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The Devil's Sons 1

Als Buch hier erhältlich:

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Avalones erstes Semester an der Universität wird auf den Kopf gestellt, als sie durch den Bruder ihrer besten Freundin die Devil’s Sons kennenlernt, eine Motorradgang aus Michigan. Die heißen Wikinger-Fans auf Bikes verdrehen ihr den Kopf. Nie hätte Avalone gedacht, sich mit solch bewaffneten Bad Boys anzufreunden. Doch trotz all ihrer dunklen Machenschaften, findet sie in ihnen schon bald eine Art Familie. Als sie sich immer stärker zu Clarke Taylor, dem gefährlichsten unter den Devil’s, hingezogen fühlt, gibt es kein Zurück mehr. Als ihnen Gefahr droht, muss sie der Gang helfen!


  • Erscheinungstag: 24.09.2024
  • Aus der Serie: Devil's Sons
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 496
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704501

Leseprobe

Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet sich am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen der Geschichte.

Euer Team von reverie

Für alle
LEBENSHUNGRIGEN

Die meisten Menschen, die ein kompliziertes Leben führen, wünschen sich nur eins: ein einfaches Leben.

Aber das trifft auf mich nicht zu. Ich will all die Verwicklungen nicht missen, die mich zu der Person gemacht haben, die ich heute bin. Ich gehöre auch nicht zu den Leuten, die eine Wut auf die ganze Welt hegen oder sich fragen: Warum ausgerechnet ich? Manche Dinge passieren einfach, ohne dass man etwas daran ändern könnte. Man sucht sich seine Familie nicht aus, und man kann die Ereignisse, die vor der eigenen Geburt geschehen sind, nicht ändern. Wozu sich also aufregen? Warum sich in Selbstmitleid suhlen und nicht einfach lernen, mit dem zu leben, was zu verändern nicht in unserer Macht steht?

Die Vergangenheit durchzukauen, sich zu fragen, wie alles hätte kommen können, wenn nur … das ist eine maßlose Zeitverschwendung. Akzeptieren, anpassen, das ist der Schlüssel. Der Schlüssel zu einem glücklichen Leben, trotz Komplikationen. Das ist meine Devise.

Ich verurteile niemanden, der anders denkt als ich; schließlich habe ich die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen. Ich kann nicht behaupten, dass mein Gedankengang richtig ist. Aber ich bin überzeugt davon, dass die Menschen glücklicher wären, wenn sie aufhören würden, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen und um jeden Preis ein friedliches Leben anzustreben. Vielleicht bin ich auch masochistisch, keine Ahnung … Trotzdem würde ich mein tägliches Leben für nichts auf der Welt eintauschen, weil ich einfach nicht für eine Existenz ohne Probleme geschaffen bin. Und meine Einschreibung an der Universität sollte mir das ein weiteres Mal beweisen …

»Wir müssen los!«, ruft meine Mutter aus der Küche.

Diese wenigen Worte flößen mir ebenso viel Aufregung wie Angst ein, und keines dieser Gefühle schafft es, die Oberhand zu gewinnen. Ich atme einmal tief ein und aus. Mit meiner letzten Tasche in der Hand lasse ich den Blick durch mein Zimmer schweifen, um sicherzugehen, nichts vergessen zu haben.

Es gibt mir einen Stich ins Herz. Dieses behagliche, aber krumme und schiefe Haus wird mir fehlen. Meine Mutter, die ebenso unvollkommen, aber warmherzig ist, wird mir fehlen. Und meine Freunde auch. Wir schlagen alle unterschiedliche Lebenswege ein, und mir ist jetzt schon klar, dass unsere Freundschaft der Vergangenheit angehört.

Ich verlasse das Zimmer und schließe, jetzt schon voller Heimweh, die Tür hinter mir. Die kühle Luft draußen streicht über mein Gesicht und nimmt mir ein wenig meine Beklommenheit. Ein schöner Septembertag kündigt sich an, die Götter scheinen mir wohlgesinnt.

Ich steige ins Auto und stelle die Tasche zu meinen Füßen ab. Meine Mutter sieht mich aus ihren großen blauen Augen gerührt an und startet dann den Motor.

Ich gehe nicht an die Columbia, wie es mein Vater gewollt hatte, als ich noch ein Fötus im Bauch meiner Mom war. Ich gehe an die University of Michigan. Nicht weil ich schlechte Noten hätte, sondern eher aus Mangel an finanziellen Mitteln. Meine Mutter ist ein Ex-Junkie und hat viel zu viele Schulden, um für das Studium meiner Träume aufzukommen, aber ich nehme ihr das nicht übel. Ich weiß, wie hart das Leben sein kann. Daher ist es mir ziemlich egal, wie oft sie Crystal Meth erhitzt hat, um die Dämpfe zu inhalieren. Für mich zählt nur, dass sie heute hier ist, clean und gesund.

