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Herzblut - 3-teilige Serie von Melissa Darnell

hier erhältlich:

HERZBLUT - GEGEN ALLE REGELN

Eine verbotene Liebe, Blutsgeheimnisse und eine Heldin zwischen zwei Welten: Melissa Darnells mitreißendes Romandebüt!

Wenn zwei Herzen in deiner Brust schlagen und du für deinen Freund zur größten Gefahr werden kannst - was würdest du tun?
Als Kinder waren sie wie Seelenverwandte. Doch auf der Jacksonville High leben sie wie in zwei Welten. Denn Tristan gehört zur elitären Clann-Clique. Und es vergeht kein Schultag, an dem Savannah den Hass der anderen Clanns nicht zu spüren bekommt ? Dennoch fühlt sie sich immer noch die besondere Verbindung zu Tristan. Als plötzlich dunkle Kräfte in Savannah erwachen, offenbart ihr Vater ihr ein erschütterndes Blutsgeheimnis. Jetzt weiß sie, warum die Clanns sie ablehnen und warum sie Tristan nicht lieben darf: Sie alle haben eine magische Gabe, aber Savannah ist anders - und kann für Tristan zur tödlichen Gefahr werden! Und trotzdem siegt Savannahs Sehnsucht, als Tristan sich heimlich mit ihr treffen will...

HERZBLUT - STÄRKER ALS DER TOD

Wenn du deinen Freund vor dem Tod rettest, indem du ihm das menschliche Leben nimmst - was würdest du tun?

Savannah weiß, dass sie Tristan nicht lieben darf. Sie hat es dem Hohen Rat der Vampire geschworen. Es ist zu riskant. Was, wenn ihr Blutdurst erwacht? Wenn durch sie der Waffenstillstand zwischen den Vampiren und Tristans Familie, dem magischen Clann, zerstört wird? Sie sollte Tristan aus dem Weg gehen. Aber das ist unmöglich, denn jeden Tag sehen sie sich in der Jacksonville High, und wenn sich ihre Blicke kreuzen, will Savannah nur ihn … Noch während sie versucht, sich an ihren Schwur zu halten, stacheln dunkle Mächte einen Krieg zwischen ihren Welten an. Die Gefahr bringt Savannah und Tristan wieder zusammen - aber die Folgen sind unwiederbringlich!

HERZBLUT - WENN DIE NACHT STIRBT

Mit einem Biss hat Savannah ihre große Liebe unsterblich gemacht - und den Hass des Clanns entfesselt … der dritte Band von Melissa Darnells fantastischer Vampir-Trilogie!

Es ist geschehen: Savannah und Tristan sind vereint - durch Savannahs Biss, der Tristan zum Vampir gemacht hat. Wenn sie zusammen im Mondlicht tanzen, wenn Tristan sie küsst, könnte Savannah fast vergessen, dass sie ihn zum ewigen Leben verdammt hat! Aber Liebe ist nicht das Allheilmittel: Tristans Verwandlung weckt den Hass des Clanns, zu dem er früher gehört hat. Aus dem schwelenden Konflikt zwischen dem Clann der Magier und dem Hohen Rat der Vampire wird ein Krieg, der eine uralte Macht entfesselt, stärker und böser als alles, was sie bisher kannten. Bald müssen Tristan und Savannah erfahren, dass es Verbindungen gibt, die stärker sind als Liebe - und dass nicht jeder Sieg ohne Opfer errungen werden kann.


  • Erscheinungstag: 21.01.2016
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1248
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955765378
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Melissa Darnell

Herzblut - 3-teilige Serie von Melissa Darnell

Melissa Darnell

Herzblut – Gegen alle Regeln

Roman

Aus dem Amerikanischen von Peer Mavek

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PROLOG

Savannah

orsichtig näherte ich mich meinem bewusstlosen Freund, der an einen Stuhl gefesselt war.

Meine Richter hatten sich, ein paar Schritte entfernt, zu einem engen Halbkreis aufgebaut. Wahrscheinlich wollten sie eine gute Sicht haben, wenn ich bei ihrer Prüfung versagte.

Der Wächter sah gelangweilt aus, gerade so, als wollte er sagen, dass das hier nicht persönlich gemeint war. Was eine Lüge war. Es war eindeutig persönlich gemeint. Und es war ganz allein meine Schuld.

Er griff in die Innentasche seiner Jacke und holte zwei Gegenstände heraus – eine Spritze und ein Skalpell. Ihre durchsichtigen Plastikschutzhüllen schnackten laut, als er sie abzog.

Ich schluckte schwer. Mein Keuchen war in der Stille des kalten, betonierten Raums nicht zu überhören.

Als der Wächter näher kam, schrie alles in mir danach zu kämpfen, und ich spannte die Oberschenkel an. Der Wächter blickte mich misstrauisch an. Er wusste, dass ich verzweifelt war. Aber das ließ mich nicht leichtsinnig werden. Der Mann war kräftig gebaut, in seinem schlecht sitzenden Anzug steckte der Körper eines Footballspielers. Und falls ich ihn trotzdem irgendwie abwehren könnte, würden die Richter, die zuschauten, eingreifen und mich aufhalten.

Ich versuchte, normal zu atmen, mich zu beruhigen und klar zu denken. Nicht Gefühle, sondern Logik war jetzt gefragt.

Also gut. Dieses Mal sind wir ihnen wirklich in die Falle gegangen.

Aber wir waren nicht verloren. Noch nicht. Die Richter hatten versprochen, dass ich nur eine Prüfung bestehen müsste, damit sie meinen Freund freilassen würden.

Einen unschuldigen Jungen, der nicht einmal hier wäre, wenn ich mich nicht in ihn verliebt hätte. Wegen mir war er in Gefahr …

Nein, jetzt war nicht die Zeit für Schuldgefühle. Ich musste mich auf die Prüfung konzentrieren, damit wir nach Hause gehen konnten.

Nur eine einzige Prüfung musste ich bestehen.

Eine Prüfung, der ich genetisch nicht gewachsen war.

KAPITEL 1

Savannah

ein letzter Tag als richtiger Mensch begann wie jeder andere Montag im April in Osttexas. Klar, es gab alle möglichen Warnsignale, dass meine ganze Welt zusammenbrechen würde. Aber die erkannte ich erst, als es zu spät war.

Ich hätte wissen sollen, dass etwas ganz schön schieflief, als ich mich morgens beim Aufwachen hundeelend fühlte, obwohl ich ganze neun Stunden geschlafen hatte. Ich war noch nie krank gewesen, hatte nicht mal eine Grippe oder Erkältung gehabt, das konnte es also nicht sein.

„Guten Morgen, mein Schatz. Dein Frühstück steht auf dem Tisch“, begrüßte mich meine Großmutter Nanna, als ich in die Küche schlurfte. Wie immer war sie die Widersprüchlichkeit in Person. Ihre Stimme und ihr Lächeln zeigten diese typische Südstaatenmischung – warmherzig und eisern zugleich. Als würde man seine alte Schmusedecke um einen Morgenstern wickeln. „Iss schnell. Ich suche schon mal meine Schuhe.“

Ich nickte und ließ mich auf einen der knarrenden Stühle am Tisch fallen. Was das Kochen anging, war Nanna die Größte. Und sie machte den besten Haferbrei der Welt, mit Ahornsirup, braunem Zucker und einer Tonne Butter, genau, wie ich es mochte. Aber an diesem Tag schmeckte er wie fade Pampe. Nach zwei Löffeln gab ich auf und kippte das Essen in den Mülleimer unter der Spüle. Eine Sekunde später kam sie rein.

„Bist du schon fertig?“, fragte sie, bevor sie ihren Tee schlürfte. Das Geräusch fuhr mir durch Mark und Bein.

„Äh, ja.“ Ich stellte die Schüssel mit dem Löffel in die Spüle. Dabei drehte ich ihr den Rücken zu, damit sie nicht sah, dass ich rot wurde. Ich war eine schrecklich schlechte Lügnerin. Ein Blick auf mein Gesicht hätte ihr verraten, dass ich ihr Frühstück gerade weggeworfen hatte.

„Und dein Tee?“

Ups. Ich hatte meine tägliche Tasse Tee vergessen, eine spezielle Mischung für mich aus Kräutern, die Nanna über Monate in unserem Garten zog. „Keine Zeit, Nanna, tut mir leid. Ich muss mir noch die Haare machen.“

„Du schaffst beides.“ Mit einem strahlenden Lächeln, das ihren strengen Blick jedoch nicht verschleiern konnte, streckte sie mir die Tasse entgegen.

Seufzend nahm ich die Tasse mit ins Badezimmer und stellte sie auf den Waschtisch. So hatte ich beide Hände frei, um meine wilden, karottenroten Locken zu bändigen.

„Hast du deinen Tee schon getrunken?“, fragte sie zehn Minuten später, als ich meine langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.

„Mann, Mann, Mann“, grummelte ich.

„Das habe ich gehört, Fräulein“, rief sie aus dem Wohnzimmer, und ich musste lächeln.

Ich trank den kalten Tee auf ex aus, knallte die leere Tasse auf den Waschtisch, damit sie es auch hörte. Dann ging ich in mein Zimmer, um meinen Rucksack zu holen. Und es haute mich fast hin, als ich ihn hochheben wollte. Oje. Anscheinend hatte ich letzte Woche vergessen, ein paar Bücher im Spind in der Schule zu lassen. Mit beiden Händen wuchtete ich mir einen Tragegurt über die Schulter, um dann durch den Flur zurückzustapfen.

Am Esstisch wühlte Nanna in ihrer riesigen Handtasche nach ihren Schlüsseln. Das konnte dauern.

„Treffen wir uns am Auto?“, fragte ich.

Sie winkte abwesend, was ich als Ja deutete, also durchquerte ich das Wohnzimmer Richtung Haustür.

Mom saß wie immer schon seit Stunden auf dem Sofa und redete in ihr Handy, umgeben von Papierstapeln. Die Stifte, die überall herumflogen, waren sicher bis heute Abend unter den Sofakissen verschwunden. Ich begriff nicht, warum sie nicht wie jede andere Vertreterin für Arbeitsschutzprodukte an einem Schreibtisch arbeiten konnte. Aber anscheinend fühlte sie sich in diesem Chaos wohl.

Als sie gerade ein Gespräch beendet hatte, klingelte das Handy schon wieder aufdringlich. Es hatte keinen Sinn, zu warten, also winkte ich ihr nur zu.

„Bleib mal dran, George.“ Sie schaltete das Handy auf stumm und breitete die Arme aus. „He, was soll das? Kein ‚Guten Morgen, Mom‘, keine Abschiedsumarmung?“

Grinsend ging ich zu ihr und drückte sie. Ich musste ein Husten unterdrücken, als mir ihr Lieblingsparfüm, ein Blumenduft, in Nase und Kehle stieg. Als ich wieder aufstand, knackte es in meinem Rücken.

„War das dein Rücken?“, fragte sie erschrocken. „Meine Güte, du klingst heute ja schlimmer als Nanna.“

„Das habe ich gehört“, rief Nanna aus dem Esszimmer.

Ich verkniff mir ein Grinsen und zuckte die Schultern. „Wahrscheinlich habe ich am Wochenende zu viel trainiert.“ Wir sollten mit meinem Anfängerkurs in Ballett und Jazztanz demnächst in Miss Catherines Tanzschule bei der Frühjahrsaufführung auftreten. Während meine neueste öffentliche Demütigung immer näher rückte, wurde ich langsam wahnsinnig.

„Ach so. Geh es doch etwas ruhiger an. Es sind noch zwei Wochen bis zu der Aufführung.“

„Ja, schon, aber ich muss so viel üben, wie ich kann.“

Zumindest, wenn ich meinen Vater nicht schon wieder enttäuschen wollte.

„Wenn du dich im Garten zu Tode schuftest, ist dein Vater aber auch nicht beeindruckt.“

Ich erstarrte. Scheußlich, wenn man so leicht durchschaut wurde. „Den beeindruckt gar nichts.“ Wenigstens nicht genug, um mich öfter als zweimal im Jahr zu besuchen. Wahrscheinlich, weil ich im Sport so eine Niete war. Der Mann bewegte sich leicht und anmutig wie ein Profitänzer, aber offenbar hatte ich nicht einmal einen Hauch seiner Gene geerbt. Mom hatte mich im Laufe der Jahre bei allen Aktivitäten angemeldet, bei denen die Auge-Hand-Koordination trainiert wurde – Fußball, Twirling, Gymnastik, Basketball. Letztes Schuljahr war Volleyball dran gewesen. Dieses Jahr war es Tanzen, sowohl in Miss Catherines Tanzschule als auch an meiner Highschool.

Anscheinend hatte mein Vater die Nase voll von meinen sportlichen Fehlschlägen. Im letzten September, als ich mit dem Tanzen anfing, hatte Mom sich mit ihm deswegen am Telefon gestritten. Er wollte auf keinen Fall, dass ich in diesem Jahr Tanzunterricht nahm. Er dachte wohl, bei einer Grobmotorikerin wie mir wäre das Verschwendung.

Jetzt wollte ich ihm das Gegenteil beweisen. Und bisher war ich gnadenlos gescheitert.

Mom seufzte. „Ach, Schätzchen. Mach dir doch nicht solche Sorgen, ob es ihm gefällt. Tanz einfach für dich, dann geht schon alles gut.“

„Hm- hm. Das Gleiche hast du letztes Jahr beim Volleyball auch gesagt.“ Und trotz ihres Rates, „einfach Spaß“ zu haben, hatte ich bei einem Turnier einen Ball durch die Deckenplatten gepfeffert. Die zerbrochenen Platten hätten fast mein halbes Team um die Ecke gebracht, als sie auf sie niederprasselten. Danach hatte ich genug vom Volleyball.

Mom biss sich auf die Lippen; wahrscheinlich erinnerte auch sie sich daran und musste sich ein Lachen verkneifen.

„Ich habe sie!“, trällerte Nanna triumphierend im Esszimmer. „Packen wir’s, Kleine?“

Mit einem Seufzer schob ich mir den Rucksackgurt, der heruntergerutscht war, wieder auf die Schulter. Er kratzte durch mein Shirt hindurch so fest auf meiner Haut, dass ich zischend Luft ausstieß. Autsch. „Vielleicht sollte ich ein Aspirin nehmen, bevor wir gehen.“

„Auf keinen Fall.“ Nanna marschierte rein, in einer Hand die klimpernden Schlüssel. „Aspirin ist nicht gut für dich.“

Was? „Aber du und Mom nehmt es doch st…“

„Aber du nicht“, unterbrach mich Nanna schroff. „Du hast diesen künstlichen Mist noch nie genommen, und du fängst jetzt nicht damit an, deinen Körper zu vergiften. Ich mache dir lieber noch eine Tasse von meinem Spezialtee. Hier, nimm schon mal meine Handtasche mit ins Auto, ich komme gleich nach.“

Ohne auf eine Antwort zu warten, drückte sie mir ihre zentnerschwere Tasche in die Hand und verschwand Richtung Küche. Na toll. Ich würde bestimmt zu spät kommen. Mal wieder.

„Warum kann ich nicht einfach ein Aspirin nehmen, wie jeder andere auch?“

Mom lächelte und griff nach ihrem Handy.

Vier sehr lange Minuten später setzte sich Nanna endlich neben mich ins Auto. Sie drückte mir einen metallenen Thermobecher in die Hand. „Hier, das bringt dich wieder auf den Damm. Aber Vorsicht. Es ist heiß. Ich musste die Mikrowelle benutzen.“

Ich unterdrückte ein Stöhnen. Nanna konnte die Mikrowelle nicht ausstehen. Der einzige Knopf, den sie kannte, war die Dreiminutenautomatik. Ich würde von Glück sagen können, wenn der Tee bis zur Schule überhaupt ein bisschen abkühlte, dabei lag sie zehn Minuten entfernt.

Wir wohnten in einem kleinen, etwas abgelegenen Pulk Häuser acht Kilometer außerhalb der Stadt. Während ich auf meinen Tee pustete, sah ich mir im Vorbeifahren die sanften Hügel an, hier und da mit vereinzelten Häusern, großen runden Heuballen und Kühen in allen Schattierungen von Rot, Braun und Schwarz. Früher hatten dichte Kiefernwälder ganz Osttexas überzogen, aber sie waren längst abgeholzt. Jetzt reihte sich eine Ranch an die nächste, nur von langen Zäunen getrennt, meistens aus Stacheldraht, manchmal aus breiten Holzlatten, die das Wetter und die Zeit grau gefärbt hatten. Hier draußen konnte man atmen.

Näher bei der Stadt gab es immer mehr dichte Baumgruppen, bis man kurz vor der Junior Highschool und der Mittelschule durch einen breiten Streifen Kiefernwald fuhr. An der ersten Kreuzung mit Ampel begann die Innenstadt von Jacksonville, mit lauter Straßen und reihenweise Geschäften. Unter die einstöckigen Läden mischten sich einige drei- und vierstöckige Gebäude von Banken, Hotels oder Krankenhäusern. Und überall standen noch mehr Kiefern. Sie durchzogen und umringten jedes Wohngebiet und drängten sich sogar gegen die Korbfabrik und die Tomato Bowl, das Freilichtstadion aus Sandstein, in dem alle Football- und Fußballspiele stattfanden.

Früher hatte ich meine Heimatstadt mit ihren süßen Boutiquen und den Antiquitätenläden, in denen Nanna ihre Häkelarbeiten verkaufte, geliebt. Ich mochte sogar die Kiefernreihen, die sich durch die Stadt zogen, und das leise Seufzen, das der Wind den Bäumen entlockte. Wenn die Wiesen und Felder im Winter braun wurden und abstarben, behielt Jacksonville durch die Kiefern das ganze Jahr über frische Farbe.

Aber die Familien der Stadtgründer, die wegen ihrer irischen Vorfahren bei uns nur „der Clann“ hießen, hatten mir alles verdorben. Wenn ich jetzt den Wind in den Bäumen hörte, klang er wie Flüstern, als würden sich sogar die Pflanzen am Tratsch der Stadt beteiligen. Wahrscheinlich war dieses Getratsche der Grund für die lange Reihe berühmter Schauspieler, Sänger, Comedians und Models, auf die das relativ kleine Jacksonville mit seinen dreizehntausend Einwohnern so stolz war. Wenn man hier, wo jeder über jeden redete, aufwuchs, wollte man entweder sein ganzes Leben hier verbringen oder weglaufen und etwas ganz Besonderes werden, um es den Tratschweibern und dem Clann zu zeigen.

Ob ich berühmt werden wollte, wusste ich nicht. Aber auf jeden Fall wollte ich von hier abhauen.

Unsere übliche Strecke zur Jacksonville Highschool führte durch bescheidene Straßen, die von noch mehr Kiefern und ein paar Laubbäumen gesäumt wurden, bevor plötzlich die blaugelbe Heimat der JHS Indians auftauchte. Beim Anblick der dichten, schattigen Wälder, die das Gelände fast erdrückten, verspannten sich meine Schultern und mein Hals.

Willkommen in meinem täglichen Gefängnis für die nächsten vier Jahre. Es gab sogar ein Wachhäuschen und einen Wachmann, der jeden Morgen um Punkt acht eine schwere Metallschranke vor der Einfahrt herunterließ. Kam man zu spät, kassierte man einen schriftlichen Verweis. Einen Lehrer hätte man vielleicht breitschlagen können, damit er einen so hereinließ, aber der Wachmann herrschte so gnadenlos über die Einfahrt zur Schule, als wäre sie das Tor zu einem mittelalterlichen Schloss.

Wenn die JHS ein Schloss war, bestand die königliche Familie eindeutig aus den zweiundzwanzig genauso gnadenlosen Kindern des Clanns, die über die restliche Schule herrschten.

Die Clann-Typen hatten ihre Rüpelhaftigkeit wahrscheinlich ihren Eltern abgeguckt, die in der Stadt und einem guten Teil von Texas das Sagen hatten und sich auf verschiedenen Regierungsebenen in Führungsrollen drängten. In der Stadt gingen Gerüchte um, dass das dem Clann nur durch Zauberei gelingen könne, ausgerechnet. Was völliger Schwachsinn war. Die machtgeilen Methoden des Clanns hatten so gar nichts Zauberhaftes an sich. Das wusste ich nur zu gut. Von den „magischen“ Späßen ihrer Kinder hatte ich in der Schule schon mehr als genug mitbekommen. Nach dem Abschluss würden sie sich aus dem Staub machen.

Während Nanna vor dem Hauptgebäude hielt, schlürfte ich schnell einen Schluck Tee und handelte mir zu allem anderen auch noch eine verbrannte Zunge ein.

„Nimm das lieber mit.“ Nanna deutete mit dem Kopf auf den Thermobecher. „Der Tee müsste schnell wirken, aber vielleicht brauchst du später noch mehr.“

„Ist gut. Ach, und vergiss nicht, heute ist ein A-Tag. In der letzten Stunde habe ich Algebra, also …“

„Also hole ich dich auf dem vorderen Parkplatz vor der Cafeteria ab. Ich weiß, ich weiß. Ich bin alt, nicht senil. Dass sich die A- und die B-Tage abwechseln, kann ich mir gerade noch merken.“ Ihre blitzenden grünen Augen verschwanden fast, als ein ironisches Grinsen ihre runden Wangen hob.

An A-Tagen lag der vordere Parkplatz näher an dem Klassenzimmer, in dem der letzte Kurs stattfand. Der erste Kurs seit fünf Jahren, den ich zusammen mit Tristan Coleman besuchte …

„Savannah?“ Sie schaltete den Wagen auf Drive und gab mir mit hochgezogenen Augenbrauen stumm zu verstehen, dass ich mich beeilen sollte. Beim Aussteigen empfing mich warme Luft, die nach Kiefern duftete. Ich schlug die Tür zu und winkte ihr zum Abschied.

Tristan …

Sein Name hallte in meinem Kopf wider, die alten Erinnerungen und Gefühle brachten mich durcheinander. Wie als Antwort lief ein Kribbeln von meinem Nacken aus über die Kopfhaut. Ich achtete nicht darauf, verbannte die verbotenen Gedanken wieder in ihre imaginäre Kiste und drehte mich zum Haupteingang um. Der Tag würde schon scheußlich genug werden, da musste ich nicht noch über so einen hinterhältigen Verräter nachgrübeln.

Und tatsächlich – als ich die ungewöhnlich schwere Glastür aufstieß, lief ich direkt in die Zickenzwillinge hinein, zwei besonders üble Clann-Mitglieder. Der perfekte Anfang für einen großartigen Tag.

„Pass auf, wo du hinläufst, du Schwachkopf!“, schimpfte Vanessa Faulkner und wischte nicht vorhandenen Schmutz von ihrer neuesten Edelhandtasche von Juicy Couture.

„Genau, guck dich erst mal um, bevor du reingerannt kommst“, fügte ihre Schwester Hope hinzu, die aussah wie Vanessas Spiegelbild. Der einzige Unterschied war ein winziges Muttermal links neben den zynisch verzogenen Lippen. Sie hob eine Hand und tätschelte sich die platinblonden Locken.

Ich sah mich um. Mein peinlicher Moment des Tages hatte schon ein Publikum angezogen. Na toll. Es kribbelte mir in den Händen, meine eigenen wilden Locken glatt zu streichen, und mein Magen verkrampfte sich. Wieso mussten mich die Zickenzwillinge so behandeln? Nur weil ich blass war? Weil meine Haare die falsche Farbe hatten, nicht glatt oder glänzend genug waren?

„Und jetzt? Willst du dich nicht wenigstens entschuldigen?“, fragte Vanessa.

Im ersten Augenblick blendete meine Wut alles andere aus. Was würde passieren, wenn ich ihr das Grinsen mit einem Schlag aus dem Gesicht wischen würde? Sie konnte nicht heulend zu ihrem großartigen Clann laufen und die übliche Rache fordern. Nanna war Rentnerin, Mom arbeitete bei einer Firma aus Louisiana, und meinem Vater gehörte eine Firma, die historische Wohnhäuser renovierte. Meiner Familie konnte der Clann nichts anhaben.

Oder doch? Einige Mitglieder des Clanns arbeiteten als Politiker auf Bundesebene. Und nach Louisiana war es von Osttexas aus nur ein Katzensprung. Also waren ihre Verbindungen vielleicht gut genug, um meine Mom feuern zu lassen. Mist.

Die Riemen meines Rucksacks schnitten mir in die Hände, als ich alles herunterschluckte, was ich am liebsten sagen wollte, und stattdessen murmelte: „Tut mir leid.“

„Das sollte es auch“, sagte Vanessa. Sie und ihre Schwester lachten wie Hyänen auf Helium und wandten sich ab.

Ich hätte sie einfach gehen lassen und froh sein sollen, dass ich sie los war. Aber ich hatte Kopfweh, in meinen Schläfen hämmerte es, und ich konnte nur noch daran denken, wie anders es mal war. Als Kinder waren wir beste Freundinnen gewesen.

Vanessa zischte, als ich sie an der Schulter berührte. Beide Schwestern wirbelten herum. Vanessa sah mich so wütend an, dass ich erschrocken zurückwich, bis ich an die Schließfächer stieß. Wow. Das war doch verrückt.

„Van, wieso benimmst du dich so?“ Ich benutzte absichtlich meinen alten Spitznamen für sie. „Wir waren doch mal Freundinnen. Erinnerst du dich noch an den Valentinstag in der vierten Klasse? Wir haben Hochzeit gespielt, und ihr beide wart meine Brautjungfern.“ Das war der letzte Tag, an dem wir zusammen gespielt hatten, und eine meiner schönsten Kindheitserinnerungen. Vor der Zeremonie hatten wir zu dritt im Kreis auf dem kleinen Karussell gesessen und uns gegenseitig Blumen ins Haar geflochten. Dabei hatte mein erster und einziger Freund, Tristan Coleman, in der Nähe unter einer Eiche gestanden, uns beobachtet und auf mich gewartet.

Auf mich und darauf, mir meinen ersten und einzigen Kuss zu geben …

In dieser halben Stunde hatte sich alles so gut angefühlt, so vollkommen, fast magisch. Aber offenbar hatte ich das als Einzige so gesehen. Denn am nächsten Tag hatten sich alle Kinder des Clanns geweigert, mit mir zu sprechen. Sie wollten mir nicht mal sagen, womit ich sie geärgert hatte. Nicht einmal Tristan. Seit damals bestand mein einziger Kontakt zum Clann darin, dass mich die Zwillinge beschimpften oder mich „aus Versehen“ auf dem Flur anrempelten.

„Wir haben uns gegenseitig Gänseblümchen ins Haar geflochten“, flüsterte Hope und lächelte fast.

Sie erinnerte sich noch. Ich nickte und wagte selbst ein schüchternes Lächeln. Ich stieß mich von den Schließfächern ab.

Für einen kurzen Moment blickte mich Vanessa sanfter an. Sie glich dem Mädchen, das ich früher gekannt hatte, als würde sie sich auch an unsere Freundschaft erinnern. Aber dann verfinsterte sich ihre Miene durch eine Wolke von Hass. „Dieser Tag war ein riesiger Fehler. Dein Fehler, weil du gedacht hast, ein Freak wie du könnte mit jemandem aus dem Clann befreundet sein. Und du könntest jemanden wie Tristan, wenn auch nur als Spiel, heiraten.“

„Genau. Mit solchen Freaks wie dir gibt sich der Clann gar nicht ab“, fügte Hope hinzu.

So viel zu den Erinnerungen an die guten alten Zeiten.

Ich seufzte. Die Niederlage ermüdete mich noch mehr. „Ich verstehe euch nicht. Auch Tristan nicht. Ihr wart meine besten Freundinnen. Was habe ich denn getan, dass ihr …“

Vanessa stand so plötzlich so dicht vor mir, dass ich gar nicht reagieren konnte. Unsere Nasenspitzen berührten sich fast. „Du wurdest geboren, Freak. Das reicht, damit dich jeder aus dem Clann sein Leben lang hasst. Und jetzt. Hau. Ab!“ Mit beiden Händen stieß sie mich gegen die Schließfächer und rauschte davon. Hope folgte ihr auf dem Fuß.

Es hätte mich nicht überraschen dürfen. Ich hätte wissen müssen, dass die Vergangenheit vorüber war und man nicht zurückkonnte. Trotzdem brauchte ich einen Moment, bevor ich die Füße wieder bewegen konnte. Meine Kehle und meine Augen brannten. Ich versuchte, nicht auf die Blicke der anderen zu achten, und lief mit hoch erhobenem Kopf zu meinem Spind am Ende des Flurs, als wäre dieser Zusammenstoß halb so wild gewesen.

Drei Stunden später ließ ich mich in der Cafeteria am Tisch meiner Freundinnen auf meinen Stuhl plumpsen.

Carrie Calvin zog die Augenbrauen hoch, die unter ihrem langen, blonden Pony verschwanden. „Ein bisschen früh, um so müde zu sein, oder?“ Sie warf ihr schulterlanges Haar zurück.

Grummelnd konzentrierte ich mich darauf, meinen Thermobecher mit dem Tee aufzuschrauben. Ich brauchte die nächste Dosis hausgemachter Medizin. Hoffentlich würde sie dieses Mal schneller wirken. Vielleicht sollte ich mir einen Tropf legen und sie direkt ins Blut kippen.

Wie versprochen hatte Nannas besonderer Tee in der ersten Stunde – Englisch – geholfen. Aber im Sport- und Kunstgebäude zwei Etagen hochzulaufen und danach anderthalb Stunden zu tanzen, hatte alle Genesung zunichtegemacht. Jetzt ging es mir noch mieser als vorher.

„Ach, sie ist nur von dem vielen Tanzen kaputt“, sagte Anne Albright. „Du weißt schon, von diesen ganzen Pirouetten in diesen süßen Tutus in Miss Catherines Tanzstudio. Und dem Rumhüpfen mit diesen traurigen Fällen, die so gern bei den Charmers mittanzen würden.“ Grinsend zog sie ihren dicken kastanienbraunen Pferdeschwanz straffer; eine kleine Stichelei vor dem Mittagessen konnte sie sich wohl nicht verkneifen.

Ich bewarf sie mit Pommes. Sie hatte Glück, dass sie meine beste Freundin war, sonst hätte ich darüber nachgedacht, ihr stattdessen ihre Limo über den Kopf zu schütten. Sie wusste, dass Carrie und Michelle noch sauer waren, weil ich dieses Jahr tanzte, statt wieder mit ihnen Volleyball zu belegen. Schlecht Volleyball zu spielen fanden sie immer noch besser, als zu tanzen.

Michelle Wilson sah mich mit ihren großen haselnussbraunen Augen an. „Willst du es auch bei den Charmers versuchen, Sav?“

Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, was sie meinte. Die meisten Schülerinnen belegten den Tanzkurs nur, weil das eine Voraussetzung war, um sich im Mai für die Tanzgruppe der JHS Cherokee Charmers zu bewerben.

„Natürlich nicht“, mischte sich Anne ein, bevor ich antworten konnte. „Ihre Mom meinte, sie kann mit dem Tanzen ihre Sportstunden abdecken, ohne so eine Blamage wie letztes Jahr zu riskieren.“

„Na, vielen Dank auch“, sagte ich. Dabei konnte ich gar nicht böse sein. Anne sagte nur wie üblich die Wahrheit. Ich hatte mich tatsächlich für den Tanzkurs angemeldet, weil ich damit meine Pflichtstunden im Sport abdecken konnte und es weder Zuschauer noch Wettkämpfe gab, bei denen ich mein Team runterreißen konnte. Eine Bewerbung bei den Charmers war wirklich das Letzte, worauf ich Lust hatte.

