollte ich eigentlich auch mit dir re…“

„Ava“, unterbrach ich sie. „Warum sitzt du hier bei mir?“

Niedergeschlagen blickte sie auf den Tisch und legte das Sandwich aus der Hand. „Ich hab mit Dylan Schluss gemacht.“

„Was? Warum?“ Wieder warf ich einen Blick zu James hinüber, aber der war mittlerweile völlig darin vertieft, aus seinen Pommes ein Fort zu bauen. „Ich dachte, du hättest gesagt, du liebst ihn.“

„Tu ich auch! Hab ich jedenfalls.“

„Warum hast du dann Schluss gemacht?“

„Darum.“ Über die Schulter warf sie einen Blick zum Sportlertisch hinüber. Mindestens ein halbes Dutzend Augenpaare waren auf uns gerichtet, und sie senkte die Stimme zu einem Flüs-tern. „Du hast mich gesehen, stimmt’s? Ich bin in den Fluss gesprungen und hab mir den Kopf angestoßen, und das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie ich mit mörderischen Kopfschmerzen am Ufer liege.“

Ich zwang mich zu einem gleichgültigen Schulterzucken. „Dann hast du dir eben den Kopf angeschlagen, und ich hab dich rausgezogen, bevor du ertrunken bist. Keine große Sache.“

„Und wie es das ist.“ Der glockenhelle Klang war nun komplett aus ihrer Stimme verschwunden. „Da war überall Blut. Meine Mutter hat mich gesehen, als ich nach Hause gekommen bin, und fast einen Anfall gekriegt. Ich musste ihr sagen, es wär deins.“

„Aber es war nicht meins.“

Unsere Blicke trafen sich. Ihre Augen waren gerötet, und Tränen schimmerten darin. „Ich weiß“, flüsterte sie. „Kate, was ist mit mir passiert?“

Auf der anderen Seite des Tischs war James plötzlich verdächtig reglos, und ich bemerkte, dass er seine Kopfhörer nicht mehr trug. Nicht nur, dass ich Ava erzählen musste, was passiert war – jetzt würde ich es auch noch ihm erklären müssen, wenn sie weg war. Er würde mir nicht glauben – das würde niemand, der noch ganz bei Trost war. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich mir selbst glaubte, und ich war immer noch nicht vollständig davon überzeugt, dass nicht doch alles ein ausgeklügelter Streich war.

Ava wandte den Blick nicht von mir, wartete, dass ich anfing zu sprechen, und ich wusste, aus dieser Sache würde ich nicht rauskommen. Selbst wenn sie mich wirklich für verrückt halten würden – das Bedürfnis, es jemandem zu erzählen, zu verstehen, was passiert war, war erdrückend. Ich holte tief Luft, und dann erzählte ich ihnen alles.

Als ich fertig war, starrte Ava mich mit feucht schimmernden Augen an. „Oh Kate – du bist wirklich in den Fluss gesprungen, um mich zu retten?“

Ich zuckte mit den Schultern, und bevor ich wusste, wie mir geschah, schlang sie die Arme um mich und vergrub ihr Gesicht an meinem Hals. Die Umarmung dauerte fast eine halbe Minute, und mit jeder verstreichenden Sekunde wurde es peinlicher. Endlich ließ sie mich los, aber ihre Hände lagen noch immer auf meinen Schultern.

„Das ist das Netteste, was je jemand für mich getan hat. Als ich versucht hab, Dylan davon zu erzählen …“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Er hat mich ausgelacht und gesagt, ich soll aufhören, mir Geschichten auszudenken.“

Am Sportlertisch saß Dylan inmitten seiner Freunde, und alle schienen äußerst erheitert. Ava neben mir sah am Boden zerstört aus. „Also hast du mit ihm Schluss gemacht?“, fragte ich.

„Spielt keine Rolle“, murmelte sie und stocherte in ihrem Sandwich herum. „In einer Woche wird er darum betteln, dass ich ihn zurücknehme. Was ist mit Henry? Du hast ihm echt alles versprochen? Was wollte er von dir?“

Aus dem Augenwinkel sah ich James aufblicken.

„Ich bin mir nicht ganz sicher“, gestand ich. „Er hat gefragt, ob ich den Mythos von Persephone kenne, und meinte, die Herbst-Tagundnachtgleiche wäre in zwei Wochen. Er hat gesagt, sobald ich ihre Geschichte nachgelesen hätte, wüsste ich, was er von mir will. Ich hab sie schon mal gehört, aber ich verstehe nicht, was das mit dem hier zu tun haben soll …“

Auf der anderen Seite des Tisches wühlte James in seinem Rucksack herum und warf einen Haufen schwere Bücher und Ordner auf den Tisch. Das machte einen solchen Lärm, dass die halbe Cafeteria zu uns herüberstarrte. Ich zog den Kopf ein und versuchte gleichzeitig zu begreifen, wie all die Sachen in seinen Rucksack gepasst hatten. Schließlich holte er einen Wälzer hervor, in dem ich unser Englischbuch erkannte. Scheinbar wahllos schlug er es auf, aber als ich den Hals reckte, um zu sehen, welche Seite es war, erkannte ich, dass es ganz und gar nicht wahllos gewesen war.

„Das hier ist die Geschichte von Persephone“, sagte er und zeigte auf ein Bild von einem Mädchen, das aus einer Höhle hervortrat. Auf dem Gras davor stand eine Frau, die Arme weit ge-öffnet. „Die Königin der Unterwelt.“

„Der Unterwelt?“ Ava lehnte sich vor, um besser sehen zu können. „Welche?“

Der Blick, den James ihr zuwarf, hätte Pflanzen zum Welken bringen können. „Die, wohin die Toten gehen. Der Tartaros? Die Elysischen Felder?“

„Griechische Mythologie“, warf ich ein, während ich weiterblätterte. „Siehst du den Typen hier?“ Ich zeigte auf einen dunkelhaarigen Mann, der halb von Schatten verborgen war. „Das ist Hades, der Gott der Unterwelt. Herrscher über die Toten.“

„Wie Satan“, meinte James.

„Nein, nicht wie Satan“, widersprach Ava. Sie klang ein wenig zornig, doch James schien es entweder nicht zu bemerken, oder es interessierte ihn nicht. „Satan ist christlich, und die Unterwelt ist nicht die Hölle. Hades ist kein Dämon. Er ist einfach … jemand, der dafür zuständig ist, sich um die Seelen der Toten zu kümmern. Er sorgt dafür, dass sie bekommen, was sie verdienen.“

Ungläubig starrte ich sie an. „Ich dachte, du hast keine Ahnung von dem Kram?“

Sie zuckte mit den Schultern und sah auf das Buch hinunter. „Vielleicht hab ich schon mal davon gehört.“

„Er hat sie entführt“, sagte James, und seine Stimme klang so tief, dass mir ein Schauer über den Rücken lief. „Sie hat auf einer Wiese gespielt, und er hat sie mit sich in die Unterwelt gezerrt, um sie zu seiner Frau zu machen. Sie hat sich geweigert zu essen. Und während ihre Mutter Demeter den König der Götter – Zeus – um Hilfe anflehte, wurde es kalt auf der Erde. Letztendlich zwang Zeus den Herrn der Unterwelt, Persephone freizugeben. Doch bis es so weit war, hatte sie bereits ein paar Samenkörner gegessen, und Hades bestand darauf, das würde bedeuten, dass sie die Hälfte des Jahres mit ihm verbringen müsste. Und so kommt jedes Mal, wenn sie als seine Frau bei ihm ist, der Winter. Mit diesem Mythos haben sich die Griechen die Jahreszeiten erklärt.“

Es fühlte sich an, als wäre die Temperatur um zehn Grad gefallen. Ein grauenvoller Gedanke schoss mir durch den Kopf, und ich starrte James an, während ich versuchte zu verstehen. Konnte es auch nur im Entferntesten sein, dass mein Deal mit Henry etwas Derartiges bedeutete?

Ava dagegen stieß einen abfälligen Laut aus. „Er war also einsam. Das macht ihn noch nicht zum Verbrecher – du weißt doch gar nicht, ob sie vielleicht mit ihm da runtergehen wollte. Könnte schließlich sein.“

Ich ignorierte sie und sah James an. „Glaubst du, Henry wird dasselbe mit mir probieren?“

„Das ist lächerlich“, warf Ava ein und verdrehte die Augen. „Hätte er dich entführen wollen, hätte er’s schon längst getan, oder? Ist ja nicht so, als hätte er keine Gelegenheit dazu gehabt, als wir im Wald waren.“

„Ich weiß nicht“, sagte James. „Möglich wär’s. Vielleicht wartet er auf die Tagundnachtgleiche, um es zu tun. Das sind nur noch ein paar Wochen, Ende September.“ Er starrte mich an, die blauen Augen so weit aufgerissen, dass ich mich fragte, ob sie ihm gleich aus dem Kopf fallen würden. „Was ist, wenn er von dir verlangt, den Winter über bei ihm zu bleiben?“

„Er kann ja wohl kaum erwarten, dass ich alles stehen und liegen lasse und mal eben für ein Weilchen bei ihm einziehe“, entgegnete ich unsicher. „Oder für immer.“

„Vielleicht fragt er dich gar nicht nach deiner Meinung“, warnte James. „Was dann?“

Zwischen uns dreien herrschte eine Weile Schweigen, das nur von den Hintergrundgeräuschen in der Cafeteria durchbrochen wurde. Schließlich straffte ich die Schultern und sagte so überzeu-gend, wie ich konnte: „Dann mach ich ihn fertig, und die Polizei sperrt ihn ein. Ende der Geschichte.“

Mit einem Knall schlug James das Buch zu, und ich zuckte zusammen.

„Mag sein“, stieß er hervor. „Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass du dich bereit erklärt hast, einen völlig Fremden zu heiraten.“

5. KAPITEL

TAGUNDNACHTGLEICHE

Für die kommenden zwei Wochen blieb mir genau eine Mög-lichkeit: den Deal vergessen, den ich gemacht hatte, das Ganze als lächerlich abschreiben und mit meinem Leben weitermachen. Selbst wenn ich eine andere Wahl gehabt hätte – der Gesundheitszustand meiner Mutter sorgte dafür, dass all meine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war.

Doch James und Ava wollten es mich nicht vergessen lassen. Jeden Tag, den die Tagundnachtgleiche näher rückte, stritten sie sich leise am Esstisch. Manchmal schienen sie meine Anwesenheit fast zu vergessen. James schien entschlossen, mir die ganze Sache auszureden. Immer wieder wies er mich darauf hin, wie wenig ich über Henry wusste und dass der ja wohl nicht alle Tassen im Schrank haben konnte, überhaupt daran zu denken, mir anzubieten, die Hälfte meines Lebens mit ihm zu verbringen. Doch für jeden Fehler, den James an der Vereinbarung fand, hatte Ava ein Gegenargument. Sie verteidigte Henry unermüdlich, und es war nicht schwer zu erkennen, warum. Wäre Henry nicht gewesen, wäre sie tot. Natürlich verspürte sie eine gewisse Loyalität ihm gegenüber.