Nach mehreren Stunden Fahrt, in denen sie ohne Unterlass geplaudert hat, während ich zugeschaut habe, wie die Landschaft vor meinen Augen vorbeizog, hält sie schließlich auf dem Parkplatz der Fakultät.

»Sieh doch, wie schön es ist!«, ruft sie aus.

Sie hat recht. Der Campus ist wunderschön. Der frische grüne Rasen hätte einen Preis der Stadtverwaltung verdient. Er ist perfekt gemäht und hat kein einziges Loch. Die Bäume sind in Form gestutzt, und die riesigen Gebäude und die steinernen Bogengänge sind mit herrlichen Kletterpflanzen bewachsen. Die Türme und großen Fenster wirken wie Lustschlösser, in denen Renaissance-Adlige leben.

Ich löse meinen Gurt und öffne die Tür. Meine Mutter ist schon ausgestiegen. Zahlreiche Studenten laufen mit Taschen oder Kartons bepackt herum; wahrscheinlich auf der Suche nach ihrem neuen Zimmer für das nächste Jahr. Ich kann es kaum abwarten, meins zu finden und zu erkunden. Hoffentlich ist meine Mitbewohnerin nett.

»Die Anmeldung ist hier!«

Meine Mutter zeigt auf einen Tisch unter einem Pavillon, hinter dem fünf Personen sitzen.

Letztendlich wirkt sie aufgeregter als ich. Wenn das Studium nicht gleichbedeutend damit wäre, sie allein zu lassen, würde ich wahrscheinlich vor Freude hüpfen. Schließlich habe ich immer davon geträumt. Das Problem ist nur, dass sie mit den Drogen angefangen hat, weil sie einsam war, nachdem mein Vater noch vor meiner Geburt gestorben war. Seit diesem Tag hat sie nur noch mich. Weder Brüder, Schwestern noch Schwiegerfamilie, und ihre eigenen Eltern sind schon lange tot. Sie ist zwar immer ihrer Mutterrolle gerecht geworden, aber ich habe es mir zur Pflicht gemacht, sie zu unterstützen. Sie und ich standen gegen den Rest der Welt, und zwar vom ersten Tag an. Momentan habe ich keine Ahnung, wie sich das alles entwickeln wird, aber mir wird bei dem Gedanken ganz flau.

Sie ist stark, sage ich mir immer wieder. Viel stärker als alle anderen.

Ein Lächeln spielt um meine Mundwinkel, als ich mich daran erinnere, wie sie wie eine Löwenmutter um mein und ihr Glück kämpfte. Damals war ich zwar noch ein Löwenjunges, das sich von ihr verhätscheln ließ, aber ich habe schnell gelernt, Zähne zu zeigen, um meine eigenen Leute zu unterstützen und zu beschützen, so wie meine Mutter.

Ich fühle mich ein wenig beruhigter, und wir treten an den Stand. Eine rothaarige Frau von ungefähr dreißig Jahren lächelt mir freundlich zu.

»Studiengang, Name und Vorname?«

»Literaturwissenschaft. Lopez, Avalone.«

Sie kramt in einer Aktenbox aus Metall, und nachdem sie meinen Namen gefunden hat, reicht sie mir einen Plan des Campus’ und einen Schlüsselbund. Er fühlt sich in meiner Hand schwer an und verheißt Veränderungen.

»Zimmer 307, willkommen an der Universität.«

Ein angenehmer Schauer läuft mir übers Rückgrat, und ich lächle der Dame höflich zu und drehe mich dann zu meiner Mutter um, die mich stolz ansieht.

Nachdem wir meine Sachen aus dem Auto geholt haben, machen wir uns auf die Suche nach meinem Zimmer. Wir betreten ein großes Gebäude aus Naturstein und gehen in die dritte Etage hinauf. Wir laufen den Flur entlang, wobei wir aufpassen, keine Studenten anzurempeln – sie sind auch alle beladen wie Packesel – und erreichen Zimmer 307.

Sie und ich werden immer gegen den Rest der Welt zusammenhalten, sage ich mir noch einmal mit klopfendem Herzen.

Ich hole tief Luft, stecke den Schlüssel ins Schloss und öffne die Tür. Ich kann kaum zwei Schritte ins Zimmer tun, als mir schon eine junge Frau um den Hals fällt, was dazu führt, dass meine Taschen und Kartons zu Boden segeln. Angesichts dieses jähen Ansturms stehe ich wie erstarrt da – ich mag es nicht so gern, Fremde zu berühren – und zähle die Sekunden, bis sie mich freigibt.

Schließlich tritt sie ein paar Schritte zurück, und ich bemerke ihr Lächeln, das dem der Grinsekatze aus Alice im Wunderland merkwürdig ähnelt.