„Entschuldige“, sagte Anne. Man sah ihr an, dass sie es ernst meinte. Und man hörte es auch.

Zwischen gierigen Schlucken Tee grinste ich sie ein bisschen an, um ihr zu zeigen, dass ich nicht wirklich sauer war. Sie war seit über zwei Jahren meine beste Freundin, und ich hatte mich an ihre unverblümte Art gewöhnt. Irgendwie fand ich sie sogar tröstlich. Wenigstens konnte ich mich immer darauf verlassen, dass sie ehrlich war.

Wieder stieg mir eine Woge von Schmerzen bis in Magen und Brust, dass mir das Lächeln verging. Diese Schmerzen kannte ich nur zu gut. Sie trafen mich jedes Mal, sobald er mir näher als hundert Meter kam, meistens sogar, bevor ich ihn sah oder hörte.

Michelle, die mir gegenübersaß, seufzte verträumt und bestätigte damit, was mein Körper schon wusste.

„Den würde ich zu gern umhauen“, tuschelte Anne, nachdem sie sich umgesehen und ihn auch entdeckt hatte.

Ich hielt den Blick auf Michelle gerichtet, obwohl der verliebte Gesichtsausdruck der zierlichen Blondine schwer zu ertragen war. Wenigstens starrte ich dadurch weiter geradeaus. Wenn Tristan zur Essensausgabe wollte, musste er entweder an der Wand der Cafeteria entlanggehen oder mitten durch den Raum an unserem Tisch vorbei. Die meisten nahmen den Mittelgang. Er würde das bestimmt auch tun.

Nur noch ein paar Sekunden, dann würde er hinter mir vorbeigehen. Während das seltsame Kribbeln auf meiner Haut verriet, dass er näher kam, redete ich mir ein, es würde mich gar nicht interessieren.

Und dann hörte ich es … ein Pfeifen, die Töne so leise, dass ich fast gedacht hätte, ich würde es mir nur einbilden, aber dazu war mein Gehör zu gut. Die Ballettmusik war so deutlich zu erkennen, als hätte er sie mir direkt ins Ohr gepfiffen.

Seit Tristan vor einer Weile mitbekommen hatte, wie mir in Algebra die Ballettschläppchen aus dem Rucksack gefallen waren, pfiff er jedes Mal, wenn er mich sah, den Tanz der Zuckerfee aus dem Nussknacker. Ich kannte noch seinen Sinn für Humor und wusste, wie er tickte. Er wollte sich so über meinen Wunsch lustig machen, Ballerina zu werden, ohne dass er wirklich mit mir reden musste. Schließlich konnte so ein Tollpatsch wie ich nie im Leben richtig tanzen lernen, oder?

Ich spürte richtig, wie ich an Wangen und Hals errötete, und ärgerte mich noch mehr. Jetzt sah ich bestimmt aus wie eine Erdbeere … rotes Gesicht, rote Haare, rote Ohren. Aber zumindest würde ich nicht den Kopf einziehen. Soweit ich es im Griff hatte, wollte ich jede Reaktion, die er sich wünschte, vermeiden.

„Okay, jetzt stelle ich ihm wirklich ein Bein“, zischte Anne und drehte ihren Stuhl in seine Richtung. Offensichtlich verstand auch sie seinen Sinn für Humor. Nur: Er gefiel ihr nicht.

„Nicht, das kannst du nicht machen!“ Michelle langte über den runden Tisch, packte Annes Arm und zerrte sie fast von ihrem Stuhl. Bis Anne sich gefangen hatte, war Tristan schon an unserem Tisch vorbeigegangen.

„Er gehört zum Clann. Du weißt doch, wie diese Hexen Savannah behandeln“, sagte Anne.

„So ist Tristan Coleman nicht. Er ist nett“, widersprach Michelle. „Die ganze Sache mit der Zauberei ist nur ein Gerücht. Und ein dummes dazu.“

Carrie, Anne und ich sahen uns an.

Michelle seufzte. „Tristan ist auf keinen Fall eine Hexe! Oder ein Hexer oder wie man sie nennt. Seine Familie besucht die gleiche Kirche wie ich. Und er ist zu nett, um kleine Tiere zu opfern. Wisst ihr noch, wie er mich letzten Sommer beim Leichtathletikwettkampf gerettet hat? Von den anderen hätte das keiner gemacht, aber er schon.“

Carrie und Anne stöhnten laut auf. Diese Geschichte hatten wir dieses Jahr schon tausendmal gehört, bis Anne schließlich gedroht hatte, Michelle zu erschlagen, falls sie noch einmal davon anfangen sollte.

Ich stöhnte nur innerlich. Mir hatte sich die Brust so zugeschnürt, dass mir das Atmen schwerfiel. Wie schaffte er das nur?

„‚Gerettet‘ ist etwas hochgegriffen“, meinte Carrie. „Und übrigens opfern Hexen keine Tiere.“

„Stimmt, Michelle“, sagte Anne. „Er hat dir nur von der Laufbahn geholfen, als dir die Schienbeine wehtaten.“

„Genau!“, erwiderte Michelle. „Das hat übel wehgetan. Und er hat mir als Einziger geholfen. Dabei kannte er mich nicht mal!“

Carrie seufzte und stützte das Kinn in eine Hand.

„Krieg dich ein, Michelle. Damit wollte er nur die Zuschauer beeindrucken.“ Anne kippte den Rest ihrer Limo herunter und rülpste, ohne sich zu entschuldigen. „Er ist einfach nur ein verwöhnter reicher Junge.“

„Das stimmt nicht. Und er muss sich nicht erst anstrengen, um irgendwen zu beeindrucken. Das schafft er schon mit seinem Aussehen. Diese Brust und die breiten Schultern.“ Wieder seufzte Michelle. „Wachstumsschübe sind doch was Wunderbares. Ich könnte schwören, dass er dieses Jahr mindestens fünfzehn Zentimeter gewachsen ist. Und diese neue Stimme. Mmhh!“

„Mir wird übel“, sagte Anne. „Und ich wette, dass sein Ego locker mitgewachsen ist. Er glaubt, jedes Mädchen auf der Welt müsste sich die Finger nach ihm lecken. Und was meinst du mit ‚diese neue Stimme‘? Hast du einen Kurs mit ihm oder was?“

Jetzt wurde Michelle rot. „Nein. An A-Tagen schaut er manchmal vor der ersten Stunde im Schülerbüro vorbei und unterhält sich mit mir und den anderen Aushilfen.“

„Und du quatschst dann mit ihm.“ Anne funkelte sie an.

„Na ja, das … das ist doch das wenigste, nachdem er mich gerettet hat.“

„Äh, gleich muss ich mich übergeben“, sagte Anne und nahm ihre Bücher.

„Ich mich auch. Ich fasse es nicht, dass du mit einem Typen vom Clann redest.“ Carrie packte ihre Sachen ebenfalls, obwohl ihre Salatschüssel noch halb voll war. „Besonders nicht, wenn er denkt, ihm würde ganz Osttexas gehören.“

Ich starrte auf meine Chili-Cheese-Pommes. Mein Trostessen tröstete mich heute überhaupt nicht. „Ich glaube, ich bin auch fertig.“

„Kommt, Leute, seid nicht sauer.“ Michelle sprang auf und schnappte sich ihre Sachen. „Ihr seid viel zu streng mit ihm. Er ist echt nett, wenn man ihn erst mal kennt.“

„Ach, bitte.“ Auf dem Weg zu den Mülleimern und weiter zum Hinterausgang erklärte Anne ihr den Unterschied zwischen einem netten Typen und einem Aufreißer. Ich lief mit, hörte aber nicht zu. Über Tristan Colemans berüchtigten Erfolg bei Mädchen hatte ich schon genug gehört. Trotzdem huschte mein Blick unbewusst zum Tisch der Clann-Leute. Lang genug, um zu sehen, dass der Prinz von Jacksonville mal wieder zum Friseur gehen sollte. Tristans goldene Locken streiften schon wieder über den Kragen seines Polohemds.

Später an diesem Nachmittag, vor der vierten Stunde, strömten die Schüler auf dem großen Flur wie ein menschlicher Fluss an mir vorbei. Müde, zerschlagen und schlecht gelaunt versuchte ich, mich von den vielen Leuten nicht zu bedrängt zu fühlen. Ich hockte mich mit einem Seufzen vor meinen Spind in der unteren Reihe. Es war immer noch ungewohnt, wie viele Schüler jeden Tag auf das Schulgelände drängten. An der Junior Highschool gab es nur drei Jahrgänge und viel breitere Flure. Wenn mich dort im letzten Jahr jemand angerempelt hatte, wollte er mir damit etwas sagen. Hier stieß alle paar Sekunden jemand gegen mich, während ich meinen chaotischen Spind nach einem Bleistift für die letzte Stunde durchwühlte. Blödes Algebra. Für mich war es das schwerste Fach, und außerdem das einzige, für das ich einen Bleistift brauchte.

Es war auch der einzige Kurs, in dem ich zusammen mit jemandem aus dem Clann saß. Und zwar mit dem Schlimmsten.

Gott sei Dank war wenigstens Anne im selben Kurs. Was Zahlen anging, war sie ein Genie.

Auf mich zu warten war allerdings weniger ihr Ding.

„Na los, du Schnecke, du kommst noch zu spät. Wie immer.“ Anne hatte sich gegen den Spind neben meinem gelehnt. Als sie mich freundschaftlich gegen die Schulter boxte, kippte ich fast um. Ich richtete mich wieder auf und verzog das Gesicht. An der Schulter würde ich bestimmt ein, zwei Tage lang einen blauen Fleck haben.

„Seit wann interessiert es eine Sportlerin, ob sie zu spät zum Unterricht kommt?“, flachste ich, während ich erschöpft zwischen meinen Büchern und Schreibsachen herumkramte. Wo zum Teufel steckte das Päckchen Bleistifte? Wenn ich mir einen Stift von Anne leihen musste, würde ich mir das ewig anhören können. Das wäre für sie die perfekte Gelegenheit, mir mal wieder einen Vortrag darüber zu halten, dass ich mehr Ordnung halten sollte.

Sie schnaubte und hockte sich neben mich. „Ist doch klar. Wenn ich über Volleyball kein Stipendium bekomme, muss ich es über die Noten schaffen. Hast du noch nie gehört, dass Harvard schweineteuer ist?“

„Ich verstehe immer noch nicht, warum du nach Harvard gehen musst, um Rechnungsprüferin zu werden. Reicht da nicht jedes andere College?“

„Und ich verstehe immer noch nicht, warum du in deinem Spind keine Ordnung halten kannst.“ Sie streckte die Hand aus, als wollte sie das Chaos aufräumen. Lächelnd schlug ich ihre Hand zur Seite.

Plötzlich prallte jemand von hinten gegen mich. Ich hielt mich mit einer Hand am Spind und mit der anderen am Boden fest, während mir der Rucksack von der Schulter rutschte und auf den Boden knallte. Mein ganzer Körper vibrierte von dem Schlag, als wären meine Knochen hohl und würden wie Metallrohre widerhallen. Dann purzelte alles wie eine winzige Lawine aus meinem Spind und fiel gegen meine Schulter. Das würde auf jeden Fall einen Bluterguss geben.

Als ich aufblickte, sah ich gerade noch Dylan Williams, ein weiteres Clann-Mitglied und einer meiner treuesten Quälgeister. Er zog mit dem schrillen Lachen weiter, das typisch für ihn war. Von diesem Lachen hatte ich schon einige Albträume bekommen. Mir schauderte.

„Das hat er doch wohl nicht ernsthaft gemacht! Dem trete ich in die …“ Anne sprang auf, packte ihren Pferdeschwanz und zerrte ihn auseinander, um das Gummiband straffer zu ziehen. Genauso wie beim Volleyball, bevor sie ihren mörderischen Aufschlag hinlegte. Wollte sie Dylan einen Mörderschlag gegen den Kopf knallen?

Die Vorstellung war zwar verlockend, aber die Konsequenzen wollte ich mir nicht mal vorstellen. Ich hielt sie am Knöchel fest, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken.

„Lass es, Anne, das ist er nicht wert. Manche Leute ändern sich nie. Dylan schlägt mir schon seit Jahren Bücher aus dem Arm und lässt meinen BH schnacken.“ Ich sammelte schon Sachen vom Boden auf und stopfte sie in meinen Spind.

Grummelnd bückte sie sich, um mir zu helfen. „Warum knallst du ihm nicht eine?“

„Keine Sorge, wenn er übertreibt, kümmere ich mich darum.“ Irgendwie. Und bestimmt an einem Tag, an dem ich mich nicht so mies fühle. „Er ist auch nichts weiter als ein verwöhnter Clann-Typ. Wenn ich reagiere, gebe ich ihm nur, was er will.“ Zumindest redeten mir das meine Mutter und meine Großmutter ständig ein. Bisher war ihre Methode, die Clann-Typen einfach zu ignorieren, nicht gerade von Erfolg gekrönt.

Anne machte ein finsteres Gesicht, aber zumindest ging sie dem Spinner nicht nach.

Nachdem wir den kleinen Berg aus Schreibsachen und Büchern in den zu kleinen Spind gepackt hatten, fiel mir darin etwas Knallgelbes auf. Ich griff in das Durcheinander und zog das Päckchen Bleistifte heraus. „Da sind sie ja.“

„Na endlich. Wenn du deinen Spind nicht aufräumst, mache ich das.“

„Ha! Tu dir keinen Zwang an.“ Ich stand auf und schloss die Tür. Ich musste mit beiden Händen drücken, damit das Schloss einrastete. „Aber beschwer dich nicht, wenn dich irgendwas da drin beißt.“

Als Anne einen verstohlenen Blick auf die Spindtür warf, musste ich lachen. Sie würde sich ohne zu zögern mit dem Clann anlegen, aber vor einem unordentlichen Schrank hatte sie Angst?

Genauso plötzlich verging mir das Lachen wieder, als mir ein vertrauter Schmerz in Bauch und Brust stieg. Fast hätte ich laut gestöhnt. Nicht schon wieder.

Obwohl ich wusste, was diese seltsamen Schmerzen auslöste, musste ich mich umdrehen und den Gang entlangsehen. Ich fand auf Anhieb ihren Verursacher, der die meisten anderen Schüler überragte, und unsere Blicke trafen sich.

Tristan

Sogar in der Masse von lärmenden Schülern fiel mir das Lachen eines Mädchens auf.

Ich verstand nicht, wie sie das schaffte. Im Flur war es laut, mindestens hundert Schüler redeten und schrien in einem Gang, der nur ein paar Meter breit und dreißig Mal so lang war. Aber jedes Mal, wenn Savannah Colbert lachte, packte mich der kehlige Laut und brachte mich völlig durcheinander.

Einerseits wünschte ich, ich müsste sie nie wieder sehen oder hören. Das würde mir das Leben deutlich erleichtern. Wenn es um Savannah ging, waren meine Gefühle ein einziges Chaos. Früher war sie meine beste Freundin gewesen. Und das erste Mädchen, das ich geküsst hatte.

Dann hatte ich den Fehler begangen, meiner großen Schwester Emily zu erzählen, dass ich in der vierten Klasse während der Pause mit Savannah Hochzeit gespielt hatte. Emily hatte mich bei unseren Eltern verpetzt. Mom war ausgerastet und hatte in der Schule angerufen, damit ich aus Savannahs Klasse genommen wurde. Dad war dunkelrot angelaufen, hatte finster dreingeblickt und kein Wort gesagt. Und mir war klar gewesen, dass ich Ärger bekommen würde.

Seitdem war mir und allen anderen Nachfahren des Clanns jeder Kontakt mit Savannah verboten. Angeblich hatte sie einen gefährlichen Einfluss oder so was. Auf jeden Fall stand sie für den Clann auf der Liste der gesellschaftlichen Außenseiter. Und Mom sorgte dafür, dass mir das bewusst war. Seit fünf Jahren hämmerte sie mir ein, ich solle mich „von diesem Colbert-Mädchen fernhalten“.

Und trotzdem musste ich mich jetzt einfach umdrehen und sie anschauen.

Aus dieser Entfernung konnte ich Savannahs Augen nicht genau sehen. Aber ich konnte mich noch bestens an sie erinnern. Ihre Farbe wechselte, je nach Stimmungslage, von Grau zu Graublau zu Blaugrün. Welche Farbe haben sie wohl jetzt? überlegte ich. Dass ich meine Bücher fester packte, bekam ich nur am Rande mit.

Ein schwerer Arm legte sich mir um die Schultern. „Hi, Tristan. Alles bereit fürs Gewichtheben nach dem Unterricht?“

Mein bester Freund, Dylan Williams, schüttelte mich. Ich wandte den Blick ab und erwiderte sein angeberisches Grinsen mit einem Stirnrunzeln. „Ja, klar. Aber komm heute lieber pünktlich, sonst wird Coach Parker sauer.“

Er lachte. „Wir sind Nachfahren. Was will er uns schon anhaben?“

Ich sah mich schnell um, ob niemand zuhörte, dann warf ich ihm einen bösen Blick zu. „Du weißt doch, dass wir nicht in der Öffentlichkeit darüber reden sollen. Und Coach Parker ist kein Nachfahre, also wird er wirklich sauer, wenn du wieder zu spät kommst. Oder läufst du etwa gern ein paar Strafrunden?“

Während Dylan das Kinn reckte, erstarrte sein Lächeln. „Wir werden ja sehen, wer Runden läuft. Niemand legt sich mit einem Nachfahren an. Nicht mal ein Footballtrainer.“

„Auch Nachfahren müssen sich an die Regeln halten, Dylan. Das haben wir immer getan, und das werden wir immer tun.“

Er warf seinen Kopf zurück, um ein paar Haarsträhnen aus den Augen zu schütteln. „Vielleicht bis jetzt. Aber vielleicht sind wir auch die ersten Nachfahren, die was ändern.“

„Was ändern? Was denn?“

Er zuckte mit den Schultern. „Wir haben diese Stadt gegründet. Findest du nicht, wir sollten sie längst im Griff haben, so wie es von Anfang an gedacht war?“

Ich war verdutzt. „Ach ja? Und wie würden wir sie in den Griff bekommen?“

„Keine Ahnung … wir könnten offener damit umgehen.“

Ich sah ihn finster an und hoffte, dass er nur Witze machte. Aber sein düsterer Blick und seine Art, entschlossen das Kinn zu recken, sagten etwas anderes. „Du willst doch nicht etwa, dass wir die Fähigkeiten des Clanns publik machen.“

Wieder zuckte er mit den Schultern. „Warum nicht? Die Welt hat sich verändert. In Büchern und Filmen sind wir immer die Coolen. Warum sollten wir nicht dazu stehen und allen zeigen, was wir tun können …“

Plötzlich wurde ich vollkommen panisch. Ich packte ihn an der Schulter, zog ihn näher und knurrte: „Bist du irregeworden? Wenn dich irgendein anderer Nachfahre so reden hört und es den Ältesten erzählt, machen sie dich kalt.“

Er verkrampfte sich und reckte wieder sein Kinn nach oben, um genauso böse zurückzustarren. Er öffnete sogar den Mund, als wollte er widersprechen.

Aber nach einem Moment der Anspannung holte er tief Luft und kicherte. „Entspann dich, Alter. Das war nur ein Scherz. Vergiss es.“

„Dylan …“

„Ich sag doch, das war nicht ernst gemeint. Mein Gott, verstehst du keinen Spaß?“

Ich starrte ihn weiter an und versuchte herauszufinden, was mit ihm in letzter Zeit los war. Sogar Scherze über dieses Thema waren gefährlich, und das wusste er. Warum also sagte er solche Sachen?

Als es zum ersten Mal klingelte, fluchte ich leise. In weniger als fünf Minuten musste ich am anderen Ende des Schulgeländes im Gebäude für Mathe und Hauswirtschaft sein. „Na schön. Alles in Ordnung zwischen uns?“

„Ja, klar.“ Er hob den Kopf und lächelte, aber sein Lächeln erreichte nicht die Augen. „Du willst nur mein Bestes, stimmt’s?“ Er wandte sich ab, rief mir „Bis später“ zu und lief in die entgegengesetzte Richtung.

Ich sah ihm nach, wie er davonmarschierte, als würde ihm die ganze Welt gehören. Dann machte ich mich auf den Weg zum Algebrakurs. Vielleicht hatte Dylan es sogar ernst gemeint, aber er war trotzdem nur ein Hitzkopf mit einem großen Mundwerk. Dass er in der Schulmannschaft als Quarterback mitspielte, obwohl es erst sein erstes Jahr auf der Highschool war, hatte ihm auch nicht unbedingt gutgetan. Hoffentlich kam er bald wieder zur Vernunft … bevor die Ältesten eingreifen mussten. Die Bücher und Filme, von denen er geredet hatte, gehörten nach Hollywood. In ihrer Fantasie waren die Menschen von Magie begeistert. Aber in der echten Welt würden magische Fähigkeiten nicht gut ankommen, besonders nicht in Jacksonville in Texas. Der ganze Landstrich war stark religiös geprägt, in der Stadt herrschten altmodische, konservative Ansichten über Religion und Zauberei. Zwar besetzten die Nachfahren der Gründerfamilien in der Regierung und der Wirtschaft wichtige Positionen, aber wenn bekannt wurde, wie viel Macht die meisten von ihnen besaßen, würde man uns für Teufelsanbeter oder Kinderfresser halten und uns aus der Stadt jagen, die wir gegründet hatten. Dylan durfte nicht vergessen, dass die Macht des Clanns auf unseren Geheimnissen beruhte.

Eins war jedenfalls sicher … wenn Dylan weiter Mist baute und ständig zu spät zum Training kam, würde zumindest Coach Parker seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Der Cheftrainer duldete keine Unpünktlichkeit bei seinen Spielern, egal ob sie zum Clann gehörten oder nicht. Wahrscheinlich würde er Dylan nach dem Training zur Strafe ein paar Runden um den Sportplatz laufen lassen. Das würde ihm helfen, ein bisschen runterzukommen, und geschähe dem Idioten ganz recht.

Manchmal wusste ich wirklich nicht mehr, warum ich ihn immer noch als meinen besten Freund betrachtete.

Ich lief den Gang entlang, um zur letzten Stunde an dem Tag zu kommen. Und zu Savannah. Ihre feuerroten Haare und die blasse Haut waren in dem faden Meer aus sonnengebräunten Brünetten und Blondinen leicht auszumachen. Ein paar Mädchen riefen meinen Namen, eine der Cheerleaderinnen aus dem zweiten Jahr berührte mich sogar am Arm und grinste mich an. Aber ich hatte keine Zeit, um stehen zu bleiben und mich zu unterhalten. Viel lieber wollte ich den Rotschopf beobachten. Irgendwie beruhigte es mich heute, Savannah anzusehen.

Ich verließ das klimatisierte Hauptgebäude und überquerte an diesem schwülen Frühlingsnachmittag die überdachte Verbindungsbrücke zum Mathegebäude gegenüber. Savannah und ihre Freundin gingen mehrere Meter vor mir her. Keine von beiden drehte sich um. Aber wie Savannah die Schultern hochzog, als ich sie sah … ich hätte fast schwören können, dass sie wusste, dass ich sie beobachte. Nicht zum ersten Mal überlegte ich, ob sie meinen Blick irgendwie spüren konnte. Aber das war unmöglich. Sie gehörte nicht zu den Nachfahren, und der Clann hätte gewusst, wenn es eine Außenseiterin mit solchen Fähigkeiten gegeben hätte.

Andererseits spukten mir normale Mädchen nicht so im Kopf herum.

Aber es hatte mich auch noch nie ein normales Mädchen so durcheinandergebracht wie Savannah. Vielleicht suchte ich nur deshalb nach einem anderen Grund als meiner eigenen Schwäche, warum sie mich so in ihren Bann geschlagen hatte.

Wenigstens wurde durch sie der Unterricht interessant.

Savannah

„Du siehst beschissen aus“, flüsterte Anne, als die Stunde zur Hälfte überstanden war. Meine Gedanken hatten sich die ganze Zeit benommen im Kreis gedreht.

Ich konnte mir nicht einmal ein Lächeln abringen, um sie zu beruhigen. Nannas Spezialtee hatte dieses Mal rein gar nichts gebracht. Es fehlte nicht viel, dass ich losflennte wie ein Baby, so stark waren meine Schmerzen. Das war mehr als nur ein Muskelkater vom Tanzen. Ich war noch nie krank gewesen, aber ich war ziemlich sicher, dass ich mir eine Grippe oder etwas Ähnliches eingefangen hatte. Ich hatte alle Symptome aus den Werbespots für Grippemittel: Wenn ich nicht fror, war mir heiß. Ich zitterte die ganze Zeit. Wo mich meine Kleidung berührte, fühlte sich meine Haut an, als hätte ich meinen jährlichen Sonnenbrand. Und in meinem Schädel hämmerte es so laut, dass ich kaum etwas von Mr Chandlers Unterricht hörte. Eigentlich sollten wir jetzt unsere Hausaufgaben machen. Als könnte ich das schaffen. Mein Arm schmerzte schon, wenn ich nur daran dachte, mein Buch unter dem Schreibtisch hervorzuholen. Und selbst an guten Tagen war ich in Mathe eine Niete.

Ich setzte mich hinter meinem Schreibtisch zurecht und stieß dabei gegen Tristans Füße. Mist. Das hatte ich vergessen. Der verzogene Prinz von Jacksonville brauchte wie üblich mehr Platz und hatte seine langen Beine links und rechts neben meinen Schreibtisch gestreckt. Damit war ich auf meinem Stuhl gefangen, wenn ich ihn nicht bei jeder Bewegung berühren wollte. Und das wollte ich wirklich nicht.

Wer ist eigentlich auf diese blöde Idee mit der alphabetischen Sitzordnung gekommen? Ich könnte ihn echt erschießen. Durch diese Platzverteilung hatten Tristan und ich zuerst in der vierten Klasse nebeneinandersitzen müssen. Und dieses Jahr saß er in Algebra direkt hinter mir.

Ich wäre gern auf dem Stuhl nach vorn gerutscht und hätte den Kopf gegen die Rückenlehne gestützt. Aber dadurch wäre mein Pferdeschwanz auf Tristans Schreibtisch gelandet. Vielleicht hätte er wieder mit meinen Haarspitzen rumgespielt. Anne hatte ihn vor ein paar Wochen dabei erwischt. Wahrscheinlich wollte er mir Kaugummi in die Haare kleben. Sein bester Freund aus dem Clann, Dylan Williams, machte das gern bei Mädchen mit langen Haaren.

Mühsam blieb ich aufrecht sitzen und unterdrückte ein Stöhnen. Alles drehte sich. Den Kopf in die Hände gestützt, sah ich wieder auf die Wanduhr. Wenn ich nur noch diese letzte Stunde überstand …

„Alles in Ordnung?“, flüsterte Anne. Sie hatte sich an Tristan vorbeigebeugt. „Im Ernst, Sav. Du siehst echt …“

„Anne, konzentrieren Sie sich auf Ihre Arbeit“, sagte Mr Chandler von seinem Schreibtisch aus. „Savannah, kommen Sie bitte zu mir.“

Fast hätte ich gewimmert. Ich sollte mich bewegen?

Ich biss die Zähne zusammen, wuchtete mich hoch und schob mich vorn an meinem Schreibtisch vorbei, um Tristans Beinen auszuweichen. Als ich zum Lehrerpult schlurfte, betete ich nur noch, dass ich den kleinen, rundlichen Mann nicht vollspucken würde.

„Anne hat recht, Sie sehen wirklich krank aus“, sagte Mr Chandler leise. „Wollen Sie zur Schulschwester gehen?“

Na toll. Also fanden alle, dass ich beschissen aussah. „Äh, nein, danke.“ Ich bemühte mich, nicht in seine Richtung zu atmen. War Grippe nicht hochgradig ansteckend? „Das ist die letzte Stunde für heute. Ein bisschen halte ich es noch aus. Aber kann ich vielleicht den Kopf auf den Tisch legen?“

„Klar, machen Sie das ruhig. Aber wenn es Ihnen besser geht, kümmern Sie sich bitte um Ihre Hausaufgaben.“

Auf dem Weg zurück zu meinem Tisch schlang ich die Arme um mich, als es mich plötzlich eiskalt überlief und ich zitterte. Dann machte ich den Fehler, noch einmal auf die Wanduhr zu sehen. So-dass ich Tristans ausgestrecktes Bein nicht bemerkte.

Ich stolperte über seinen Fuß. Meine Arme ließen sich nicht bewegen. Ich würde mich auf keinen Fall rechtzeitig fangen. Ich konnte nur noch die Augen schließen und mich darauf einstellen, dass ich gleich mit dem Gesicht auf meinen Tisch knallen würde. Darüber konnte er mit seinen tollen Clann-Freunden nachher schön ablachen.

Stattdessen fingen mich starke Hände auf.

Ich öffnete die Augen, aber ich wusste schon vorher, wer mich gefangen hatte.

Tristan war halb aufgestanden und hatte mich an den Schultern gepackt. Müde und schlecht beieinander, wie ich war, verlor ich mich in diesen smaragdgrünen Augen, die mir einmal so vertraut gewesen waren wie meine eigenen. Von seinen Händen drang Hitze in meinen Körper und ließ meine Knochen schmelzen.

„Alles in Ordnung, Sav?“, flüsterte er mit gerunzelter Stirn.

Der Kosename warf mich aus der Bahn. Er hatte den alten Namen für mich so leichthin benutzt, als wären wir noch in der vierten Klasse und die besten Freunde. Als hätte er nicht in den letzten fünf Jahren so getan, als würde er mich nicht kennen.

Seine Lippen, die sonst voll waren, hatte er zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Er sah … wütend aus. Weil er mich hatte auffangen müssen? Oder weil ich die Dreistigkeit besessen hatte, über seinen Fuß zu stolpern?

„T-tut mir leid“, murmelte ich. Ein leichter Anflug von Wut gab mir genug Kraft, um das Gleichgewicht wiederzufinden.

Sobald ich sicher auf meinem Platz saß, legte ich zitternd den Kopf auf die kühle Holzplatte des Tisches und wünschte mir, ich könnte einfach sterben. Als wäre es nicht schlimm genug, zum ersten Mal eine Monstergrippe zu haben, war Tristan jetzt auch noch sauer auf mich, weil ich über ihn gestolpert war. Als könnte ich was dafür, dass er Ähnlichkeit mit Bigfoot hatte, dem Riesenschneemensch, der angeblich immer mal wieder in den Bergen gesichtet wurde.

Aber im Moment war ich zu müde, um mich darüber richtig aufzuregen. Ich wollte einfach nur noch nach Hause.

Tristan

Savannah Colbert war garantiert das dickköpfigste Mädchen, das ich kannte. Ich hatte seit über einer Stunde zugesehen, wie sie zitterte, wie ihr Atem schneller und unregelmäßig ging. Jede andere wäre nach Hause gegangen. Aber nicht Savannah.

Ihre Wangen waren gerötet, sie runzelte ständig die Stirn und krümmte sich.

Wenn wir noch befreundet gewesen wären, hätte ich diesen Dickschädel zum Auto meiner Schwester geschleift und sie persönlich nach Hause gefahren. Obwohl ich meinen Führerschein erst im nächsten Jahr bekommen würde. Und niemand aus dem Clann mit ihr Kontakt haben durfte und Jacksonville voller Klatschtanten war, die jede meiner Bewegungen beobachteten und den Ältesten innerhalb von Minuten weitertratschten.