Sie zerpflückten den Mythos, bedienten sich beide großzügig daran, um ihren Argumenten Nachdruck zu verleihen. Ständig musste ich wiederholen, was genau Henry gesagt hatte, aber die Informationen, die ich ihnen geben konnte, waren begrenzt. Ich fühlte mich unbehaglich und zählte die Tage bis zur Tagundnachtgleiche, war aber größtenteils mit meiner Mutter beschäftigt. Die Albträume hörten nicht auf, ließen mir Nacht für Nacht nur wenige Stunden Schlaf, aber niemand sagte etwas zu den dunklen Ringen unter meinen Augen. Eden war eine kleine Stadt, und jeder wusste über meine Mutter Bescheid.

Ein paar Tage vor Herbstbeginn kam ich von der Schule nach Hause und entdeckte sie mitten im unkrautüberwucherten Garten. Panik stieg in mir auf und schnürte mir die Kehle zu. Hektisch sprang ich aus dem Wagen und hastete an ihre Seite. Ich ließ mich neben ihr auf die Knie fallen, um einen Blick in ihr Gesicht werfen zu können.

„Mom?“ Meine Stimme war schrill vor Sorge. „Du solltest drinnen sein und dich ausruhen.“ Woher nahm sie überhaupt die Energie, das hier zu tun? Ich warf Sofia, die strickend auf der Veranda saß, einen wütenden Blick zu.

Sofia zuckte mit den Schultern. „Sie hat darauf bestanden.“

„Mir geht’s gut, ich hab den ganzen Tag geschlafen“, versicherte mir Mom und winkte mich fort – allerdings nicht, bevor ich gesehen hatte, wie sie aussah. Ihre Haut war blass und papierdünn, doch in ihren Augen stand ein Funkeln, das in den letzten Wochen erloschen gewesen war.

„Komm.“ Sanft fasste ich sie am Ellenbogen und versuchte sie zum Aufstehen zu bewegen. Doch sie blieb stur sitzen, und ich hatte zu viel Angst, ihr wehzutun, um energischer zu werden.

„Nur noch ein paar Minuten“, bat sie und sah mich flehend an. „Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr draußen. Die Sonne fühlt sich wundervoll an.“

Erneut ließ ich mich auf die Knie fallen. Es würde nichts bringen, jetzt noch mit ihr zu streiten. „Brauchst du Hilfe?“ Als mein Blick auf das zugewucherte Unkrautbeet vor uns fiel, verzog ich das Gesicht. Wie lange hatte sich darum niemand mehr gekümmert?

Bei meinem Angebot erhellte sich ihr Gesicht. „Ich brauche sie nicht, aber ich würde mich darüber freuen. Fang einfach an, den Dschungel auszureißen.“

Es war eine mühsame Arbeit, das Beet vom Unkraut zu befreien. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie lange meine Mom schon hier draußen war. Sie hatte nicht die Energie, sich für so etwas zu verausgaben. Doch wenn meine Mutter sich etwas in den Kopf setzte, konnte es ihr niemand wieder ausreden.

„Ich bin in ein paar Minuten zurück“, rief Sofia von der Veranda aus, stand auf, ging ins Haus – und ließ uns allein. Ich beobachtete meine Mutter aus dem Augenwinkel, während ich an einer Pflanze zerrte, die fast so groß war wie ich. Sobald ich auch nur das winzigste Anzeichen von Erschöpfung sähe, würde ich Mom hineinbringen.

Doch so energiegeladen und fokussiert hatte ich sie schon seit Tagen nicht erlebt. Ich hatte ihr nichts von dem erzählt, was bei der „Party“ geschehen war, weil ich nicht wollte, dass sie sich Sorgen machte. Doch jetzt, da die Tagundnachtgleiche immer näher rückte und James und Ava sich in den Haaren lagen, verspürte ich das Bedürfnis, es ihr zu sagen – vielleicht nicht alles, aber wenigstens einen Teil der Geschichte. Etwas wie das hatte ich noch nie vor ihr verheimlicht, und es würde nicht mehr viele Gelegenheiten geben, mit ihr darüber zu sprechen.

„Mom?“, fragte ich zögernd. „Kennst du Eden Manor?“

„Natürlich.“ Die Falte auf ihrer Stirn vertiefte sich, als sie an einem besonders widerspenstigen Gewächs zog. „Was ist damit?“

Ich packte unterhalb ihrer Faust zu und half ihr, das Unkraut herauszuziehen.

„Lebt da jemand, der Henry heißt?“

Sie setzte sich auf und machte sich nicht die Mühe, ihre Über-raschung zu verbergen. „Warum fragst du?“

„Darum.“ Unbehaglich rutschte ich auf dem Gras umher; meine Knie begannen langsam wehzutun. Ich wusste, ich sollte es ihr erzählen, dass sie es würde wissen wollen – aber was, wenn sie versuchte, sich einzumischen? Was, wenn ich ihr Angst einjagte, wenn ich ihr damit schadete?

Also log ich.

„Ein paar Leute in der Schule haben über ihn geredet“, murmelte ich und wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen, während nagende Schuldgefühle in mir aufstiegen. Ich log meine Mutter nie an. Nur wenn es wirklich nicht anders ging. „Ich hab mich bloß gefragt, ob du irgendwas über ihn weißt.“

Sie ließ die Schultern sinken und streckte die Hand aus, um mir eine Locke hinters Ohr zu schieben. „Wenn du darauf bestehst, schwierige Themen auf den Tisch zu bringen, können wir dann wenigstens darüber sprechen, was passiert, wenn ich sterbe?“

In einer Sekunde war ich auf den Füßen; alle Gedanken an Henry waren aus meinem Kopf verschwunden. „Es ist Zeit reinzugehen.“

Aus schmalen Augen sah sie mich an. „Ich gehe rein, wenn du bereit bist, mit mir zu reden.“

„Ich rede doch mit dir“, wich ich aus. „Bitte, Mom, du über-anstrengst dich. Es wird dir schlechter gehen.“

Ein humorloses Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich wüsste nicht, wie. Redest du mit mir darüber oder nicht?“

Ich schloss die Augen und versuchte die stechenden Tränen zu ignorieren. Das war nicht fair. Etwas Zeit mussten wir doch noch haben, oder? Sie hatte so lange durchgehalten – sicher konnte sie noch ein paar Monate mehr schaffen. Weihnachten, dachte ich. Nur noch ein gemeinsames Weihnachten, dann würde ich es über mich bringen, Lebewohl zu sagen. Den Deal hatte ich schon die letzten vier Jahre gemacht, und bisher hatte er immer funktioniert.

„Ich will nicht, dass du mich vermisst“, sagte sie. „Du sollst dein eigenes Leben leben, Liebes, und dich nicht mit mir belasten – erst recht nicht, wenn ich fort bin.“

Meine Kehle fühlte sich rau an, doch ich sagte nichts. Ich wusste nicht, wie das ging – mein eigenes Leben leben. Selbst in New York war sie schon meine beste Freundin gewesen – meine einzige Freundin in den vergangenen vier Jahren. Was erwartete sie von mir? Dass ich zusammenpackte und das alles einfach hinter mir ließ?

„Und ich will, dass du dich verliebst und deine eigene Familie gründest – eine, die deutlich länger bei dir bleibt als ich.“ Sie streckte den Arm aus, ergriff meine Hand und drückte sie sanft. „Finde jemanden, der gut zu dir ist, und lass ihn niemals gehen, hörst du?“

Ich fühlte mich, als würde ich ertrinken. „Mom“, brachte ich mühsam hervor, „ich weiß nicht, wie das alles geht.“

Traurig lächelnd sah sie zu mir auf. „Das weiß niemand, Kate. Nicht am Anfang. Aber du bist bereit dafür, das verspreche ich dir. Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand.“ Für einen Moment wirkte sie abwesend und blickte auf unsere verschränkten Finger. „Du bist bereit, und du wirst es mit Bravour meistern, Liebes. Du wirst das Unmögliche schaffen, das spüre ich. Und selbst wenn du denkst, ich wäre nicht bei dir, werde ich es doch immer sein. Ich werde dich niemals verlassen – vergiss das nie, okay? Manchmal wird es sich vielleicht anfühlen, als wäre ich fort, aber ich werde immer da sein, wenn du mich am meisten brauchst.“

Mit der freien Hand wischte ich mir die Tränen fort, und mein Griff um ihre Finger wurde fester. Etwas in meinem Inneren bröckelte schneller weg, als ich es wieder kitten konnte, und ich wusste nicht mehr, was ich noch tun konnte. Ein Leben ohne sie konnte ich mir nicht vorstellen. Nicht, dass ich das überhaupt gewollt hätte. Und doch war es eine Realität, der ich mich früher würde stellen müssen, als ich bereit wäre. Ich wollte sie, meine Mutter – keine bloße Erinnerung.

„Versprich mir, dass du du selbst bleibst und tust, was dich glücklich macht, was auch kommen mag“, bat sie eindringlich und umschloss mit beiden Händen meine klammen Finger. „Auf dich wartet Großes, mein Liebling, aber je mehr du dich dagegen wehrst, die zu sein, die du bist, desto schwerer wird es werden. Welche Hindernisse sich dir auch immer in den Weg stellen: Denk immer daran, dass du alles schaffen kannst, wenn du es nur willst. Und das wirst du.“ Sie lächelte, und der letzte Rest Selbstbeherrschung in mir zerbrach. „Du bist so viel stärker, als du glaubst. Versprichst du mir, zu versuchen, glücklich zu sein?“

Ich wollte ihr sagen, dass ich nicht wusste, wie ich ohne sie glücklich sein sollte, dass ich nicht wusste, wer ich war, wenn sie nicht bei mir war, und dass ich nicht stark genug war für das hier. Doch ihr flehender Blick zwang mich in die Knie. Also log ich ein zweites Mal.

„Okay“, murmelte ich. „Ich versprech’s.“

Ihr Lächeln machte meine Schuldgefühle nur noch größer. „Danke“, erwiderte sie. „Es wird einfacher sein, zu gehen, wenn ich weiß, dass du zurechtkommen wirst.“

Schweigend half ich ihr auf die Beine. Ich wusste nicht, ob ich meiner Stimme in diesem Augenblick trauen konnte. Ohne einen weiteren Blick auf das ausgerupfte Unkraut mitten auf dem Rasen zu werfen, klopfte ich ihr den Schmutz von den Knien und brachte sie halb stützend, halb tragend ins Haus – während ich mit aller Macht wünschte, sie müsste überhaupt nicht gehen.

Am nächsten Tag, während die Lehrerin herunterleierte, wie man französische Verben konjugierte, öffnete sich die Tür zum Klassenraum, und Irene aus dem Sekretariat trat ein. Alle Köpfe, meiner eingeschlossen, wandten sich zu ihr um, doch die Einzige, die sie ansah, war ich.

Mit einem Gefühl, als würden jeden Moment die Beine unter mir nachgeben, stand ich auf. Auf meinem Hinterkopf spürte ich förmlich James’ und Avas Blicke brennen. Ich stolperte durch die Tischreihen auf Irene zu und ignorierte das allgemeine Flüstern.

„Kate“, sagte Irene sanft, als wir auf dem Flur standen und sie die Tür zum Klassenraum fest hinter mir geschlossen hatte. „Die Krankenschwester deiner Mutter hat angerufen.“

Alles um mich herum schien sich zu drehen, und für einen Moment wollte mir nicht mehr einfallen, wie man atmete. „Ist sie tot?“

„Nein“, erwiderte Irene, und Erleichterung durchflutete mich. „Sie ist im Krankenhaus.“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte ich mich um und rannte den Flur hinunter, der Unterricht war völlig vergessen. Alles, was ich wollte, war, zum Krankenhaus zu gelangen, bevor meine Mutter starb.