»Tut mir leid«, sagt sie zu mir und sammelt meine Sachen auf, um sie auf mein Bett zu legen. »Seit zwei Jahren habe ich bloß komplett gestörte oder ehrlich gesagt zweifelhafte Mitbewohnerinnen, und da du ziemlich normal aussiehst … bin ich sehr froh und erleichtert

Da ich ihre Verlegenheit sehe, lache ich, um sie von ihrer Befangenheit zu erlösen.

Dann werfe ich Mom einen verstohlenen Blick zu, und sie nickt in stummem Einverständnis. Sie würde es sich nicht anmerken lassen, aber sie hat sich ebenfalls Sorgen wegen meiner potenziellen Zimmernachbarin gemacht, die auch zum Desaster hätte werden können. Doch ihr Lächeln lässt meine Bedenken verfliegen. Meine neue Mitbewohnerin wirkt ein wenig überdreht, aber sie scheint cool drauf zu sein.

»Ich heiße Lola«, stellt sie sich vor und streckt mir ihre kleine Hand entgegen.

Ich drücke sie herzlich.

»Avalone. Und das ist meine Mutter Claire.«

Lola begrüßt sie mit dem gleichen strahlenden Lächeln, das all ihre Zähne entblößt, und Mom erwidert es und stellt dann meine letzten Taschen auf mein Bett. Als sie mich in die Arme zieht, spüre ich erneut diesen Stich im Herzen, und ich begreife, dass sie schnell machen will, damit ich nicht ins Grübeln komme und mir Gedanken mache.

»Ruf mich an, wenn du das kleinste Problem hast …«

»Bis zum Beweis des Gegenteils bin ich immer noch deine Mutter!«

Ich lache freudlos auf. Sie legt die Hände an meine Wangen, küsst mich auf die Stirn und streicht dann mit den Daumen über meine Augen, wie sie es immer tut.

»Du wirst mir fehlen. Ich werde deine wunderbaren Augen vermissen …«

»Du mir auch, Mom.«

Sie tritt einen Schritt zurück und mustert mich, um sich zu vergewissern, dass es mir gut geht; und ich nutze den Moment, um das Gleiche bei ihr zu tun, und präge mir ein letztes Mal ihre zärtliche Miene ein.

Sie nimmt ihre Tasche, verabschiedet sich von Lola und verschwindet mit einem breiten Lächeln.

»Auf Wiedersehen, mein Schatz. Ich ruf dich an; hab dich lieb!«

Ich öffne den Mund, aber meine Worte ersterben mir auf der Zunge, und gleichzeitig schließt sich die Tür hinter ihr.

Wenn ich morgen früh aufwache, werden über dreihundert Meilen zwischen uns liegen; das heißt, fünf Stunden Autofahrt … aber ich habe kein Auto.

Langsam drehe ich mich zu Lola um, die jede meiner Bewegungen neugierig verfolgt.

»Hast du ein Auto?«, frage ich.

Sie nickt energisch und lächelt dabei weiter.

»Für den unwahrscheinlichen Fall, dass meine Mom ein Problem hat und ich dringend zu ihr nach Indiana muss, würdest du es mir leihen?«

»Und in dem unwahrscheinlichen Fall, dass ein Idiot mir das Herz bricht, gehst du dann mit mir Eis essen?«

Schweigend taxieren wir einander, als versuchten wir bei der jeweils anderen zu erkennen, wie sich eine Freundschaft zwischen uns entwickeln könnte. Ein leises Lächeln tritt auf meine Lippen, doch ich verberge es. Stattdessen neige ich den Kopf zur Seite.

»Nur wenn du mir erlaubst, ihm am nächsten Tag in den Hintern zu treten.«

»Nur wenn ich mitkommen darf, um deiner Mutter zu helfen.«

Ich kneife die Augen zusammen, um weiter ernst zu wirken, doch ihre Antwort stellt mich vollkommen zufrieden. Lola signalisiert mir, dass ich alle Karten in der Hand habe, und wenn ich annehme, könnte zwischen uns eine wunderbare Freundschaft entstehen. Also lasse ich mich von ihrem Lächeln anstecken, nicke und besiegle so unseren Pakt.

In dem Schweigen, das darauf folgt, kann ich mich umsehen. Das Zimmer ist nicht besonders groß, aber hübsch. Die beiden Betten stehen an gegenüberliegenden Wänden, und die zwei Schreibtische thronen gegenüber der Tür. In den Ecken befinden sich Schränke, sodass wir Platz haben, unsere Kleidung unterzubringen. Die Gemeinschaftsduschen begeistern mich nicht gerade, aber zu meiner großen Erleichterung haben wir unsere eigene Toilette.