Innerlich fluchte ich wild über den Clann. Er war eine Bande kontrollwütiger Zauberer. Nur weil meine Familie diese Machtjunkies über vier Generationen angeführt hatte, wollte ich noch lange nichts mit ihrer Magie oder ihren blöden Regeln zu tun haben. In jeder wachen Minute musste ich mich auf mein Energielevel konzentrieren, damit ich nicht aus Versehen irgendwas in Brand steckte. Manchmal war es echt anstrengend, diese Kraft ständig unter Kontrolle zu halten. Dabei wollte ich einfach normal sein und Football spielen, mit ein bisschen Glück irgendwann in der NFL. Aber selbst dabei half die Magie und behinderte mich gleichzeitig. Sie half mir, schneller zu laufen und andere Spieler stärker zu rammen. Aber ich musste auch aufpassen, dass ich niemandem das Genick brach oder ihn zu weit wegschleuderte, wenn ich ihn umrannte. Wenn man nicht zum Clann gehörte, konnte man sich einfach entspannen und das Spiel genießen.

Leider hatten meine Eltern für mich andere Pläne, die nichts mit Football zu tun hatten. Ich sollte als Nachfolger meines Vaters der nächste Anführer des Clanns werden. Deshalb musste ich regelrecht darum betteln, dass ich überhaupt spielen durfte. Dabei hätten alle anderen Eltern in Osttexas sonst was dafür gegeben, damit ihre Söhne an der Highschool Football spielen konnten.

Ganz zu schweigen davon, dass ich wegen dem Clann nicht mehr mit Savannah befreundet sein durfte. Ich hatte immer noch Albträume von Savannahs Blick, als ich ihr sagen musste, dass ich mich nicht mehr mit ihr treffen konnte. An dem tiefen Schmerz in ihren Augen, damals und seitdem jedes Mal, wenn sie mich ansah, war nur der Clann schuld.

Irgendwann und irgendwie würde ich meinem Dad klarmachen, dass ich auf keinen Fall in seine Fußstapfen treten würde. Dass ich mir meine Freunde selbst aussuchen würde. Und auch meine Freundin.

Zähneknirschend starrte ich auf Savannahs Rücken. Sie war eindeutig krank. Sie sollte zu einem Arzt gehen, statt sich durch den Unterricht zu quälen. Wenn ich sie nicht aufgefangen hätte, wäre sie glatt ohnmächtig geworden.

Jemand trat gegen mein Bein. Was zum …? Ich drehte mich nach links und sah, dass Anne Albright mich anfunkelte.

„Hör auf, sie anzustarren“, zischte sie.

Ich warf ihr einen finsteren Blick zu, damit sie mich hoffentlich in Ruhe ließ. Ich konnte nicht noch jemanden brauchen, der mir sagte, was ich zu tun hatte. Besonders heute nicht.

Ich blickte wieder Savannah an. Anne, die kleine Zicke, trat mich noch einmal. Der Schmerz zuckte meine Wade hinauf. Wieder verkniff ich mir zu fluchen. Hoffentlich war das Bein bis zum Training wieder in Ordnung.

„Anne, behalten Sie Ihre Füße bitte bei sich“, warnte Mr Chandler hinter seinem Schreibtisch. „Oder brauchen Sie mal eine Auszeit?“

Sehr schön. Ich grinste.

„Nein, Sir“, murmelte Anne. Sie klang, als könnte sie töten, aber wenigstens trat sie mich nicht mehr.

Als es zum Ende der Stunde klingelte, zuckte ich zusammen. Meine Nerven waren so angespannt wie auf dem Spielfeld. Endlich konnte Savannah nach Hause gehen. Oder noch besser zu einem Arzt.

Anne stand auf, schlug einen Bogen zu Savannahs Schreibtisch und schüttelte sie wach. „He, Sav, wir können gehen.“

„Uah“, stöhnte Savannah. Sie versuchte aufzustehen, aber ihre Beine trugen sie nicht.

Ohne nachzudenken, sprang ich auf. „Brauchst du Hilfe?“

„Von dir nicht.“ Anne legte sich einen blassen Arm von Savannah um die Schulter, um sie hochzuhieven.

„Hör auf, das sieht albern aus“, krächzte Savannah.

„Na und, Prinzessin, wen interessiert das?“, sagte Anne schroff.

„Lass uns gehen. Wir müssen dich zum Auto deiner Großmutter bringen, und der Weg ist weit.“

Es war wirklich lächerlich. Bis zum Parkplatz würden sie ewig brauchen, und ich könnte Savannah in fünf Sekunden hintragen. Sie wog wahrscheinlich gerade mal fünfzig Kilo. Das einzige Problem wären die vielen Zeugen gewesen. Den Ältesten des Clanns – vor allem meinen Eltern – würde es die Gerüchteküche schneller zutragen, als ich es vom Training nach Hause schaffen würde.

Also stand ich nur da, knirschte mit den Zähnen und kam mir wie ein mieser Arsch vor, weil ich zuließ, dass Anne Savannah allein aus dem Klassenzimmer half. Dann fielen mir Savannahs Rucksack und ihre Bücher unter ihrem Schreibtisch auf. Wenigstens konnte ich dabei helfen, ohne dass es dem Clann auffiel.

Die Mädchen kamen schneller voran, als ich erwartet hätte. Bis ich sie einholte, hatten sie schon fast den Parkplatz erreicht. Anne hätte mir den Kopf abgerissen, wenn ich Savannahs anderen Arm genommen und geholfen hätte, also blieb ich ein paar Schritte zurück.

Ohne ein Wort zu mir verfrachtete Anne ihre Freundin auf den Beifahrersitz eines Autos, das am Gehweg wartete. „Sie ist richtig krank, Mrs Evans“, erklärte Anne der Fahrerin durch die offene Tür. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie Fieber hat. Es ging ihr schon heute Mittag nicht gut. Sie hat gesagt, sie wäre müde, und hat nichts gegessen.“

„Hm. Ist gut. Danke, Anne. Ich bringe sie nach Hause und sorge dafür, dass sie gesund wird“, versprach Savannahs Großmutter. Verstohlen warf ich einen Blick auf sie. Sie sah aus wie eine freundliche, kleine alte Dame mit runden, rosigen Wangen. Sie lächelte Anne an. Dann sah sie zu mir herüber, und ich richtete mich ruckartig auf. Die Frau hatte Adleraugen. Zu Hause konnte Savannah bestimmt nicht unbemerkt irgendwas anstellen. Ihrer Großmutter würde nichts entgehen, auch nicht in ihrem Alter.

„Hier sind ihre Sachen“, sagte ich zu Anne und streckte ihr Savannahs Rucksack und die Bücher entgegen.

Anne kniff die Augen zusammen, riss mir die Sachen aus den Händen und legte sie Savannah auf den Schoß.

Savannah hob nicht einmal den Kopf von der Kopfstütze an.

Ich wartete, bis das Auto den Parkplatz verlassen hatte. Dann wollte ich mich auf den Weg zur Sporthalle machen.

„He!“ Als ich Anne rufen hörte, blieb ich stehen. Aber ich drehte mich nicht um, als sie mir nachkam. „Warum hast du das gemacht?“

Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, zuckte ich nur mit den Schultern.

„Den Leuten vorzumachen, dass du nett bist, funktioniert nur, wenn du Publikum hast. Falls das der Plan war.“

„Ist ja auch egal.“

Sie murmelte etwas, das wie „Egomane“ klang.

Oh Mann, wenn es um Freunde ging, hatte Savannah in letzter Zeit wirklich einen miesen Geschmack. Ich verdrehte die Augen und ging.

KAPITEL 2

Tristan

m nächsten Tag hielt ich in der Mittagspause Ausschau nach Savannah. Ich tauschte sogar die Plätze mit Dylan, damit ich den Tisch mit ihren Freundinnen besser im Auge behalten konnte. Aber sie ließ sich nicht blicken. Mittwoch tauschte ich wieder mit Dylan die Plätze, weil ich dachte, jetzt müsste sie zurück sein. Aber sie war nirgends zu sehen, und ihr Platz blieb leer. Auch nachmittags bei Algebra tauchte sie nicht auf.

Algebra war noch nie so langweilig gewesen oder hatte sich so ewig hingezogen.

Freitagmittag fehlte Savannah immer noch. Das brachte mich nicht gerade in die richtige Stimmung, um mich mit Dylans Launen herumzuschlagen.

„Komm, tausch noch mal mit mir den Platz“, bat ich ihn. Ich behielt die Türen der Cafeteria im Auge, falls Savannah hereinkam.

Dylan hing weiter auf seinem Stuhl, ohne sich zu rühren. „Warum sollte ich?“

„Weil man von deinem Platz aus besser sehen kann und ich … was suche.“

Dylan grinste. „Willst dir wohl Mädchen ansehen, was?“

Das war als Ausrede nicht schlecht und stimmte im Grunde sogar. „Genau. Also tauschst du jetzt mit mir oder nicht?“ Ich versuchte, mir meine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. Sonst würde er doppelt so lange brauchen, nur um mich zu ärgern.

„Und wenn nicht? Rufst du Daddy an, damit er und die anderen Ältesten mir beim nächsten Clann-Treffen den Hintern versohlen?“

Ich sah ihn wütend an. Manchmal konnte er wirklich nerven. Es ging doch nur um einen Stuhl!

Er kicherte. „Okay, okay, keine Panik. Ich mache ja schon.“ Er schälte sich so langsam aus dem Stuhl, als wäre er ein Altenheimbewohner, und verbeugte sich mit weit ausholender Geste davor. „Euer Thron, Prinz Tristan.“

Ich seufzte lange und tief. Dann setzte ich mich.

Er ging im Schneckentempo die vier Schritte um den Tisch herum zu meinem alten Platz. Als er saß, starrte er mich die restliche Pause über dermaßen an, dass ich ihm am liebsten eine reingehauen hätte.

Was war in letzter Zeit nur mit ihm los? Wir waren schon als Kinder beste Freunde gewesen. Aber seit wir auf der Highschool waren, war bei ihm anscheinend irgendwas schiefgelaufen. Jedenfalls war er schon das ganze Jahr auf Krawall gebürstet. Als wäre er sauer auf mich, weil mein Vater den Clann anführte oder so. Oder vielleicht, weil meine Familie aus mir den nächsten Clann-Anführer machen wollte? Aber das ergab auch keinen Sinn. Dylan wusste besser als jeder andere, wie sehr ich mir wünschte, einfach normal zu sein und mein eigenes Leben zu führen anstatt dem, was meine Eltern für mich wollten.

Also warum war er plötzlich ständig so zickig?

Egal. Es war nicht mein Job, mich um Dylans Probleme mit dem Clann und seinen Machtstrukturen zu kümmern. Mein Problem war momentan, herauszufinden, was mit Savannah los war.

Es war für sie absolut untypisch, eine ganze Woche in der Schule zu fehlen.

Ich konnte mich an keinen einzigen Tag davor erinnern, an dem ich sie nicht zumindest mal kurz auf dem Flur gesehen hatte. Sie war immer irgendwo in der Nähe und wartete nur darauf, mir die Luft zu rauben und diesen Schmerz in Bauch und Brust auszulösen, wenn ich sie sah.

Ich musste wissen, was los war, und zwar bald.

Nach der Algebrastunde folgte ich Anne auf die Verbindungsbrücke. „He, Anne. Warte mal.“

Sie sah sich kurz um, schnaubte und ging schneller weiter.

Ich unterdrückte ein Knurren und lief ihr nach. Als ich sie eingeholt hatte, blieb sie nicht einmal stehen. Andererseits war es bei ihren kurzen Beinen auch nicht besonders schwer, mit ihr Schritt zu halten.

„Hör mal, ich …“ Wie sollte ich sie nach Neuigkeiten fragen, ohne den falschen Eindruck zu erwecken?

Seufzend blieb Anne stehen. „Dein Anspruchsdenken kennt wirklich keine Grenzen, oder?“

Was?

Sie funkelte mich an. „Ja, richtig. Keine lange Rede. Nächstes Thema. Ich nehme an, du bist neugierig und willst nach einer gewissen kranken Person fragen, stimmt’s?“

Überrascht, dass sie schon erraten hatte, was ich wollte, nickte ich stumm.

Sie zögerte, als müsste sie erst überlegen, was sie sagen wollte. „Ich sag’s dir, aber vorher musst du mir was sagen.“

„Was denn?“

„Wieso interessiert dich das?“

„Äh …“ Was sollte ich denn darauf antworten?

„Coleman, wir wollen mal eins klarstellen: Savannah ist ein wirklich nettes Mädchen.“

„Ich weiß.“ Muss sie auch sein, wenn sie dich als Freundin ausgesucht hat, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Deshalb verdient sie auch einen netten Jungen. Und keinen Aufreißer, für den sie nur eine Herausforderung ist.“

Sah mich Savannah auch so? Als Aufreißer? Vorerst schob ich die Frage beiseite. „Du trägst ganz schön dick auf. Ich möchte nur wissen, ob es ihr gut geht. Mehr nicht. Keine große Sache.“ Ich versuchte es mit meinem charmantesten Lächeln, mit dem ich sogar die Drachen im Schülerbüro herumkriegte.

„Na schön. Wenn das so ist …“

Mein Herz setzte einen Schlag aus.

„Sie ist nicht tot.“ Damit ließ sie mich stehen.

Plötzlich brach die heiße Wut hervor, die sich schon die ganze Woche in mir angestaut hatte. Ich schrie ihr nach: „Mehr sagst du mir nicht?“

„Nein. Das war’s, Coleman“, rief sie zurück, ohne stehen zu bleiben oder den Kopf zu wenden. „Wenn du mehr Informationen haben willst, kauf sie dir von irgendwem.“

Unglaublich.

Es dauerte einen Moment, bis ich wieder klar denken konnte. Als ich mich beruhigt hatte, stapfte ich ins Hauptgebäude und zu meinem Spind. Wie ätzend, dass jetzt keine Saison war und wir uns auf Gewichte und Ausdauertraining konzentrierten. Sonst hätte ich wenigstens beim Footballtraining irgendwen umhauen können.

Im Hauptflur entdeckte ich Savannahs andere Freundin. Michelle Soundso. Sie half jeden Tag in der ersten Stunde im Schülerbüro aus und war um einiges netter als die zickige Anne.

Ich wagte einen Versuch und lehnte mich gegen den Spind neben Michelles. Ich lächelte. Hoffentlich würde es dieses Mal besser laufen! „Hallo, Michelle. Wie geht’s dir?“

Sie errötete, was immer ein gutes Zeichen war, und kicherte. „Gut, und dir?“

„Auch gut.“ Dieses Mal wollte ich es mit einer anderen Strategie versuchen und mich nicht besonders interessiert zeigen. „Hör mal, beim Essen haben ein paar Mädchen über deine Freundin Savannah Colbert geredet. Sie meinten, sie hätte diese Woche ziemlich viel Unterricht verpasst, und sie machen sich Sorgen um sie. Sie haben wohl überlegt, ihr eine Genesungskarte oder so was zu schicken. Ich habe gesagt, dass ich dich kenne und mal fragen will, wie es ihr geht. Du hast nicht zufällig was gehört, das ich weitergeben könnte, oder?“

„Ach, das ist aber nett von ihnen! Ich habe gehört, dass es ihr ganz gut geht. Aber wann sie wieder in die Schule kommt, weiß ich nicht.“

Das hörte ich gar nicht gern. „Hm. Klingt, als hätte sie sich was Ernstes eingefangen. Hast du mit ihr gesprochen?“

„Nein, nur mit ihrer Großmutter. Wenn ich so darüber nachdenke, hat Mrs Evans gar nicht genau gesagt, was Savannah hat.“ Sie lächelte zögerlich. „Wenn du willst, könnte ich heute Abend anrufen und genauer nachfragen.“

Sie legte den Kopf schief wie ein Vogel und musterte mich aufmerksam. Sie wurde zu neugierig. Nicht gut. „Ach, ist nicht so wichtig. Die Mädchen haben sich nur ein bisschen Sorgen gemacht. Ich sage ihnen, dass es Savannah gut geht.“ Ich stieß mich vom Spind ab. „Aber sagst du mir Bescheid, wenn du was Neues hörst?“

Lächelnd wartete ich, bis sie nickte. Dann winkte ich betont beiläufig und ging.

Warum nur machte ich mir jetzt noch größere Sorgen?

Savannah

Feuer und Eis. Daraus bestand tagelang meine ganze Welt. Daraus und aus seltsamen Gesprächen zwischen meiner Mutter und Nanna, die ich mithörte. Aber vielleicht hatte ich sie auch nur geträumt.

„So krank war Sav noch nie. Noch nie“, flüsterte meine Mutter irgendwann in der ersten Nacht. „Sollen wir mit ihr …“

„Wohin, Joan? Wenn sie eine Blutprobe nehmen …“, tuschelte Nanna.

„Mein Gott, du hast recht. Man weiß gar nicht, was sie finden würden. Und zu dem Clann-Arzt kannst du auch nicht gehen. Er würde es dem Clann erzählen, und den Ärger, den das bringen würde, können wir nicht brauchen. Also … was sollen wir machen?“

„Ich weiß es nicht. Egal, was ich versuche, ihr Fieber steigt immer weiter. Das dürfte nicht passieren. Ich bin alle Bücher durchgegangen und habe alles zwei Mal gelesen. Aber ihr Fall ist so einzigartig, dass nirgendwo etwas über sie steht. Es gab noch nie etwas über sie. Wir hatten immer ein Riesenglück mit ihr. Bisher konnte ich alles selbst behandeln.“

„Willst du etwa aufgeben?“ Die Stimme meiner Mutter wurde immer lauter, fast schrie sie.

„Pst, nein, natürlich nicht! Aber vielleicht solltest du ihren Vater anrufen. Vielleicht weiß seine Art, was man tun kann.“

Seine Art? Offenbar konnte Nanna Dad wirklich nicht ausstehen.

Sie schwiegen so lange, dass ich mich schon fragte, ob ich eingeschlafen war. Dann antwortete Mom endlich mit einem seltsamen Unterton, durch den sie noch besorgter klang. „Bist du sicher, dass wir sie nicht lieber raushalten sollten? Wenn wir sie um Rat bitten, meinen sie nachher, wir hätten die Kontrolle verloren. Womöglich wollen sie sich dann richtig einmischen.“

„Dieses Risiko müssen wir eingehen, Joan. Wir müssen sie um Hilfe bitten. Das ist die einzige Möglichkeit.“

Die einzige Möglichkeit? Was bedeutete das? Warum klangen diese wenigen Worte von Nanna so bedrohlich?

Ich dachte, ich hätte Mom mit jemandem leise reden hören, aber Nanna antwortete nicht. Telefonierte Mom gerade mit Dad?

„Gut, das versuchen wir.“ Als Mom das Gespräch beendete, piepte das schnurlose Telefon. „Mom, er sagt, wir sollten jeden Einfluss von ihr nehmen.“

„Jeden? Sogar den Schutz …“

„Ja. Er meint, es klänge, als würden ihre beiden Hälften miteinander kämpfen.“

„Aber …“

„Wir müssen es versuchen. Ihm ist sonst nichts eingefallen. Und … er kommt, um mit ihr zu reden.“

„Nein. Nein, du hast gesagt, sie wird es nie erfahren müssen. Er hat versprochen, dass sie ein normales Leben führen kann!“

„Sie verändert sich, Mutter. Und wir können es nicht mehr aufhalten. Sie muss es erfahren. Allerdings nur … wenn es funktioniert.“

„Du meinst … wir müssen es ihr nicht sagen, wenn …“

Stille.

Wenn was?

Und dann gab mir mein Körper die Antwort. Die Schmerzen wurden stärker, bis es nichts anderes mehr gab. Tod. Es fühlte sich an, als würde ich auf grauenhafte Art sterben, als würde ich erst bei lebendigem Leibe verbrannt, um im nächsten Moment in eiskaltem Polarwasser zu ertrinken.

Hände aus Feuer berührten meinen Hals, ein schrecklicher Gegensatz zu dem Eisblock, in den sich mein Körper verwandelt hatte. Etwas glitt von meinem Hals herab, und die Finger wurden zurückgezogen. Danach übergab ich mich. Mein Magen leerte sich immer wieder, bis nichts übrig war, und trotzdem musste ich weiter würgen.

Und dann schlief ich. Stunden, Tage, ich hatte keine Ahnung, wie lange. Im Schlaf träumte ich von Tristan.

Als ich aufwachte, starrten mich drei Leute an. Mom, Nanna … und Dad.

Hoffentlich habe ich nicht im Schlaf geredet. Falls ich Tristans Namen laut ausgesprochen hatte …

Aber ich beruhigte mich wieder. Es war verrückt, wegen eines Traums ein schlechtes Gewissen zu haben. So etwas konnte man nicht kontrollieren. Und selbst wenn ich im Schlaf seinen Namen gesagt hatte – ich hatte zwar in der vierten Klasse versprochen, mich von Tristan und den anderen Clann-Kindern fernzuhalten, aber nur weil ich jetzt von ihm geträumt hatte, würde ich nicht gleich Ärger bekommen.

Trotzdem: Wenn mein Dad vorbeikam, musste ich irgendwas falsch gemacht haben. Sonst besuchte er mich nur zu meinem Geburtstag im Oktober und einmal im Sommer. Und selbst dann trafen wir uns nur zum Abendessen in unserem Lieblingsrestaurant in der Stadt und taten so, als würden wir trotz der angespannten Atmosphäre essen, und er tat so, als würde er sich für mein Leben interessieren. Nannas Haus hatte er zuletzt an dem Weihnachten betreten, als ich sieben war und er sich so mit Mom gestritten hatte, dass sie am Ende mit Tellern und Eiswürfelschalen nach ihm geworfen hatte.

Nanna beugte sich vor und fühlte mir die Stirn und die Wangen, um zu sehen, ob ich noch Fieber hatte. „He, meine Kleine, wie fühlst du dich?“

Ich versuchte zu schlucken. Meine Kehle war so wund, als hätte sie jemand mit Sandpapier ausgescheuert. „Durst“, flüsterte ich mit Mühe.

Mom reichte mir ein Glas Wasser. Als ich mich aufsetzen wollte, schmerzte mein Unterbauch so, dass ich stöhnend liegen blieb. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand mit einem Baseballschläger in den Bauch geschlagen. „Hat mich jemand verprügelt?“

Mom lachte, aber es klang matt. „So ähnlich.“

Beim zweiten Versuch hob ich nur den Kopf, um meine Kehle mit einem kleinen Schluck Wasser zu beruhigen. Als ich es geschafft hatte, fragte ich: „Was war mit mir los?“

Alle drei tauschten Blicke aus. Das war wirklich unheimlich. Ich wusste nicht mal, wann ich sie zuletzt zusammen in einem Zimmer gesehen hatte, ganz zu schweigen davon, wann sie sich diese nervenden, vielsagenden Blicke zugeworfen hatten, die Erwachsene so toll fanden.

„Michael, du solltest es ihr jetzt sagen“, meinte Mom und setzte sich auf das Fußende des Betts.

Dad nickte knapp und faltete die Hände wie ein Priester bei einem Begräbnis. Er konnte noch nicht lange hier sein. In seinem dunkelblauen Anzug sah er aus wie immer … tadellos, ohne eine einzige Falte, jede Strähne seiner gewellten schwarzen Haare lag da, wo sie hingehörte. Wir hatten die gleichen Augen. Leider konnte er seine Gefühle besser verbergen als ich, seine Augen blieben immer eisig grau. Meine hatten die lästige Angewohnheit, je nach Stimmung die Farbe zu wechseln, sodass ich nichts verbergen konnte.

„Savannah, es gibt da ein paar Sachen, die du über dich wissen musst“, setzte er an.

„Weil ich ein, zwei Tage krank war?“

„Eher fünf“, warf Nanna ein.

Ich hatte fünf Tage lang flachgelegen? „Das war mal eine anständige Grippe.“

„Du hattest keine Grippe“, sagte er. „Du veränderst dich.“

„Ich verändere mich? Was meinst du?“

„Ich bin ein Vampir. Deine Mutter ist eine Hexe, genau wie deine Großmutter. Damit bist du in beiden Welten ein Sonderfall, weil sich Vampire wie ich normalerweise nicht fortpflanzen können …“

„Halt, halt, halt. Hast du gerade gesagt, du wärst ein … ein Vampir? Meinst du wie bei Rollenspielen, wo man sich verkleidet, falsche Zähne einsetzt und auf seltsame Partys geht?“ Was sollte das werden? Ein seltsamer, verspäteter Aprilscherz?

Nanna setzte sich neben mich aufs Bett und legte ihre warmen, pergamentartigen Hände auf meine. „Savannah, Liebes, ich weiß, dass das schwer zu glauben ist, aber es ist wahr. Dein Vater ist ein Vampir. Eine besondere Art von Vampir, die man Inkubus nennt.“

„Ein Dämon?“ Ich schnappte nach Luft. Von Inkuben hatte ich schon gehört, im Internet oder in der Kirche hatte ich etwas über sie gelesen. Aber ich war noch zu benebelt, um mich an Einzelheiten zu erinnern. Meine Gedanken kreisten um eine einzige Sache … Dad behauptete, er sei ein Dämonenvampir. Ein echter Dämonenvampir. So etwas gab es gar nicht. Und meine Mutter und meine Großmutter waren angeblich Hexen. Aber das war unmöglich. Sie gingen beide in die Kirche. Nanna spielte sogar jeden Sonntagmorgen im Gottesdienst Klavier. Müssten sie nicht in Flammen aufgehen, sobald sie geweihten Boden betraten, oder so ähnlich?

„Er ist kein Dämon“, sagte Mom. „Zumindest kein richtiger. Er stammt aus einer Vampirfamilie, die sich vor langer Zeit mit Dämonen vermischt hat.“

Ach so, dann war ja also alles halb so wild.

Nanna fügte hinzu: „Dadurch können sie auf zwei Arten Energie aufnehmen … durch die traditionelle Methode …“

„Blut. Heißt das, dass du … Blut trinkst?“ Ich sah Dad an und schluckte schwer.

Er nickte. „Wir können Energie aber auch durch einen Kuss aufnehmen.“

„Energie durch einen Kuss“, wiederholte ich tonlos.

Sie waren alle verrückt.

Ich zog meine Hände unter Nannas hervor und schlug meine Decke zurück. „Na gut. Ähm, ich … ich würde jetzt echt gern duschen.“

Mom runzelte die Stirn. „Willst du uns gar nichts fragen, Liebes?“

„Was sollte ich fragen? Dad ist ein abgefahrener Vampir, trinkt Blut und ist zum Teil ein Dämon, und ihr beide zaubert. Und jetzt glaubt ihr, dass es bei mir auch losgeht, stimmt’s? Weil ich … was habt ihr gesagt? Mich verändere?“

Der Teppich unter meinen Füßen fühlte sich kalt an, als ich mit wackligen Knien aufstand. Mein geschwächter Körper wollte zurück ins Bett. Aber ich wollte auf keinen Fall bei diesen Verrückten bleiben. Keine Ahnung, ob sie mir einen Streich spielen wollten oder ob ich halluzinierte, weil ich lange nichts gegessen hatte. Falls es ein Traum war, würde mich die Dusche rasch aufwecken. Spontan kniff ich mir in den Unterarm. „Aua!“ Hm. Das hatte wehgetan.

Dad packte mich an den Schultern. Seine Hände waren wie immer eiskalt.

Stirnrunzelnd betrachtete ich sie. Eiskalte Hände … „Savannah, hör auf damit, und zwar sofort“, sagte er. „Wir wollen ernsthaft mit dir reden. Du schläfst nicht. Du bist hellwach und bei klarem Verstand. Und du musst erfahren, was du bist und was du vielleicht wirst, bevor jemand verletzt wird. Es gibt bestimmte … Symptome, auf die du jetzt achten musst.“

Ein Funke Wut flackerte in mir auf. Normalerweise achtete ich genau darauf, was ich zu ihm sagte, und versuchte verzweifelt, so zu sein, wie er mich haben wollte. Ich wollte immer das Richtige sagen, damit er stolz auf mich war und mich lieb hatte. Aber jetzt war ich zu müde und zu durcheinander, um die perfekte Tochter zu spielen. Und ich hatte wirklich genug von diesem Familienstreich.

„Du musst dir keine Sorgen machen, Dad. Ich springe schon niemanden an oder lasse wie Carrie Sachen durch die Schule fliegen …“ Plötzlich sah ich wieder diesen Streit an Weihnachten vor mir, als Mom mit Tellern und anderen Sachen nach ihm geworfen hatte. Komisch. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, dass sie die Sachen in der Hand gehalten hatte. Ich bekam eine Gänsehaut.

„Natürlich verwandelst du dich nicht in Carrie.“ Mom lachte. „Wir bringen dir ja gar keine Magie bei.“

„Wir machen uns eher Sorgen um den Blutdurst“, sagte Dad. „Wenn du nicht lernst, ihn zu kontrollieren, springst du vielleicht wirklich irgendwann jemanden an.“

Seufzend ließ ich mich für den Moment auf den Wahnsinn ein. „Na schön. Ich habe doch eine Frage. Warum jetzt? Tun wir mal so, als würdet ihr das alles ernst meinen, als würdet ihr mich nicht nur aufziehen und als wäre das auch keine Halluzination. Wenn ihr wirklich ein Vampir und zwei Hexen seid, warum erzählt ihr mir das erst jetzt?“

„Weil wir nicht länger warten konnten.“ Mom stand auf und nahm meine Hand. „Du solltest so lange wie möglich ein normales Leben führen können. Aber als der Tee nicht mehr gewirkt hat und wir deinen ersten Monatszyklus nicht mehr unterdrücken konnten …“

„Äh, ih!“ Dad war doch hier! Dann wurde mir klar, was sie gesagt hatte, und ich runzelte die Stirn. „Warte mal. Hast du gerade gesagt, dass ihr mir den Tee gegeben habt, um … das … zu unterdrücken?“

Nanna nickte. „Wir haben dir jeden Tag einen besonderen Tee gegeben, der deine Pubertät hinausgezögert hat.“

„Bis ich fünfzehn war?“ Vor Entsetzen fing ich an zu kreischen. Meine Freundinnen hatten ihre Tage mit zwölf oder dreizehn bekommen. Ich war mir die ganze Zeit wie ein Freak vorgekommen, weil ich so spät dran war. „Wieso tut ihr mir so was an?“

„Weil die Pubertät genau das ausgelöst hat, was wir befürchtet haben“, antwortete Nanna schroff. „Sie hat deine inaktiven Gene angestoßen. Jetzt werden sie aktiviert, und niemand weiß, was als Nächstes passiert. Und nicht in dem Ton, Fräulein – wir sind immer noch deine Familie.“

Ich streckte die Hand nach hinten aus, tastete nach meinem Bett und ließ mich auf die Bettkante sinken, bevor mir die Knie wegsackten.

„Ich weiß, Liebes, das ist ganz schön viel auf einmal“, sagte Mom. „Hätte es eine andere Möglichkeit gegeben, hätten wir dir nichts erzählt. Wir haben so gehofft, dass du nicht nach uns geraten würdest und einfach … na ja, normal wärst. Aber jetzt wäre es zu gefährlich, wenn du es nicht wüsstest. Dass du eine ganze Woche lang krank warst, zeigt wahrscheinlich, dass eine Seite oder vielleicht sogar beide durchschlagen. Du könntest eine Reihe von Fähigkeiten oder Trieben entwickeln. Falls es dazu kommt, müssen wir alle bereit sein und dir helfen, sie unter Kontrolle zu halten.“

Triebe. Fähigkeiten. War ich etwa ein wildes Tier, das bald außer Kontrolle geraten würde?