„Kate?“

Es war später Nachmittag, und ich saß völlig erschöpft im Warteraum des Krankenhauses. Die letzten drei Stunden hatte ich allein hier verbracht, die Zeitschriften durchgeblättert, die sich auf dem Tisch stapelten, und darauf gewartet, dass die Ärzte mir sagten, wie es meiner Mom ging.

„James!“ Auf wackligen Beinen ging ich auf ihn zu und umarmte ihn, als hinge mein Leben davon ab. Es dauerte länger, als unbedingt nötig gewesen wäre, doch ich brauchte das Gefühl seiner warmen Arme, die mich hielten. Es war lange her, dass ich jemanden umarmt hatte, der nicht zerbrechlich war. „Meiner Mutter geht es schlecht, und sie sagen mir nicht …“

„Ich weiß“, bremste er mich. „Irene hat’s mir erzählt.“

„Was ist, wenn es das jetzt war?“, fragte ich und barg mein Gesicht an seiner Brust. „Ich konnte mich nicht mal verabschieden. Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich sie liebe.“

„Sie weiß es“, murmelte er, während er durch mein Haar strich. „Ich verspreche dir, dass sie es weiß.“

Die nächsten Stunden blieb er bei mir, verschwand nur kurz, um etwas zu essen zu besorgen, und saß neben mir, als schließ-lich der Arzt kam und das sagte, wovor ich mich gefürchtet hatte: Meine Mutter war ins Koma gefallen, und sie würde nicht mehr lange bei uns sein.

James blieb an meiner Seite, als ich hineinging, um meine Mutter zu sehen. So klein und zerbrechlich sah sie aus, wie sie da in dem großen Krankenhausbett lag, den Körper an mehr Maschinen und Monitore angeschlossen, als ich zählen konnte. Ihre Haut war aschgrau, und selbst wenn der Arzt es mir nicht gesagt hätte, konnte ich sehen, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde. Im Kopf ging ich noch einmal alles durch, was am Vortag geschehen war, und hasste mich selbst mit jedem Mal mehr, dass ich mich erinnerte, wie ich sie im Garten hatte bleiben lassen. Vielleicht würde sie noch immer durchhalten, hätte ich nicht zugelassen, dass sie sich so anstrengte.

Jetzt, wie sie dort in ihrem Krankenbett lag, war sie kaum mehr wiederzuerkennen. So wollte ich meine Mutter nicht in Erinnerung behalten – als leblose Hülle der Frau, die sie einmal gewesen war. Doch ich konnte nicht loslassen.

Kurz vor zehn kam eine Krankenschwester und erklärte, dass die Besuchszeit vorbei sei. Als ich mich ein paar Minuten später immer noch nicht hatte lösen können, trat James neben mich.

„Kate.“ Ich spürte seine Hand auf dem Rücken und versteifte mich. „Je eher du etwas Schlaf bekommst, desto früher kannst du morgen wieder herkommen und nach ihr sehen. Komm, ich fahr dich nach Hause.“

„Das ist nicht mehr mein Zuhause“, widersprach ich, ließ jedoch zu, dass er mich fortführte.

Ich starrte aus dem Fenster, während er mein Auto zurück nach Eden fuhr – dankbar, dass er nicht versuchte, eine Unterhaltung anzufangen. Selbst wenn er es versucht hätte – ich war mir nicht sicher, ob ich eine Antwort herausgebracht hätte. Erst als wir mit laufendem Motor in meiner Auffahrt standen, richtete James das Wort an mich. Im Hintergrund spielte leise ein Song im Autoradio, und ich musste mich anstrengen, ihn über-haupt zu erkennen. Ich schob es vor mir her. Ich wollte nicht in dieses Haus gehen. Jahrelang hatte ich mich auf das vorbereitet, was kommen musste. Und nun, da es passierte, konnte ich den Gedanken nicht aushalten, allein zu sein.

„Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?“

„Mir geht’s gut“, log ich. James lächelte traurig.

„Ich komm vorbei und hol dich ab, morgen ganz früh.“

„Ich geh nicht zur Schule.“

„Ich weiß.“ Unverwandt sah er mich an. „Ich bring dich ins Krankenhaus.“

„James … Du musst das nicht tun.“

„Ist das nicht das, was Freunde füreinander tun?“ Es schmerzte, die Unsicherheit in seiner Stimme zu hören. „Du bist meine Freundin, Kate, und es geht dir furchtbar. Was, um alles in der Welt, könnte wichtiger sein, als mich um dich zu kümmern?“

Ich zitterte am ganzen Körper, und es war bloß noch eine Frage der Zeit, bis ich anfangen würde zu heulen. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, lehnte ich mich hinüber zum Fahrersitz und schlang die Arme um James. Einen Freund wie ihn hatte ich noch nie gehabt. Jemanden, der seinen Tag dafür opfern würde, mit mir am Sterbebett meiner Mutter zu sitzen. Ich war in der Erwartung nach Eden gekommen, am Ende allein zu sein, und stattdessen hatte ich James gefunden. Hatte es je einen Grund gegeben, in Eden zu bleiben, so war er es.

„Nimm wenigstens das Auto“, murmelte ich an seiner Schulter. „Du solltest nicht im Dunkeln nach Hause laufen.“

Ich spürte, wie er zum Widerspruch ansetzte, löste mich von ihm und warf ihm einen warnenden Blick zu. Er hielt inne und nickte nur. „Danke.“

Als ich endlich aus dem Wagen kletterte, war ich eine verrotzte, tränenüberströmte Katastrophe, aber das war mir egal. Neben dem Weg fiel mein Blick auf den kahlen Fleck, den wir vom Unkraut befreit hatten, das immer noch in einem wirren Haufen auf dem Rasen lag.

„Wir sehen uns morgen“, hörte ich James’ Stimme von der Einfahrt her. Ich nickte, nicht in der Lage, ein Wort hervorzubringen, und winkte ihm zum Abschied zu. Mit letzter Kraft zwang ich mich zu einem Lächeln.

Als ich das Haus betrat, zitterten meine Hände. Doch ich wusste, es war sinnlos, sich vor einem leeren Haus zu fürchten. Egal, wie sehr der Duft meiner Mutter noch in der Luft lag. Ich würde noch für eine sehr lange Zeit allein leben.

Apathisch wanderte ich durch die Flure, strich mit der Hand über jede Oberfläche, an der ich entlangging, blicklos in die Dunkelheit starrend, die vor mir lag. Diese Nacht bedeutete das Ende des einzigen Kapitels meines Lebens, das ich je gekannt hatte, und ich wusste nicht, wie ich die auf mich wartende Leere über-leben sollte.

Als es um Mitternacht an der Tür klingelte, lag ich zusammengerollt im Bett meiner Mutter, immer noch in derselben Kleidung, in der ich zur Schule gefahren war. Erst als es ein zweites Mal geklingelt hatte, konnte ich mich dazu aufraffen, zur Tür zu gehen – und selbst dann ließ ich mir noch Zeit dafür, hievte mich mühsam aus dem Bett und schlurfte langsam die Treppe hinunter. Das Kissen meiner Mutter an die Brust gedrückt, öffnete ich die Tür und erwartete, James zu sehen.

Es war Henry.

Mein Magen rutschte irgendwo in Richtung Knie, und der Nebel, der meinen Kopf erfüllt hatte, löste sich in Luft auf.

„Hallo, Kate.“ Seine Stimme klang süß wie Honig, und plötz-lich war ich mir unangenehm bewusst, wie schrecklich ich aussah. „Erinnerst du dich noch an mich?“

Wie hätte ich ihn vergessen können? „Ja“, brachte ich heiser hervor. „Du bist Henry.“

„Das bin ich.“ Hinter seinem Lächeln erhaschte ich einen Blick auf etwas Trauriges. Etwas, das ich nur allzu gut nachempfinden konnte. „Das ist mein Butler Walter.“

Ich betrachtete den zweiten Mann, meine Hand immer noch fest um den Türknauf geschlossen. Er war älter, sein Haar grau und die Haut von Falten durchzogen. Sein blasses Gesicht wirkte abgespannt.

„Hi“, murmelte ich unsicher.

„Hallo, Miss Winters.“ Er lächelte warm. „Dürfen wir eintreten?“

Es machte keinen Sinn, darüber nachzugrübeln, ob sie nun hier waren, um mich zu entführen oder nicht. Ava hatte recht: Wäre das Henrys Plan gewesen, läge ich schon längst gefesselt und geknebelt in einem Van. Außerdem spielte es sowieso keine Rolle mehr. Nickend öffnete ich die Tür weit genug, dass sie hereinkommen konnten.

Nervös führte ich sie ins Wohnzimmer. Nachdem ich das Licht angemacht hatte, setzte ich mich in den Sessel und ließ den beiden damit keine andere Wahl, als auf dem Sofa Platz zu nehmen. Henry ließ sich nieder, als wäre er schon tausendmal hier gewesen, und im Licht konnte ich sein Gesicht endlich genauer betrachten. Er sah genauso jung und umwerfend aus wie beim letzten Mal.

„Weißt du, welcher Tag heute ist?“

Ich war mir nicht einmal mehr sicher, welcher Monat gerade war, doch es konnte nur einen Grund geben, aus dem Henry vor meiner Tür aufgetaucht war. „Heute ist die … die Tagundnachtgleiche, richtig?“

„Sehr gut“, sagte Henry. „Hast du dich über Persephone informiert?“

Mein Mund wurde trocken, und ich nickte stumm.

„Und bist du bereit, deinen Teil unseres Handels zu erfüllen?“

Unsicher sah ich zwischen den beiden hin und her. Vielleicht waren sie doch hier, um mich zu entführen. „Ich bin mir nicht ganz sicher, wie genau unser Handel lautet.“

Es war Walter, der nun das Wort ergriff. „Als Gegenleistung für das Leben deiner Freundin hast du dich bereit erklärt, den Herbst und Winter in Eden Manor zu verbringen. Jeden Herbst und Winter, wenn die Dinge sich entwickeln wie geplant.“

Ich starrte ihn an. „Wie bitte?“

„Natürlich als unser verehrter Gast“, fügte er hinzu. „Du wirst mit dem größten Respekt und äußerster Rücksicht behandelt werden, und du wirst alles haben, was du dir nur wünschen kannst.“

„Moment.“ Ich sprang zu schnell aus meinem Sessel auf, und das Blut sackte mir aus dem Kopf. Verbissen kämpfte ich gegen den Schwindel an, weigerte mich, vor Henry und Walter zu stolpern. „Ihr meint, dass ich für den Rest meines Lebens jedes Jahr sechs Monate mit dir verbringen muss? Das war unsere Abmachung?“

„Ja“, antwortete Henry. Er hob die Hand, um Walter am Reden zu hindern, und erhob sich ebenfalls. „Ich bin mir darüber im Klaren, dass das nicht einfach sein wird, und du wirst gewisse … Herausforderungen bestehen müssen. Aber ich versichere dir, dass ich alles tun werde, um dafür zu sorgen, dass du in Sicherheit bist und es dir gut geht. In den anderen sechs Monaten eines jeden Jahres kannst du tun, was immer dir gefällt. Wenn du das willst, kannst du ein vollkommen anderes Leben führen – du wirst uneingeschränkte Freiheit haben. Und während du bei mir bist, wirst du wie eine Königin behandelt werden. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dich glücklich zu machen.“

Plötzlich wurde mir klar, dass er das todernst meinte. Speziell an einem Wort war ich hängen geblieben, und als ich mir den Mythos ins Gedächtnis rief, gefror mir das Blut in den Adern.