Ich wende mich zu Lola um, die auf ihrem Bett sitzt und mich aus ihren großen Mandelaugen aufmerksam mustert, während sie herumzappelt, als koste es sie große Mühe, mich nicht mit Fragen zu bestürmen. Etwas sagt mir, dass sie von einer Sekunde auf die andere explodieren wird, daher lasse ich mich auf meine Federkernmatratze sinken und lächle ihr zu, um ihr zu bedeuten, dass ich bereit bin.

Abrupt springt sie von ihrem Bett und setzt sich neben mich auf meins.

»Wo kommst du her?«

»Aus Madison, und du?«

»Washington!«

Von den Bewohnern Washingtons erzählt man sich, dass sie nur ihre Arbeit im Kopf haben. Wenn das stimmt, ist das überhaupt kein Problem für mich, denn ich bin hier, um mein erstes Studienjahr abzuschließen, später meinen Abschluss zu machen und dabei allen Hindernissen aus dem Weg zu gehen.

Während ich auspacke, unterhalten Lola und ich uns. Sie studiert im dritten Jahr Soziologie und will später Lehrerin werden. Ihre Eltern sind seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet und immer noch zusammen, und sie hat einen großen Bruder. Sie ist übersprühend und bringt mich oft zum Lachen. Sie hat auch enormen Charme. Ihr zu einem Bob geschnittenes braunes Haar steht ihr wunderbar. Unter den Augen und auf der Nase hat sie Sommersprossen, die wie Sterne am Himmel wirken. Mit ihrer zierlichen Gestalt und ihren Händen, die geradezu winzig sind, ist sie entzückend.

Nachdem wir gut eine Stunde über ihr Leben und ihre schrägen Anekdoten diskutiert haben, schlägt Lola vor, mich auf dem Campus herumzuführen.

»Das Beste am Campus ist der Kaffee«, erklärt sie mir, als wir in die Cafeteria treten. »Bestimmt hast du noch nie so guten getrunken. Und überhaupt, du hast mir praktisch noch nichts von dir erzählt! Was machen deine Eltern so?«

»Meine Mutter ist Sekretärin und Kassiererin.«

Lola bestellt zwei Tassen Kaffee und dreht sich dann zu mir um.

»Und dein Vater?«

»Lebt nicht mehr.«

Sie erstarrt abrupt und sieht mich wie zu erwarten betrübt an.

»Bei Odins Auge 1 , Ava … Tut mir leid, ich bin zu neugierig.«

Ich will ihr schon sagen, dass es kein Problem ist, doch stattdessen runzle ich die Stirn und mustere sie. Was hat sie da gerade gesagt?

»Bei Odins Auge?«

Ohne die Hoffnung zu bemerken, die in mir aufsteigt, wendet Lola den Blick ab und lacht nervös und unbehaglich.

»Ich bin bei Eltern aufgewachsen, die an die nordischen Götter glauben.«

Sie wedelt mit der Hand, um mir zu bedeuten, das Ganze zu vergessen, doch diese Entdeckung gefällt mir sehr, und ein Gefühl von Wohlbehagen hüllt mich ein.

Wir nehmen unseren Kaffee und gehen hinaus, um uns auf den Rasen zu setzen.

»Ich glaube nicht, dass Odin etwas mit dem Ganzen zu tun hat. Vielleicht die Nornen 2

»Da hast du nicht unrecht. Außer, die Götter hatten etwas gegen deinen Vater, dann müssen es eher die …«

Das letzte Wort bleibt ihr im Hals stecken. Sie sieht mich an, und ihr klappt der Mund so weit auf, dass ich schon Angst habe, sie renkt sich den Kiefer aus. Ich presse die Lippen zusammen, um nicht zu lachen.

»D… du auch …?«

Ich lächle nachsichtig und nehme dann einen Schluck von meinem heißen Getränk.

»Ich bin mit Thors 3 Heldentaten und Lokis 4 Streichen groß geworden.«

Aber ich kann ihre Verblüffung nachvollziehen. In den Vereinigten Staaten machen Heiden nicht einmal null Komma ein Prozent der Bevölkerung aus, und trotzdem gehört meine Mitbewohnerin derselben Religion an wie ich.

Lola braucht ein paar Sekunden, um das zu verdauen.

»Unsere Begegnung war uns vorherbestimmt«, folgert sie aufgeregt.

Keine Ahnung, ob Götter oder Nornen etwas mit unserer Begegnung zu tun haben, aber trotzdem freue ich mich wirklich, sie kennengelernt zu haben. Ich habe das Gefühl, dass wir uns gut verstehen werden. Und außerdem, dass sie auch meiner Religion angehört, ist wie ein Stückchen Heimat hier in dieser neuen Stadt.

Das Wetter ist herrlich, und eine angenehme Brise bewegt das Laub der Bäume.