Mom setzte sich neben mich und legte mir einen Arm um die Schultern. „Du könntest versuchen, das wie eine normale Erbkrankheit zu sehen. Durch die Gene deiner Eltern hast du die Ver-anlagung zu bestimmten … Schwierigkeiten im Leben geerbt. Sie müssen dich nicht unbedingt im Alltag einschränken. Aber wir müssen vorbereitet sein, falls sie es tun.“

„Du meinst, falls ich Geschmack an Blut finde?“ Ich konnte kaum glauben, dass ich das sagte.

Noch surrealer war, dass Dad nickte. „Es könnte passieren, dass du dich nach menschlichem Blut sehnst. Direkter Blickkontakt mit dir könnte anderen unangenehm werden. Bessere Reflexe, größere Schnelligkeit und ein erhöhtes Denkvermögen sind weitere mögliche Folgen. Und natürlich, dass dir Fangzähne wachsen.“

Fangzähne. Ach. Du. Scheiße. Er klang wie der Sprecher in einem Werbespot für Medikamente, der mögliche Nebenwirkungen aufzählte.

„Es könnten auch seltsame Dinge passieren, wenn du wütend wirst“, fügte Mom hinzu. „Wie …“

„Wie fliegende Teller“, sagte Nanna kichernd. Als ob das witzig wäre.

Mom warf ihr einen bösen Blick zu. „Das war kein Versehen. Wenn ich die Küche in Brand gesetzt hätte …“

Da wurde mir klar, dass sie es ernst meinten. Das war kein Streich, und wenn ich nicht bald aufwachte, träumte ich auch nicht.

Was bedeutete … dass ich zur Hälfte Vampirin, zur Hälfte Hexe war. Und durch und durch ein Freak. Wie die Zickenzwillinge schon seit Jahren behaupteten. Dreck. „Der Clann. Wissen sie alle …?“ Ich musste daran denken, wie mich die Zwillinge ständig als Freak bezeichnet hatten, und manchmal schienen sie Angst vor mir zu haben. Sie wussten es ganz sicher. Tristan auch?

„Die Erwachsenen wissen es. Die Kinder nicht“, antwortete Mom. „Zumindest haben die Ältesten geschworen, sie würden es den jüngeren Nachfahren nicht sagen, nachdem sie uns verstoßen haben. Nur die erwachsenen Nachfahren sollten gewarnt werden.“

Nanna schnaubte. „Ob die Ältesten ihr Versprechen allerdings gehalten haben …“

„Warum wissen die Erwachsenen über mich Bescheid? Und was meinst du mit verstoßen?“

Jetzt waren offensichtlich Nanna und Mom überrascht. Die Antwort kam von meiner Mutter. „Wir dachten, das hättest du dir zusammengereimt. Unsere Familie hat früher auch zum Clann gehört. Was die Gründerfamilien überhaupt verbunden hat, war die Magie. Du musst doch wenigstens Gerüchte darüber gehört haben.“

Also hatte die Gerüchteküche von Jacksonville recht. „Der ganze Clann besteht also aus Hexen. Aus so was wie einem Zirkel.“

Mom und Nanna nickten.

„Aber … wir gehen doch in die Kirche“, widersprach ich. Es ging mir noch nicht in den Kopf, dass die Zickenzwillinge in mehr als einer Hinsicht Hexen waren. Ganz zu schweigen von Tristan.

Wie irre. Tristan war eine Hexe.

„Magie ist für uns keine Religion wie für die Wicca“, erklärte Nanna. „Die meisten Nachfahren des Clanns sind Christen, die durch Zufall Magie beherrschen. Das ist keine Lebensanschauung, sondern Genetik.“

Ja klar, und in dieser extrem religiösen Ecke von Osttexas würde bestimmt auch jeder den Unterschied verstehen.

Als mein Gehirn wieder funktionierte, kam mir ein anderer Gedanke. „Moment mal. Dad, wieso kannst du Sonnenlicht vertragen, wenn du ein Vampir bist? Und was ist mit Knoblauch und Weihwasser und …“

„Vampire sind wie alle anderen Spezies, Savannah. Wir haben uns im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Das Sonnenlicht schadet uns nicht mehr. Knoblauch und Weihwasser haben das nie – das war nur religiöse Propaganda. Am Anfang waren wir alle Menschen mit Seelen. Nur unsere Körper haben sich durch das gemischte Vampirblut verändert.“

Ich drückte eine zittrige Hand gegen die Stirn. In meinem Schädel hämmerte es so schnell, dass ich kaum mitkam. „Na gut. Ihr wollt mir also sagen, dass ich vielleicht zu einem noch schlimmeren Freak werde.“

„Sag dieses Wort nicht“, grollte Mom. „Es heißt Dhampir.“

„Dann gibt es noch andere wie mich?“

„Nein“, antwortete Dad. „Bis zu deiner Geburt waren Dhampire bei meinem Volk ein Mythos. Wir dachten, Vampire wie wir könnten sich wegen des Dämonenanteils nicht fortpflanzen. Und keiner von uns war je lange genug mit einem Menschen zusammen, um ein Kind zu zeugen.“

„Weil …?“

Mom räusperte sich. „Na ja, Schatz, weil sich Vampire normalerweise nicht so gut beherrschen können. Meistens verwandeln sie ihre menschlichen Geliebten oder …“ Ihr Gesichtsausdruck sagte den Rest.

Oder sie brachten sie um. Ich warf Dad einen Blick zu. Er wirkte so unbeteiligt wie immer.

„Aber du hast das nicht gemacht. Warum nicht?“

Nanna lächelte. „Weil ich für deine Mutter einen Talisman gefertigt habe. Er hat den Blutdurst deines Vaters gedämpft, wenn er in ihrer Nähe war.“

„Hattest du nichts gegen ihre Beziehung?“ Erst im Nachhinein merkte ich, wie unhöflich die Frage klang. Aber ich konnte sie nicht zurücknehmen.

Nanna zuckte mit den Schultern. „Deine Mutter war schon immer ein Dickkopf. Ich hatte die Wahl: Ich konnte ihr entweder einen Talisman geben, damit er sie nicht umbringt, oder sie irgendwo in einen Kerker sperren.“

„Okay. Dann kannst du für mich auch einen Talisman machen, oder? Einen, der diese ganzen … Symptome unterdrückt, die Dad aufgezählt hat?“ Durch den ich nett und normal und menschlich bleiben würde. Kein Blutdurst, keine fliegenden Teller.

„Na ja, ich könnte, aber …“

„Aber das wäre unklug“, unterbrach Dad. „Als würde man einem Patienten Morphium geben, dessen Diagnose noch gar nicht feststeht. Ein Talisman würde alle Symptome verschleiern. Wir müssen sehen, welche Fähigkeiten du entwickelst. Dann bringen wir dir bei, wie du dich unter Kontrolle behältst. Ohne Magie.“

„Nach dem Motto: Zähne zusammenbeißen und durch?“

„Ich weiß, dass es schwierig wird“, sagte Mom. „Aber ich verspreche dir, dass wir alle für dich da sind, und wir helfen dir. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Es kann auch sein, dass du gar keine Fähigkeiten entwickelst. Oder du kommst nach den Evans und hast nur die Magie in dir. Wir gehen einfach Tag für Tag neu an, und wir schaffen das als Team.“

Als Team. Als gäbe es dabei ein „Wir“. Gab es nicht. Wir redeten hier über mich, nicht über sie; mein Leben, nicht ihres, konnte jeden Moment in den Wahnsinn abgleiten. Mein Leben, das aus einer langen Reihe von Lügen und verrückten Familiengeheimnissen bestand.

„Wichtig ist, dass du offen mit uns redest“, sagte Dad. „Wenn du seltsame Wünsche oder Fähigkeiten spürst, musst du es uns sofort sagen. Und ich rufe dich jede Woche an, um von dir zu hören.“

Ja, sicher. Ich soll ihnen einfach jede Kleinigkeit über mein Leben erzählen. Nachdem sie fünfzehn Jahre lang so viele Geheimnisse vor mir hatten.

„Außerdem musst du dich von den Mitgliedern des Clanns fernhalten“, warnte Dad. „Vor allem von ihren Anführern, den Colemans.“

„Äh, nicht, dass ich mit ihnen befreundet wäre, aber … wieso?“

„Das Blut des Clanns ist mächtig und wirkt auf Vampire verlockender als das von normalen Menschen. Je mehr Macht jemand hat, desto mehr zieht er einen Vampir an. Die Colemans sind seit vier Generationen die mächtigste Familie des Clanns, deshalb kann man davon ausgehen, dass sie dich ganz besonders stark anziehen würden. Außerdem wissen wir nicht, ob alle Eltern des Clanns über deine … Situation Bescheid wissen und ihre Kinder mit Amuletten schützen. Sie haben uns versichert, dass dich auf dem Schulgelände eine ganze Reihe von Nachfahren im Auge behalten – ich glaube, einige von ihnen sind Lehrer. Trotzdem könntest du in ihrer Nähe Blutdurst verspüren, wenn sich deine Vampirhälfte durchsetzt und einer von ihnen nicht geschützt ist. Besonders, falls er verletzt ist. Dann hilft ihm vielleicht nicht einmal ein Amulett.“

Oh. Ach so. Deshalb fühlte ich mich in Tristans Nähe immer so komisch. Weil er ein Coleman war und ich ein …

Nein. So wollte ich mich nicht einmal in Gedanken nennen. Nicht, bevor es sein musste.

Siedend heiß fiel mir etwas anderes ein. Mein Gott. Kein Wunder, dass mich die Clann-Kinder in der vierten Klasse haben sitzen lassen. Wahrscheinlich hatten ihre Eltern ihnen eingetrichtert, sie sollten mich meiden wie die Pest. Weil sie Angst hatten, ich könnte ihre Kinder umbringen wollen. Also wusste Tristan zumindest, dass ich nicht normal war. Aber wie viel wusste er?

Ich presste die Lippen zusammen, damit mir nichts herausrutschte, was meine Gedanken verriet und mir Ärger einbrachte. Aber mein Magen rumorte und brannte.

Mom tätschelte mir die Schulter. „Na gut, Liebes, dann geh doch jetzt duschen, wie du wolltest, und Nanna und ich machen dir etwas zu essen. Wenn du nachher noch Fragen hast, beantworten wir sie dir gerne.“

„Joan, ich muss gehen.“ Dads Stimme hatte einen düsteren Unterton angenommen.

Das musste auch Mom aufgefallen sein, denn sie sprang auf. „Ich bringe dich zum Auto.“

„Was denn noch?“ Diese Geheimnistuerei nervte wirklich. „Keine Geheimnisse mehr, egal, was es ist.“

„Ich muss dem Vampirrat davon berichten, und deine Mutter überlegt wahrscheinlich, ob sie Beobachter nach Jacksonville schicken, um zu sehen, wie du dich veränderst“, antwortete Dad.

Mom nickte und drückte meine Schulter fester, aber ich glaube, das merkte sie nicht einmal.

„Beobachter?“ Rat? Mein Gott, das hörte ja gar nicht auf. Was wusste ich alles nicht über meine Familie, über mich selbst, über die Welt, in der ich lebte?

„Ich glaube, darüber müssen wir uns noch keine Sorgen machen“, beruhigte Dad uns. „Vor allem nicht, wenn du die Regeln befolgst und dich von den Nachfahren des Clanns fernhältst.“

Solange ich mich von Tristan fernhielt. Der sowieso nicht mit mir redete.

Dad beugte sich vor und küsste mich mit seinen eiskalten Lippen, über die ich mich noch nie gewundert hatte. Auch sein Atem war kalt. Vampirlippen. Der Atem so kalt wie der Tod. Und vielleicht würde ich genauso werden. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Während Mom ihn zum Auto brachte, ging Nanna in die Küche. Im nächsten Moment hörte ich, wie die Haustür geöffnet und geschlossen wurde. Als mein Vater wegfuhr, heulte der Motor auf.

Mein Vater, der Vampir.

Ach du Scheiße.

KAPITEL 3

Savannah

ch duschte so lange, bis es kein warmes Wasser mehr gab. Dabei verbrachte ich mehr Zeit damit, diese verrückten neuen Zustände in meinen Kopf zu bekommen, als mich zu waschen. Einerseits klammerte ich mich immer noch an die Hoffnung, meine Fantasie sei völlig mit mir durchgegangen. Aber alles war zu real … das rutschige Porzellan unter meinen Füßen, die kalten, nassen Fliesen, an denen ich lehnte, das heiße Wasser auf meiner Haut. Und diese wilden Geschichten kamen ja nicht von irgendwem. Meine ganze Familie hatte mir etwas von Dämonen und Vampiren und Hexen erzählt. Die drei Menschen, die ich liebte und denen ich mehr als jedem anderen vertraute.

Als das Wasser kalt wurde, stieg ich aus der Dusche, trocknete mich ab und betrachtete mich im Spiegel. Lag es nur daran, dass ich durch den Wind war, oder sah ich wirklich anders aus? Meine Augen wirkten größer, die Wangenknochen traten deutlicher hervor. Die oberen Eckzähne konnten glatt etwas spitzer geworden sein, als sie es sowieso schon gewesen waren. Auf jeden Fall war ich blasser, aber wer wäre das nach einer Krankheit nicht gewesen? Und meine Haare waren dicker und dunkler, weniger orange, eher kastanienbraun. Auch nur Einbildung? Vielleicht.

Ich überlegte, ob es Tristan wohl auffallen würde, vertrieb den Gedanken aber sofort. Er gehörte zum Clann. Schlimmer noch, sein Vater war der Anführer des Clanns.

Und ich musste ihm um jeden Preis aus dem Weg gehen.

„Mom?“

Als hätte sie in der Nähe gelauscht, öffnete sie nur Sekunden später die Tür und streckte den Kopf herein. „Ja?“

„Warum sind wir nicht mehr im Clann?“

„Na ja, sie waren nicht gerade begeistert, als ich deinen Vater geheiratet habe, obwohl es verboten war. Und als deine Nanna nicht versucht hat, uns davon abzuhalten, wurde auch sie ausgestoßen. Beziehungen zwischen Vampiren und Hexen sind eigentlich tabu.“

„Weil Vampire Hexen töten.“ Ich seufzte.

„Vor dem Waffenstillstand haben sie das getan. Früher, noch vor der Zeit deiner Großmutter, haben sie richtig Krieg geführt. Aber jetzt haben sie sich darauf geeinigt, sich so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Deshalb leben in dieser Gegend keine Vampire, auch dein Vater nicht. Hier ist Clann-Gebiet. Vampire haben außerdem gute Gründe, Angst vor den Nachfahren zu haben, weil sie Vampire natürlich viel leichter töten können als normale Menschen.“

Auf meinen verwirrten Blick hin erklärte sie: „Feuer. Man kann Vampire mit Feuer töten. Oder sie enthaupten oder ihnen einen Pflock durch das Herz schlagen, aber für diese Methoden braucht man Waffen. Hexen, echte Hexen, können Feuer auf ihrer Handfläche entstehen lassen.“ Sie streckte eine Hand aus, die Handfläche nach oben, konzentrierte sich … und eine winzige orangefarbene Flammenkugel flackerte auf. Gleichzeitig überlief ein feines Prickeln meinen Nacken und meine Arme.

Mein Verstand setzte einen Moment aus, mein Herz übersprang einen Schlag. Ach du Schande, das war ihr Ernst. Sie konnte wirklich zaubern! Ich streckte eine Hand nach der Flamme aus und wollte gerade fragen, wann ich das lernen würde.

„Oh nein.“ Ruckartig schloss sie die Hand und ließ das Feuer zischend ersticken. „Frag gar nicht erst, die Antwort lautet Nein. Feuer zu erschaffen ist für dich zu gefährlich, weil du vielleicht die Flamme durch deine Vampirgene nicht unter Kontrolle halten könntest. Und du lernst auch sonst keine Zauberkunst.“

„Warum nicht?“ Ich versuchte, nicht zu weinerlich zu klingen. Aber mal ernsthaft, wieso musste ich diese ganzen Sachen wissen, wenn ich nicht irgendwann zaubern durfte?

„Weil Nanna und ich dem Clann und dem Vampirrat schwören mussten, dass wir dir keine Magie beibringen. Das war die einzige Möglichkeit, dich großzuziehen und in Jacksonville zu bleiben.“

„Ich darf nie zaubern lernen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Liebes, nicht, solange der Clann und der Vampirrat ihre Meinung nicht ändern.“

„Und wenn sich meine magische Seite entwickelt, wie du gesagt hast? Mache ich dann einfach irgendwelche Zaubertricks oder wie?“

Sie lachte. „Wahrscheinlich nicht, weil Hexen am Anfang ihren Willen und bestimmte magische Wörter brauchen, um einen Zauber zu bewirken. Bei den meisten Nachfahren ist Magie wie eine Art Muskel. Wenn man ihn nicht benutzt, wie ich schon lange, verkümmert er, und es wird schwerer. Wenn man übt, wird man stärker und kann ihn leichter einsetzen. Wir hoffen, dass die Magie bei dir einfach verschwindet, wenn du diese Fähigkeit nicht einsetzt. Oder dass es zumindest sehr schwierig wird, aus Versehen zu zaubern.“

Enttäuscht senkte ich den Blick auf das Waschbecken. Das war echt mies. Nanna erzählte mir ständig, ich solle an allem das Gute sehen. Aber im Moment konnte ich an meinem Leben so gar nichts Positives entdecken.

Nach kurzem Zögern kam Mom ganz ins Bad und lehnte sich gegen das Waschbecken. „Hör mal, Savannah, ich weiß, dass es schwer für dich ist, aber versuch mal, die anderen Blickpunkte zu verstehen. Du bist außergewöhnlich, und zwar extrem außergewöhnlich. Abgesehen von Mythen bist du der erste Dhampir in der Familie deines Vaters, die erste lebende Mischung aus Vampir und Mensch.“

„Und Hexe, meinst du“, grummelte ich. Sie überhörte meinen Sarkasmus.

„Stimmt. Vor dir dachte man, Vampire wie dein Vater könnten eine menschliche Frau gar nicht schwängern. Als dein Vater und ich die Regeln brachen, wurde ich schwanger, und wir haben geheiratet.“

„Moment mal. Du warst schwanger, bevor ihr geheiratet habt?“

Sie lächelte verlegen. „Na ja, weißt du, manchmal läuft das so. Aber das war es wert. Auch wenn dein Vater durch unsere Ehe seinen Sitz im Rat verloren hat …“

„Wegen mir?“

Sie wand sich. „Eigentlich nicht. Da haben mehrere Faktoren mitgespielt. Zum Beispiel, dass er Clann-Blut getrunken hat, um seine Gedanken vor dem Rat zu verbergen, damit er ihre Regeln brechen, eine menschliche Frau heiraten und ein Kind bekommen konnte.“

Aber sie hatten erst geheiratet, als sie wussten, dass ich unterwegs war. War es damit nicht trotzdem meine Schuld, dass man Dad aus dem Rat geworfen hatte?

„Jedenfalls sind auf beiden Seiten alle durchgedreht, als ich dich normal ausgetragen habe und du das erste Jahr überlebt hast. Der Vampirrat glaubt, dass du zu einer Art Geheimwaffe für den Clann wirst, wenn sich deine magischen Fähigkeiten entwickeln. Und der Clann befürchtete, du würdest entweder ganz zur Vampirin und könntest sie alle fressen, oder du würdest die Magie gegen sie einsetzen.“ Sie lachte.

Mir stockte der Atem.

Ihr Lächeln verblasste. „Ach, tut mir leid, Schatz. Dein Vater und ich haben jahrelang Witze über diese verrückten Ängste gerissen. Beide Seiten sind völlig paranoid. Vor deiner Geburt haben sie sogar geglaubt, dein Vater und ich hätten uns zusammengetan, um den Clann und alle Vampire zu vernichten. Was für Spinner. Na ja, wahrscheinlich klingt es nicht lustig, wenn man es zum ersten Mal hört.“

Meine einzige Antwort war ein finsterer Blick. Ich zitterte wieder. Gerade als ich dachte, ich hätte es langsam verkraftet … jetzt hatte ich Dads Karriere zerstört und war auch noch eine tickende Zeitbombe? Kein Wunder, dass er so enttäuscht von mir war.

„Deshalb haben mich die Zickenzwillinge immer einen Freak genannt. Warum hast du mich überhaupt behalten?“, grummelte ich und presste sofort die Lippen aufeinander. Das hatte ich wirklich nicht laut sagen wollen.

Sie nahm mich bei den Schultern und zwang mich, sie anzusehen. „Savannah, seit ich wusste, dass ich mit dir schwanger bin, warst du nichts anderes als ein Wunder. Verstehst du? Ein Wunder. Nicht seltsam, nicht beängstigend, kein Freak und schon gar keine Gefahr für irgendwen. Du warst immer ein liebes, kostbares Wunder, das aus Liebe geboren wurde.“

Einer Liebe, die gerade mal drei Jahre lang gehalten hatte. „Wenn ich so ein Wunder war und ihr so verliebt wart, dass ihr alle Regeln gebrochen habt, um zusammen zu sein … warum habt ihr euch scheiden lassen?“

Sie biss sich auf die Unterlippe und zögerte lange, bevor sie seufzte. „Aus vielen Gründen, würde ich sagen. Vor allem war es meine Schuld. Ich war jung, viel zu jung, um mit allem fertigzuwerden. Und zu jung, um wirklich zu wissen, was Liebe ist. Ich dachte, ich wäre in deinen Vater verliebt. Aber jetzt weiß ich, dass mich eher die Vorstellung gelockt hat, mit einem Vampir zusammen zu sein und etwas Verbotenes zu tun. Wir waren wie Bonnie und Clyde, moderne Rebellen, die vor den Gesetzen unserer Welten geflohen sind und sich versteckt haben.“ Sie grinste. „Es hat wirklich Spaß gemacht. Bis wir ein Baby hatten, das Schutz und Sicherheit brauchte. Da war es nicht mehr so lustig, sich zu verstecken. Als ich begriffen habe, dass ich für dein Leben und für deinen Schutz verantwortlich war, hat die Beziehung zu deinem Vater einfach keinen Sinn mehr ergeben. Der Rat und der Clann haben zugestimmt, dass ich bei deiner Großmutter wohnen darf, wenn ich meine Ehe beende. Und ich habe deinen Vater zwar noch geliebt, aber ich war nicht mehr verliebt. Die Liebe zu deinem Vater war ein Abenteuer und eine egoistische Fantasie, und sie war großartig, solange sie angedauert hat. Aber durch dich ist mir klar geworden, dass ich aufwachen und erwachsen werden und zur Abwechslung mal an andere denken muss.“

„Damit ich das richtig verstehe: Du hast wegen mir mit Dad Schluss gemacht?“

„Nicht nur wegen dir. Auch für den Frieden zwischen dem Clann und den Vampiren. Beide Gruppen sind über die ganze Welt verstreut. Wären dein Vater und ich zusammengeblieben, wäre zwischen ihnen vielleicht wieder ein weltweiter Krieg ausgebrochen. Er hätte viele Leben gekostet, und das wäre meine Schuld gewesen. Und ich habe deinen Vater nicht mehr genug geliebt, um das zu riskieren.“

„Aber warum bist du nach Jacksonville zurückgekommen? Warum hast du mich nicht irgendwo anders großgezogen? Wo es nicht so viele Clann-Leute gibt?“

Lächelnd zuckte sie mit den Schultern. „Weil Jacksonville immer mein Zuhause war. Außerdem musste mir deine Großmutter mit dir helfen. Weißt du, für Dhampirbabys gibt es keine Handbücher.“

Ich rang mir ein Lächeln für sie ab, aber es hielt nicht lange. „Dafür muss ich jetzt mit Leuten zur Schule gehen, die offenbar wissen, was ich bin. Und mich jeden Tag einen Freak nennen.“

Mom nahm mich in die Arme. „Schatz, ich weiß, dass es schwer ist. Aber du musst lernen, dein eigenes Leben zu führen und dir keine Gedanken darüber zu machen, was der Clann oder der Vampirrat denkt oder was irgendwer über dich sagt. Das ändert alles nichts daran, wer du in deinem Inneren bist. Das liegt nur an dir und daran, wofür du dich entscheidest. Ich weiß, dass das alles ein Schock ist, und vielleicht wird sich auch das eine oder andere in deinem Leben ändern. Aber ich verspreche dir, dass alles gut wird. Das heißt, solange du dich an die Regeln hältst.“

Was bedeutete, dass ich mich vom Clann fernhalten musste. Machte ich eh schon. Allerdings … „Mom, du und Nanna, ihr habt auch zum Clann gehört. Was ist, wenn ich …“

„Keine Angst. Wie ihr jungen Leute gern sagt – wir haben’s drauf.“ Sie grinste schief. „Zumindest deine Nanna. Ich habe nur gelernt, wie man Sachen wirft und Feuer macht. Und auch das nur, weil deine Nanna darauf bestanden hat, damit ich mich wenigstens etwas schützen kann.“

„Wieso wolltest du nicht zaubern lernen?“

„Schätzchen, du lebst in der Welt nach Harry Potter, in der Teenager glauben, Magie wäre toll. Zu meiner Zeit gab es Harry Potter noch nicht. Ich war schon eine Hexe, als das noch nicht cool war.“

Hm. „Was ist mit den Clann-Leuten in der Schule? Dad hat gesagt, ich soll ihnen aus dem Weg gehen. Aber wie soll ich das machen, wenn ich mit ihnen Unterricht habe, sie auf dem Flur sehe und mit ihnen in der Cafeteria esse?“

„Wenn du ihnen nicht zu nahe kommst, sollte nichts passieren. Wie dein Vater schon gesagt hat, tragen sie wahrscheinlich Amulette, damit sie auf Vampire weniger anziehend wirken. Und falls du wirklich irgendwann Blutdurst entwickelst, bleibst du auf Abstand und achtest auf deinen Körper, damit du spürst, falls es problematisch wird. Sollte es dazu kommen, rufst du sofort mich oder Nanna oder deinen Vater an und wartest bei der Schulschwester, bis wir dich abholen. In Ordnung?“

Ich dachte daran, wie dicht Tristan in Algebra hinter mir saß, und an die Schmerzen in Bauch und Brust, wenn er in meine Nähe kam. Es könnte schwierig werden, mich von ihm fernzuhalten. Ich musste einfach versuchen, meine üblichen verwirrten Gefühle für ihn von allem Neuen zu unterscheiden, das vielleicht dazukam. Etwa einem plötzlichen Interesse für seinen Hals.

„Warum lässt der Clann uns überhaupt hier wohnen? Wollen sie mich nicht so weit wie möglich von sich und ihren Kindern weg wissen?“

Ihr Lächeln wurde traurig. „Kennst du das Sprichwort, dass man seine Freunde nahe bei sich halten soll, aber seine Feinde noch näher? Das gilt hier wohl auch. Du sollst ihren Kindern nicht zu nah kommen oder mit ihnen allein sein. Aber sie wollen dich im Auge behalten. Außerdem besteht die Chance, dass du ihnen irgendwann hilfst.“

„Wobei?“

„Du weißt schon. Dass du dich auf ihre Seite stellst, falls es noch einmal zu einem Krieg mit den Vampiren kommt.“

Die Nachfahren glaubten, ich würde mich mit ihnen gegen meinen Vater verbünden? Ich schnaubte. Die waren ja irre. Nachdem die Clann-Kinder mich und meine Familie in den letzten fünf Jahren so behandelt hatten …

Na ja, nicht alle hatten es ständig auf mich abgesehen. In meiner Erinnerung blitzten smaragdgrüne Augen auf, die mich ansahen. Ich spürte die starken warmen Hände auf meinen Schultern, die mich im Algebraunterricht aufgefangen hatten, statt mich mit dem Gesicht voran auf meinen Tisch knallen zu lassen.

„Dann ist es ja gut, dass ich sowieso mit niemandem aus dem Clann zusammen sein will, was?“

Lachend nahm Mom eine Haarbürste in die Hand. Sie kämmte mir das verknotete Haar, ohne auf meine Grimassen zu achten, wenn sie ein neues Nest fand. „Ja, stimmt. Wenn du mit jemandem aus dem Clann zusammen wärst, könnte es glatt wieder Krieg geben. Ich sehe es richtiggehend vor mir. Der Clann würde glauben, du wärst hinter dem Jungen her, um ihn auszusaugen. Die Vampire würden glauben, du hättest dich auf die Seite des Clanns geschlagen. Das würde sofort ein Riesenchaos geben.“ Sie schüttelte grinsend den Kopf. „Aber darüber müssen wir uns jetzt keine Sorgen machen, oder? Du kannst die Clann-Kinder doch schon seit Jahren nicht mehr ausstehen.“

Ich kicherte halbherzig und nahm ihr die Haarbürste weg, bevor sie mich noch kahl bürstete. „Ja, genau. Das sind totale Idioten.“

„Sonst noch Fragen?“ Ihre Stimme klang hell und fröhlich, als hätte sie mir nur bei den Hausaufgaben geholfen.

Während ich den Kopf schüttelte, versuchte ich mich daran zu erinnern, wie ich mit einem Kloß in der Kehle normal atmen konnte. Wieso konnte ich nicht zurück zu meinem Leben von letzter Woche? Das war nicht perfekt, aber wenigstens normal gewesen.

„Ach, Schätzchen.“ Sie tätschelte mir die Schulter. „Mach dir bitte keine Sorgen. Du schaffst das schon.“

„Woher weißt du das? Was ist, wenn …“

„Weil du auch etwas von meiner Seite abbekommen hast. Und wir Evans-Frauen sind stark. Wir lassen uns nicht unterkriegen, ob mit oder ohne Magie.“

„Und notfalls werfen wir auch mal mit Tellern“, witzelte ich.

Sie lachte. „Genau. Wo wir gerade davon reden – müsstest du nicht halb verhungert sein? Deine Nanna hat Brathähnchen mit Kartoffelbrei und Soße gemacht, genau, wie du es magst.“

Ich verzog die Lippen zu einem Lächeln. „Klar, hört sich prima an.“ Warum sollte ich auch keinen Hunger haben? Dass mein normales Leben plötzlich vorbei war, sollte mir doch nicht den Appetit verderben, oder?

Am liebsten hätte ich für den Rest des Wochenendes mit niemandem mehr geredet. Aber weil Nanna meinte, meine Freundinnen hätten die Woche über immer wieder angerufen, raffte ich mich auf und meldete mich später am Abend bei Anne.

Nachdem wir ein bisschen geredet hatten, wollte ich sie lieber vorwarnen, was mein Aussehen anging. Aber als ich beschreiben wollte, wie sehr ich mich verändert hatte, lachte sie nur.

„Mach dir deswegen keine Sorgen, Sav. Ich liege jedes Jahr ein paar Tage mit Grippe flach und könnte nachher schwören, mein Kopf sei zu groß für meinen Körper. Wenn du nächste Woche früher in die Schule kommst, könnte ich dir übrigens helfen, den verpassten Stoff in Algebra nachzuholen.“

„Mhm, gute Idee.“ Ich zögerte. Ich hätte gern gewusst, ob mich noch jemand vermisst hatte, vor allem ein bestimmter Junge. Aber ich wusste nicht, wie ich beiläufig fragen sollte, ohne eine große Sache daraus zu machen. Und warum sollte ich jemand anderem als meinen Freundinnen fehlen? Also ließ ich es bleiben und verabschiedete mich.