„Königin“, wiederholte ich, spie ihnen das Wort förmlich vor die Füße. „Du meinst, ich soll deine Frau werden?“

Henry runzelte die Stirn. „Ich mache dir keinen Heiratsantrag, Kate. Nach dem Tod deiner Mutter wirst du bald nichts mehr haben, das dich noch hier hält, und ich biete dir die Chance auf ein Leben, das du dir nicht mal erträumen könntest.“

Ich wurde wütend. Woher wusste er von meiner Mutter? „Was bekommst du als Gegenleistung? Ich werde nicht mit dir schlafen, wenn es das ist, worauf du hinauswillst. So eine bin ich nicht.“

Er und Walter tauschten einen amüsierten Blick. „Ich versichere dir: Alles, was ich will, ist das Vergnügen deiner Gesellschaft. Auf rein platonischer Ebene.“

Irgendwie glaubte ich nicht, dass das alles war, was er wollte. Doch es kam so oder so nicht infrage, auch nur so zu tun, als läge diese Vereinbarung im Bereich des Möglichen. Ich würde ganz sicher nicht für den Rest meines Lebens sechs Monate eines jeden Jahres mit einem Fremden verbringen – vollkommen egal, was er mir dafür anbot.

„Nein“, sagte ich. „Danke für dein Angebot, aber du bist verrückt. Und jetzt würde ich gern schlafen, wenn ihr nichts dagegen habt.“

Sie widersprachen nicht. Walter stand auf und schloss sich uns an, als ich den Weg zur Tür voranging. Ich hielt die Haustür ge-öffnet, sodass sie keine Entschuldigung hatten, den Abschied hinauszuzögern. Als Henry das Haus verließ, hielt er inne, keine Unterarmlänge von mir entfernt. Er war wirklich wunderschön, und so nah bei ihm war es schwer, sich zu erinnern, warum es so furchtbar wäre, sechs Monate im Jahr mit ihm zu verbringen.

„Bist du dir im Klaren darüber, was geschehen wird, wenn du deinen Teil der Abmachung nicht erfüllst?“

„Nein, und es ist mir auch egal“, erwiderte ich bestimmt. „Und jetzt geh bitte.“

„Ich gebe dir Zeit bis Mitternacht“, sagte er und gesellte sich zu Walter, der am Gartentor auf ihn wartete. „Länger kann ich leider nicht warten. Lehne mein Angebot nicht vorschnell ab, Kate. Dies ist das einzige Mal, dass ich es aussprechen werde.“

Anstatt zu antworten, schlug ich die Tür zu und versuchte zu ignorieren, wie sehr meine Hände zitterten.

James holte mich am nächsten Morgen ab, und er hatte sogar daran gedacht, mir einen Bagel mitzubringen. Ich knabberte lustlos daran herum, während wir zum Krankenhaus fuhren. Mein Appetit hatte mich endgültig verlassen. Zum Glück versuchte James nicht, eine Unterhaltung anzufangen.

Als ich wieder am Bett meiner Mutter saß, schlich sich ein trü-gerischer Gedanke in meinen Kopf. Wenn Henry Ava gerettet hatte – wenn das wirklich geschehen war und nicht bloß Einbildung oder ein grauenvoller Streich gewesen war –, konnte er dann auch meine Mutter retten?

Ich wischte den Gedanken beiseite. Schließlich konnte ich es mir nicht leisten, solche Dinge zu denken. Nicht während ich mich auf das Ende vorbereiten musste, das sich nun in Riesenschritten näherte. Davon abgesehen war das, was Henry angeblich getan hatte, schlicht unmöglich. Ein glücklicher Zufall oder eine Sinnestäuschung oder irgendeine Art grausamer Scherz, den Ava immer noch nicht aufgedeckt hatte – was auch immer es gewesen war, die Stunden meiner Mutter waren gezählt, und kein Zaubertrick der Welt würde sie retten. Sie hatte schon wesentlich länger durchgehalten, als die Ärzte prognostiziert hatten, und ich wusste, ich sollte dankbar sein für die Zeit, die ich mit ihr gehabt hatte. Doch sie langsam dahinschwinden zu sehen, während die Stunden verstrichen, machte das unmöglich.

Erst als wir am Abend langsam über den Parkplatz des Krankenhauses gingen, erzählte ich James, was in der Nacht geschehen war. Als ich meine Geschichte beendet hatte, blieb er still, die Hände in den Taschen seiner schwarzen Jacke vergraben.

„Du meinst, die sind einfach so aufgetaucht, ohne Vorwarnung?“

Ich nickte, innerlich zu leer, um mir noch Gedanken darüber zu machen. „Sie waren eigentlich gar nicht unhöflich, aber es war einfach … seltsam.“

Er öffnete mir die Autotür, und ich ließ mich auf den Beifahrersitz fallen. Erst als er sich ans Steuer setzte, sprach er wieder. „Du kannst das nicht tun, Kate.“

„Das hatte ich auch nicht vor. Sie würde mich niemals alleinlassen, wenn ich in so einem Zustand wäre.“

„Gut“, sagte er.

Wir fuhren über den Parkplatz, dem Sonnenuntergang entgegen. Ich hielt mir die Hand vor die Augen, während ich versuchte, den Mut zu finden, das auszusprechen, woran ich schon den gesamten Tag gedacht hatte.

„Was, wenn er meine Mutter retten kann?“

James runzelte die Stirn. „Was würde er dann dafür von dir verlangen?“

„Was auch immer es wäre, das wäre es wert“, antwortete ich leise. „Wenn es bedeuten würde, dass sie lebt.“

James streckte die Hand aus und legte sie über meine. „Ich weiß, dass es das wäre, aber manchmal ist alles, was wir tun können, Lebewohl zu sagen.“

Mein Gesicht wurde heiß, und vor meinen Augen verschwamm alles. Ich wandte mich von James ab und starrte blicklos aus dem Fenster.

„Was, glaubst du, wird passieren, wenn ich nicht auftauche? Glaubst du, er wird Ava etwas antun? Das war unser Deal – ich tue, was er will, und dafür rettet er sie.“

„Er wird ihr nicht wehtun“, versuchte James mich zu beruhigen, doch aus dem Augenwinkel sah ich, wie sein Griff um das Lenkrad fester wurde. „Nicht wenn er auch nur im Entferntesten menschlich ist.“

Mit meinem Ärmel trocknete ich mir die Augen. „Ich bin mir nicht so sicher, ob er das wirklich ist.“

Als ich nach Hause kam, warteten sechs Nachrichten auf dem Anrufbeantworter auf mich. Die erste kam von der Schule. Man wollte wissen, wo ich war. Die nächsten fünf waren alle von Ava, und mit jedem Mal klang ihr Ton besorgter.

Obwohl ich erschöpft war, rief ich sie zurück. Es tat gut, ihre Stimme zu hören, obwohl sie so nervenaufreibend fröhlich und gesprächig wie immer war. Sie plapperte genug für uns beide, und es schien sie nicht zu stören, dass ich kaum ein Wort sagte. Obwohl James sicher zu sein schien, dass ihr nichts passieren würde, konnte ich meine Sorge um sie nicht ignorieren. Auch wenn ich sie erst ein paar Wochen kannte, fühlte ich mich nach dem Vorfall am Fluss für sie verantwortlich. Ich konnte vielleicht nichts tun, um meiner Mutter zu helfen, aber wenn Ava meinetwegen irgendetwas zustieß – ich würde es nicht ertragen können.

„Ava?“, brach es deshalb aus mir heraus, als wir gerade auflegen wollten.

„Ja?“ Sie klang abgelenkt.

„Tu mir einen Gefallen, und pass heute Nacht auf dich auf, okay? Mach nichts Dummes, wie auf Leitern zu klettern oder Löwen zu streicheln oder so was.“

Sie lachte. „Klar, was immer du sagst. Ich ruf dich morgen früh an. Grüß deine Mom von mir.“

Nachdem wir aufgelegt hatten, konnte ich nicht schlafen. Stattdessen beobachtete ich meinen Wecker, wie er von 11:59 auf 12:00 sprang, und eine erdrückende Furcht ergriff von mir Besitz. Was, wenn Ava etwas geschah? Was sollte ich dann tun? Es wäre mein Fehler. So unwahrscheinlich es auch gewesen war, sie war meine Freundin geworden, und ich hätte sie vor solchen Dingen beschützen sollen, statt mich dem Mann zu widersetzen, der offensichtlich dachte, sie schuldete ihm das Leben. Oder dass ich ihm meins schuldete.

Ich wollte nicht über Henry nachdenken. Ich wollte nicht darüber grübeln, wie er sie in jener Nacht am Fluss zum Leben erweckt hatte, und ich wollte nicht an sein Angebot denken. Vergeblich versuchte ich, mir das Gesicht meiner Mutter vor Augen zu rufen, doch das einzige Bild, das auftauchte, war das, wie sie sterbend in ihrem Krankenhausbett lag.

Ich wälzte mich auf die andere Seite und vergrub das Gesicht in meinem Kissen. Jetzt konnte ich nichts mehr tun, und dieses Gefühl der Machtlosigkeit zerriss mich förmlich. Doch ich hatte meine Entscheidung getroffen, und ich würde dabei bleiben. Wenn es nach mir ginge, würde ich Henry niemals wiedersehen.

Um halb sieben am nächsten Morgen wurde ich von lauten Schlägen gegen die Haustür geweckt. Ich stöhnte, da ich erst kurz nach vier eingeschlafen war, aber ignorieren konnte ich den frühen Besucher nicht. Als ich wütend die Tür aufriss, vergaß ich die Flut von Schimpfwörtern, die mir auf der Zunge gelegen hatten. Es war James, und er sah aus, als hätte er in der Nacht kein Auge zugemacht. Ich ließ den Türknauf los und fuhr mir durch das zerwühlte Haar.

„James? Was ist los?“

„Es ist Ava.“

Ich erstarrte.

„Sie ist tot.“

6. KAPITEL

EDEN MANOR

In der Stadt ging das Gerücht um, Ava hätte ein Hirn-Aneurysma gehabt, aber ich wusste es besser. Als auf unserem Weg zum Krankenhaus die Schule in Sichtweite kam, bemerkte ich, dass sämt-liche Schüler auf dem Parkplatz versammelt waren. Alle lagen sich schluchzend in den Armen. Ich konnte den Blick nicht von ihnen losreißen.

„Dreh um.“

„Was?“

„Ich hab gesagt, dreh um, James. Bitte.“

„Und wo soll ich hinfahren?“

Ich starrte aus dem Fenster, unfähig, mich vom Anblick all der verzweifelten Gesichter zu lösen. Selbst die, die Ava gehasst hatten, weinten. Ich atmete flach und bemühte mich mit aller Kraft, die Tränen zurückzublinzeln.