Lola und ich genießen die letzten Sonnenstrahlen und sitzen immer noch an derselben Stelle wie vor einer Stunde.

Ich fühle mich gut, wirklich gut, und Lola füllt bereits die Einsamkeit aus, vor der ich nach dem Abschied von meiner Mutter Angst hatte. Wenn es dieses Mädchen nicht gäbe, müsste man es erfinden.

»Ich schwöre«, sagt Lola gerade lachend. »Sie haben fast den Verstand verloren. Ich dachte schon, meine Großmutter kriegt einen Herzanfall und mich würde Thors Blitz treffen! Sie dachten, nach dem, was mein großer Bruder getan hat, würde ich die Ehre der Familie retten, aber nein!«

Von allen Leuten, von denen sie mir erzählt hat, hat sie ihren Bruder am seltensten erwähnt, als wäre das ein Tabuthema.

»Was hat dein Bruder denn angestellt?«

Lola verschluckt sich an ihrem Kaffee, was meine Neugier noch weiter reizt, doch ich wende den Blick ab, damit sie sich nicht beobachtet fühlt und denkt, auf meine Frage antworten zu müssen.

»Sagen wir, er hat die Erwartungen meiner Eltern nicht erfüllt.«

»Redet ihr etwa von mir?«, verlangt eine heisere Stimme hinter uns zu wissen.

Wir fahren beide herum: Vor uns steht ein junger Mann, der Lola wie aus dem Gesicht geschnitten ist.

Braunes Haar, Sommersprossen, kräftige, aber angenehme Züge und ausgeprägte Muskeln. Ihr Bruder ist verdammt attraktiv!

Mein Blick schweift über seine schwarze Lederjacke zu den tätowierten Runen 5 an seinen Fingern; ein Zeichen dafür, dass er demselben Glauben angehört wie seine Schwester und ich.

»Sehr erfreut! Ich bin Set. Und du?«

»Avalone.«

Ich hebe den Kopf, um ihm in die schalkhaft blitzenden Augen zu sehen, doch mit einem Mal wirkt er ganz erschrocken.

Ich würde gern behaupten, dass seine Reaktion mich verblüfft, doch das stimmt nicht. Die wenigen Heiden, die mir bisher begegnet sind, deuten meinen Blick als böses Omen. Bis auf meine Mutter. Und offensichtlich meine Mitbewohnerin.

Lola schnippt mit den Fingern, und ihr Bruder kehrt in die Wirklichkeit zurück. Er mustert seine Schwester, schüttelt den Kopf und richtet dann seine Aufmerksamkeit auf mich. Er taxiert mich, doch ich wende mich ab und verfluche im Stillen meine Götter, die mir orangefarbene Reflexe in der Iris beschert haben.

»Entschuldige«, fährt er fort. »Ich treffe nicht oft auf eine so … aufwühlende Schönheit.«

Ich schaffe es mit knapper Not, nicht die Augen zum Himmel zu verdrehen, während Lola sich nicht mehr ruhig halten kann und sichtlich angespannt herumzappelt.

»Entzückt, dich kennengelernt zu haben, Avalone. Schönen Tag noch!«

Er tritt an uns vorbei und entfernt sich selbstbewussten Schritts in Richtung Straße, wenn auch ein wenig eilig. Alle Blicke richten sich auf ihn; zweifellos auf Grund seines Äußeren. Doch mich interessiert nur die weiße Schrift, die auf die Rückseite seiner Lederjacke genäht ist. Es gelingt mir nicht, sie zu entziffern, doch ich kann den Totenkopf erkennen, der darunter gezeichnet ist. Auf dessen Stirn prangt ein Vegvisir 6 , das Wahrzeichen unseres Glaubens.

»Devil’s Sons.« Die Söhne des Teufels.

Ich reiße den Blick von Sets Rücken los und mustere meine neue Freundin.

»Das steht auf seiner Jacke«, erklärt sie.

Sie sieht auf das Gras hinunter, wühlt mit den Fingern hindurch und wirkt zutiefst unbehaglich.

»Er gehört einer Gang an. Das hättest du sowieso bald erfahren, da kannst du es genauso gut von mir hören.«

Ich zwinge mich, ruhig zu bleiben, aber meine Miene bleibt angespannt.

Eine Gang an dieser Uni, ernsthaft? Set hat zwar zahlreiche Tattoos und ist ziemlich muskulös, aber er wirkt nicht, als wäre er zu abscheulichen Taten fähig.

Ich schüttle den Kopf und lächle Lola dann zu, um ihr zu signalisieren, dass sie nicht verlegen zu sein braucht. Doch trotz meines Lächelns schnürt sich mir die Kehle zu, als ich daran denke, dass sie gefährliche Kriminelle sein könnten.