Als ich Carrie und Michelle anrief, erwähnte ich gar nicht erst, dass sich mein Aussehen verändert hatte. Wahrscheinlich würde es außer mir sowieso niemandem auffallen.

Aber als ich Montagmorgen in der Schule ankam, zu spät, um mich mit Anne zur Nachhilfe an den Picknicktischen zu treffen, kam ich mir mehr denn je wie ein Freak vor. Vielleicht bildete ich mir einige Veränderungen nur ein, aber meine Brust war wirklich größer geworden: Ich hatte volle anderthalb Körbchengrößen zugelegt. Mom und ich hatten Sonntag noch dringend Shirts und BHs kaufen müssen, damit ich heute in der Schule nicht zu schlampig aussah. Selbst mit dem größeren Shirt fühlte ich mich vor der ersten Stunde im Flur wie auf dem Präsentierteller. Ich achtete darauf, dass ich mir immer den Schreibblock vor die Brust drückte. Die Jungs im ersten Highschooljahr machten gern fiese Bemerkungen über kurvige Mädchen aus unserem Jahrgang, und noch mehr Lästerei konnte ich wirklich nicht brauchen. Leider konnte auch der Schreibblock nicht verhindern, was als Nächstes kam.

„Die hat sich die Brüste aufpumpen lassen! Wie schlecht ist das denn!“, rief Vanessa in meine Richtung. Lachend liefen sie und ihre Schwester an mir vorbei. Obwohl sie nicht wirklich brüllten, waren sie laut genug, um den Lärm auf dem Flur zu übertönen. Durch Magie? Hätte ich ihnen zugetraut. Sicher sollte jeder hören, wie sie mich drangsalierten.

Und dann spürte ich es. Als würde sich ein giftiges Gas auf meiner Haut ausbreiten, unter mein Shirt kriechen und eine Gänsehaut verursachen. Wie seltsam … dieses Gefühl, was es auch war, kam ganz sicher nicht von mir.

Was war das, verdammt? Davor hatte mich niemand gewarnt. Entweder wurde es durch Magie oder durch meine Vampirseite ausgelöst. Oder hatten die Zickenzwillinge mich gerade verhext? Sobald ich eine Toilette gefunden hatte, wo ich in Ruhe reden konnte, musste ich Mom anrufen.

Beim Weitergehen zwang ich mich dazu, die Hände still zu halten, obwohl ich mir am liebsten dieses widerliche Gefühl von der Haut gekratzt hätte. Ich versuchte, an etwas anderes zu denken, egal woran.

Stattdessen musste ich mich auf dieses seltsame Gefühl konzentrieren, weil es sich veränderte. Je mehr Abstand ich von den Zwillingen hatte, desto stärker verblasste der finstere Eindruck von bösen Absichten. Jetzt spürte ich eher eine verworrene Mischung, verzwirnte Spinnweben aus Sorgen, Freude, Traurigkeit und Angst. Vielleicht wurde ich wahnsinnig, weil ich am Wochenende zu viel verrücktes Zeug über mich und meine Familie erfahren hatte.

Es sei denn … ich konnte jetzt die Gefühle der anderen spüren.

Mein Gott. Wenn ich mich konzentrierte, wurde es noch schlimmer, bis ich die Stimmung von jedem nachfühlte, der vorbeiging. Als Experiment verglich ich das, was ich spürte, mit den Gesichtsausdrücken und Gesprächsfetzen, die ich aufschnappte, und konnte so einiges zusammenbringen. Freude löste ein Kribbeln aus, das mich fast lachen ließ. Sorgen waren schwer und kalt. Sie glitten wie ein Eisklumpen über meine Haut. Dagegen war Liebe mollig und weich, wie warme Wattebäusche. Wut wetzte wie ein Messer an meiner Haut.

Als ich die hundert Meter zu meinem Spind geschafft hatte, schloss ich die Augen und versuchte, an etwas anderes zu denken. An irgendetwas, um aus diesem überwältigenden Gefühlswirrwarr herauszufinden. Etwas Beruhigendes. Etwas …

Tristans Augen, die mich ansahen. Der Klang seiner Stimme, die tief und kehlig meinen Kosenamen flüsterte und mich fragte, ob es mir gut ging. Seine warmen Hände auf meinen Schultern im Algebraunterricht.

Nach einer Weile ebbten die Gefühle der anderen ab. Ich senkte die Schultern, die ich fast bis an die Ohren hochgezogen hatte, und konnte wieder frei atmen.

Okay. Also konnte ich die Gefühle von anderen Leuten spüren. Keine berauschende Entwicklung, und ich hätte gern eine kleine Vorwarnung bekommen. Aber zumindest konnte ich es kontrollieren, wenn ich ruhig blieb. Kam das von der Seite der Hexen oder der Vampire?

Es musste Magie sein, eine Art übersinnlicher Wahrnehmung, oder? Also kein Grund zur Panik, es entwickelten sich keine Vampirfähigkeiten. Auch wenn es nicht gerade normal war. Aber vielleicht konnten das alle Nachfahren und zeigten es nur nicht. Sogar Tristan.

Oh Mist. Konnten sie meine Gefühle lesen, wenn ich in seiner Nähe war? Hatte er gemerkt …

Mit brennenden Wangen unterbrach ich mich bei diesem Gedanken. Ich ging weiter und überlegte, ob ich meine Eltern oder Nanna anrufen und von dieser Neuigkeit erzählen sollte. Wieso sollte ich eigentlich? Ich sollte sie bei neuen Entwicklungen anrufen, damit sie mir helfen konnten, mit ihnen fertigzuwerden. Aber das hatte ich allein geschafft. Um diese Fähigkeit zu kontrollieren und alle fremden Gefühle auszublenden, reichte es, wenn ich ruhig blieb. Das Einsatzkommando war nicht nötig. Noch nicht.

Na gut, also würde ich nicht zu Hause anrufen. Dafür könnte ich meine Bücher für den ganzen Tag mitnehmen, damit ich nachher nicht noch einmal auf den Hauptflur kommen musste. Nur zur Sicherheit.

„Gut gemacht, Savannah!“ Captain Kristi sprang jubelnd auf mich zu, um abzuklatschen. Auf ihrem Kopf wippten unzählige schwarze Zöpfchen. Sie war die Anführerin der Charmers-Tanzgruppe und Hilfslehrerin in meinem Sportkurs.

Als sich unsere Handflächen trafen, spürte ich nichts. Ich stand zu sehr unter Schock. Eine dreifache Pirouette. Nachdem ich vorletzte Woche nicht einmal eine einfache hinbekommen hatte. Das war ein glattes Wunder. Nach dem Tanzen schwebte ich die Treppe hinunter. Während ich mich anzog und zum Mittagessen in die Cafeteria ging, fühlte ich mich wie einer von diesen Glitzerballons, ganz leicht und funkelnd. Morgen würden mir bestimmt die Wangen wehtun, weil ich so grinsen musste. Ich konnte einfach nicht aufhören. Heute war ich zum ersten Mal genauso gut gewesen wie die geübten Tänzerinnen in meinem Kurs. Ich hatte nicht nur eine dreifache Pirouette hingelegt, sondern war auch endlich beim Spagat bis ganz auf den Boden gekommen und nach den Spagatsprüngen sauber gelandet, ohne nachzukippeln. Und noch besser waren die hohen Beinwürfe – statt mit Mühe und Not gerade mal Brusthöhe zu erreichen, hatte ich mir jedes Mal fast vor den Kopf getreten. Und ausnahmsweise hatte ich niemand anderen erwischt. Anscheinend waren sogar die erfahrenen Tänzerinnen im Kurs beeindruckt. Und jetzt, wo ich nicht mehr so eine Niete war, machte das Tanzen richtig Spaß!

Dieser Freak konnte endlich richtig tanzen. Vielleicht sogar gut genug, um es nächsten Monat in die Charmers-Tanzgruppe zu schaffen, falls ich verrückt genug war, mich zu bewerben. Ha! Diese Gefühle konnte der Clann gern mitbekommen.

„Hallo, Mädels“, begrüßte ich meine Freundinnen, als ich meinen Rucksack neben unserem Tisch in der Cafeteria fallen ließ. Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht sah ich sie an. „Ich hole mir nur schnell was zu essen. Danach könnt ihr mir erzählen, was ich letzte Woche verpasst habe.“

Niemand antwortete, aber ich ließ ihnen auch nicht viel Zeit, bevor ich mich bei der Essensausgabe anstellte. Die Cafeteria war so voll wie immer, aber offenbar nahm ich fremde Gefühle nur wahr, wenn ich selbst aufgeregt war. Jetzt spürte ich nur meine pure Freude, was mich noch glücklicher machte.

Endlich hatte ich es geschafft, mich mal nicht wie ein Riesentollpatsch anzustellen. Vielleicht sollte ich wirklich bei den Charmers vortanzen. Als Mitglied der Tanzgruppe war man in Jacksonville fast automatisch beliebt, zumindest stieg das Ansehen um einige Stufen. Und es wäre absolut großartig, ständig tanzen zu dürfen.

Gedankenverloren, wie ich war, bemerkte ich zuerst gar nicht, dass der Junge vor mir in der langsamen Schlange mich anlächelte. Überrascht erwiderte ich sein Lächeln, obwohl ich ihn nicht kannte. Dann wurde ich rot und blickte auf den Boden.

„Hallo, ich bin Greg Stanwick.“ Er nahm ein minzgrünes Tablett vom Stapel und reichte mir ein zweites.

„Oh, hallo. Ich bin Savannah.“ Eigentlich hatte ich nicht das Tagesgericht nehmen wollen. Normalerweise holte ich mir stattdessen Pizza oder Chili-Cheese-Pommes. Andererseits könnte ich zur Abwechslung mal etwas Gesundes essen und meinen Körper für die erstaunlichen Fortschritte beim Tanzen belohnen. „Äh, danke.“

Anscheinend verstand Greg das als Aufforderung. „Und, in welcher Klasse bist du?“

„In der neunten.“

„Ich in der elften. Siehst du dir manchmal die Fußballspiele an?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Denk noch mal drüber nach. Wir haben dieses Jahr ein Hammerteam. Vierfache Champions. Ich muss es wissen, ich spiele in der Auswahlmannschaft mit.“ Sein strahlendes Lächeln hatte ein paar Watt zu viel und erinnerte mich an einen Quizshowmoderator. Und er war kaum größer als ich, vielleicht gute eins siebzig. Aber insgesamt sah er ziemlich klasse aus, mit kurzen schwarzen Haaren und sanften braunen Augen, die sein warmes Lächeln unterstrichen.

Greg redete immer noch, und ich versuchte, interessiert zu wirken, während er von seiner Fußballmannschaft und ihrem harten Training erzählte, mit dem sie in dieser Saison wieder gewinnen wollten.

„Vielleicht laufen wir uns mal wieder über den Weg“, sagte er, als wir unser Essen bezahlten.

„Äh, klar. War nett, dich kennenzulernen.“

„Finde ich auch, Savannah.“ Statt sich abzuwenden, stand er da und sah mich an. Ich spürte seinen Blick noch, als ich zu meinem Tisch zurückkehrte.

Okay, das war seltsam, aber irgendwie nett. Normalerweise beachteten Jungs mich nicht. Lag es vielleicht an der neuen Körbchengröße?

Ich stellte mein Tablett ab und setzte mich.

Plötzlich hatte ich das Gefühl, jemand würde neben mir stehen. Als ich aufblickte, grinste Greg mich an.

„Hallo. Ich wollte noch sagen, dass wir am Freitag ein Heimspiel haben, falls du kommen und zusehen willst. Anstoß ist um sechs in der Tomato Bowl.“

Meine Wangen brannten, als vollkommene Stille eintrat, nicht nur an unserem Tisch, auch an den Nebentischen. Diese ungewollte Aufmerksamkeit konnte nur Greg gelten, weil ich normalerweise kaum wahrgenommen wurde.

Blinzelnd suchte ich nach einer Antwort. Dann fiel es mir wieder ein. „Äh, das klingt gut, aber an dem Abend habe ich Tanztraining. Vielleicht nächstes Mal?“

Als Greg kurz den Blick abwandte, bekam ich eine Gänsehaut und ein Prickeln über meine Arme bis zum Hals hinauf. Irgendjemand musste die Klimaanlage aufgedreht haben oder so. Zitternd rieb ich mir die Arme.

Als Greg mich wieder ansah, war sein Lächeln nicht mehr ganz so strahlend. „Ja, klar. Nächstes Mal.“ Damit ging er.

Ich zuckte zusammen; hoffentlich hatte ich nicht seine Gefühle verletzt. Dabei begriff ich nicht mal, warum es ihn interessieren sollte, ob ich zu seinem Spiel kam oder nicht.

Ich sah meine Freundinnen an und musste grinsen. Sie sahen genauso verdutzt aus, wie ich mich fühlte. „Ist das gerade wirklich passiert?“, fragte ich lachend.

Während sich die Leute an den Tischen rings um uns erholten, herrschte an unserem noch Schweigen.

Ich beugte mich vor und musterte meine Freundinnen genauer. „Äh, hallo? Will keiner was dazu sagen?“

Meine Güte. Ja gut, normalerweise redeten Jungs nicht mit mir, und es war noch nie einer in der Mittagspause extra an meinen Tisch gekommen. Aber die Mädels benahmen sich, als wäre ich gerade auf den Tisch gesprungen und hätte eine Arie geschmettert oder so was. Ich hatte sie noch nie alle auf einmal derart sprachlos erlebt. Am liebsten hätte ich direkt vor ihren Nasen mit den Fingern geschnippt, um sie in die Gegenwart zurückzuholen.

Erst erwiderte ich Annes Blick, dann Carries, schließlich Michelles. Jede riss dabei die Augen auf. Das wurde ja immer abgedrehter.

„Sieh mich mal an.“ Anne schlug den gleichen Befehlston an wie Dad am Samstag, was mich an mein verändertes Aussehen erinnerte. Und an die verrückten Familiengeheimnisse, die ich so schnell wie möglich vergessen wollte.

„Ach ja.“ Meine gute Laune kippte. „Ihr habt ja noch gar nicht mitbekommen, wie komisch ich aussehe.“ Jetzt würde Anne sagen, dass ich spinne und mir etwas einbilde, und dass ich wie immer aussehe.

Sie runzelte die Stirn. „Du siehst nicht komisch aus. Aber schon anders, das ganz sicher. Was hast du mit deinen Haaren angestellt? Sie sehen aus wie in einem Werbespot für Garnier. Hast du sie gefärbt? Sie sehen nicht mehr so orange aus. Und sie sind … fluffig.“

Oh. Also hatte ich mir die Veränderungen vielleicht doch nicht eingebildet.

Ich wurde rot, weil ich mir wie eine Zirkusattraktion vorkam. „Ich weiß, es ist seltsam. Aber ich habe wirklich nichts mit meinen Haaren gemacht.“

„Und deine Augen“, flüsterte Michelle.

Irgendwie erinnerte sie mich heute an ein nervöses Kaninchen. Als ich sie ansah, wich sie meinem Blick aus.

Ach Mist, richtig. Dad hatte gesagt, mein Blick könnte auf andere eine seltsame Wirkung ausüben. Nur nicht, welche Art von Wirkung. Er hätte mich vorwarnen können, dass mich meine Freundinnen wie eine Außerirdische behandeln würden, die an ihrem Tisch eine Bruchlandung hingelegt hatte.

„Was meinst du, Carrie?“ Während ich sie unverwandt ansah, ballte ich unter dem Tisch die Fäuste. In mir kämpfte Angst mit einem Hauch Neugier. Was genau sahen sie in meinen Augen?

Carrie war die Ruhigste, Coolste, Gelassenste von uns. Sie hatte den Verstand einer Wissenschaftlerin oder der Ärztin, die sie irgendwann werden wollte. Von ihr bekam man praktische, objektive Antworten.

In den paar Sekunden, die ich ihren Blick erwiderte, drohte die ganze Panik des Wochenendes das bisschen Neugier zu ersticken. Vielleicht wollte ich es doch nicht wissen.

Dann sah ich es … auch Carrie riss ängstlich die Augen auf und blickte weg.

Verdammt. Und das war Dad zufolge wirklich eine Vampirgeschichte.

Es schnürte mir die Kehle zu, dass ich kaum Luft bekam. Der Lärm in der Cafeteria schwoll an, bis er in meinen Ohren wie das wütende Meer in einem Sturm klang. Gleichzeitig trieben zu viele verschiedene fremde Gefühle wie Wellen über meine Haut. Ich schlang die Arme um mich, um sie abzuwehren, aber es war vergeblich.

Entwickelte ich mich jetzt zu einer Vampirin?

„Komm, lass mich noch mal sehen.“ Dieses Mal klang Annes Bitte nicht mehr wie ein Befehl.

Plötzlich wollte ich ihrem Blick ausweichen. Ich wollte nicht beobachten müssen, wie meine Freundin mich ansah und Angst bekam. Vielleicht kam es allerdings nur darauf an, wie ich sie ansah, und ich musste mich einfach locker machen. Womöglich würden sie sich beruhigen, und es wäre halb so wild.

Ich ließ meinen Blick nach oben wandern, zuerst zu Annes Kinn, dann zu ihren Lippen und der Nase. Zögernd holte ich tief Luft, konzentrierte mich darauf, ruhig zu sein und möglichst beschwichtigende Gedanken in meinen Blick zu legen, und sah sie direkt an. Sie schnappte nach Luft.

So ein Dreck. Das funktionierte auch nicht. Ich blickte auf das Tablett mit meinem Essen, das ich nicht mehr wollte, während mir schwummrig wurde.

Nach einer Weile holte Anne tief Luft und sagte: „Schon gut, Sav. So sehr haben sich deine Augen gar nicht verändert, zumindest könnte ich nicht sagen, wie. Sie wirken nur irgendwie … krass.“

„Ja, genau“, stimmte Michelle zu. „So ähnlich hat mich meine Mutter angesehen, als ich letzten Monat aus Versehen den Sofatisch kaputt gemacht habe. Als wollte sie mich umbringen.“

„Aber ich bin nicht böse!“, platzte es aus mir heraus. „Gerade war ich sogar noch ziemlich glücklich. Dieser Typ, der rübergekommen ist, Greg Stanwick, ist im dritten Jahr und spielt Fußball in der Auswahlmannschaft. Er hat sich aus heiterem Himmel vorgestellt, als wir beim Essen anstanden. Es war irgendwie komisch …“

„Komisch“ beschrieb nicht mal ansatzweise, was ich seit letzter Woche erlebt hatte. Und ich konnte nicht mit ihnen darüber reden. Wie in aller Welt sollten mir meine Freundinnen das glauben, geschweige denn es verstehen? Sie hassten den Clann. Michelle glaubte, Hexen würden kleine Tiere opfern, Carrie war zu bodenständig, um überhaupt an Vampire zu glauben, und Annes Familie gehörte zur Pfingstgemeinde und würde ihr nie erlauben, mit einer Mischung aus Vampirin und Hexe befreundet zu sein. Es gefiel ihnen schon nicht, wenn sich Anne mit Methodisten und Baptisten traf. Und wie sie es geschafft hatte, dass sie die Haare kurz tragen und jeden Tag Jeans anziehen durfte, war mir immer noch ein Rätsel. Die anderen Mädchen aus der Pfingstgemeinde mussten Röcke tragen und durften sich nicht die Haare schneiden; sie reichten ihnen bis zu den Knien.

„Er ist im dritten Jahr?“ Carrie, die praktisch erstarrt war, taute ein wenig auf.

„Und spielt Fußball in der Auswahlmannschaft?“ Nichts konnte Michelle so gut aus der Reserve locken wie frischer Klatsch. Angeblich wollte sie Krankenschwester werden und irgendwann Carrie im OP assistieren, aber Anne und ich hatten insgeheim gewettet, dass sie bei einem Klatschblatt landen würde.

Als sich meine drei Freundinnen auf die pikanten Neuigkeiten stürzten, löste sich die Beklemmung in meiner Brust ein wenig, und die Flutwelle aus fremden Gefühlen ebbte ab. Mit einem gezwungenen Lächeln beantwortete ich ihre Fragen nach Greg und gab am Ende unser Gespräch in der Schlange Wort für Wort wieder. Beim Reden achtete ich darauf, den Blick höchstens bis zu ihren Nasen zu heben. Ich wollte sie nicht wieder mit meinen Augen erschrecken.

Meinen Vampiraugen.

„Wo wir gerade bei Jungs sind, die sich seltsam benehmen“, sagte Michelle. „Ich glaube, du hast noch einen Fan, Savannah.“

Sobald Michelle das ausgesprochen hatte, spürte ich es. Vom Tisch der Clann-Typen aus starrte mich Tristan quer durch die Cafeteria an. Keine Ahnung, woher ich das wusste, aber ich hätte eine Menge Geld darauf verwettet.

„Gerade starrt er dich sogar an.“ Michelle grinste breit. Sie war niemand, der sich mit dezenten Andeutungen begnügte.

„Tristan Coleman, stimmt’s?“ Ich versuchte, gelassen zu klingen, womöglich sogar gelangweilt.

„Woher weißt du das?“, fragte sie verblüfft.

Weil ich spüre, wie sich sein Blick in meinen verdammten Hinterkopf bohrt, hätte ich gern gemurmelt. Stattdessen zuckte ich mit den Schultern und tat so, als würde es mich nicht stören.

„Aber du weißt bestimmt nicht, dass er letzte Woche nach dir gefragt hat“, sagte sie stolz. „Er hat erzählt, er und die Clann-Mädels an seinem Tisch hätten gehört, dass du krank bist, und hätten sich Sorgen um dich gemacht.“

Wow. Tristan hatte gemerkt, dass ich fehlte, und nach mir gefragt? Aus persönlichem Interesse oder für den Clann?

Anne schnaubte. „Ach komm. Als würden sich diese verwöhnten Idioten für irgendwen interessieren, der nicht zu ihrem erlauchten kleinen Kreis gehört.“

Es sei denn, ihre Eltern hätten ihnen von mir erzählt und sie hatten jetzt Angst davor, dass ich im Flur über sie herfallen könnte.

„Warum sollte er mich anlügen?“, fragte Michelle.

„Vielleicht, weil er mich vorher gefragt hat und ich ihm gesagt habe, er soll sich um seinen eigenen Kram kümmern“, antwortete Anne.

Ich starrte meine beste Freundin entsetzt an.

„Na ja, so in etwa“, nuschelte sie.

„Warum hast du ihm nicht einfach gesagt, wie es mir geht?“, wollte ich wissen.

„Weil ich es einfach nicht wusste, okay? Deine Großmutter hat nur gesagt, dass du krank bist und sie nicht wissen, wann du wieder in die Schule kommst, aber dass du nicht im Krankenhaus bist. Außerdem ist er ein Ego… Ego…“ Stirnrunzelnd zog Anne die Nase kraus, während sie nach dem richtigen Wort suchte.

„Egomane?“, schlug ich vor.

„Genau! Das meinte ich.“

Ich seufzte. „Tut mir leid, wenn ihr euch Sorgen um mich gemacht habt. Ich war echt … krank. Von letzter Woche weiß ich nach Mittwochnachmittag nicht mehr viel. Ich glaube, Mom und Nanna hatten auch Angst.“ Das war immerhin die Wahrheit. Das meiste davon.

Wieder starrten mich alle drei erschrocken an. Ich musste mir Mühe geben, mich nicht auf dem Stuhl zu winden. Bei dieser ganzen unerwarteten Aufmerksamkeit hätte ich mich gern in ein Loch verkrochen.

„Was hattest du denn?“, fragte Anne.

Ich zuckte mit den Schultern und wappnete mich für die unvermeidliche Lüge. Ich würde ihnen sagen müssen, es sei die Grippe gewesen. Aber die Klingel unterbrach uns. Zum Glück, weil ich eine wirklich miese Lügnerin war. Und von dem, was mir meine Familie an diesem Wochenende erzählt hatte, hätten sie nicht mal die Hälfte geglaubt. Hoffentlich würden sie einfach vergessen, dass ich krank gewesen war und jetzt komische Augen hatte.

Vielleicht könnte ich es ja selbst vergessen. Mit ein bisschen Glück.

Tristan

Während ich zu Mittag aß, hatte ich die ganze Zeit die Wanduhr im Blick. Noch zwei Stunden bis zu Algebra, dem letzten Fach für heute. Ich konnte keine Sekunde still sitzen, so hibbelig war ich.

Inzwischen hatte ich mit Dylan die Plätze auf Dauer getauscht, auch wenn er davon nicht gerade begeistert war. Aber ich hatte meinen Status ausspielen müssen, sein alter Platz bot einfach die bessere Sicht. Hatte er zumindest, bis ein dunkelhaariger Typ, klein und drahtig, den Blick auf Savannahs Tisch verstellte.

Wahrscheinlich der Freund von einer ihrer Freundinnen.

Allerdings stand der Typ direkt vor Savannah und redete mit ihr, nicht mit den anderen Mädchen.

Ich hörte auf, die Knie unter dem Tisch gegeneinanderzuschlagen.

Jemand aus ihrer Stufe, der Hilfe bei seinen Hausaufgaben wollte? Nein, er sah zu alt für das erste Highschooljahr aus.

Ich lehnte mich zu meiner Schwester rüber. „Wer ist der Typ?“ „Hm?“ Emily sah sich um und grinste. „Ach, du meinst den, der gerade mit einer gewissen …“

„Ja.“

Sie verstand den Hinweis und flüsterte: „Erzähle ich dir gleich.“ Dann tat sie so, als würde sie sich wieder auf ihr Essen konzentrieren. Aber ich beobachtete, wie sie alle paar Sekunden beiläufig den Blick durch die Cafeteria schweifen ließ.

Jetzt stützte der Typ eine Hand auf Savannahs Tisch auf, die andere auf ihrer Stuhllehne und beugte sich zu ihr runter.

Ich setzte mich auf und ballte die Hände auf den Oberschenkeln zu Fäusten. Nicht so nah, befahl ich in Gedanken dem Möchtegern-Romeo, versetzt mit einem Schuss Magie. Manche Menschen waren so stumpf, dass sie solche mentalen Befehle nicht bemerkten. Dieser Typ zum Glück nicht. Er hob sofort den Kopf und sah mich an.

Ich wusste, dass ich mich unauffälliger benehmen sollte, damit dem Clann nichts auffiel, aber ich hatte mich nicht im Griff. Ich starrte ihn an, damit er hoffentlich begriff und verschwand.

Kurze Zeit später richtete er sich auf und ging.

Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Aber ich hätte immer noch gern auf etwas eingeschlagen.

Sobald sich der Junge ein paar Schritte von Savannah entfernt hatte, beugte sich Emily rüber und legte mir einen Arm um die Schultern. „Das ist Greg Stanwick. Er ist im dritten Jahr. Spielt in der Auswahlmannschaft Fußball, also muss er wohl gut sein. Ich hab gehört, er soll ziemlich charmant sein und sich auch mit jüngeren Mädchen verabreden, zum Beispiel mit welchen aus dem ersten Jahr.“

Ein tiefes Knurren stieg in meiner Kehle auf. Mit Savannah würde er das nicht machen. Sie brauchte jemanden, der … größer war. Der nicht lächelte wie der bescheuerte Moderator einer Quizshow.

„Autsch. Fahr mal deine Energie runter, kleiner Bruder.“ Emily zog den Arm zurück und rieb sich über den Ärmel.

„Entschuldige“, murmelte ich und warf einen Blick in die Runde. Alle am Tisch starrten mich an. „Tut mir leid“, entschuldigte ich mich bei der ganzen Truppe. Ein paar verdrehten die Augen und rieben sich über die Arme oder den Nacken, aber alle nahmen die Entschuldigung an und sahen wieder weg. Alle außer Dylan, der mich mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. Als Antwort auf seine wortlose Frage zuckte ich mit den Schultern. Manchmal konnte er neugieriger sein als ein klatschsüchtiges Mädchen.

„Du weißt, dass so was nicht passieren würde, wenn du dich auf deine Übungen konzentrieren würdest“, sagte Emily.

„Und du weißt, dass mich dieser ganze Mist nicht interessiert.“

„Schön blöd. Die Kraft verschwindet nicht einfach, wenn du sie ignorierst. Es wird nur schlimmer.“

Ich versuchte, sie zu ignorieren.

„Sei doch nicht dumm, Tristan. Wenn du nicht lernst, dich besser zu erden …“

Sie nörgelte noch schlimmer als unsere Mutter. „Ich habe das ganze Wochenende nichts anderes gemacht.“

„Bist du sicher, dass du es richtig machst?“

„Ja.“

„Hm. Dann könntest du versuchen, dich auch in der Schule zu erden.“

„Wie soll ich das denn machen, ohne dass mich die anderen für verrückt halten?“

Zu meiner Überraschung lachte sie. „Such dir einen Baum.“

„Und dann soll ich gegen den Stamm schlagen?“

„Nein, mach es wie ein Auto beim Tanken, nur umgekehrt. Leite einen Teil deiner Energie durch den Baum in die Erde.“

„Gute Idee, Schwesterherz. Das merke ich mir fürs nächste Mal.“ Ich schenkte ihr ein falsches Lächeln. Mit ein bisschen Charme konnte ich sie hoffentlich dazu bringen, nicht auf dem Thema herumzureiten.

Sie durchschaute mich, aber immerhin schüttelte sie den Kopf und aß weiter.

Entspannt aß ich zu Ende und ging zu den Abfalleimern. Auf dem Rückweg sah ich Stanwick an einem Tisch bei zwei anderen Jungs stehen. Der blöde Fußballer beobachtete Savannah mit diesem gewissen Ausdruck auf seinem Gesicht. Als würde er darüber nachdenken, ob er sich mit ihr verabreden sollte.

Am besten, ich haute ihn einfach sofort um; das würde Zeit sparen. Allerdings fuhren sie an der Jacksonville Highschool bei Prügeleien auf dem Schulgelände eine Nulltoleranzpolitik. Falls man mich erwischte, würde ich suspendiert werden. Der Vorfall würde in meine Schulakte kommen, und Colleges rissen sich nicht gerade um Schüler, die ihre Klassenkameraden verprügelten. Und ohne College hätte ich keine Chance, Footballprofi zu werden.

Wie schade, dass Stanwick nicht Football spielte …

Mit finsterem Blick ging ich zurück und nahm meine Bücher. Alle am Tisch hielten inne und starrten mich an.

„Tristan Glenn Coleman“, zischte Emily. „Raus. Baum. Sofort.“ „Ich gehe ja schon“, grummelte ich und ging raus, um mir den nächsten Baum zu suchen.

Ich fand ihn ein paar Meter entfernt zwischen dem Hinterausgang der Cafeteria und dem Mathegebäude. Perfekt. Nur: Wie sollte ich mich erden, ohne wie ein Volltrottel auszusehen? Ich konnte das Ding ja schlecht vor dem ganzen Publikum an den Picknicktischen umarmen. Aber ich musste den Baum irgendwie mit den Händen berühren, damit es funktionierte.

Ich hatte eine Idee. Ich lehnte mich gegen den Baum, als würde ich auf jemanden warten, drückte die Bücher mit einer Hand gegen den Oberschenkel und ließ die freie Hand herunterbaumeln. Dann drehte ich das Handgelenk, sodass meine Handfläche die Baumrinde berührte. Ich holte tief Luft, ging in mich, um die brodelnde Energie zu finden, und leitete sie durch meine Hand in den Baum.