Es war meine Schuld. Ava war siebzehn Jahre alt gewesen. Ihr gesamtes Leben hatte noch vor ihr gelegen, und jetzt war sie tot – meinetwegen. Wenn Henry sich jemanden hatte holen müssen, warum dann nicht mich? Ich war diejenige, die seine Warnung unbesonnen beiseite gewischt hatte, nicht Ava.

Ich kniff die Augen zu, als wir am Parkplatz vorüber waren. Das Bild der trauernden Menge hatte sich auf der Innenseite meiner Lider eingebrannt. Würde es mein ganzes Leben lang so sein? Dass alle, die ich kannte, starben? Würde James der Nächste sein – oder gnädigerweise ich selbst?

Unbändiger Zorn bemächtigte sich meiner, überstieg meine Schuld, bis ich mich so fest in die Armlehne krallte, dass meine Fingernägel kleine halbmondförmige Kerben im Leder hinterließen. Ava hatte das nicht verdient. Und egal, wie unsympathisch sie Henry gewesen war wegen des Streichs, den sie mir gespielt hatte, gab ihm das noch lange nicht das Recht, ihr, ihrer Familie und dieser Stadt so etwas anzutun. Und aus welchem Grund? Weil ich ihm nicht geglaubt hatte? Weil ich nicht die Hälfte vom Rest meines Lebens damit vergeuden wollte, den Launen eines Wahnsinnigen ausgeliefert zu sein? War es das, was er tat, wenn er nicht bekam, was er wollte – einen Tobsuchtsanfall bekommen und jemanden umbringen?

Ich ignorierte die leise Stimme in meinem Hinterkopf, die mich daran erinnerte, dass Henry der einzige Grund war, dass sie in jener Nacht am Fluss überhaupt überlebt hatte.

Es gab nichts, das ich tun konnte, um meiner Mutter zu helfen. Aber ich konnte Ava helfen. Und ich würde das in Ordnung bringen.

„Kate“, holte mich James sanft in die Realität zurück und legte seine Hand auf meine. „Es ist nicht deine Schuld.“

„Und wie es das ist“, fuhr ich ihn an und zog meine Hand weg. „Wäre ich nicht gewesen, wäre sie jetzt nicht tot.“

„Sie wäre schon vor Wochen gestorben, wärst du nicht gewesen.“

„Nein, wäre sie nicht“, widersprach ich. „Sie hätte niemals versucht, mir diesen dämlichen Streich zu spielen, hätte ich nicht zugestimmt mitzugehen. Sie hätte sich nicht den Kopf angeschlagen, wäre ich nicht nach Eden gezogen. Nichts von all dem wäre passiert, wenn ich nicht hierhergekommen wäre.“

„Also bloß weil du hergezogen bist, ist das alles deine Schuld.“ Wütend umklammerte er das Lenkrad fester. „Ava war diejenige, die kopfüber in diesen Fluss gesprungen ist. Du warst diejenige, die sich dazu bereit erklärt hat, die Hälfte vom Rest deines Lebens aufzugeben, um ihr Leben zu retten. Du hast ihr mehr Zeit verschafft, Kate, kapierst du das nicht?“

„Was bringen denn ein paar Wochen mehr?“, erwiderte ich zornig und wischte mir die Wangen trocken. „Das ist gar nichts wert. Nichts von all dem hätte je passieren dürfen.“

„Kate …“, setzte James an, doch ich wandte mich von ihm ab. Endlich war das Schulgelände außer Sichtweite.

„Fahr einfach, James. Bitte.“

„Wohin denn?“

„Wenn er sie einmal wieder zum Leben erweckt hat, kann er das auch ein zweites Mal tun.“

James seufzte und sagte so leise, dass ich nicht hätte beschwören können, dass ich ihn richtig verstanden hatte: „Ich bin mir nicht sicher, ob das so funktioniert.“

Ich versuchte den Kloß in meinem Hals hinunterzuschlucken. „Wenn du Ava je wiedersehen willst, dann hoff mal lieber, dass es so ist.“

Zehn Minuten später waren James und ich am großen schmiedeeisernen Tor angelangt. Mittlerweile zitterte ich am ganzen Körper, hin- und hergerissen zwischen Verzweiflung und Wut. Wie konnte Henry es wagen, das zu tun? Er musste gewusst haben, dass ich nicht verstanden hatte, wovon er gesprochen hatte, oder zumindest, dass ich nicht daran geglaubt hatte. Und trotzdem hatte er es getan.

Er musste sie zurückbringen. Was es auch kosten würde, dazu würde ich ihn bringen.

Statt verschlossen zu sein wie damals, als meine Mutter und ich vorbeigefahren waren, standen die Torflügel weit genug offen, dass ich mich zu Fuß hindurchschlängeln konnte. Ich blickte hinüber zu James, unsicher, was ich sagen sollte.

„Du solltest das nicht tun“, versuchte er es noch einmal. „Es gibt keine Garantie dafür, dass er Ava zurückbringen kann, und wenn du einmal da reingehst, kommst du vielleicht nicht wieder raus.“

„Das ist mir egal. Ich bringe ihn dazu, sie wieder gesund zu machen.“

„Kate, du weißt, dass das unmöglich ist.“

Ich biss die Zähne zusammen. „Ich muss es versuchen. Ich kann sie nicht sterben lassen, James. Ich kann’s einfach nicht.“

„Sie ist nicht deine Mutter“, erinnerte er mich sanft. „Egal, wie sehr du auch um Avas Leben kämpfst, es wird nichts an dem än-dern, was bereits geschehen ist. Es wird sie nicht retten, und es wird auch deine Mutter nicht retten.“

„Das weiß ich“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während sich ein kleiner Teil von mir fragte, ob das stimmte. Doch ich hatte Henry schon einmal das Unmögliche vollbringen sehen. Er konnte es wieder tun, dessen war ich mir sicher – und wenn ich tat, was er wollte, könnte er diesmal vielleicht sogar nicht nur Ava retten. „Es ist meine Entscheidung, und wenn es auch nur die geringste Chance gibt, das hier zu ändern, werde ich rausfinden, wie. Bitte“, flehte ich, und meine Stimme versagte. „Bitte lass mich das tun.“

Einen Moment lang schwieg James, doch schließlich nickte er, den Blick von mir abgewandt. „Tu, was immer du tun musst.“

Meine Hände bebten, als ich versuchte, mich abzuschnallen. James griff hinüber und löste den Gurt für mich.

„Aber was, wenn er es ernst meint?“, bohrte er nach. „Was ist, wenn er will, dass du für sechs Monate bei ihm bleibst?“

„Dann werde ich das tun.“ Ich starrte zu den gigantischen Torflügeln hinauf, erfüllt von einem Gefühl der Vorahnung. Ich würde auch das ganze Jahr bleiben, wenn es bedeutete, dass er sie rettete. Dass er sie beide rettete.

„Sechs Monate sind nicht das Ende der Welt. Ich werde tun, was ich tun muss.“

Er nickte noch einmal, einen abwesenden Ausdruck in den Augen. „Dann werde ich hier auf dich warten. Aber Kate …“ Er zögerte. „Glaubst du wirklich, er ist, was er zu sein behauptet?“

Mein Herz hämmerte. „Ich glaube nicht, dass er gesagt hat, was er ist.“

James seufzte. Ich tat ihm weh, aber ich hatte keine Wahl.

„Was glaubst du, was er ist?“

Ich runzelte die Stirn und erinnerte mich an Avas Worte. „Ein sehr einsamer Kerl.“ Und wenn man ehrlich war – hätte Henry mich töten wollen, hätte er es längst getan. Ich kannte einen Weg hinaus, falls er wirklich versuchen sollte, mich gefangen zu halten, doch wenn er mich wirklich hätte zwingen wollen, hätte er auch das schon am Tag zuvor getan. In Wahrheit hatte er mir die Wahl gelassen, und alles, was ich bisher getan hatte, war, die falsche Entscheidung zu treffen. Ich konnte Avas Tod entweder akzeptieren oder mich entschließen, etwas dagegen zu unternehmen – und ehrlich gesagt hatte ich genug davon, dass Menschen um mich herum starben. Ich würde es nicht noch einmal geschehen lassen.

Ich holte tief Luft, erinnerte mich an all die Versprechen, die ich meiner Mutter gegeben hatte, und wünschte, ich könnte mit ihr reden. Sie hätte gewusst, was zu tun war.

„Du passt auf meine Mom auf, nicht wahr?“

Offensichtlich wusste er es besser, als zu behaupten, sie würde immer noch da sein, wenn ich zurückkäme – wann auch immer das sein mochte.

„Ich versprech’s. Ich sag auch in der Schule Bescheid, dass du nicht wieder zum Unterricht kommst.“

„Danke.“ Das war immerhin schon mal eine Sorge weniger.

Die paar Schritte vom Auto zum Eingangstor waren die schwersten, die ich je gemacht hatte. Doch wenn es bedeutete, Ava zurückzubekommen, würde ich Henry meine Freiheit opfern. Er hatte recht gehabt: Ich hatte nichts außer meiner Mutter. Wenn sie erst fort war, wäre mein Leben völlig leer. Doch jetzt hatte ich die Chance, das, was von meiner bedeutungslosen Hülle eines Lebens noch übrig war, einzutauschen für jemanden, der das Beste daraus machen würde. Avas Leben hatte kaum begonnen. Die besten Zeiten von meinem lagen hinter mir. Meine Mutter wollte, dass ich in die Welt ging und mein Glück fand, doch das konnte ich nicht. Nicht ohne sie. Wenigstens würde das, was von mir noch übrig war, auf diese Weise nicht verschwendet.

Ich ging durch das Tor auf das Gelände, und die Atmosphäre veränderte sich sofort. Hier war es wärmer, und in der Luft lag eine Art Elektrizität, die ich nicht einordnen konnte. Als ich ein paar Schritte weiterging, hörte ich das Tor hinter mir dröhnend ins Schloss fallen und zuckte zusammen. Ich drehte mich um und sah James am Wagen stehen, den Blick auf mich gerichtet. Ich winkte, und über sein Gesicht huschte ein schmerzliches Lächeln.

Die Straße war von Bäumen in gleichmäßigen Abständen gesäumt und stieg sanft an. Ich brauchte ein paar Minuten, bis ich auf der Kuppe des Hügels ankam, doch als ich es geschafft hatte, blieb ich mit offenem Mund stehen. Was auch immer ich erwartet hatte, das war es nicht.

Ein riesiges Anwesen erhob sich vor mir, erstreckte sich weitläufig über das Gelände. Es war so groß, dass ich selbst von der Kuppe des Hügels aus nicht sehen konnte, was dahinter lag. Die Straße, der ich gefolgt war, war von hier an gepflastert und teilte sich, führte in einem perfekten Oval zur Vorderseite des Anwesens.

Gebäude wie dieses hatte ich bisher nur auf Bildern von europäischen Palästen gesehen, und ich war mir sicher, dass es nirgendwo sonst auf der Oberen Halbinsel – vielleicht in ganz Michigan nicht – einen solchen Ort gab. Es schimmerte weiß und golden und wirkte überaus majestätisch.

Während ich da so stand, brauchte ich einen Moment, um zu bemerken, dass ich nicht allein war. Ein Dutzend Gärtner und Arbeiter starrten mich an, und plötzlich wurde ich unsicher. Ich war durchs Tor gekommen … und nun?