»Hast du eigentlich einen Freund?«, fragt mich Lola rasch, um das Thema zu wechseln.

Ich verneine.

»Wie kommt’s?«

Ich zucke die Achseln und sehe in die Ferne.

»Ich bin nicht auf Partnersuche. Außerdem muss ich zugeben, dass die Bewerber nicht gerade bei mir Schlange stehen!«, gebe ich kichernd zurück.

Lola prustet vor Lachen und schlägt sich an die Stirn, als hätte sie das fehlende Puzzleteil in meinem Leben gefunden.

»Sie haben eben Angst vor dir!«

Ich ziehe vollkommen verständnislos die Augenbrauen hoch, und meine neue Freundin wirkt fassungslos.

»Also nein, hast du dich mal angesehen, Avalone? Die Verkörperung heidnischer Schönheit! Bei allen Göttern, du bist zu bescheiden.«

Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, nicht zu wissen, dass ich gut aussehe, auch wenn es nicht dem Geschmack aller Leute entspricht.

Ich weiß, dass ich gute Gene habe. Mein langes eisblondes Haar ist gewellt, meine Augen sind grün und tendieren in der Nähe meiner Pupillen zu einem so hellen Braun, dass man meinen könnte, orangefarbene Reflexe zu sehen. Wenn ich lächle, erscheinen zwei Grübchen in meinen Wangen, und obwohl ich auf meine Figur achte, habe ich Kurven; wahrscheinlich, weil ich mich nicht sportlich betätigen darf.

»Aber wahrscheinlich jagen deine Augen ihm die größte Angst ein«, fährt Lola fort.

Sie kneift die Augen zusammen, um meine zu betrachten, und ich kämpfe dagegen, mich abzuwenden, und warte darauf, dass sie die gleichen Schlüsse zieht wie die anderen.

»Sie sind sehr schön, aber sie haben auch einen Glanz, der ihnen eine ungewöhnliche Härte verleiht. Ein Blick, der töten kann!«

Und als sie mir zulächelt, wirkt sie nicht ängstlich, als hätte sie das schlechte Omen nicht erkannt, das die Heiden in den orangefarbenen Reflexen in meiner Iris sehen. Die Flammen der Ragnarök. 7

»Morgen werden die Cheerleader in die Teams gewählt, falls du Interesse hast.«

Die Erleichterung, die ich noch vor einer Sekunde empfunden habe, verfliegt und weicht der Resignation. Lola ist scharfsinnig. Sie legt sich auf den Bauch und mustert mich eindringlich.

»Avalone Lopez, sei offen zu mir. Wenn du mir immer noch nicht vertraust, biete ich dir etwas an, mit dem du mich erpressen kannst: Ich habe heimlich meine Popel gegessen, bis ich siebzehn war.«

Ich lache laut los, und sie fällt ein. Als wir uns einiger Blicke bewusst werden, die sich uns zuwenden, wird meine Mitbewohnerin nervös und erschrickt bei dem Gedanken, jemand könnte ihre Enthüllung mitgehört haben. Dann wirkt sie erleichtert, als alle ohne die geringste Spur von Spott wieder ihren eigenen Angelegenheiten nachgehen.

»Also, was sagst du? Ein Geständnis gegen das andere?«

»Meins ist nicht so komisch«, warne ich sie vor.

Sie tut meine Bemerkung mit einer unbestimmten Handbewegung ab und erklärt mir, dass man bei Emotionen nicht urteilen sollte. Und genau diese Bemerkung überzeugt mich, mich ihr anzuvertrauen, weil ihre amüsanten Erwiderungen jede Spannung verfliegen lassen.

»Ich habe einen Herzfehler, der mich daran hindert, Sport zu treiben.«

Normalerweise hätte ich es damit gut sein lassen. Aber Lola erweckt in mir den Wunsch, ihr alles zu erzählen. Das bin ich ihr schließlich schuldig, nachdem sie mir ihre besonders zweifelhafte kulinarische Vorliebe verraten hat.

»Meine Mutter hat Methamphetamin genommen, als sie jung war. Dann hat sie meinen Vater kennengelernt. Sie hat mit den Drogen aufgehört und ist schwanger geworden, aber dann ist er noch vor meiner Geburt gestorben, und sie ist rückfällig geworden. Sie hat es genommen, während sie mich im Bauch hatte. Ein einziges Mal. Trotzdem hat das ausgereicht, damit ich mit einer Fehlbildung geboren wurde, die sich als Herzschwäche auswirkt. Meine Mutter ist jetzt schon lange clean, und ich würde ihr nie einen Vorwurf machen. Sie hat alles für mich getan, und dafür werde ich ihr ewig dankbar sein.«

Tränen glitzern in Lolas Augen, doch zum ersten Mal wende ich den Blick nicht ab. Weil ich darin weder Mitleid noch Abwertung lese, sondern Verständnis.