Die Rinde wurde warm. Verdammt, ich würde den Baum noch in Brand setzen. Ich drosselte den Energiefluss, bis sich die Rinde abkühlte. Besser. Als die überschüssige Energie aus mir strömte, spürte ich, wie ich ruhiger wurde, und lächelte. Ja, schon viel besser.

Die Türen der Cafeteria öffneten sich, und vier Mädchen kamen heraus, eines davon mit roten Haaren, die in der Sonne leuchteten. Savannah. Sie lachte gerade, als Jungs an einem Tisch in der Nähe Anne etwas zuriefen. Anne erwiderte etwas, und das Grüppchen trennte sich, als Anne und Savannah zu dem Tisch hinübergingen.

Ich packte meine Bücher noch fester.

Anne übernahm es zu reden. Einmal beugte sie sich vor und zeigte auf eine Stelle in einem aufgeschlagenen Mathebuch. Die Jungs nickten und sahen zu ihr hoch. Sie waren auch in unserem Algebrakurs.

Ich konnte genau erkennen, wann die Jungs Savannah bemerkten. Fast wie in einer Welle erstarrte einer nach dem anderen, ihr ungezwungenes Lächeln wurde zu einem leeren Blick. Ich hätte gewettet, dass sie gerade einen Zauber gewirkt hatte. Wenn sie anders reagiert hätte. Und wenn sie zum Clann gehört hätte. Aber auch ihr Lächeln verblasste, und sie ließ den Kopf hängen. Sie drückte ihren Schreibblock an sich und zupfte an Annes Handgelenk. Anne guckte kurz zu den Jungs rüber und runzelte dann die Stirn. Danach gingen die Mädchen schnell weiter.

Savannah drehte sich um, vielleicht hatte sie gespürt, dass die Jungs ihr noch nachsahen. Sie ging schneller. Als sie auf meiner Höhe waren, warf Anne einen Blick in meine Richtung und flüsterte Savannah etwas zu. Ich war kein Experte im Lippenlesen, besonders nicht auf die Entfernung, aber anscheinend bezeichnete sie mich als Stalker.

Fast hätte ich laut gelacht. Ich und ein Stalker? Also bitte. Aber nach einem Blick auf die Jungs an ihrem Tisch runzelte ich stattdessen die Stirn. Ich war kein Stalker, aber … sie starrten Savannah immer noch an wie die Zombies. Vielleicht hatte sich Savannah gerade wirklich ein bis drei Stalker eingehandelt.

Toll. Als hätte dieser Stanwick nicht schon genug genervt. Wenn Savannah so weitermachte, lief ihr bald ein ganzer Trupp benommener Idioten nach.

Die Baumrinde wurde wieder heiß. Ich riss die Hand weg und ließ es fürs Erste mit dem Erden gut sein. Um die ganze überschüssige Energie loszuwerden, hätte ich tot sein müssen. Die Nachfahren in der Schule mussten heute einfach mit meinen Energiespitzen leben.

KAPITEL 4

Tristan

ls ich anderthalb Stunden später vor der Algebrastunde die Verbindungsbrücke überquerte, war mir klar, dass die anderen Nachfahren wieder meine Energiespitzen spürten.

Die unheimlichen Typen aus der Mittagspause hatten Savannah vor dem Mathegebäude in die Enge getrieben.

Je näher ich dem Gebäude kam, desto besser konnte ich Savannahs Gesicht sehen. Jedes andere Mädchen wäre wahrscheinlich begeistert gewesen, wenn drei Jungs gleichzeitig mit ihm geflirtet hätten. Aber sie nicht. Sie sah aus, als hätte sie jemanden umbringen können.

Als ich nur noch ein paar Meter entfernt war, fiel mir auf, dass sie noch blasser war als sonst. Ihre Bewegungen waren abgehackt, sie hatte die Schultern hochgezogen und die Fäuste geballt. Ihre Fans waren zu benommen, um etwas von Savannahs Gefühlen mitzubekommen. Es war schon ein bisschen jämmerlich anzusehen, wie sie um ihre Aufmerksamkeit wetteiferten.

Sie warf mir einen kurzen Blick zu. Wollte sie meine Hilfe? Sie wurde rot. Dann sah sie an mir vorbei, als sei ich unsichtbar.

Als sie einen Schritt auf die Eingangstür zu machte, lehnte sich das Ekel vor ihr gegen die Wand, um ihr den Weg zu versperren. Sie sagte etwas zu ihm, so leise, dass ich es nicht verstand. Er lachte, rührte sich aber nicht. Als sie auf die Lücke zwischen ihm und dem Jungen in der Mitte zusteuerte, rückten alle drei näher zusammen und ließen ihr keinen Platz, um durchzukommen.

Was zum …

Sie riss die Augen auf, und aus der Nähe konnte ich sehen, dass sie sich moosgrün färbten. Savannah trat dem Typen zwischen sich und dem Eingang auf den Fuß. Er tat, als hätten seine Stiefel Stahlkappen und als hätte er nichts bemerkt.

Jetzt musste ich mich einfach einmischen, egal ob sie das wollte oder nicht.

„Hallo, Sav. Gibt’s hier Probleme?“ Ich blieb ein paar Schritte vor ihr stehen.

Sie öffnete den Mund, als wollte sie antworten. Aber dann schloss sie ihn wieder und schüttelte den Kopf. Ganz leicht reckte sie das Kinn nach oben und sah wieder durch mich hindurch. So ein Dickschädel.

„Hi, Sav, tut mir leid, dass ich spät dran bin“, rief Anne, die von hinten über die Verbindungsbrücke angelaufen kam. Ah, also hatte Savannah sie angesehen. „Entschuldigung, Jungs.“ Wie eine Dampfwalze stürzte sie sich zwischen die unheimlichen Typen, nahm Savannah beim Arm und zog sie mit zum Eingang. „Ich bin in Englisch aufgehalten worden. Danke, dass du auf mich gewartet hast.“

Bei ihrer Flucht ins Mathegebäude schirmte Anne die stocksteife Savannah wie eine Leibwächterin ab. Hm. Anne durfte sie also retten, aber ich nicht. Eigentlich hätte es mich nicht wundern dürfen, aber irgendwie traf es mich richtig.

Ich starrte die drei Typen an. Ohne mich zu beachten, schlurften sie den Mädchen mit blitzenden Augen nach, als würden sie von einem Magneten angezogen. Wow, das war aber echt unheimlich. Sie sahen aus wie verhexte Zombies.

Was würden diese Typen machen, wenn sie Savannah an einem ruhigeren Ort als dem Außengelände erwischten, zum Beispiel auf der Mädchentoilette oder in einer Umkleide?

Ich stieß die Tür mit Schwung auf. Als die Metallklinke gegen die Mauersteine knallte, zuckte ich zusammen. Coleman, du musst das in den Griff kriegen.

Ich atmete einmal tief durch und betrat das Klassenzimmer. Mr Chandler hatte gerade mit dem Unterricht angefangen. Sehr gut. So hatte ich ein bisschen Zeit, um mir eine Lösung einfallen zu lassen und sicherzugehen, dass diese Typen Savannah ein für alle Mal in Ruhe ließen. Vielleicht hatte meine Schwester ein paar gute Ideen. Sie war hervorragend darin, sich Spinner so vom Hals zu halten, dass sie es nicht mal mitbekamen. Das war einer der ersten Zauber gewesen, die unser Dad ihr beigebracht hatte.

Die ganze Stunde über starrte ich auf Savannahs zuckenden Pferdeschwanz und überlegte, wie ich Emily dazu überreden konnte, die Regeln zu brechen und es mir selbst beizubringen. Ich war so damit beschäftigt, Pläne zu schmieden, dass mir der Unterschied erst nach zwanzig Minuten auffiel.

Savannah hatte etwas mit ihren Haaren gemacht.

In der Cafeteria hatte ich noch gedacht, es läge nur an der Beleuchtung. Aber ihre Haare sahen eindeutig anders aus. Früher hatten sie in einem feurigen Orangerot geleuchtet. Jetzt waren sie dunkler und von tiefroten und braunen Strähnen durchzogen. Sie glänzten auch mehr. Und wie sie duftete, das war einfach Wahnsinn.

Sie roch immer noch nach Lavendel. Aber der Duft war stärker und wärmer. Geheimnisvoller. Und ihre Haut sah heute besonders gut aus. Vor allem direkt über dem Kragen ihres Pullovers …

Ich schluckte schwer, lehnte mich zurück und versuchte, wieder zu mir zu kommen. Und mich an all die Gründe zu erinnern, warum es eine schlechte Idee gewesen wäre, sie an dieser Stelle zwischen Hals und Schulter zu küssen.

In diesem Moment taten mir die drei unheimlichen Typen leid. Savannah hatte etwas an sich, das weit über normale Anziehungskraft hinausging. Eigentlich wunderte es mich, dass sich heute nicht jedes einzelne männliche Wesen in der Schule vor dem Gebäude um sie geschart hatte.

Jemand trat mir gegen das linke Bein.

Ich riss den Kopf hoch und sah mich um. Der Unterricht war vorbei, alle arbeiteten an ihren Hausaufgaben … und Anne sah aus, als wollte sie mir eine verpassen. Was war denn jetzt wieder?

Sie schrieb in großen Buchstaben auf ihren Block: Starr nicht so!

Habe ich nicht, schrieb ich so groß auf, dass sie es lesen konnte.

Hast Du sehr wohl. Ihr Jungs seid alle echt mies, schrieb sie auf ihr Blatt.

Verdutzt sah ich sie an, formte stumm mit den Lippen die Frage: Alle?, und zog eine Augenbraue hoch. Was meinte sie?

Sie deutete mit dem Kopf ruckartig nach rechts, bevor sie so tat, als würde sie weiterarbeiten. Dabei konnte ich sehen, dass sie nur herumkritzelte.

Ich wartete kurz, dann gähnte ich und streckte mich, damit ich mich in der Klasse umsehen konnte. Und tatsächlich, drei Paar Augen waren starr auf Savannah gerichtet. Den finsteren Mienen nach zu urteilen, gingen den Jungs keine freundlichen Gedanken durch den Kopf.

In gerade mal zwei Stunden hatten sie es vom Stalker zu „Sperrt mich ein, ich bin ein Serienkiller“ geschafft.

Ich musste auf jeden Fall was in der Sache unternehmen. Die Frage war nur … was? Und wie viel Zeit blieb mir dafür?

Ich schrieb: Ich bin NICHT wie die. Aber keine Sorge, ich kümmere mich darum.

Anne zog die Augenbrauen hoch, schrieb aber nichts mehr.

Als es klingelte, packte ich gemächlich meine Bücher zusammen. Ich spürte, wie jemand zu unseren Tischen rüberkam. Ich sah kurz auf. Es war niemand anders als die unheimlichen drei. Schnell kam ich hinter meinem Tisch hervor und stellte mich zwischen Savannah und die Jungs.

„He, Ron, glaubt du, du schaffst es nächstes Jahr in die Schulauswahl?“, fragte ich den Typen, der vor Anne und links von Savannah saß. Kein Wunder, dass Abernathy vollkommen verdattert dreinschaute. Wir spielten zwar in diesem Jahr zusammen in der Mannschaft, aber Rons Familie war erst letztes Jahr nach Jacksonville gezogen, und er hatte noch keine Freunde gefunden. Er war eher ein ruhiger Typ. Bis heute hatten wir außerhalb vom Training noch kein Wort miteinander geredet.

Offenbar war Ron zur Höflichkeit erzogen worden, denn er ließ mich nicht einfach abblitzen. „Kann schon sein. Ich hab gehört, dass Coach Parker dringend ein paar gute Spieler für die B-Mannschaft sucht.“

Ich spürte die drei, die hinter mir standen und sich bestimmt wünschten, ich würde Platz machen. Während ich ein fieses Grinsen unterdrückte, bezog ich Stellung, stellte die Füße weiter auseinander und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wäre klasse, wenn wir aufsteigen würden. Ob wir dann auch mal im Spiel auf den Platz kommen?“

Ron zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich. Du weißt doch, wie es läuft. Mit dem Notendruck und den Verletzungen könnten wir gute Chancen haben.“

Jemand wagte es, mir auf die Schulter zu tippen. Ich hätte ihm die Finger abreißen sollen. Stattdessen ignorierte ich ihn und unterhielt mich weiter mit Ron darüber, wer im nächsten Herbst am wahrscheinlichsten wegen Verletzungen oder schlechten Noten auf der Ersatzbank landen würde.

Dummerweise waren Savannah und Anne selbst so in ein leises Gespräch vertieft, dass sie ihre Fluchtmöglichkeit nicht wahrnahmen. Mädchen. Sie mussten zu den ungünstigsten Zeiten tratschen.

Als Ron sich zur anderen Seite beugte, um seine Bücher zu nehmen, räusperte ich mich. Anne sah auf. Mit einem Blick versuchte ich ihr zu signalisieren, dass sie ihre Hintern in Bewegung setzen sollten. Sie verstand den Hinweis, schnappte sich Savannah, und kurz darauf verließen die Mädchen das Klassenzimmer. Gerade als meine Anspannung nachließ, spürte ich, wie die unheimlichen drei sich rührten, als wollten sie den Mädchen folgen.

„Wir sehen uns beim Training“, verabschiedete ich mich von Ron und ging mit langen Schritten zur Tür, um die Mädchen vor den drei Typen einzuholen. In der Tür blieb ich stehen, drehte mich um und bedachte sie mit einem finsteren Blick.

Sie hatten die Frechheit zurückzustarren, obwohl sie alle gut einen halben Kopf kleiner waren als ich. Ganz zu schweigen davon, dass sie zusammen höchstens hundert Pfund auf die Waage brachten.

„Ihr habt doch nicht wirklich vor, was ich glaube“, knurrte ich. Hinter mir fiel die Tür des Mathegebäudes ins Schloss.

Sie starrten mich an. Oh Mann, sie hatten keine Ahnung, wie gefährlich sie lebten. Ich hätte alle drei locker in zehn Sekunden zu Brei schlagen können, ohne auch nur ins Schwitzen zu kommen.

„Habt ihr ein Problem, Jungs?“, fragte Mr Chandler hinter seinem Pult.

„Ja, Sir.“ Ich musste mich anstrengen, ernst zu bleiben. „Ich hätte schwören können, dass die drei hier Sie gerade ein fettes, kahles Schweinchen genannt haben.“

Mr Chandler stand auf. „Aha. Dann sollte ich wohl mal ein Wörtchen mit Ihnen reden.“

Überrascht drehten sie sich zu dem Lehrer um und stammelten etwas. Das sollte sie für eine Weile beschäftigen, zumindest lange genug, dass die Mädchen den Parkplatz erreichen konnten, um sich dort abholen zu lassen. Ich ging zufrieden hinaus und sah gerade noch, wie Savannah zu ihrer Großmutter ins Auto stieg.

Allerdings hätte ich nicht damit gerechnet, dass Anne zum Mathegebäude zurückgestapft kam.

Aus Neugier rief ich ihr zu: „He, wo willst du hin?“

Hinter uns wurde die Tür geöffnet. Ich sah mich kurz um. Die unheimlichen drei kamen heraus, warfen mir böse Blicke zu – oder versuchten es zumindest – und verschwanden über die Verbindungsbrücke.

Anne starrte ihnen nach. Ihr Blick war wesentlich beeindruckender. „Ich bin auf Mistkäferjagd.“

„Ach, ich glaube, die Sache hat sich geregelt.“

„Savannah hat wegen der Typen richtig gezittert! Und hast du gesehen, wie sie dich gerade angeguckt haben? Glaubst du echt, dass sie Savannah jetzt in Ruhe lassen?“

Stirnrunzelnd beobachtete ich, wie die fraglichen Mistkäfer am Ende der Brücke stehen blieben und sich zusammendrängten. Vielleicht heckten sie gerade wer weiß was aus.

„Na ja, du könntest recht haben. Aber soll nicht lieber ich mich um sie kümmern?“

„Wieso, glaubst du, mir passiert was?“ Sie lächelte spöttisch.

„Nein. Du könntest sie bestimmt fertigmachen. Ich halte einfach nur ein Gespräch unter Männern für die bessere Lösung.“ Meine Stimmung verfinsterte sich, als ich mir vorstellte, mit welchen Mitteln ich dieses Gespräch gern geführt hätte.

Sie kniff die Augen zusammen. „Du magst sie sehr, oder?“

Ich blinzelte. „Wie kommst du darauf? Nur, weil ich jemandem helfen will …“

„Mein Gott, ihr Jungs seid doch alle gleich. Hast du als kleiner Junge nur Geschichten über die Ritter der Tafelrunde gehört oder was? Auch wenn sich die Männer hier im Süden gern was anderes vormachen, ist nicht jedes Mädchen eine holde Jungfer in Not, die auf ihren Retter Lanzelot wartet. Wir können schon selbst auf uns aufpassen.“

„Eigentlich habe ich mich immer eher als König Artus gesehen. Du weißt schon, jemand, der das Kommando übernimmt und die Truppen in die Schlacht führt“, witzelte ich.

Sie schnaubte. „War ja klar, dass sich dein Ego gleich die Krone schnappt.“

„Alles, was zum Erfolg nötig ist.“

„Hm-hm. Na schön, Artus, dann wollen wir mal sehen, wie du mit den Kröten fertigwirst.“

„Für dich immer noch König Artus.“

„Darauf kannst du lange warten.“ Sie ging weiter Richtung Parkplatz, blieb nach ein paar Metern stehen und drehte sich um. „Glaubst du wirklich, ich hätte gegen die drei gewonnen?“

Ich lachte. „Ja klar. Locker.“

„Richtige Antwort, Coleman. Vielleicht bist du irgendwann doch gut genug für sie“, rief sie zurück.

Ich zuckte zusammen und sah mich um, aber zum Glück achtete anscheinend niemand auf uns.

Nach einem Blick auf die Uhr fluchte ich und rannte zum Dusch- und Gerätehaus. Ich machte mich schon auf die Strafe für das Zuspätkommen gefasst. Wahrscheinlich ein paar Runden um den Sportplatz, mindestens fünf. Vielleicht mehr, je nachdem, welche Laune Coach Parker heute hatte. Egal, das war es wert. Dabei konnte ich überlegen, was ich wegen der unheimlichen drei unternehmen würde. Oder wegen der Kröten, wie Anne sie genannt hatte.

Beim Krafttraining musste ich mich konzentrieren. Als Teil meiner Strafe musste ich einem schwächlichen Jungen Hilfestellung geben, der beim Bankdrücken alle paar Sekunden vor der bösen Hantel gerettet werden musste. Aber sobald das Training beendet war und ich draußen zehn Runden auf der Laufbahn gedreht hatte, kehrten meine Gedanken zu dem aktuellen Problem zurück.

Ganz ohne Witz war Anne zu optimistisch gewesen, als sie gesagt hatte, sie könne mit den Jungs allein fertigwerden. Sicher, einen konnten sie und Savannah sich vom Hals halten. Vielleicht auch zwei. Aber drei auf einmal? Auf keinen Fall. Und was, wenn Savannah nicht mit Anne zusammen war?

Mir blieben mehrere Möglichkeiten, auch wenn keine besonders toll war. Falls ich die Kröten verprügelte, würde das meine Faust freuen und dafür sorgen, dass die Botschaft bei den Spinnern ankam. Allerdings blieb das Problem, dass Gewalt an der Jacksonville Highschool streng verboten war.

Ich hätte mich auf Drohungen beschränken können, aber wahrscheinlich wären sie nicht klug genug gewesen, darauf zu hören und Savannah in Ruhe zu lassen.

Damit blieb mir eine Lösung, die man nicht zu mir zurückverfolgen könnte, zumindest nicht mit normalen Methoden, und die den Spinnern keine Wahl lassen würde. Dafür würde ich die Hilfe meiner Schwester brauchen.

Ich war vor Emily am Auto. Ich schob den Sitz zurück, legte die Füße auf das Armaturenbrett und wartete. Und schlief dabei offenbar ein.

„He, Schlafmütze.“ Beim Einsteigen warf mir Emily ihre Pompons an den Kopf. „Nimm mal bitte die schmutzigen Füße von meinem Armaturenbrett.“ Den Zeigefinger wie einen Zauberstab ausgestreckt, ließ sie meine Füße einen Moment lang schweben. Ich konnte es nicht leiden, wenn sie bei mir Telekinese anwandte. Dabei kam ich mir vor wie eine Marionette. Echt gruselig. Ganz zu schweigen von den feinen Nadelstichen, die meine Haut überliefen, wenn sie in meiner Nähe Magie benutzte. Und das schon bei winzigen Dosen.

Ich setzte mich auf und schob die lästigen Plastikpuschel zur Seite. Es wurde schon dunkel. „Wieso hast du so lange gebraucht?“

„Cheerleader-Training. Schon vergessen? Cheerleader müssen auch hart trainieren.“

„Hm-hm.“ Stirnrunzelnd betrachtete ich die untergehende Sonne, sah auf meine Uhr und fluchte. Mir lief die Zeit davon, und ich wollte auf keinen Fall riskieren, dass Savannah ihren Stalker-Klub einen weiteren Tag am Hals hatte. „Hör mal, Schwesterherz, ich brauche dringend deine Hilfe. Ich weiß schon, was du sagen wirst, aber hör erst mal zu, okay?“

Sie zog die Augenbrauen hoch, nickte aber und ließ das Auto an.

Unterwegs erzählte ich kurz von Savannahs neuesten Fans und beschrieb, wie verschreckt sie ausgesehen hatte. Vielleicht übertrieb ich ein bisschen, aber die Jungs hatten wegen ihr ziemlich verrücktgespielt, und am Ende der Stunde hatte Savannah richtig mitgenommen gewirkt. „Und deshalb musst du mir helfen.“

„Ich soll meine Kräfte einsetzen, damit diese Typen sie in Ruhe lassen?“

„Nein. Ich will das selber machen.“ Bei Savannahs Aussehen könnte das Problem jede Woche neu auftreten. Und ich wollte meine Schwester nicht jede Woche um Hilfe bitten müssen.

Emily zögerte nicht einmal. „Nein.“

„Du bringst es mir nicht bei?“

„Nein. Du kennst die Regeln. Wenn ich dir irgendwas zeige, das ich kann, bringen mich nicht nur Mom und Dad um, sondern alle Ältesten. Oder machen noch Schlimmeres. Du darfst nur von einem Ältesten lernen, von niemandem sonst.“

Ich stöhnte und fuhr mir mit beiden Händen durch die Haare.

„Ach, krieg dich ein, du verwöhnter Kerl. Du bist ein Coleman. Am Ende bekommst du, was du willst, das weißt du doch. Du machst es dir nur viel zu schwer.“ Emily drückte einen Knopf auf der Fernbedienung, die an ihrer Sonnenblende klemmte. Vor uns öffneten sich die schmiedeeisernen Tore zu unserer Auffahrt, und als wir durchfuhren, knirschte unter den Reifen Kies wie zerbröselnde Chips.

„Du findest also, ich sollte die Typen einfach verprügeln, jede Chance auf einen Collegebesuch in den Wind schreiben und unserer Mutter das Herz brechen? Von mir aus. Aber vergiss nicht, dass es deine Idee war.“

„Natürlich nicht, du Idiot. Ich meinte, dass du von einem Ältesten lernen sollst, wie du sie beschützen kannst.“ Sie fuhr in die Garage und ließ mich über ihren Vorschlag nachdenken, während sich das Tor hinter uns schloss.

„Ja, wahrscheinlich könnte ich Dad fragen. Aber du weißt doch, welche Regeln sie bezüglich Savannah haben. Sie würden mich umbringen, wenn ich nur ihren Namen ausspreche, ganz zu schweigen davon, dass ich ihr helfen will.“

„Müssen sie denn wissen, was du mit dem, was du gelernt hast, anstellst? Dad wartet doch schon ewig darauf, dass du deine Ausbildung ernst nimmst. Mach doch zur Abwechslung mal was, das ihn freut.“

Ich starrte in das Halbdunkel der Garage und überlegte, was Emily gerade gesagt und nicht gesagt hatte.

Sie hatte recht. Dad wollte wirklich, dass ich mich „reinknie und ordentlich übe“ – er fing sogar ständig davon an. Und Selbstverteidigung war das Erste, was er Emily beigebracht hatte, als sie erst einmal ihre Energie erden konnte. Also standen die Chancen nicht schlecht, dass auch ich das von ihm lernen könnte. Ein, zwei Bemerkungen darüber, dass ich mich auf die Magie konzentrieren wollte und Hilfe bei der Selbstverteidigung bräuchte, sollten reichen. Aber würde ich schnell genug alles Nötige lernen, um Savannah zu helfen? Vielleicht würden die unheimlichen drei mit etwas Abstand, Zeit und Schlaf heute Nacht wieder zur Vernunft kommen. Vielleicht auch nicht. Was, wenn sie sich gerade einen Plan zurechtlegten, um Savannah irgendwo allein zu erwischen?

„Wann wollte Dad heute nach Hause kommen?“

Lächelnd sah Emily auf die Uhr. „In einer halben Stunde.“

Ich sprang aus dem Auto und ließ meine Bücher auf dem Sitz liegen. „Ich gehe mich mal lieber umziehen.“

„Brauchst du deine Bücher nicht?“

Ich schüttelte den Kopf und lächelte verkniffen. „Dafür habe ich keine Zeit. Heute Abend muss ich etwas anderes lernen.“

„Na gut. Frag Dad auf jeden Fall, wie ein gezielter Verwirrzauber funktioniert. Wenn diese Typen in Savannahs Nähe kommen, werden sie verwirrt und verschwinden wieder. Beleg irgendwas Kleines mit dem Zauber, das du in ihrem Rucksack verstecken kannst, dann hast du’s geschafft.“

„Danke.“ Ich lächelte ihr zu, lief ins Haus und rauf in mein Zimmer.

Savannah

Ich überlegte, ob ich meiner Familie von der Algebrastunde heute erzählen sollte. Allerdings waren sie schon gestresst genug wegen mir. Wenn ich etwas sagen würde, müsste mein Vater dem Vampirrat davon berichten. Der Clann und der Rat hielten mich sowieso schon für eine tickende Zeitbombe. Was würden sie machen, wenn sie erfuhren, dass ich mich schon veränderte? Würden sie mich von der Schule nehmen? Würden sie mich von Nanna und Mom und meinen Freundinnen wegholen?

Deshalb beschloss ich auf dem Heimweg nach dem Tanzunterricht, dass ich noch einen Tag abwarten und sehen wollte, was geschah. Wenn ich danach das Gefühl hatte, dass ich wirklich nicht zurechtkam, würde ich um Hilfe bitten.

„Hallo, Schatz, wie war’s heute in der Schule?“, rief Mom von ihrem Sofabüro aus, als Nanna und ich reinkamen. Sie wirkte besorgt, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, und ihr Handy blieb ausnahmsweise stumm. Hatte sie darauf gewartet, dass ich nach Hause kam und Bericht erstattete?

„Ganz gut. Aber jetzt muss ich echt duschen. Ballett und Jazzdance waren …“ Geil. Großartig. Klasse. „Total anstrengend.“ Ich ging direkt ins Badezimmer, damit sie mein Gesicht nicht sahen, während ich log. „Was gibt’s zum Abendessen?“

Ich hätte wissen müssen, dass ich sie nicht so leicht loswurde.

Mom kam ins Bad, als ich gerade Shampoo auftrug. Na toll, jetzt saß ich mindestens ein paar Minuten lang fest. Und wie ich meine Mutter kannte, hatte sie das extra so abgepasst.

„Hattest du heute irgendwelche … Probleme?“ Sie versuchte, beiläufig zu klingen, aber es gelang ihr nicht.

Mir schnürte sich die Kehle zu. Ein Teil von mir hätte gern aufgegeben und ihr alles erzählt.

Ich schob die Milchglastür ein Stück auf und spähte hinaus. Auf ihrer Stirn zeichneten sich Sorgenfalten ab. Ich schloss die Tür wieder und rubbelte meine Haare schneller. „War alles in Ordnung. Aber das Tanzen war heute … anders. Ich tanze jetzt viel besser.“

Schweigen.

Schließlich fragte sie: „Was heißt ‚viel‘?“

„Na ja, beim Spagat bin ich zum Beispiel endlich ganz runtergekommen. Und ich konnte die Beine werfen und mich drehen und springen, ohne wie sonst irgendwen umzuhauen.“

Sie lachte. „Das klingt doch gut. Sonst noch was?“

Abgesehen davon, dass ich einen neuen erschreckenden Fanklub hatte und meine Freundinnen es nicht ertragen konnten, wenn ich ihnen in die Augen sah? „Nö.“

„In Ordnung. Dann helfe ich mal deiner Großmutter mit dem Abendessen. Freut mich, dass du einen schönen Tag hattest.“

„Danke, Mom. Ich komme gleich.“ Mein Magen, der sowieso rumorte und völlig übersäuert war, verkrampfte sich bei dem Gedanken an das Essen. Lügen könnten bei mir wirklich diätfördernd wirken, wenn sie mich nicht vorher umbrachten.

Als sie ging und die Tür hinter sich schloss, konnte ich endlich wieder frei atmen.

Jetzt musste ich nur noch beten, dass sich morgen alle Sorgen als unbegründet erweisen würden.

Tristan

Vor der Tür seines Arbeitszimmers holte ich tief Luft. Dann klopfte ich.

„Herein“, rief Dad mit dröhnender Stimme.

Zu meiner Überraschung war Emily schon da. Sie umarmte ihn gerade.

„Danke fürs Zuhören, Dad“, sagte sie, während sie zu mir rüberkam.

„Jederzeit, Prinzessin.“ Sein breites Lächeln war unter seinem üppigen grauen Bart kaum zu erkennen.

Was? Ich suchte in Emilys Gesicht nach einem Zeichen dafür, warum sie da war. Sie besuchte Dad nie in seinem Arbeitszimmer, sondern unterhielt sich mit ihm lieber beim Abendessen oder beim Golfspielen.

Verstohlen streckte sie beide Daumen nach oben, bevor sie an mir vorbei hinausging. Sie hatte irgendwas ausgeheckt. Ich konnte nur darauf vertrauen, dass es mir helfen würde.

„Hallo, mein Sohn. Komm rein und setz dich.“ Er klang ernst. Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden.

Gespielt gelassen setzte ich mich in einen der beiden Ledersessel vor seinem wuchtigen Eichenschreibtisch.

„Du trägst ja Sportsachen.“ Er lockerte seine Krawatte und setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

Ich warf einen Blick auf den Kapuzenpulli und die Jogginghose, die ich angezogen hatte. „Ja, zum Training.“

„Hm. Ja. Apropos, gut, dass du hier bist. Ich habe gehört, dass du heute in der Schule Schwierigkeiten hattest.“

Fast hätte ich unwillkürlich die Fäuste geballt. Was hatte Emily ihm erzählt? „Ja, ein bisschen.“

„Emily hat auch gesagt, du hättest sie um Hilfe gebeten.“

Sie hatte doch nicht über unser Gespräch im Auto gepetzt, oder?

„Verstehe.“ Er hatte also mein Schweigen als Antwort missverstanden. „Haben deine Erdungsübungen nicht geholfen?“

Ach, Emily hatte ihm also stattdessen von meinen Energiespitzen erzählt. „Na ja, irgendwie schon. Sie hat mir erklärt, wie ich einen Baum bei der Schule zum Erden nutzen kann. Und es hat funktioniert.“

„Hm-hm. Aber es klingt so, als hättest du immer noch überschüssige Energie, oder?“ Er trank einen Schluck, nahm einen Brief, der auf dem Schreibtisch lag, in die Hand und las ihn stumm.