In der Ferne sah ich eine Frau auf mich zueilen. Sie hielt ihren Rocksaum fest, während sie den Hügel zu mir hinaufstieg. Statt meinem Impuls nachzugeben, einen Schritt zurückzutreten, blieb ich eisern stehen, hin und her gerissen zwischen Ehrfurcht, Angst und Entschlossenheit. Egal, wie schön sein Zuhause war, ich musste Henry sehen – und zwar schnell.

„Willkommen, Kate!“, rief die Frau, und als ich ihre Stimme hörte, konnte ich es kaum fassen.

„Sofia?“

Und tatsächlich, als sie näher kam, erkannte ich in ihr die Krankenschwester, die mir die letzten Wochen über geholfen hatte, für meine Mutter zu sorgen. Ich starrte sie an, vollkommen geschockt. Doch Sofia tat so, als wäre das alles gar nichts Besonderes. Als sie schließlich bei mir war, waren ihre Wangen rosig, und sie strahlte von einem Ohr zum anderen. Ohne zu zögern, hakte sie sich bei mir unter.

„Wir haben uns schon gefragt, ob du überhaupt noch kommst, Liebes. Wie geht es deiner Mutter?“

Ich brauchte eine Sekunde, bis ich meine Stimme wiederfand. „Sie stirbt“, erklärte ich kurz angebunden. „Was tun Sie hier?“

„Ich lebe hier.“ Sie begann mich zum Haus zu führen, und ich ließ sie gewähren.

„Sie kennen Henry?“

„Natürlich kenne ich ihn. Jeder kennt Henry.“

„Können Sie auch Tote zum Leben erwecken?“, murmelte ich, und Sofia schnalzte mit der Zunge.

„Kannst du es?“

Ich ballte meine Hände zu Fäusten.

„Ich muss ihn sehen.“

„Ich weiß, Liebes. Wir sind auf dem Weg zu ihm.“

Unsicher sah ich sie an. Behandelte sie mich wie ein Kleinkind, oder wich sie mir aus oder beides? Sie ignorierte meinen Blick und führte mich die gewundene Zufahrt entlang, bis wir an einer großen Doppeltür mit wunderschönen Bleiglasfenstern ankamen, die sich ohne Sofias Zutun öffnete. Statt ihr hineinzufolgen, blieb ich wie angewurzelt stehen.

Das Äußere des Gebäudes war nichts im Vergleich zu der herrlichen Eingangshalle. Sie war schlicht und geschmackvoll, nicht einmal ansatzweise protzig und doch alles andere als gewöhnlich.

Der Boden bestand größtenteils aus weißem Marmor, und am anderen Ende der Halle konnte ich einen üppigen Teppich erkennen. Wände und Decke waren vollständig verspiegelt und ließen die beeindruckende Halle noch gigantischer erscheinen, als sie ohnehin schon war.

Doch es war der Fußboden in der Mitte des Raums, der meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein perfekter Kreis aus Kristall war in den Boden eingelassen, und der war mit Abstand das Unglaublichste an der Halle. Er schimmerte, Farben verschwammen ineinander, verschmolzen und lösten sich wieder voneinander, wäh-rend ich wie gebannt zusah. Mein Mund stand offen, doch das war mir egal – alles daran war unwirklich, und ich konnte kaum glauben, dass ich immer noch in Michigan war.

„Kate?“

Ich riss mich von diesem unglaublichen Anblick los und schaffte es endlich, meine Aufmerksamkeit Sofia zuzuwenden. Sie stand ein paar Meter weiter vorn und lächelte mich freundlich an.

„Tut mir leid.“ Ich ging zu ihr und machte dabei einen Bogen um den kristallenen Kreis, als bestünde er aus Wasser. Soviel ich wusste, hätte das tatsächlich sein können. „Es ist nur …“

„… wunderschön“, vervollständigte sie meinen Satz fröhlich, hakte mich erneut unter und führte mich an einer breiten Wendeltreppe vorbei, die zu einem Teil des Anwesens hinaufführte, den ich nicht sehen konnte. Ich wagte nicht einmal den Versuch, einen Blick darauf zu erhaschen, denn ich wollte keine weitere Minute verlieren.

„Ja.“ Mehr brachte ich nicht heraus, mir fehlten schlichtweg die Worte. Was auch immer ich erwartet hatte, damit hatte ich nicht gerechnet.

Sie führte mich durch mehrere angrenzende Räume, jeder einzigartig und prachtvoll dekoriert. Ein Zimmer war ganz in Rot und Gold gehalten, ein anderes war himmelblau und hatte Fresken an der Wand. Wir schritten durch Wohnzimmer, Spielzimmer, Arbeitszimmer und sogar zwei Bibliotheken. Es schien unmöglich, dass all diese Räume in einem Haus sein sollten – und anscheinend einem einzigen Jungen gehörten, der nicht viel älter war als ich.

Schließlich gingen wir durch einen weiteren Flur und betraten ein Zimmer mit dunkelgrünen Wänden und goldenen Verzierungen. Hier wirkten die Möbel etwas abgenutzter und bequemer als in den anderen Räumen, und Sofia führte mich zu einer schwarzen Ledercouch.

„Nimm Platz, Liebes. Ich lasse dir ein paar Erfrischungen bringen. Henry sollte bald bei dir sein.“

Ich setzte mich, obwohl ich nicht wollte, dass Sofia mich allein ließ, doch ich würde das schaffen. Ich musste es schaffen. Avas Leben stand auf dem Spiel, und dies war meine einzige Chance, meine Argumente für sie vorzubringen. Wenn Henry mich hierbehalten wollte, gut. Solange er Ava zurückbrachte, würde ich alles tun, was er wollte. Selbst wenn das hieße, dass ich den Rest meines Lebens in diesem Gemäuer verbringen müsste. Ich schob den Gedanken an das, was James vorhin im Wagen zu mir gesagt hatte – dass Ava nicht meine Mutter war –, beiseite. Das war nicht der Grund, aus dem ich hier war.

Doch noch während ich mir das einzureden versuchte, wusste ich, dass ich mir etwas vormachte. War es nicht schon die bloße Möglichkeit, dass Henry meine Mutter retten könnte, derentwegen ich in Wirklichkeit hier war? Ich würde alles tun, was ich konnte, um Ava zu retten, doch sie war seit Stunden tot, und die gesamte Stadt wusste davon. Um sie ein zweites Mal zurückzu-bringen, würde Henry mit Sicherheit einen höheren Preis verlangen, und egal, wie mutig ich tat: Bei dem Gedanken, für den Rest meines Lebens hierbleiben zu müssen, drehte ich fast durch vor Angst. Ich hatte gemeint, was ich gesagt hatte – dass ich alles tun würde, was in meiner Macht stand, um Ava zurückzube-kommen. Doch selbst wenn James recht hatte und das nicht mehr möglich war: Meine Mutter war noch nicht tot. Es bestand immer noch die Chance, dass Henry etwas tun konnte, um sie zu retten.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß, stumm und den leeren Blick auf ein Regal voller ledergebundener Bücher gerichtet. Im Kopf ging ich meine Rede noch einmal durch, wollte sichergehen, dass ich an alles denken würde, was ich sagen wollte. Zuhören musste er doch, oder? Und selbst wenn er das nicht wollte, wenn ich nur lange genug redete, würde er trotzdem hören, was ich zu sagen hatte. Ich musste es wenigstens versuchen.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich Henry in der Tür, ein mit Essen beladenes Tablett in den Händen. Ich krallte die Finger in die Sofapolster, und all die mühsam geübten Worte lösten sich in Luft auf.

„Kate“, sagte er leise, trat ein, stellte das Tablett auf dem Couchtisch vor mir ab und setzte sich auf das Sofa gegenüber.

„H…Henry“, brachte ich mühsam hervor und hasste mich für mein Stammeln. „Wir müssen reden.“

Er neigte den Kopf, als würde er mir wortlos die Erlaubnis geben zu sprechen. Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder, wusste nicht, was ich sagen sollte. Während er wartete, goss er uns beiden eine Tasse Tee ein. Ich hatte noch nie Tee aus einer Porzellantasse getrunken.

„Es tut mir leid“, brachte ich mühsam hervor. „Dass ich gestern nicht auf dich gehört hab, meine ich. Ich hab nicht richtig nachgedacht, und ich hab nicht geglaubt, dass du das ernst meinst. Meine Mom ist wirklich krank, und ich hab einfach … Bitte. Ich bin hier. Ich werde bleiben. Ich tu, was immer du willst. Bring einfach nur Ava zurück.“

Er nahm einen Schluck von seinem Tee und bedeutete mir, ebenfalls zu probieren. Mit zitternden Händen nahm ich die Tasse.

„Sie ist siebzehn.“ Meine Stimme klang mit jedem Wort verzweifelter. „Sie sollte nicht auf ihr gesamtes Leben verzichten müssen, bloß weil ich einen dummen Fehler gemacht hab.“

„Der Fehler lag nicht bei dir.“ Er setzte die Tasse ab und fixierte mich. Seine Augen hatten immer noch diese bizarre Farbe von Mondlicht, und ich wand mich unter der Intensität seines Blicks. „Deine Freundin hat ihre Wahl getroffen, als sie sich entschieden hat, in den Fluss zu springen und dich allein zurückzu-lassen. Ich mache dich nicht verantwortlich für den Tod deiner Freundin. Du solltest das genauso wenig tun.“

„Du verstehst nicht. Ich wusste nicht, dass du es ernst gemeint hast. Ich hab’s nicht kapiert. Ich wusste nicht, dass sie wirklich sterben würde – ich dachte, du hättest das als Witz gemeint, oder … Ich weiß auch nicht. Nicht als Witz, aber irgendwie … Ich wusste nicht, dass du das wirklich tun kannst, und jetzt, da ich es weiß – bitte. Sie hat es nicht verdient, so jung zu sterben.“

„Und du hast es nicht verdient, die Hälfte deines restlichen Lebens für sie aufgeben zu müssen.“

Frustriert seufzte ich, den Tränen nahe. Was wollte er von mir?

„Du hast recht, ich will nicht hierbleiben. Dieser Ort macht mir Angst. Du machst mir Angst. Ich weiß nicht, was du bist oder was das hier für ein Ort ist, und den Rest meines Lebens hier zu verbringen ist das Letzte, was ich will. Vielleicht war Ava am Anfang nicht gerade nett zu mir, aber jetzt ist sie meine Freundin. Sie hat nicht verdient zu sterben, und ihr Tod – es ist meine Schuld. Ich hätte es sein sollen, die stirbt, nicht sie, und damit kann ich nicht leben. Ich kann mich nicht jeden Tag im Spiegel ansehen und dabei wissen, dass es meine Schuld ist, dass ihre Familie den Schmerz durchmachen muss, sie zu verlieren, genau wie …“ Ich hielt inne. Genau wie ich den Schmerz durchmachen musste, meine Mutter zu verlieren.

„Ich kann es einfach nicht. Also, wenn das bedeutet, dass Ava zurückkommt, bleibe ich hier, solange du willst, versprochen. Bitte.“

Das war nicht gerade die Rede, die ich geplant hatte, aber das Wesentliche hatte ich gesagt. Als ich die letzten Worte ausgesprochen hatte, standen mir Tränen in den Augen, und ich umklammerte die Teetasse so fest, dass es ein kleines Wunder war, dass sie nicht zerbrach.

Mir gegenüber starrte Henry stumm in seine Tasse. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was er dachte, und ich war mir nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen wollte. Alles, worauf es ankam, war, dass er Ja sagte.