»Tut mir ehrlich leid, Avalone. Das ist bestimmt nicht immer einfach.«

Lola macht es mir leicht, ihr zu vertrauen. Noch nie habe ich mich jemandem so schnell offenbart, und um die Wahrheit zu sagen, tut mir das gut. Ich fühle mich leichter und habe keine Angst mehr vor dem Moment, in dem ich ihr alles über meine Krankheit sagen muss, dieses Damoklesschwert, das über mir schwebt.

Wir genießen noch ungefähr eine halbe Stunde die Sonne und gehen dann in behaglicher Stimmung und mit leicht geröteten Wangen zurück ins Zimmer.

»Was machst du denn in den nächsten drei Tagen, bevor die Vorlesungen anfangen?«

»Keine Ahnung, bestimmt gehe ich in die Bibliothek, um mich schon mal auf meine Kurse vorzubereiten«, antworte ich und setze mich auf mein Bett.

»Bist du ein Nerd?«, fragt sie mich verblüfft.

Als ich sehe, dass ihre Augen schelmisch glitzern, drohe ich ihr mit erhobenem Finger.

»Denk nicht mal dran, ich werde dir nicht die Hausaufgaben machen!«

Sie hebt unschuldig die Hände, und ich weiß genau, dass sie es später noch einmal probieren wird, aber jetzt gerade kommt ihr eine andere Idee.

»Wie wär’s, wenn wir heute Abend ausgehen? Darfst du trotz deiner Herzprobleme Alkohol trinken?«

»Auf harte Sachen muss ich verzichten, aber ein, zwei Gläser kann ich mir schon gönnen«, lüge ich mit schlechtem Gewissen.

Lola führt eine Art Freudentanz auf und rasselt dabei die Namen von Bars in Ann Arbor herunter. Da ich die Stadt noch nicht kenne, kann sie nach Herzenslust überlegen, wohin wir gehen sollen, und behält unser Ziel für sich, um die Sache geheimnisvoller zu machen.

Doch dann ändert sie abrupt ihr Verhalten, als sie auf die Uhr sieht. Wir haben nur zwei Stunden Zeit, um uns fertig zu machen und zu essen, was für sie unvorstellbar scheint. Sie legt los wie ein Wirbelwind. Ohne Vorrede schnappt sie sich ihren Kulturbeutel und zerrt mich zu den Gemeinschaftsduschen, wobei sie unterwegs den anderen Studenten vorsichtig aus dem Weg geht.

Unter dem Wasserschauer erstaunt mich meine Kabinennachbarin und neue Mitbewohnerin, indem sie aus vollem Hals singt. Wer hätte gedacht, dass in einem so zierlichen Körper eine so kräftige Stimme steckt?

Und sie singt dazu noch großartig!

Wir gehen zurück ins Zimmer, das sich in ein Schlachtfeld verwandelt. Kleidungsstücke fliegen durch den Raum, begleitet von Lolas frustriertem Gezeter. Schließlich findet sie ein hübsches knappes Kleid und wirft mir einen fragenden Blick zu. Ich setze eine beifällige Miene auf und ernte dafür ein strahlendes Lächeln.

Ich krame ebenfalls durch meinen Kleiderschrank – ohne allerdings den ganzen Inhalt herauszuzerren – und entscheide mich für meinen kurzen schwarzen Satinrock und ein beiges Top mit ausgestellten Ärmeln. Meine Mitbewohnerin reckt zustimmend beide Daumen, und wir ziehen uns an wie zwei aufgedrehte kleine Mädchen.

Nachdem wir uns dezent geschminkt haben, gehen wir mit High Heels an den Füßen und unseren Handtaschen über dem Arm in die Cafeteria, um zu Abend zu essen. Wir haben gerade Zeit, uns zu den bereits anwesenden Studierenden zu setzen, als ein Mann mit angespanntem Gesichtsausdruck auf uns zusteuert.

Seine harte Miene zusammen mit den Fäusten, die er auf unseren Tisch stützt, und der Lederjacke, die über seinem Rücken hängt, lassen mich zurückfahren.

Einer der Devil’s Sons, und er ist wütend.

»Hast du deinen Bruder gesehen?«, blafft er Lola an.

Er bemerkt mich, und nachdem er mich kurz taxiert hat, sieht er mir schließlich in die Augen. Seine Reaktion folgt sofort: Er erbleicht sichtlich, schluckt heftig und erstarrt.

Bei allen Göttern, ist er etwa auch Heide?