Er beachtete mich schon fast nicht mehr. „Deswegen wollte ich eigentlich mit dir reden. Manchmal habe ich zu viel Energie, sogar nach dem Erden. Und heute habe ich überlegt, dass sie sich vielleicht aufstaut, weil ich sie nicht nutze.“

Er musterte mich scharf mit seinen grünen Augen. Dann ließ er den Brief fallen und stellte sein Glas auf die Schreibtischunterlage. Der dumpfe Knall hallte durch das stille Zimmer. „Sprich weiter.“

Hatte ich es schon versaut? „Deshalb habe ich gedacht … vielleicht sollte ich mich langsam richtig auf meine Ausbildung konzentrieren. Emily hat gesagt, dass die Kräfte nicht verschwinden, wenn man sie ignoriert. Aber wenn ich lernen könnte, wie man sie einsetzt …“

„Moment mal.“

Mist, ich hatte es wirklich versaut. Ich hielt den Atem an.

Er stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum. „Heißt das, nachdem du monatelang nicht üben wolltest, bist du jetzt endlich bereit, dich reinzuknien und zu lernen?“

Ich räusperte mich, wartete einen Moment und nickte.

Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Dann schlug er mir mit seiner riesigen Pranke auf die Schulter. „Na prima, dann fangen wir an! Richtig angezogen bist du schon. Das ist gut. Hast du etwas gegessen? Wenn du dich heute in der Schule geerdet hast, musst du deinen Körper stärken und Energie auftanken.“

Ich lächelte erleichtert und stand auf. „Ja, Dad. Ich habe gerade ein paar Sandwiches gegessen und Milch getrunken.“

„Gut, gut, gut. Dann gehen wir jetzt in den Garten und legen los. Auf uns wartet eine Menge Arbeit.“

Ich musterte das Hemd und die Stoffhose, die er noch trug. „Willst du dich nicht erst umziehen?“

„Warum sollten wir Zeit verschwenden? Ich habe tausend Anzüge.“

Als wir den Garten, von dem im Dämmerlicht nicht mehr viel zu sehen war, durch die Terrassentür betraten, setzte ich noch einen drauf. „He, Dad, können wir vielleicht mit Selbstverteidigung anfangen?“

„Probleme in der Schule?“

Ich rang mir ein Lachen ab. „Ach, nichts, was ein anständiger rechter Haken nicht regeln könnte. Aber du kennst doch Mom. Sie will ja unbedingt, dass ich aufs College gehe.“

Er kicherte. „Ich verstehe schon. Dieses Mal willst du es geschickter angehen, richtig?“

„Genau.“

„Ja, natürlich können wir mit Selbstverteidigung anfangen. Aber wenn du dich irgendwann auf einen richtigen Kampf vorbereitest …“

„Dann erfährst du es als Erster, Dad, versprochen.“

„Na gut. Setz dich da vorn auf den Rasen, ich nehme mir einen Stuhl.“ Er holte einen Korbsessel von der Terrasse, stellte ihn auf den Rasen und setzte sich. „Für den Boden werde ich langsam zu alt“, brummte er.

Wie ein Kind setzte ich mich im Schneidersitz vor ihn hin, wie er es mir für das Erden beigebracht hatte. Es wirkte albern. Ich kam mir vor, als würde ich auf die Märchenstunde im Kindergarten warten.

„Also gut, erst mal zu den Grundlagen beim Zaubern. Am Anfang benutzt jeder Hexer ein bestimmtes Wort und eine kleine Geste. Das stärkt die Konzentration und hilft, wenn man den Zauber wirkt, bis man gelernt hat, seinen Geist zu beherrschen. Wenn du so weit bist, bringe ich dir bei, wie man sogar gefesselt und mit zugeklebtem Mund Magie wirkt, indem man das Wort nur denkt und seinen Willen benutzt. Irgendwann lernst du, ohne ein einziges Wort zu zaubern. Dann denkst du nur noch an das Ergebnis, das du erreichen willst. So wie wenn du Feuer erschaffst oder deine Energie ableitest.“

Ich verabscheute Magie, aber ich musste zugeben, dass es cool wäre, allein durch meine Gedanken zaubern zu können.

Er fuhr fort: „Das Wichtigste ist, dass du schnell reagieren kannst, wenn du angegriffen wirst. Deshalb fangen wir mit dem Wort und der Geste für einen Abwehrzauber an. Aber vergiss nicht, dass die Zauber nur wirken, wenn du es wirklich willst. Und, traust du dir das zu?“

„Ja.“

„Gut. Dann steh auf.“

Ich gehorchte.

„Greif mich an.“

„Was?“

„Mach schon. Komm auf mich zu, als würdest du mich umwerfen wollen.“

Ich ging langsam zwei Schritte auf ihn zu. Und fand mich zehn Meter entfernt und in die andere Richtung gewandt wieder, während mir tausend schmerzhafte Stiche über Hals und Arme liefen.

Ich fluchte leise, schüttelte den Kopf und rieb mir über die Haut, um das Gefühl loszuwerden. Fühlten sich die anderen Nachfahren immer so, wenn ein Coleman in ihrer Nähe Magie benutzte? Kein Wunder, dass sie sauer wurden, wenn ich in der Schule Energiespitzen losließ.

„Hast du gesehen, wie es funktioniert?“, fragte er, als ich zu ihm ging. „Es entfernt dich etwas und dreht dich weg. Das ist bei unübersichtlichen Kämpfen wirklich praktisch, weil es deinen Angreifer verwirren kann und dir die Gelegenheit gibt abzuhauen.“

Ich nickte und passte genau auf, als er mir das Zauberwort und die Geste beibrachte. Aber als ich es selbst probierte, passierte nichts.

„Du musst es wirklich wollen, mein Sohn. Dein Wille ist der Schlüssel. Versuch es noch mal. Dieses Mal greife ich dich an.“

Er kam auf mich zu. Ich sprach das Wort aus und bewegte die Hand. Nichts.

Er funkelte mich an. „Tristan Glenn Coleman. Das kannst du aber besser. Wenn du dich nicht anstrengst, versohle ich dir den Hintern, Junge!“ Er rannte auf mich zu. Obwohl er einen ansehnlichen Bauch hatte, kam er mit seinen langen Beinen schnell näher. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er sich so schnell bewegen konnte.

Ich bekam Angst. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, dem eine ordentliche Tracht Prügel drohte. Ich flüsterte den Zauber. Plötzlich stand mein Vater am Ende des Gartens und schaute in die andere Richtung.

„Sehr gut! Du hast es geschafft!“ Strahlend kam er herüber. „Ich wusste doch, dass ich dich nur richtig motivieren muss.“

Er hatte das gar nicht ernst gemeint? „Jedenfalls hat es gewirkt.“ Sogar für mich klang mein Lachen unsicher.

Die Außenbeleuchtung ging an, überflutete den Garten mit Licht und erinnerte mich daran, dass mir die Zeit davonlief.

„Okay, was jetzt?“, fragte ich.

„He, langsam, Tristan. Willst du das nicht ein paarmal üben?“

Ich konzentrierte mich auf die Energie in mir. Mit geschlossenen Augen flüsterte ich im Geist das Wort, mit dem ich auf sie zugreifen konnte. Als ich die Augen öffnete, starrte ich Dad an und stellte mir vor, ich würde die Geste ausführen. Plötzlich stand er am anderen Ende des Gartens.

Kopfschüttelnd kam er zurück. Seine Augen, genauso grün wie meine, aber von Fältchen umrahmt, waren unter den dicken Augenbrauen weit aufgerissen. „Nicht schlecht, mein Sohn. Du hast nicht einmal das Wort oder die Geste gebraucht.“

„Doch, aber nur in Gedanken.“

„Beeindruckend. Normalerweise lehren wir so etwas erst im vierten oder fünften Trainingsjahr. Aber wenn du Zauber stumm aussprechen kannst, musst du besonders vorsichtig sein, wenn du nur überlegst, ihn zu benutzen. Deinen Willen musst du davon getrennt halten. Sonst wirkst du Zauber, sobald du nur an sie denkst. Deshalb fangen wir normalerweise mit der Kombination aus Wort und Geste an. Sie gibt dir größere Kontrolle.“

„Verstehe.“

Er schüttelte noch einmal den Kopf, bevor er lächelte. „Ich hätte mir denken können, dass mein Sohn bei diesen Dingen weiter ist als andere.“

„Natürlich. Immerhin bin ich ein Coleman, oder?“

„Genau.“

Ich erwiderte sein Lächeln, auch wenn es mir mit meinem schlechten Gewissen nicht leichtfiel. Er war so stolz auf mich und freute sich so, dass ich mich endlich auf mein Training konzentrieren wollte. Dabei hatte ich in Wirklichkeit immer noch null Interesse daran, irgendwann den Clann zu führen, wie er es wollte. Ich brauchte nur ein, zwei Zauber, um Savannah zu helfen. Danach könnte ich wieder versuchen, normal zu sein.

„Äh, Dad? Können wir …“

„Schon gut, schon gut. Zurück an die Arbeit. Hm, welche Abwehrzauber könnten noch helfen?“

Mir fiel Emilys Ratschlag ein. „Wie wäre es mit einem Verwirrzauber? Du weißt schon, damit ich jemanden dazu bringen kann, etwas in Ruhe zu lassen.“

„Ach ja. Emily hält sich damit gern lästige Typen vom Hals.“

„Wie lange würde so ein Zauber anhalten?“

„Wenn deine Schwester ihn wirkt, höchstens ein paar Tage. Sie ist zu weichherzig, um jemanden länger von sich fernzuhalten. Wenn er von mir käme …“ Seine Miene verfinsterte sich. „Ein paar Monate. Vielleicht Jahre.“

„Und von mir?“

„Suchst du schon nach einem Geburtstagsgeschenk für deine Schwester?“

Ich stimmte in sein Lachen ein. „Ja, so ähnlich.“

„Na ja, wie gesagt, es würde darauf ankommen, wie oft der Junge zu ihr will. Und wie stark dein Wille ist, ihn von ihr fernzuhalten. Ich schätze mal, bei Emilys üblichen Typen würde ein Zauber von dir einen Monat lang halten.“

Die unheimlichen drei hatten heute so gewirkt, als wären sie geradezu besessen von Savannah. Sie würden einen Zauber schneller erschöpfen als Emilys normale Fans. Andererseits … ich wollte wirklich sehr, dass sie Savannah in Ruhe ließen. Bestimmt schaffte ich es, dass die Zauber mindestens ein paar Monate hielten. Bis dahin hatten sie sich vielleicht ein neues Ziel gesucht.

„Also gut, was muss ich tun?“

Er grinste mich an. „Du kennst doch deine Schwester. Sie kann es nicht leiden, wenn sie das Gefühl hat, sie könnte ihre Probleme nicht allein lösen. Am besten sollte sie gar nicht wissen, was du machst.“

„Also müsste ich rausfinden, wer die Typen sind, ohne sie zu fragen, und etwas verzaubern, das sie bei sich tragen kann, ohne es zu wissen?“

„Genau!“

Der letzte Teil könnte schwierig werden. Was könnte ich Savannah geben, das sie immer bei sich tragen würde, ohne etwas zu vermuten? Alles, was ich ihr geben könnte, würde sie misstrauisch machen.

Es sei denn, sie wüsste nichts davon. Emily hatte gesagt, ich sollte einen kleinen Talisman in Savannahs Rucksack legen. Vielleicht könnte ich etwas reinschmuggeln, ohne dass sie es merkte.

„Okay, was muss ich noch machen?“

Er brachte mir bei, was ich sagen und wie ich mit einem Finger auf den Gegenstand klopfen musste, um ihn mit dem Verwirrzauber zu belegen. „Mit jedem Klopfen musst du deinen Willen in den Gegenstand pressen. Und jede Berührung sollte das Gedächtnis ein Mal blockieren.“

„Sollte?“

Ein bisschen verlegen zuckte er mit den Schultern. „Na ja, ich konnte deine Schwester oder deine Mutter nie fragen, wie oft bestimmte Bekannte auf sie zugehen wollten, bevor sie am Ende verwirrt abgezogen sind.“

Aha. Also hatte er selbst ein paar kleine Schutzzauber gewirkt. Mom und Emily würden ausrasten, wenn sie das herausbekamen. Ich grinste. „Schon verstanden.“

„Also gut, versuchen wir es. Ich wende mich ab, und du verzauberst einen der Gartenstühle. Danach gehe ich auf jeden zu. Wenn ich an einer Stelle durcheinander bin, wissen wir, dass es funktioniert hat.“

„Klingt gut.“

Wir übten, bis wir sicher waren, dass ich den Zauber beherrschte. Dann musste er für den Abend Schluss machen. „Tut mir leid, mein Sohn, aber ich bin erschöpft, und morgen muss ich früh zu einer Vorstandssitzung.“

„Kein Problem, Dad. Kann ich noch hier draußen bleiben und weiterüben?“ Ich hielt den Atem an. Sicher würde er sagen, dass ich den Clann-Regeln zufolge nicht allein zaubern dürfte.

Stattdessen nickte er und ging Richtung Terrassentür. Dann zögerte er und wandte sich um. „Weißt du, was? Heute bin ich wirklich stolz auf dich. Es kommt mir vor, als könnte ich meinem kleinen Jungen richtig dabei zusehen, wie er erwachsen wird.“

Plötzlich schnürte sich mir die Kehle zu. Mit Mühe nickte ich.

„Lass uns morgen Abend weiterüben“, schlug er grinsend vor.

Bevor ich darüber nachdenken konnte, hatte ich unwillkürlich genickt. Er grinste immer noch, als er ins Haus ging.

Na toll. Wahrscheinlich dachte er jetzt, ich hätte meine Meinung geändert und wollte Anführer des Clanns werden. Falls ja, musste ich mir überlegen, wie ich ihm schonend das Gegenteil beibringen konnte. Aber später. Jetzt musste ich erst mal ein paar anständige Verwirrzauber hinkriegen.

KAPITEL 5

Tristan

ch lief in mein Zimmer hinauf und sah mich um. Was konnte ich mit den Zaubern aufladen? Kulis? Bleistifte? Büroklammern? Nein, solche Sachen verlieh Savannah ständig in Algebra. Vielleicht hatte Emily etwas, das ich benutzen konnte.

Plötzlich stellte ich mir vor, wie meine Schwester mir, nur um mich zu ärgern, Tampons gab, und ich schauderte. Nein, Emily sollte ich lieber nicht fragen. Ich sah auf die Uhr neben meinem Bett. Vier Minuten vor neun. Noch nicht zu spät, um sich per Telefon ein paar Insider-Informationen zu beschaffen. Ich schnappte mir ein Telefonbuch und mein schnurloses Telefon.

„Guten Abend. Könnte ich bitte mit Anne sprechen?“, fragte ich, als sich eine Frau meldete.

„Wer ist denn da?“ Das war wahrscheinlich Annes Mutter, die bei Dads Firma Coleman BioMed in der Buchhaltung arbeitete. Nicht gut. Wenn sie ihren Kolleginnen erzählte, dass ich Savannahs beste Freundin zu Hause anrief …

Ich überlegte schnell und antwortete: „Artus.“

„Artus, es ist schon ziemlich spät für einen Anruf.“

Um drei vor neun? Jetzt wusste ich, wie Anne zu ihrer Persönlichkeit kam. „Ich weiß. Tut mir leid, dass ich mich so spät melde, aber es ist ein Mathenotfall.“ Das war sogar fast wahr.

„Einen Moment.“

Im Hintergrund wurde getuschelt. Dann meldete sich Anne. „Ach, hallo, Artus. Kommst du mit diesem hässlichen kleinen Problem von heute Mittag nicht zurecht?“ Ihre Stimme troff vor Schadenfreude.

Ich verdrehte die Augen. „Ja, genau. Ich muss wissen, was S… – was deine Freundin normalerweise in ihrem Rucksack hat.“ In letzter Sekunde schluckte ich Savannahs Namen herunter. Wie ich meine Eltern kannte, hatten sie mein Zimmer mit einem Zauber belegt, der sie warnte, wenn ich ihren Namen je wieder in den Mund nahm.

„Was nicht? Sie räumt ja nie auf. Weder ihren Rucksack noch ihren Spind, nicht mal ihr Zimmer. Wenn ich bei ihr übernachte, muss ich erst mal aufräumen, damit ich in dem Zimmer wenigstens Luft bekomme. Das macht mich wahnsinnig.“

Ich malte mir die schlafende Savannah inmitten von herumfliegender Spitzenunterwäsche und BHs aus. Es verschlug mir fast den Atem. „Ich will dich ja nicht beim Schimpfen unterbrechen, aber ich könnte deine Hilfe brauchen.“

„Ha! War doch klar, dass du es nicht allein schaffst.“ Sie seufzte. „Na schön, was willst du?“

„Ich muss morgen Mittag an ihren Rucksack ran. Oder noch besser: Du übernimmst die Lieferung.“

„Wovon denn?“

„Keine Angst, ich würde dir nichts geben, das dir oder ihr Probleme macht. Es müsste nur so lange wie möglich in ihrem Rucksack bleiben, mindestens ein paar Monate lang.“

Schweigen am anderen Ende.

„Anne? Bist du noch da?“

Nach kurzem Zögern wurde bei ihr eine Tür geschlossen, bevor sie flüsterte: „Diese Dinger für ihren Rucksack … sind das … ist das so ein Clann-Ding?“

Jetzt zögerte ich überrascht. Was hatte Anne über die Nachfahren gehört? „Was meinst du mit ‚Clann-Ding‘?“

„Du weißt schon, Hexerei. Etwas, bei dem meine Eltern ausflippen würden. Sie gehören der Pfingstkirche an.“

Anne hatte „sie“ gesagt, nicht „wir“. Offenbar hielt sie von den religiösen Ansichten ihrer Eltern genauso viel wie ich von den Plänen meiner Eltern über meine Zukunft.

Ich war nicht sicher, ob es gut oder einfach nur beunruhigend war, dass Anne und ich etwas gemein hatten.

„Sei mir nicht böse, aber ich darf über den Clann nicht reden.“ Das war ehrlich und verletzte trotzdem nicht die Regeln. Nachfahren durften mit Außenstehenden nicht über ihre Fähigkeiten reden, ausgenommen ihre Ehepartner. Und sogar Eingeheiratete wurden mit einem Zauber daran gehindert, etwas über den Clann weiterzuerzählen. Wenn es darum ging, die Clann-Geheimnisse zu schützen, waren die Ältesten nicht zimperlich.

Anne seufzte in den Hörer. „Schön. Sag mir einfach … wird es Savannah wirklich helfen?“

„Ja, wird es.“

„Dann mache ich es. Nimm nur nichts aus Schokolade, sonst isst sie es auf. Das ist für sie wie Kryptonit.“

Unwillkürlich musste ich lachen. „Das merke ich mir.“ Als ich mich in meinem Zimmer umsah und überlegte, was ich nehmen konnte, machte sich wieder Frust breit.

Dann fand ich etwas … eine Schachtel mit kleinen beschrifteten Zuckerherzen. Savannah hatte sie mir am Valentinstag in der vierten Klasse geschenkt. An dem Tag, an dem wir Hochzeit gespielt und uns geküsst hatten. Ihr Name stand nicht auf der Schachtel, deshalb hatte mich meine Mutter nicht gezwungen, sie wegzuwerfen.

„Wie sieht es bei ihr mit uralten Herzchenbonbons aus?“

„Ach, die kann sie nicht leiden. Dabei muss sie wohl immer an einen gewissen Verräter denken.“

Ich starrte an die Decke. Sollte ich mich freuen, dass Savannah noch über mich sprach, oder mich ärgern, weil sie immer noch sauer war?

„Gib sie mir nicht in einer Schachtel, die würde sie wegwerfen“, fügte Anne sanfter hinzu. „Aber wenn sie lose unten in ihrem Rucksack rumfliegen, ignoriert Savannah sie.“

„Okay. Wann soll ich sie dir geben?“

„Am besten, bevor die Schule anfängt. Das bekommt sie nicht mit, weil sie immer spät dran ist.“

„In Ordnung. Dann bis morgen. Ach, und Anne?“

„Ja?“

„Danke.“

„Bilde dir nur nichts ein, Artus. Das mache ich für Savannah.“ Ich konnte fast hören, wie sie die Augen verdrehte. Was für eine Nervensäge. Trotzdem verstand ich langsam, warum Savannah mit ihr befreundet war. Die meisten würden es sich zwei Mal überlegen, gegen die religiösen Vorstellungen ihrer Familie zu verstoßen, auch wenn sie damit einer Freundin helfen konnten.

Ich grinste. „Ja, ja, als könnte ich das vergessen.“

Ohne sich zu verabschieden, beendete sie das Gespräch. Ich schüttelte den Kopf, während ich das Telefon ausschaltete, sprang auf und schnappte mir die Schachtel mit den Herzchen. Zum ersten Mal seit Tagen hatte ich ein gutes Gefühl. Das könnte wirklich klappen.

Als ich wieder draußen war, setzte ich mich vor der Terrasse in das feuchte Gras und ließ drei Herzen aus der Schachtel purzeln. Nach kurzem Nachdenken fügte ich ein viertes hinzu, für den Fußballspieler mit romantischen Anwandlungen.

Mit einem Finger auf dem ersten Herz dachte ich an einen der unheimlichen Typen und flüsterte im Geist das Zauberwort. Während ich auf das Bonbon tippte, stellte ich mir bildlich vor, wie ich es mit einem Energiestoß auflud. Wie oft würden diese Typen mit Savannah reden wollen? Zwanzig Mal? Fünfzig Mal? Ich überlegte, wie oft ich selbst sie an einem Tag gern angesprochen hätte. Am besten tippte ich jedes Herzchen mindestens hundert Mal an. Ich konnte später immer noch mehr Talismane herstellen, falls sie sich zu schnell abnutzen sollten.

Ich arbeitete mich durch die Herzchenreihe. Den Fußballspinner hob ich mir bis zuletzt auf. Mit jedem Tippen verlor sich meine gereizte Stimmung ein bisschen mehr. Nachdem ich alle vier Bonbons verzaubert hatte, wollte ich die Reihe noch einmal durchgehen, falls Savannahs seltsame Anziehungskraft auf diese Typen auch nur halb so stark wirkte wie auf mich. Aber nach der ersten Runde war ich schon richtig entspannt. Ich wollte mich auf dem Gras ausstrecken. Der Rasen war nass und kalt, aber das machte mir nichts aus. Das hier war wichtiger.

Als ich zum zweiten Mal mit dem Verwirrzauber für Stanwick anfangen wollte, begann ich zu träumen.

Savannah sah aus wie eine Göttin. Ihr offenes Haar wehte im Wind, genau wie ihr langes weißes Nachthemd. Sie betrachtete den Sonnenuntergang, unter ihren nackten Füßen glitzerte dunkler Asphalt. Wir standen auf einem Flachdach, das einen Blick über ganz Jacksonville bot.

Hinter ihr drängten sich Jungs zusammen, die ich aus der Schule kannte. Aufgeregt und mit wirren Blicken starrten sie Savannah an, als wollten sie sich jeden Moment auf sie stürzen. Wie ein Rudel Schakale, die nach ihren Fersen schnappten. Was hielt sie zurück?

Ich würde das tun.

Zahlenmäßig waren sie überlegen, aber ich musste es trotzdem versuchen. Wenn ich Savannah bei einem Angriff nah genug war, könnte ich uns vielleicht beide mit einem Abwehrzauber schützen. Falls das nicht funktionierte, müsste ich die größte Wucht des Angriffs abfangen und den Zauber auf sie konzentrieren, solange ich konnte.

Im Traum flüsterte eine Stimme, ihre Stimme, nur rauchiger, aufreizender. Savannahs Stimme als düstere Verführerin. Aber ihre Lippen bewegten sich nicht. „Sieh sie dir an, Savannah. Gib ihnen, wonach sie sich sehnen, und sie stillen deinen Durst.“

Die Worte ergaben keinen Sinn.

Savannah schien sie allerdings zu verstehen. Tränenüberströmt schüttelte sie den Kopf und flüsterte: „Nein. Ich werde sie nicht ansehen. Das ist nicht richtig.“

„Sieh sie an!“, kreischte die Stimme, und Savannah hob beide Hände an das goldene Medaillon, das sie immer um den Hals trug.

„Nein, Sav, tu das nicht.“ Ich wollte zu ihr gehen, aber eine heiße, unsichtbare Barriere, wie erhitztes Glas, hielt mich zurück. Ich stemmte die Hände dagegen, damit sie nachgab und mich durchließ. „Savannah, hör mir zu. Sieh sie nicht an.“

Die Jungen bleckten knurrend die Zähne, sie verloren allmählich die Geduld und rempelten sich gegenseitig an. Wie eine einzige brodelnde Masse kamen sie langsam näher.

„Savannah“, rief ich. Aber sie konnte mich nicht hören.

Fluchend schlug ich gegen die Barriere zwischen uns. Die Hitze verbrannte mir die Knöchel.

Sie ging an den Rand des Daches und sah hinunter.

Mich packte die nackte Panik. „Savannah, nicht! Warte auf mich.“ Immer wieder hämmerte ich gegen die unsichtbare Wand, mit meinen Fäusten, meinem Willen und meiner Macht, ich warf mich sogar mit der Schulter dagegen. Meiner Kehle entstieg ein unheimliches Knurren.

„Du wirst der Versuchung nachgeben“, flüsterte die böse Stimme siegessicher. „Du brauchst sie. Du brauchst ihre Kraft.“

„Nein. Niemals“, versprach Savannah mit tonloser, erstickter Stimme.

Und dann sprang sie hinunter.

„Nein!“ Mein Brüllen verschlang mich, bis ich dachte, es würde nie wieder aufhören. Ich wurde fast verrückt. Ich spürte richtig, wie ich fast den Verstand verlor, aber es war mir egal. Mir war alles egal außer den Schmerzen, die in Wellen über mich hereinbrachen und mich in die Knie zwangen.

Ich brauchte sie. Sie musste leben, auch wenn wir nicht mehr zusammen sein konnten.

Ich schrie immer noch meinen Schmerz heraus, als ich am nächsten Morgen verfroren und zerschlagen auf dem nassen Rasen aufwachte.

Minutenlang saß ich da, biss die Zähne zusammen, um nicht laut zu schreien, und atmete schnell und heftig durch die Nase. Ich spürte ein Brennen in der Brust. Meine Fäuste brannten. Das taufeuchte Gras verschaffte meinen Händen Linderung und kühlte die Flammen auf meiner Haut.

Nur ein Traum. Aber er hat sich viel zu echt angefühlt, genauso realistisch wie damals in der vierten Klasse, wenn ich von ihr geträumt habe.

Ich hielt meine Hände in der Morgendämmerung hoch und starrte sie an. Sie waren nicht einmal gerötet. Dabei waren mir die Schmerzen so echt vorgekommen.

Seufzend trocknete ich sie an meiner Jogginghose und sammelte die verzauberten Bonbons ein. Jetzt musste ich mich wieder der Wirklichkeit stellen und mich für die Schule fertig machen.

Aber die Erinnerung an diesen Traum wurde ich nicht los. Die schreckliche Angst und die Schmerzen begleiteten mich den ganzen Tag lang. Vor dem Unterricht brachte ich kaum mehr als „Hier“ und „Danke“ heraus, als ich Anne vor dem Hauptgebäude die Schutzamulette in die Hand drückte. Ich konnte mir nicht mal auf dem Flur oder in den ersten Kursen ein falsches Lächeln abringen, vom Reden ganz zu schweigen.

Mittags konnte ich nichts essen, erst recht nicht, nachdem ich Savannah in der Cafeteria mit ihren Freundinnen gesehen hatte. Heute trug sie ihr Haar ausnahmsweise offen. Die Spitzen sahen nass aus, vielleicht hatte sie nach dem Tanzen geduscht. Ihre langen roten Strähnen, die sie bei jeder Bewegung umspielten, erinnerten mich zu sehr an den Traum. Nach dem Sprung vom Dach hatte ihr Haar wie ein Schwall Blut ausgesehen.

„Bis später“, brummelte ich meiner Schwester zu und verzog mich. Zum ersten Mal seit Monaten war ich erschöpft. Obwohl ich mich ganz sicher nicht erden musste, trugen mich meine Füße zu demselben Baum wie gestern.

Ich lehnte mich gegen den Stamm. Die raue Rinde fühlte sich durch meine Kleidung hindurch kratzig an, sie erinnerte mich daran, dass ich wach war, in der Wirklichkeit. Ich legte den Kopf zurück, sah zu den Ästen hinauf und beobachtete das Spiel von Licht und Schatten über mir, wenn der Wind flüsternd durch die Blätter fuhr. Er flüsterte wie die böse Stimme, die Savannah letzte Nacht im Traum dazu getrieben hatte, vom Dach zu springen.

Ich schloss die Augen und schluckte den Kloß in meiner Kehle hinunter. Wieder sah ich sie in dem Traum, wie sie aufgab und sich hinunterstürzte. Ich sah sie immer wieder fallen. Ich hätte abstumpfen müssen, weil sich die Bilder so oft wiederholten, aber die Schmerzen wurden immer stärker, bis ich am liebsten geschrien hätte.

Das ertrug ich nicht mehr. Ich musste es in Ordnung bringen.

Dafür gab es nur eine Lösung, nur eine Möglichkeit, nicht wahnsinnig zu werden. Ich durfte nicht in ihre Nähe kommen. Ich würde sie beim Mittagessen nicht mehr ansehen. Ich würde sie in Algebra nicht anstarren und nicht reagieren, wenn sie auf dem Flur lachte. Diese verrückten Gefühle, die sie in mir auslöste, waren einfach zu viel. Ab und zu musste ich nach ihr sehen, um sicher zu sein, dass die Talismane sie noch schützten. Aber diese Gefühle durfte ich nicht mehr zulassen.

„Sie ist doch nur ein Mädchen“, sagte ich leise zu den Blättern, zu den Wolken, zu niemandem. „Ein Mädchen. Mehr nicht.“

Savannah

Den ganzen Vormittag über war ich angespannt und rechnete damit, dass ich wieder mit den Jungs aus dem Algebrakurs zusammenstoßen würde. Heute hatte ich zwar keinen Matheunterricht, aber irgendwann würde ich ihnen über den Weg laufen. Ich dachte, ich hätte vor der ersten Stunde einen von ihnen auf dem Flur gesehen. Er hatte mich angesehen und war ein paar Schritte näher gekommen. Dann hatte er die Stirn gerunzelt und war in die entgegengesetzte Richtung abgezogen.

In der Mittagspause war es noch schlimmer.

„Ist alles in Ordnung?“ Anne hatte sich herübergebeugt und flüsterte mir zu, während Michelle und Carrie zusammen Hausaufgaben machten.

„Klar. Wieso?“ Ich versuchte zu lächeln.

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Du hast nichts gegessen. Und du bist noch blasser als sonst. Was heißt, dass du heute kreidebleich bist.“

Das falsche Lächeln schenkte ich mir. „Ich bin nur ein bisschen … nervös.“

„Machst du dir Sorgen wegen den Warzengesichtern?“

Warzengesichter? Offensichtlich verwirrt sah ich sie an.

„Du weißt schon, wegen dieser Kröten aus Algebra. Den Spinnern, die dich vor dem Unterricht genervt haben.“

„Ach so. Ja. Glaubst du, sie sind heute wieder so … komisch?“

„Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden: Nach dem Essen gehen wir direkt an ihnen vorbei und sehen mal, wie sie reagieren.“

Mein Magen krampfte sich zusammen. „Vielleicht sollte ich erst mal lieber nicht in ihre Nähe kommen.“

„Warum nicht?“

Ich zögerte. Ich konnte ihr nicht die Wahrheit sagen, zumindest nicht die ganze Wahrheit. Aber solange ich alles für mich behielt, fühlte ich mich an der Schule schrecklich einsam. Gab es nichts, was ich ihr sagen konnte, ohne gegen die Regeln zu verstoßen?