„Du würdest wirklich sechs Monate eines jeden Jahres vom Rest deines Lebens aufgeben, um deine Freundin zu retten – nach allem, was sie dir angetan hat?“ In seinem Ton lag ein Hauch von Ungläubigkeit.

„Was sie getan hat, verdient nicht die Todesstrafe“, beharrte ich. „Da draußen sind eine Menge Leute, die sie geliebt haben, und die sollten nicht meinetwegen einen solchen Schmerz ertragen müssen.“ Und vielleicht würde es auch meine Schmerzen etwas lindern, wenn ich wüsste, dass ich sie gerettet hatte.

Er trommelte mit den Fingern auf der Armlehne des Sofas herum, die Augen wieder auf mich gerichtet. „Kate, ich lade nicht jeden in mein Haus ein. Verstehst du, warum ich dir dieses Angebot gemacht habe?“

Weil er irre war? Ich schüttelte den Kopf.

„Weil du sie, obwohl sie dich allein zurückgelassen hat, nicht beleidigt hast sterben lassen, sondern alles in deiner Macht Stehende getan hast – dich sogar deiner größten Angst gestellt hast –, um sie zu retten.“

Darauf fiel mir keine Antwort ein. „Würde das nicht jeder tun?“

„Nein.“ Sein Lächeln wirkte müde. „Sehr wenige Menschen würden es überhaupt in Erwägung ziehen. Du bist eine seltene Ausnahme, und du faszinierst mich. Als du gestern mein Angebot abgelehnt hast, dachte ich, ich hätte mich vielleicht geirrt. Doch indem du heute hierhergekommen bist, hast du dich als würdiger und fähiger erwiesen, als ich mir je hätte vorstellen können.“

Erschüttert blinzelte ich. „Würdig und fähig für was?“

Er ignorierte meine Frage.

„Ich werde mein Angebot nur noch ein einziges Mal machen. Das Leben deiner Freundin kann ich dir nicht als Gegenleistung geben. Sie ist fort, und ich fürchte, wenn ich sie jetzt in ihren Körper zurückversetzen würde, wäre sie etwas Unnatürli-ches und könnte niemals glücklich werden. Aber ich verspreche dir, in ihrem jetzigen Zustand ist sie zufrieden. Es geht ihr gut.“

Mein Brustkorb fühlte sich an wie ausgehöhlt. „Also ist alles umsonst?“

„Nein.“ Er neigte den Kopf zur Seite und verengte leicht die Augen. „Ich kann nicht ungeschehen machen, was in der Vergangenheit liegt, aber ich kann Dinge verhindern.“

„Was verhindern?“

Stumm sah er mir in die Augen, und plötzlich begriff ich. Ich hatte geglaubt, ich würde das Thema anschneiden müssen, doch nun hatte er es für mich getan.

Er konnte verhindern, dass meine Mutter starb.

„Du – du kannst das wirklich tun?“

Er zögerte. „Ja, das kann ich. Ich kann deine Mutter nicht heilen, aber ich kann sie am Leben erhalten, bis du bereit bist, ihr Lebewohl zu sagen. Ich kann dir die Chance geben, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, und wenn die Zeit gekommen ist, werde ich dafür Sorge tragen, dass es friedlich vonstattengeht.“

Seine Worte hüllten mich in eine merkwürdige Wärme.

„Wie?“, flüsterte ich.

Er schüttelte den Kopf. „Mach dir darüber keine Gedanken. Wenn du darauf eingehst, hast du mein Wort, dass ich meinen Teil unserer Vereinbarung einhalte.“

Bis vor ein paar Tagen hatte ich immer geglaubt, ich würde mich von meiner Mutter verabschieden können. Keins der Szenarien, die ich mir ausgemalt hatte, beinhaltete, dass sie ins Koma fiel und davontrieb, ohne dass ich ihr noch ein letztes Mal sagen konnte, wie sehr ich sie liebte. Und nun …

„Okay“, sagte ich leise. „Halte – halte sie am Leben. Sie hat eine ziemlich aggressive Krebsart, es könnte – könnte also schwierig sein.“ Tränen liefen mir über die Wangen. „Aber sie wird keine Schmerzen haben, oder? Ich will nur … Ich will mich von ihr verabschieden können.“

„Sie wird keine Schmerzen haben, dafür werde ich sorgen.“ Er lächelte traurig. „Wünschst du dir sonst noch was? Du gibst sehr viel mehr auf als ich, und ich möchte, dass du dir sicher bist.“

Ich schluckte. „Am Leben erhalten kannst du sie nicht? Du kannst … Du kannst sie nicht heilen?“

„Nein. Tut mir leid“, bestätigte er. „Aber kein Abschied ist für immer. Die Liebe, die du für deine Mutter empfindest, gehört nicht zu der Sorte, die der Tod auslöschen kann.“

Ich senkte den Kopf und starrte in meinen Tee, wollte nicht, dass er sah, wie ich innerlich zerbrach. „Ohne sie weiß ich nicht, wer ich bin.“

„Dann wirst du die Chance haben, das herauszufinden, bevor sie geht.“

Henry stellte seine Tasse ab. „Und wenn ihr einander Lebewohl sagt, wird sie die glückliche Gewissheit haben, dass es dir gut gehen wird.“

Traurig nickte ich. Also würde ich es auch für sie tun. Sie wollte wissen, dass es mir gut gehen würde, und das war etwas, das ich ihr noch nicht hatte versprechen können. Doch die Chance, nur noch einmal mit ihr zu sprechen, ihr ein letztes Mal sagen zu können, dass ich sie liebte – und der Hauch einer Hoffnung, ich könnte ihr dabei in die Augen sehen und ihr versprechen, dass ich zurechtkommen würde, sodass sie ohne Sorge oder Schuldgefühle loslassen könnte –, das war es wert.

„Dann soll es so geschehen“, sagte Henry sanft. „Den Winter über wirst du mein Gast sein. Sofia wird dich zu deinem Zimmer begleiten, und bis morgen wird nichts weiter von dir erwartet.“

Wieder nickte ich. Jetzt war es also so weit – ich war gefangen. Dies würde für die nächsten sechs Monate mein Zuhause sein. Plötzlich wirkte der Raum deutlich kleiner als zuvor.

„Henry?“, brachte ich schüchtern hervor.

„Ja?“

„Hat Sofia gewusst, dass das hier passieren würde?“

Einige Sekunden lang betrachtete Henry mich, als versuchte er zu entscheiden, ob ich ihm glauben würde oder nicht.

„Wir haben dich beobachtet, ja.“

Ich wagte nicht zu fragen, wer wir war.

„Was ist das hier für ein Ort?“

Er sah belustigt aus. „Hast du das noch nicht herausgefunden?“

Ich spürte, dass ich errötete. Immerhin schien noch ein letzter Rest Blut in meinem Kopf zu sein, was bedeutete, dass ich eine gewisse Chance hatte, aufzustehen, ohne dabei in Ohnmacht zu fallen.

„Ich war ein bisschen mit anderen Sachen beschäftigt.“

Henry stand auf und reichte mir die Hand. Ich nahm sie nicht, doch das schien ihn nicht zu stören. „Es hat viele Namen. Elysium, Annwn, Paradies – manche nennen es sogar den Garten Eden.“

Er lächelte, als hätte er einen klugen Witz gemacht. Ich verstand gar nichts, und meine Verwirrung musste sich auf meinem Gesicht abzeichnen, denn er fuhr fort, ohne dass ich noch einmal nachfragen musste.

„Dies ist das Tor zwischen den Lebenden und den Toten“, erklärte er. „Du bist noch lebendig. Die anderen auf dem Anwesen sind schon vor sehr langer Zeit gestorben.“

Mich überlief ein kalter Schauer. „Und du?“

„Ich?“ Sein Mundwinkel zuckte. „Ich herrsche über die Toten. Ich gehöre nicht zu ihnen.

7. KAPITEL

DAS UNMÖGLICHE

Meine Räume waren erstaunlich gemütlich. Anders als der Rest des Hauses schienen sie nicht sofort darauf hinzudeuten, dass sie Teil eines sehr reichen und mächtigen Haushalts waren. Stattdessen war meine Suite zurückhaltend eingerichtet – der einzige wirkliche Luxus war mein Schlafplatz: ein riesengroßes Himmelbett. Von genau so einem Bett hatte ich schon immer geträumt. Ein Teil von mir fragte sich, ob Henry das geahnt hatte.

Jeder schien zu wissen, dass ich da war, als wäre ich eine Berühmtheit. Hin und wieder hörte ich Flüstern und Gekicher von der anderen Seite meiner Tür her, und wann immer ich durch das riesige Erkerfenster blickte, konnte ich ein paar der Gartenarbeiter zu mir hinaufstarren sehen, als wüssten sie, dass ich sie beobachtete. Es gefiel mir nicht, Gesprächsthema zu sein, aber ich konnte nicht besonders viel dagegen tun, außer die Vorhänge zu schließen und meinen Kopf unter einem Berg Kissen zu vergraben.

Der Tag verging schnell, und es dauerte nicht lange, bis Sofia mir das Abendessen brachte. Ich war immer noch verärgert, dass sie mir nicht früher gesagt hatte, dass sie auf Eden Manor wohnte. Also murmelte ich meinen Dank, ohne zu ihr aufzublicken, und weigerte mich, auch nur eine ihrer Fragen zu beantworten. Wie es mir ging, war sowieso nicht gerade ein Geheimnis.

Als sie wieder gegangen war, stocherte ich nur auf dem Teller herum. Meine Angst vor dem, was am folgenden Tag passieren würde, hatte mir jeglichen Appetit genommen. Ich war zwar nicht in meinem Zimmer eingesperrt, aber draußen gab es für mich auch nicht unbedingt viel zu tun. Zumindest jetzt noch nicht, da ich wusste, wie leicht ich mich verlaufen könnte.

Aber egal, wie hübsch die Suite auch war oder wie nett das Personal oder wie gut das Essen – Fakt blieb: Im Grunde war ich eine Gefangene. Ich dachte an James und wie lange er wohl am Tor gewartet hatte und ob er danach zu meiner Mutter gefahren war oder nicht. Vor mir schienen sich sechs Monate wie eine Ewigkeit auszudehnen, und es war kein Ende in Sicht. Ob Henry sein Versprechen halten würde? Würde er da sein, wenn das hier vorüber war, oder hätte er dann alles hinter sich gelassen? Tief in meinem Inneren wusste ich, er würde da sein. Einen Freund wie ihn hatte ich nicht verdient.

Doch würde meine Mutter am Ende auch noch da sein? Konnte Henry sie so lange am Leben halten? Ich wollte ihm glauben, wollte glauben, dass so etwas möglich war – denn wenn es ihm tatsächlich gelingen würde, würde ich ihr vielleicht niemals Lebewohl sagen müssen. Nicht bis es auch für mich Zeit wäre zu sterben.

Ava konnte ich nicht mehr retten, aber für meine Mutter gab es noch immer Hoffnung, und was auch immer es mich kosten würde, ich würde alles für sie tun.

Ich erinnerte mich nicht, eingeschlafen zu sein, doch als ich meine Augen öffnete, war ich nicht mehr in Eden Manor. Stattdessen lag ich auf einer Decke mitten im Central Park und blickte in einen wolkenlosen Sommerhimmel, die Wärme der Sonnenstrahlen auf dem Gesicht.