Ich beschloss, das Risiko einzugehen. „Versprich mir, dass du nicht laut lachst.“

Sie nickte.

„Ich glaube, es lag daran, dass … dass ich sie gestern nach dem Mittagessen angesehen habe.“

„Du glaubst, mit einem Blick in die Augen hättest du was mit ihnen gemacht? Sie hypnotisiert oder so was?“

„Na ja … ja.“

Sie kicherte. „Ist klar. Ich mache das auch ständig. Alle Mädchen machen das. Ein Blick in ihre Augen, und schon sind die Jungs wie weggetreten.“

Verärgert vergaß ich, dass ich sie nicht direkt ansehen durfte, und warf ihr einen bösen Blick zu.

Nach einem kurzen Moment schauderte sie und sah weg. „Hm. Na gut, vielleicht hast du recht.“

Ich wusste nicht, ob ich mich über den Sieg freuen sollte oder ob mir übel wurde. Irgendwie hatte ich wirklich gehofft, ich hätte mich gestern getäuscht, und meine Freundinnen würden heute normal reagieren, wenn ich sie ansah. Aber das taten sie nicht. Sie waren immer noch völlig daneben.

Anne räusperte sich. „Hat noch jemand so seltsam reagiert, nachdem du Blickkontakt mit ihm hattest?“

„Abgesehen von euch, meinst du?“ Ich deutete in die Runde. Carrie sah kurz von ihrem Biologiebuch auf, mit dem sie Michelle Nachhilfe gab, und vertiefte sich wieder ins Lernen.

Anne nickte.

Ich überlegte, aber ich konnte mich nicht erinnern, wie oft ich nach meiner Krankheit letzte Woche jemandem in die Augen gesehen hatte. „Keine Ahnung. Greg Stanwick vielleicht? Ich weiß es nicht mehr.“

Es klingelte zum Pausenende. Ich schlurfte hinter den anderen her zu den Abfalleimern, leerte träge mein Tablett und stellte es auf den Stapel neben der Durchreiche zum Geschirrspüler.

„Wir könnten doch den anderen Ausgang nehmen“, schlug ich vor. Mir schnürte sich immer mehr die Brust zu.

„Komm schon. Wir gehen zusammen.“ Anne hakte sich bei mir unter. Verglichen mit ihrer Sonnenbräune sah meine blasse Haut scheußlich aus. Aber immerhin beruhigte mich ihre Nähe und erinnerte mich daran, dass ich nicht ganz allein war.

Die Frühlingssonne und die Wärme draußen waren richtig angenehm. Drinnen hatte ich den ganzen Vormittag über ein bisschen gefroren, sodass es sich im ersten Moment fast so anfühlte, als würde ich auftauen.

Aber nicht mal die strahlende Sonne und die Wärme konnten meine Muskeln auflockern. Nur ein paar Schritte vom Eingang der Cafeteria entfernt standen die Picknicktische.

Viel zu schnell entdeckte ich die drei Typen von gestern.

„Hallo, Jungs“, rief Anne, worauf sich mehrere Köpfe hoben.

„Sei doch still, Anne!“, murmelte ich und versuchte, sie möglichst nah an der Cafeteria und weit entfernt von den Tischen weiterzuziehen. Wenn Anne nur ein bisschen mitgespielt hätte, hätten wir uns ungesehen vorbeischleichen können. Aber wie immer spielte sie den Dickkopf. Und setzte sich damit durch.

„Ach, hallo, Anne“, antwortete einer der Jungs aus dem Algebrakurs. Dann runzelte er die Stirn und rieb sich die Schläfen. „Hm. Ich hätte schwören können, dass ich dich was fragen wollte. Bestimmt fällt es mir nachher wieder ein.“

Ich achtete darauf, den Kröten, wie Anne sie genannt hatte, nicht direkt in die Augen zu sehen. Trotzdem suchte ich in ihren Gesichtern nach Anzeichen für diese finstere Besessenheit von gestern.

Aber ich fand nur verwirrte Mienen, als sei nichts Außergewöhnliches passiert. Sie sahen mich nicht mal an, sondern ignorierten mich wie sonst immer.

Hatte mein hypnotischer Blick, von dem Anne gesprochen hatte, über Nacht seine Wirkung verloren?

Ich ließ meine Abwehr sinken, damit ich ihre Gefühle wahrnehmen konnte, und machte mich auf den gleichen finsteren, brodelnden Aufruhr wie gestern gefasst. Stattdessen spürte ich nur weitere Verwirrung.

Vielleicht verflog die Wirkung meines Tranceblicks schnell wieder.

Während Anne sich mit den Jungs über unsere letzte Hausaufgabe in Algebra unterhielt, keimte in mir etwas auf, das sich gefährlich nach Hoffnung anfühlte. Ich atmete tief durch. Wenn mein Blick auf die Jungs nur vorübergehend wirkte, würde vielleicht doch noch alles gut werden. Ich musste einfach aufpassen, dass ich nie wieder einem Jungen direkt in die Augen sah. Kein Problem, oder?

Na klar.

Nachdem mich die Typen aus dem Algebrakurs in Ruhe ließen, konnte ich mich auf das Vortanzen am Ende der Woche vorbereiten. Nicht, dass ich noch so viel üben musste wie vorher, seit ich im Tanzen große Fortschritte machte. Trotzdem wollte ich beim Vortanzen so gut wie möglich sein. Wenn ich meine Familie dabei beeindrucken konnte, würden sie mich vielleicht nicht ständig beobachten, wenn sie dachten, ich würde es nicht bemerken. Wenn ich zur Abwechslung mal etwas gut machte, würden sie vielleicht sehen, dass ich doch normal war. Kein Freak. Nur ein normales Mädchen, das etwas tat, was ihm wirklich Spaß machte.

Nur die Sache mit Greg wurmte mich noch. Ich wusste nicht, ob mein Tranceblick auch bei ihm gewirkt hatte oder nicht. Seit Montag hatte er kein Wort mehr mit mir gesprochen. Wenn wir uns seitdem in der Cafeteria über den Weg gelaufen waren, hatte er nur die Stirn gerunzelt und weggesehen.

Jungs waren einfach komisch.

Und zwar auch Tristan, der sich ebenfalls die ganze Zeit über seltsam benommen hatte. Als hätte sich die Mauer aus meinen häufigen Träumen über ihn bis in die Wirklichkeit gestreckt und würde uns auch hier trennen. Wenn wir zusammen Algebra hatten, konnte ich seine magnetische Anziehungskraft nicht einmal spüren, wenn ich meine Wahrnehmung für alles öffnete. Und seit er seine Füße unter seinen eigenen Tisch stellte, fehlte es mir, dass er seine Beine links und rechts von mir ausstreckte. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Mir fehlte auch, dass er Melodien aus dem Nussknacker pfiff, um mich aufzuziehen. Und dass er mich in der Cafeteria anstarrte. In letzter Zeit ließ er das Mittagessen ausfallen und lehnte sich lieber an einen Baum in der Nähe der Picknicktische. Ich ertappte mich dabei, wie ich an seinem neuen Platz nach ihm Ausschau hielt, wenn ich mit meinen Freundinnen die Cafeteria verließ. Meine verrückte Seite wollte ihm zu gern in die Augen sehen und ausprobieren, ob er danach auch benommen wäre. Aber er hielt die Augen immer geschlossen. Mein Kopf sagte mir, dass das gut so war. Aber mein Herz sagte etwas anderes.

Tausend weitere Kleinigkeiten ließen die Stunden in der Schule lang und einsam werden. Meine Freundinnen waren mir geblieben, aber weil ich niemanden direkt ansehen konnte, fühlte ich mich wie abgeschnitten von der Welt. Noch seltsamer war die Schneise, die sich mir auf dem Flur öffnete. Es war nicht auffällig, aber die Leute wichen mir aus, als hätte ich etwas Ansteckendes. Am schlimmsten war, dass sie selbst es nicht einmal zu bemerken schienen.

Aber wieso? Ich fühlte mich gar nicht großartig anders als vor meiner Krankheit.

Das einzige Licht am Horizont waren meine Fortschritte beim Tanzen. Seit ich darin so viel besser geworden war, war es mein einziges Ventil. Sobald die Musik einsetzte, verlor ich mich in ihr. Ein paar kostbare Minuten lang konnte ich den ganzen Wahnsinn vergessen: die Familiengeheimnisse, diese seltsamen Dinge, die mich anders machten. Wenn ich tanzte, war ich kein Freak mehr, für den man sich schämen musste; ich konnte tatsächlich etwas. Und ich wurde jeden Tag besser.

Also war es nur logisch, dass ich mich für die Charmers-Tanzgruppe bewerben wollte. Wo hätte ich an dieser Schule sonst dazugehören können, wenn nicht zu den anderen Tänzerinnen? Als Charmer würde ich kein Freak mehr sein. Die Mitglieder waren kleine Berühmtheiten, weil sie in jedem Winter bei Wettbewerben Preise gewannen. Und das nicht nur an unserer Schule, sondern in ganz Jacksonville. Wenn sie mit einer neuen Trophäe nach Hause kamen, landeten sie auf dem Titelblatt der Jacksonville Daily News und ernteten von der Schule und der ganzen Stadt Anerkennung.

Falls ich es in die Gruppe schaffte, würde ich das miterleben und außerdem etwas machen, das ich gerne tat.

Vorher musste ich allerdings die Anerkennung von jemand anderem gewinnen – von Dad. Wenn es nicht mit dem Tanzen klappte, wusste ich nicht, wie ich es sonst noch schaffen sollte.

Deshalb ging ich das größte Risiko meines Lebens ein, als er am Mittwoch anrief, um von mir zu hören.

Nervös spielte ich mit den Schnürsenkeln meiner Turnschuhe und versuchte, geduldig zu bleiben, während wir die üblichen Fragen über die Schule durchgingen. Als wir nach einer Weile schwiegen, sah ich meine Chance gekommen.

„Ach, Dad? Du weißt doch, dass ich dieses Schuljahr angefangen habe zu tanzen, oder?“

„Ja.“ Er klang vorsichtig, als würde er sich auf schlechte Neuigkeiten gefasst machen.

Noch nervöser, zögerte ich, zwang mich, tief Luft zu holen, und stieß dann die Worte schnell hervor. „In der Schule findet an diesem Wochenende das jährliche Vortanzen statt, und ich fände es toll, wenn du kommen würdest.“ Bitte sag Ja. Bitte! wiederholte ich in Gedanken. Während der Todesstille, die nun folgte, hielt ich den Atem an.

Warum sagte er nichts?

„Dad?“, flüsterte ich kaum hörbar. So ein Mist. Er würde sagen: Nein, er könne nicht kommen, genau wie beim Volleyball und Basketball und den Leichtathletikwettkämpfen an der Junior Highschool …

Er schwieg immer noch.

Endlich sagte er: „Ich sollte mir wohl wirklich mal ansehen, wie du dich gemacht machst. Sag mir, wann und wo, und ich komme.“

Ja! Strahlend nannte ich ihm Datum, Uhrzeit und Ort und beschrieb kurz den Weg zum Junior College, in dessen Theatersaal die Veranstaltung stattfinden sollte.

„Wart’s ab! Nachher bist du richtig überrascht, wie gut ich geworden bin“, scherzte ich. Vor Freude war ich weniger angespannt und mehr ich selbst, als ich es sonst in Gesprächen mit ihm war.

Schweigen.

Okay. Traute er mir nicht zu, mich richtig einzuschätzen? Oder hatte er grundsätzlich keine Lust auf einen Tanzabend?

Egal. Ich würde ihn einfach so beeindrucken müssen, dass sich der Besuch für ihn lohnte.

Zwei Tage später stand ich mit meinem Ballettkurs in den dunklen Theaterkulissen des Lon Morris Colleges. Endlich war der Abend gekommen, für den ich das ganze Jahr so hart gearbeitet hatte. Jetzt konnte ich beweisen, dass es nicht ein riesiger Fehler von meinen Eltern gewesen war, mich zu bekommen.

Gerade beendeten die Dreijährigen ihre niedliche Version vom Tanz der Zuckerfee aus dem Nussknacker. Als ich mich daran erinnerte, wie Tristan die Melodie gepfiffen hatte, musste ich lächeln, und meine Augen brannten ein wenig. Blinzelnd vertrieb ich dieses unerwartete Gefühl. Ich sollte lieber an etwas anderes denken. Zum Beispiel an die Menschen, die im Publikum darauf warteten, mich tanzen zu sehen.

Meine Freundinnen konnten zu der Aufführung nicht kommen. Morgen wurde die Volleyballmannschaft ausgesucht, und sie mussten heute Abend trainieren. Außerdem wollten ihre Eltern, dass sie früh schlafen gingen, damit sie morgen ausgeruht waren. Es ärgerte mich, aber trotzdem versuchte ich, ihre Sichtweise zu verstehen. Für sie war Volleyball das Wichtigste, genau wie für mich jetzt das Tanzen. Also hatte ich mir mal wieder ein falsches Lächeln abgerungen und ihnen viel Glück gewünscht.

Dafür saßen irgendwo in den dunklen Reihen drei Menschen und warteten darauf, mir zuzujubeln. Hoffentlich würde ich es nicht vermasseln und sie schon wieder enttäuschen.

Während die Scheinwerfer heruntergedimmt wurden und das Publikum höflich klatschte, scheuchten ein paar Mütter, die sich als Bühnenhelferinnen zur Verfügung gestellt hatten, die kichernden Mädchen hinter die Kulissen.

Es war so weit.

Entschlossen und gleichzeitig atemlos vor Nervosität, betrat ich mit meinen Mitschülerinnen die dunkle Bühne. Im Publikum breitete sich Ruhe aus. Mein Herz hämmerte gegen die Rippen. Ich fand meine Anfangsposition und stellte mich auf. Die Zuschauer waren nur ein paar Meter entfernt. Sie setzten sich auf ihren knarrenden Stühlen zurecht, husteten und tuschelten ab und zu.

Die Klaviermusik vom Band setzte ein, viel lauter als im Tanzraum. Hätte mich die Kostümprobe am Abend zuvor nicht vorgewarnt, hätte ich vor Schreck einen Satz gemacht.

Die Scheinwerfer leuchteten langsam auf und tauchten mich und meine Mitschülerinnen in sanftes blaues Licht, während wir geschmeidig zu tanzen begannen. Ich wusste, dass ich tanzte, aber das Adrenalin ließ den Augenblick unwirklich erscheinen. Er kam mir vor wie ein Traum. Von allem losgelöst drehte ich mich und sprang, während die Musik immer schneller auf ihren Höhepunkt zusteuerte.

Dann nahm das Tempo ab, bis die Musik leise verklang. Ich streckte mich nach dem Licht, ganz gefangen von der Musik und dem Augenblick. Und dann blinzelte ich, und es war vorbei. Ich stand in der letzten Pose da und strahlte, dass meine Wangen schmerzten, während die Zuschauer lauter klatschten und jubelten, als es die Höflichkeit verlangt hätte. Je mehr sie applaudierten, desto schneller rauschte das Blut durch meine Adern, bis ich das Gefühl hatte, ich könnte hochspringen und auf dem Klang wie auf einer starken Windböe davonschweben.

Oh. So fühlten sich die Charmers also bei ihren Auftritten. Und sie durften das immer wieder erleben.

Danach hätte ich wirklich süchtig werden können.

Wir gingen in einer geraden Linie nach vorn an den Bühnenrand, um uns zu verbeugen. Dabei blickte ich ins Publikum und erkannte mit zusammengekniffenen Augen Nanna und Mom hinter den Bühnenlichtern. Und Dad, der gerade zum Ausgang lief.

Er ging jetzt schon? Ich sollte noch mit einer Jazztanznummer auftreten.

Ich hatte einen Kloß im Hals und konnte kaum noch atmen. Nach dem Knicks folgte ich den anderen Tänzerinnen unbeholfen und steif von der Bühne. In den dunklen Kulissen lief ich sofort los, den Flur entlang, vorbei an Requisiten, Müttern und Tänzerinnen. Wusste Dad nicht, dass ich heute Abend zwei Mal auftrat, nicht nur ein Mal? Ich musste ihn einholen und aufhalten, bevor er gehen konnte.

Draußen goss es in Strömen. Ich hörte den Regen auf die Betonstufen vor der Tür prasseln, als ich die Eingangshalle erreichte. Die Glastür fiel hinter ihm zu.

Ich stieß sie wieder auf. „Dad! Warte!“ Konnte er mich bei dem starken Regen überhaupt hören? Ach, natürlich. Als Vampir hatte er das gleiche Supergehör wie ich.

Trotz des Wetters hatte er keinen Regenschirm dabei, sein üblicher dunkler Anzug klebte klatschnass an seinem schlanken Körper. Anscheinend machte ihm die Nässe nichts aus. Er blieb auf dem Gehweg stehen, drehte sich um und sah mich mit diesen ausdruckslosen Augen an, die meinen so sehr ähnelten.

„Ich … ich find’s schön, dass du gekommen bist.“ Ich konnte nicht zu ihm gehen. Ich trug noch meine Ballettschuhe, und der Regen war unter das metallene Vordach gespritzt. Wenn die Ledersohlen nass wurden, waren sie hinüber. Ich schob mich so weit nach draußen, wie ich mich traute, damit ich die Tür hinter mir schließen konnte und meine Stimme nicht ins Theater drang.

„Hat Mom dir erzählt, dass ich heute zwei Auftritte habe?“

Ich hatte gedacht, er würde überrascht sein. Stattdessen nickte er.

Er wusste von dem zweiten Auftritt und ging trotzdem?

Ohne auf den nassen Boden zu achten, ging ich einen Schritt weiter.

„Gleich kommt Jazz dran. Keine Sorge, falls du Ballett nicht magst. Das haben wir schon hinter uns.“

„Ich mag Ballett, Savannah. Trotzdem muss ich jetzt gehen.“

„Musst du irgendwohin? Jetzt?“

„Nein. Aber ich habe dich Ballett tanzen sehen, und das reicht. Vielleicht war das schon zu viel.“

„Ich …“ Was sollte ich dazu sagen? Ich spielte mit den starren, kratzigen Falten meines romantischen Tutus. „War ich so schlecht?“

„Nein. Du hast wunderbar getanzt.“

Verwirrt blickte ich auf.

Er seufzte. „Genau das ist das Problem. Du warst zu gut. Als Anfängerin dürftest du nicht halb so gut tanzen können. Was glaubst du, wie lange du die anderen Mädchen ausstechen kannst, bevor jemand misstrauisch wird?“

„Heißt das, dir wäre es lieber, wenn ich schlecht tanzen würde?“

„Nein. Das heißt, dass du nicht mehr auftreten darfst. Gar nicht. Durch deine körperlichen Veränderungen wirst du in allem besser.

Am Ende tanzt du sogar Ballerinas an die Wand. Und dann kommen unweigerlich Fragen. Die Leute werden wissen wollen, warum du so hoch springen kannst, dich so schnell drehen, so gut die Balance halten. Sie werden erkennen, was du bist … dass du anders bist. Nicht ganz menschlich.“

Ein Freak.

Mein Herz schlug schneller, und ohne nachzudenken schüttelte ich den Kopf. „Nein.“ Er irrte sich. Meine einzige Freude im Leben konnte mich doch nicht noch mehr zur Außenseiterin machen. „Ich … ich kann das kontrollieren. Du weißt schon, mich weniger anstrengen. Heute war ich nur so gut, weil ich dich und Mom und Nanna beeindrucken wollte. Ich wollte, dass ihr stolz auf mich seid und seht, wie ich mich gemacht habe.“

„Wenn du mich wirklich stolz machen willst, hör auf zu tanzen. Sofort.“

Genauso gut hätte er mir eine Ohrfeige geben können. Als ich versuchte, mir vorzustellen, ich würde nie wieder tanzen, rang ich einen Moment nach Atem. Nein. Das konnte ich mir nicht vorstellen. „Aber das Tanzen ist wirklich wichtig für mich, Dad. Es ist das Einzige, was ich kann.“

„Es tut mir leid. Aber wenn du das Tanzen nicht aufgibst, könntest du unsere ganze Welt enttarnen.“ Er sah sich um, als wollte er auf mögliche Lauscher aufmerksam machen. Als wäre jemand dumm genug, während der Tornadosaison in Osttexas im strömenden Regen zu stehen, nur um uns zuzuhören. „Und wenn du das riskierst, hat der Rat keine andere Wahl, als einzuschreiten und dich davon abzuhalten.“

Ich biss mir auf die Unterlippe. Offenbar drehte sich alles um den großen bösen Vampirrat. Darum, was der Rat wollte. Was er verlangte. Was war zur Abwechslung mal mit dem, was ich wollte? Auf welcher Seite stand er überhaupt? „Kannst du ihnen nicht einfach sagen, dass ich vorsichtig bin? Ich kann lernen, nicht aufzufallen, echt. Gib mir nur ein bisschen Zeit zum Üben.“

„Das Risiko ist zu groß. Du ahnst ja nicht, wozu der Rat in der Lage ist. Du bist nur in Sicherheit, wenn du nicht mehr tanzt. Nie wieder.“

„Mom hat sich deswegen keine Sorgen gemacht. Bist du nicht vielleicht … übervorsichtig?“

„Ich will nur tun, was die Aufgabe deiner Mutter gewesen wäre – dich beschützen. Du hättest überhaupt nicht erst mit dem Tanzen anfangen sollen. Ich hatte deine Mutter davor gewarnt, aber sie war stur wie immer.“ Er kam einen Schritt auf mich zu und hob die Hände. „Bitte, Savannah. Hör auf mich, und stell dich nicht quer.“

Oder was? Wäre sein ach so wichtiger Rat dann noch unzufriedener mit mir? Was hatte er nur immer mit diesem blöden Rat? Konnte er sich nicht ausnahmsweise mal darum kümmern, was seine Tochter brauchte?

Andererseits … er flehte mich ja schon fast an. Und obwohl er letztes Jahr kein einziges meiner Spiele besucht und früher nie mit mir Vatertag gefeiert hatte, obwohl ich ihn nur ein paarmal im Jahr sah, obwohl ich das Tanzen liebte und dadurch endlich meinen Platz an der Schule gefunden hatte, war ich in Versuchung. Nachdem ich ihn jahrelang hatte stolz machen wollen, war ich aus reiner Gewohnheit versucht, meine Träume aufzugeben, auf alles zu verzichten, was mir wichtig war, weil er es so wollte. Egal ob er nun ein Vampir war oder nicht, er war mein Vater, und ich liebte ihn. Auch wenn es kaum Grund dafür gab. Endlich schien sich die perfekte Gelegenheit zu bieten, ihn stolz zu machen. Ich musste nur das Einzige aufgeben, worin ich je gut gewesen war. Das Einzige, was ich tun wollte.

Aber was wäre ich noch, wenn ich das Tanzen aufgab? Was würde mir bleiben? Es war meine einzige Chance, irgendwo dazuzugehören. Er hatte keine Ahnung, wie es an der Schule für mich war oder wie sich mein Leben ändern würde, wenn ich es zu den Charmers schaffte. Er wusste nicht, worum er mich da bat.

Nein. Ich konnte nicht aufhören. Nicht einmal für ihn.

„Ich habe nur das Tanzen, Dad. Tut mir leid, wenn das dir und dem Rat egal ist. Aber Mom und Nanna kennen die Risiken, und sie haben mir trotzdem erlaubt, in diesem Jahr tanzen zu lernen. Solange es für sie in Ordnung ist, mache ich weiter.“

Seine Miene versteinerte sich. Er sah im Regen aus wie eine kalte Statue. „Es tut mir sehr leid, das zu hören.“

Und da war wieder das, wogegen ich die ganzen Jahre so hart angekämpft hatte. Er war von mir enttäuscht.

Fast zu erschöpft für eine Antwort, wandte ich mich ab, um hineinzugehen. „Mir tut es auch leid.“ Es tat mir leid, dass ich nicht die Tochter sein konnte, die er sich wünschte. Dass ich ihn so teuer zu stehen gekommen war. Vielleicht hätten er und Mom mich doch nicht bekommen sollen.

Ich öffnete die Tür zum Theater, aber etwas brachte mich dazu, mich umzusehen. Endlich konnte ich in seinen Augen den Anflug eines Gefühls erkennen. Allerdings gefiel mir nicht, was ich sah. Er wirkte besorgt. Und das schmerzte mich noch mehr.

„Dad, du musst dir keine Sorgen machen. Ich bemühe mich, nicht aufzufallen, versprochen. Ich werde deine Welt nicht verraten.“

„Ich glaube dir, dass du es versuchst. Hoffentlich hat der Rat genauso viel Vertrauen, dass es dir gelingt.“ Damit wandte er sich ab und ging.

Meine Ballettschuhe konnte ich wegwerfen. Auf dem Heimweg in Nannas Auto starrte ich sie an.

In meinem Kopf hallten Dads Worte wider. Mit jedem Echo versetzte es mir einen Stich, wie er das Wort versuchst betont hatte. Er wusste, dass ich versuchen würde, nicht aufzufallen, aber offensichtlich glaubte er nicht, dass ich es schaffte.

Mit zusammengebissenen Zähnen ließ ich meine Wut an den durchweichten Schuhen aus und quetschte sie zusammen.

Wieso sollte es mich eigentlich interessieren, was Dad dachte? Ich sah ihn kaum, im Grunde waren wir uns fremd. Es war dumm. Genau wie bei Tristan war mir jemand wichtig, der mich kaum beachtete. Beide hatten mir unzählige Male wehgetan. Wieso konnte ich sie nicht einfach aus meinen Gedanken und meinem Herzen verbannen, damit sie mich nicht mehr treffen konnten? War ich eine Masochistin, die sich unglücklich machen musste?

„Was genau hat dein Vater gesagt, Schatz?“, fragte Mom vom Beifahrersitz aus. Trotz ihrer sanften Stimme tat die Frage weh. Ich wollte vergessen, was er gesagt hatte.

„Na ja, er glaubt, ich hätte ein neues Problem. Ich war immer in allem mies. Jetzt sagt er, ich wäre zu gut. Ich soll mit dem Tanzen aufhören. Er meint, wenn ich weitermache, würde ich die ganze Vampirwelt auffliegen lassen. Irgendwas Blödes in der Art.“

Unter dem flackernden Licht der Straßenlaternen gruben sich Sorgenfalten in Moms Stirn. Sie sah zu Nanna hinüber, die hinter dem Steuer saß.

„Savannah, vielleicht …“, setzte Nanna an, als sie um eine Kurve fuhr.

„Ja, vielleicht solltest du dieses Mal auf deinen Vater hören“, beendete Mom den Satz.

Ich starrte sie an. „Das ist jetzt nicht dein Ernst.“

„Na ja, wie oft hat er dich mal um etwas gebeten?“, fragte Mom.

„Weil er weiß, dass er kein Recht dazu hat!“ Die Worte platzten aus mir heraus. Aber ich konnte sie nicht zurücknehmen, weil sie stimmten. Mein Vater hatte mich gezeugt, aber das machte ihn noch lange nicht zu einem richtigen Dad. Er war nie für mich da gewesen, wenn ich ihn gebraucht hatte. Woher nahm er jetzt das Recht, mir zu sagen, was ich tun sollte? Dabei ging es nicht mal um mich. Er hatte nur Angst, dass sein kostbarer Rat sauer auf ihn wurde.

„Er macht sich nur Sorgen um dich“, beharrte Mom.

„Ach komm! Das ist doch Mist. Er will nur seinen Rat glücklich machen. Lauter paranoide Diktatoren. Findest du etwa auch, dass ich zu gut getanzt habe? Sehen mich die Leute tanzen und wissen sofort, dass ich ein Freak bin?“

„Hör auf, dieses Wort zu benutzen!“, schimpfte Mom.

Ich war so wütend und verzweifelt, dass es mir egal war. Ich starrte sie nur an und wartete auf eine Antwort.

Sie seufzte. „Nein, ich sehe beim Tanzen kein Problem. Zumindest noch nicht.“

„Und dabei habe ich versucht, alle zu beeindrucken“, sagte ich. „Wenn ich etwas übe, kann ich mich anpassen, das weiß ich. Bis heute wusste ich nicht mal, dass ich darauf achten muss.“

„Schatz, glaub mir, den Vampirrat sollte man nicht verärgern. Das sind nicht gerade die nettesten Vampire.“ Mom rang die Hände auf dem Schoß.

Ich verdrehte die Augen. „Aber die Weltherrschaft haben sie noch nicht erlangt, oder? Wieso wollen sie bestimmen können, ob ich tanzen darf? Kommt es nicht darauf an, ob ihr es erlaubt? Ihr könntet mir zu Hause beim Trainieren zusehen und mir sagen, wenn ich … wenn ich ein bisschen runterdrehen sollte.“

Mom sah Nanna an, die knapp nickte. „Savannah hat doch recht. Wir sollten ihnen nicht die Macht geben, uns zu sagen, was wir machen sollen.“

„Mutter …“, flüsterte Mom mit aufgerissenen Augen. Vor Hoffnung schlug mein Herz schneller.

„Es wird schon gut gehen, Joan.“ Nanna kniff die Augen zusammen und starrte auf die Straße. Mit ihren knorrigen Händen packte sie das Lenkrad fester. „Denk daran, wer wir sind. Denk an die starken Frauen, von denen wir abstammen. Ich finde, wenn Savannah tanzen will, soll sie es auch tun. Wir müssen ihr die Gelegenheit geben, zu lernen, wie sie sich bei diesen ganzen Veränderungen unter Kontrolle behalten kann. Und darauf vertrauen, dass sie es schafft. Michaels Leute sollen sich da gefälligst raushalten und sich um ihren eigenen Kram kümmern.“

Mit Tränen in den Augen, aber jetzt aus einem anderen Grund, lächelte ich und versuchte einen weiteren Vorstoß. „Und wenn ich mich in drei Wochen für die Tanzgruppe der Schule bewerben wollte …?“

Das Herz schlug mir bis zum Hals, während ich sie ansah und wartete.

Mom seufzte. „Dann solltest du mir wohl die Genehmigung geben, damit ich unterschreiben kann. Und im Garten deiner Nanna und mir vortanzen.“

Jubelnd beugte ich mich zwischen den Sitzen vor, umarmte Mom und drückte Nannas Schulter. Was machte es schon, wenn das meinem miesen Vater und dem Rat nicht passte? Die beiden Frauen, die mich erzogen hatten, meine richtige Familie, die immer für mich da gewesen war, unterstützte mich jetzt. Mehr brauchte ich nicht. Wenn ich erst mal zu den Charmers gehörte, würde ich diesen kontrollwütigen Vampiren und jedem anderen in Jacksonville zeigen, dass ich sehr wohl dazugehören konnte.

KAPITEL 6

Savannah

iebzig Mädchen, die gleichzeitig Haarspray benutzten, konnten einen ganz schönen Mief produzieren.

Alle Tänzerinnen aus dem ersten Highschooljahr drängten sich in der dritten Etage des Sport- und Kunstgebäudes zusammen. Die siebenundzwanzig altgedienten Charmers konnten sich unten im Theaterraum ausbreiten. Sie mussten auch nicht so weit laufen, weil sich das Theater eine große Eingangshalle mit der großen Sporthalle teilte.

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