Verwirrt setzte ich mich auf und blickte mich um. Neben mir stand ein Picknickkorb, und weit verstreut im Gras saßen auch andere Leute und genossen den sonnigen Tag. Sheep Meadow. Das war mein Lieblingsort im Park, in Sichtweite des Sees, aber nicht so von Touristen überlaufen. Schon seit Jahren hatten meine Mutter und ich es nicht mehr geschafft hierherzukommen. Gerade wollte ich aufstehen, fest entschlossen, herauszufinden, was hier los war, da fiel mir die Kinnlade herunter.

Langsam den sanften Hügel zu mir heraufgeschlendert kam meine Mutter. Sie sah so gesund aus wie das letzte Mal vor zehn Jahren, lange bevor sie an Krebs erkrankt war. Zu einem langen, fließenden Rock trug sie eine Tunika, die ich nicht mehr an ihr gesehen hatte, seit sie so stark abgenommen hatte.

„Mom?“

Sie lächelte – ein richtiges Lächeln, nicht kränklich oder auf jene leicht gequälte Art, wenn sie zu verbergen versuchte, wie groß ihre Schmerzen waren.

„Hallo, Liebes.“ Sie setzte sich neben mich und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Eine Sekunde lang war ich wie erstarrt, zu verblüfft, um zu reagieren. Doch als ich schließlich begriff, dass sie hier war, gesund und strahlend und wieder ganz meine Mutter, schlang ich ihr die Arme um den Hals und sog ihren vertrauten Duft ein. Äpfel und Freesien. Sie wirkte überhaupt nicht mehr zerbrechlich und erwiderte die Umarmung voller Begeisterung.

„Was geht hier vor?“, fragte ich und bemühte mich, die Tränen zurückzudrängen.

„Wir machen ein Picknick.“ Sie löste sich von mir und begann den Korb auszupacken. Er war bis oben hin voll mit allen Lieblingsspeisen meiner Kindheit: Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwiches, Mandarinenschnitze und Käse-Makkaroni in Plastikdosen und genug Schokoladenpudding, um eine kleine Armee damit zu verpflegen. Zur Krönung zauberte sie eine Schachtel Baklava hervor, genau wie sie sie immer gemacht hatte. Verzückt sah ich ihr zu und fragte mich, womit ich einen so wundervollen Traum verdient hatte, auch wenn es sich für einen Traum zu real anfühlte. Unter meinen Fingern spürte ich jeden Grashalm, und in der warmen Brise streiften die Haarspitzen meine nackten Arme. Es war, als wären wir wahrhaftig hier.

Plötzlich kam mir ein Gedanke, und misstrauisch sah ich sie an. „Hat Henry dich hierhergebracht?“

Ihr Lächeln wurde breiter. „Er ist wundervoll, nicht wahr?“

Ich atmete tief ein, und jeder schlechte Gedanke, den ich jemals über Henry gehabt hatte, löste sich in Luft auf. Er hielt sein Versprechen.

„Ist das hier denn ein Traum? Oder ist es … ist es real?“

Mit einem Blick, wie ihn nur meine Mutter fertigbrachte, reichte sie mir eine Dose mit Käsemakkaroni.

„Gibt es da irgendein mir unbekanntes Gesetz, dass es nicht beides sein kann?“

Plötzlich erfüllte mich ein irrationales Gefühl von Hoffnung.

„Ist er wirklich der, der er zu sein behauptet?“

„Und das wäre?“, gab sie zurück, während sie ein Sandwich auswickelte.

Und da sprudelte alles aus mir heraus, was seit unserer Ankunft in Eden geschehen war. Wie ich Henry nach unserem Beinaheunfall mit einer imaginären Kuh gesehen hatte. Den Abend am Fluss und wie er Ava augenscheinlich wieder zum Leben erweckt hatte. Den Handel, den ich abgeschlossen hatte, und wie James versucht hatte, mich daran zu hindern. Den Besuch von Henry und wie Ava am nächsten Tag gestorben war. Meine Entscheidung, nach Eden Manor zu gehen, um zu versuchen, sie zu retten – und schließlich den Handel mit Henry, dem ich das hier zu verdanken hatte. Auf einmal erschien mir die Aussicht, sechs Monate lang bei ihm zu bleiben, längst nicht mehr so schlimm. Nicht wenn ich jede Nacht meine Mutter sehen konnte.

„Seltsam“, sinnierte sie, doch in ihren Augen lag ein amü-siertes Funkeln. Ich konnte an unserer Situation nichts Amü-santes finden. „Ich wünschte, du hättest mir das alles früher erzählt, Kate.“

„Tut mir leid“, murmelte ich und spürte, wie ich errötete, wäh-rend ich auf meine Hände starrte. „Ich hab geglaubt, ich werde verrückt oder so was.“

„Wohl kaum.“ Sie streckte die Hand aus und legte sie unter mein Kinn, hob es an, bis ich sie ansah. „Versprich mir, dass du mir von jetzt an alles erzählst, was passiert, ja? Ich möchte nichts verpassen.“

Ich nickte. Mehr Zeit mit ihr – mehr konnte ich mir nicht wün-schen.

„Mom?“, sagte ich leise. „Ich liebe dich.“

Sie lächelte. „Ich weiß, Liebes.“

Als ich früh am nächsten Morgen aufwachte, wusste ich anfangs nicht, wo ich war. Ich spürte noch die Wärme der Sonne aus meinem Traum auf der Haut und öffnete die Augen, halb in der Erwartung, meine Mutter über mich gebeugt zu sehen, doch es war nur der Himmel über meinem Bett.

Stöhnend setzte ich mich auf und blinzelte mir den Schlaf aus den Augen. Irgendetwas stimmte nicht, und ich konnte nicht herausfinden, was es war. Dann, nach einem langen Moment, kam die Erinnerung an den vergangenen Tag zurück – der Deal, den ich mit Henry gemacht hatte –, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Es war also doch kein bloßer Traum gewesen.

„Glaubst du, sie ist jetzt wach? Sollte sie ja wohl, oder?“

„Falls sie es nicht war, ist sie es jetzt mit Sicherheit.“

Ich erstarrte. Das Flüstern kam von der anderen Seite meiner zugezogenen Vorhänge, und keine der Stimmen kam mir bekannt vor. Die erste klang hell und übermütig, die zweite erweckte den Eindruck, als wollte derjenige, dem sie gehörte, an jedem anderen Ort lieber sein als hier. Ich konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen.

„Was glaubst du, wie ist sie so? Besser als die Letzte, oder?“

„Jede wäre besser als die Letzte. Jetzt halt die Klappe, bevor du sie wirklich aufweckst.“

Einen langen Moment saß ich da und versuchte zu begreifen, was ich da hörte. Ich hatte am vergangenen Abend die Tür abgeschlossen, da war ich mir sicher. Also wie waren die hier reingekommen? Und was meinten sie mit „die Letzte“?

Bevor ich etwas sagen konnte, knurrte mein Magen. Laut. Die Art von sagenhaft laut, bei der sich jeder im Klassenraum umdreht und kichert, während man in seinem Stuhl nach unten rutscht und versucht, nicht rot zu werden. Dank meines verräterischen Bauchs war jede Chance zu lauschen dahin.

„Sie ist wach!“ Die Vorhänge wurden aufgerissen, und gegen das Morgenlicht hielt ich mir schützend die Hand vor die Augen. „Oh! Sie ist hübsch!“

„Und brünett. Davon hatten wir seit Jahrzehnten keine.“

„Danke“, murmelte ich, doch gegen die Sonne konnte ich nicht erkennen, mit wem ich sprach. „Wer seid ihr?“

„Calliope!“ Das war die, die mich hübsch genannt hatte. Ich zwang meine Augenlider weit genug auf, um sie richtig erkennen zu können. Kleiner als ich, mit blondem Haar, das ihr bis über die Hüfte hing, und einem runden Gesicht, das vor Freude rosig leuchtete. Sie sah so aufgeregt aus, dass ich Angst hatte, sie würde gleich kollabieren.

„Ella“, sagte das zweite Mädchen wenig begeistert. Die Augen immer noch zusammengekniffen, betrachtete ich es und spürte einen Stich der Eifersucht. Dunkles Haar, hoch gewachsen, unglaublich schön – und sie sah zu Tode gelangweilt aus.

„Und du bist Katherine“, stellte Calliope fest. „Sofia hat uns alles über dich erzählt, wie du hergekommen bist, um deiner Freundin zu helfen, und dass du sechs Monate bei uns wohnst und …“

„Calliope, krieg dich ein, du machst ihr Angst.“

Ich wusste nicht, ob Angst das richtige Wort war, aber fürs Erste funktionierte es. Während Calliope auf und ab hüpfte und mir mit jeder Bewegung näher kam, begann ich mich zurückzu-lehnen. Ihr Überschwang war einschüchternd.

„Oh.“ Calliope trat einen Schritt zurück und wurde wieder rot. „Entschuldige. Hast du Hunger?“

Tief Luft holen, dachte ich. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen, und vielleicht würde das hier irgendwann einen Sinn ergeben.

„Erst muss sie eingekleidet werden“, bestimmte Ella und ging auf den Kleiderschrank zu. „Katherine, was ist deine Lieblingsfarbe?“

Kate. Nennt mich Kate“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Es war entschieden zu früh am Morgen für das hier. „Und ich hab keine.“

„Du hast keine Lieblingsfarbe?“, rief Calliope ungläubig, wäh-rend sie zu Ella ging und ihr half. Ich stand auf und reckte mich, konnte aber nicht erkennen, was die beiden da genau taten. Sie standen vor dem Schrank, der aussah, als wäre er zum Bersten voll mit Klamotten.

„Heute nicht“, entgegnete ich gereizt. „Nur zur Info, ich kann mich schon selbst anziehen.“

Ella und Calliope befreiten etwas langes, weiches Blaues aus dem Kleidergewühl. Triumphierend lächelnd drehten sie sich zu mir um …

Oh nein.

„Falls du nicht irgendeine übermenschliche Fähigkeit besitzt, dir selbst ein Korsett zu schnüren, brauchen wir gar nicht darüber zu diskutieren, ob du dich allein ankleidest“, gab Ella zurück, ein Glitzern in den Augen. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob es amüsiert oder boshaft aussah. Wahrscheinlich beides.

In den Händen hielten sie ein blaues Kleid, das so tief ausgeschnitten war, dass nicht einmal Ava es angefasst hätte. Die Ärmel waren lang und schmal geschnitten und wurden zum Handgelenk hin weiter, und es war mit Spitze besetzt. Spitze.

Mit großen Augen sah ich die beiden an. „Das kann nicht euer Ernst sein.“

„Es gefällt dir nicht?“ Calliope runzelte die Stirn und strich über den weichen Stoff. „Was hältst du von etwas in Gelb? Du würdest gut aussehen in Gelb.“

„Ich trage keine Kleider“, erklärte ich mit zusammengebissenen Zähnen. „Nie.“

Ella stieß einen verächtlichen Laut aus. „Ist mir egal, jetzt tust du’s. Für die Garderobe bin ich zuständig, und wenn du das, was du am Körper trägst, nicht so lange anbehalten willst, bis dir vor Gestank niemand mehr zu nahe kommen will, ziehst du das hier an.“

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