»Nein«, gibt sie gereizt zurück. »Seit heute Nachmittag nicht mehr, Sean.«

Lolas Worte holen den Devil’s Son zurück in die Realität, und er wendet das Gesicht so abrupt ab, als hätte ich ihn geohrfeigt. Sein Zorn kehrt blitzschnell zurück, und er schlägt mit der Faust so heftig auf den Tisch, dass ich zusammenzucke. Nachdem er jetzt alle Blicke auf uns gezogen hat, geht er so rasch, wie er gekommen ist. Und was für eine Überraschung, den Vegvisir zu sehen, der die Stirn des Totenkopfes auf seiner Lederjacke ziert!

»Sind die Gangmitglieder alle Heiden?«, will ich von Lola wissen.

»Ja. Wer, der nicht der Ethik des Ásatrú 8 anhängen würde, wäre sonst so verrückt, in eine Gang einzutreten? Kraft, Mut, Ehre, Lebensfreude, Pragmatismus.«

»Was genau macht diese Gang?«

Die Frage kommt mir über die Lippen, bevor ich nachdenken kann. Will ich wirklich wissen, was eine Gang treibt, deren Mitglieder hier studieren?

Lola stochert nachdenklich in ihrem Essen herum.

»Das weiß ich nicht wirklich; ich habe nie gefragt. Aber man erzählt sich, dass sie mit Drogen und Waffen zu tun haben. Mit dem illegalen Handel damit.«

»Aber wenn alle Bescheid wissen, wie können sie dann ihre Geschäfte weiterbetreiben?«

»In dieser Stadt kennt sie jeder. Die Gang hat einen langen Arm, die Cops stellen sich blind, und die, die nicht korrupt sind, haben keine Beweise, um sie zu verhaften.«

Ich gebe keine Antwort, bin zu verwirrt, um auch nur zwei Worte aneinanderzureihen.

Eine Gang, die illegalen Aktivitäten nachgeht, an meiner Uni … Und wenn sie Leute umbringen?

Bei dem bloßen Gedanken wird mir ganz schlecht, und ein Schauer überläuft mich. Aber ich klammere mich an den Gedanken, dass Set ganz sympathisch gewirkt hat, bevor er mich lange gemustert hat.

Sie müssen einen Anführer haben, der viele Beziehungen hat. Wie sollten Studenten sonst trotz ihrer Machenschaften und Straftaten damit durchkommen?

Erst als wir auf dem Parkplatz in Lolas SUV steigen, hellt sich unsere Stimmung auf, und die Vorfreude kehrt zurück. Wir fahren auf die Straßen von Ann Arbor hinaus, während I Write Sins Not Tragedies von Panic! At the Disco die Fahrerkabine erfüllt.

Nachdem wir ungefähr zehn Minuten Karaoke-mäßig mitgesungen haben, hält Lola schließlich vor einem Gebäude an, dessen Äußeres keinen Hinweis darauf gibt, was sich darin befinden könnte. Wir knallen die Türen hinter uns zu, und meine Mitbewohnerin reckt dramatisch die Arme in Richtung Gebäude.

»Die Degenerate Bar

Arm in Arm stoßen Lola und ich die schallgedämpften Türen der Bar auf. Der Name der Bar scheint Programm zu sein: Hier erwartet uns das völlige Chaos.

Die Musik und das Stimmengewirr der Feierwütigen kommen mir geballt entgegen. Lichteffekte erhellen eine Ecke des Raums nach der anderen, baden die Menschen in Licht und stürzen sie in der nächsten Sekunde wieder in Dunkelheit. Die Blitze nehmen den frenetischen Rhythmus der Popmusik auf und würden jeden Epileptiker sofort ins Krankenhaus befördern.

Ich muss meinen Sinnen ein paar Sekunden Zeit lassen, um sich an die Umgebung zu gewöhnen, bevor ich unter dem steinernen Blick der beiden Türsteher in den Raum hineintrete. Inmitten der bereits dicht gedrängten Menschenmenge erstreckt sich eine riesige, ungefähr zwanzig Meter lange Theke mitten durch den Saal, hier und da von unregelmäßig verteilten Tischen umgeben.

Lola, die mich keine Sekunde loslässt, setzt ihre Ellbogen ein, um uns einen Weg zur Bar zu bahnen, wo sie einen Barkeeper herbeiruft. Dieser lächelt strahlend, als er sie erblickt, und tritt mit Shakern in der Hand zu uns.

»Lola! Ist lange her!«

Über die Theke hinweg umarmen die beiden einander herzlich, und dann zieht meine Mitbewohnerin mich an sich, um mich ihrem Freund vorzustellen.

»Liam, das ist Avalone, meine neue Mitbewohnerin.«

Er schenkt mir ein strahlendes Lächeln und drückt mir die Hand, und während er seine Cocktails mixt, tauschen wir ein paar Höflichkeiten aus. Gar nicht so einfach, weil die Musik so laut ist.

Nachdem wir uns auf die hohen Barhocker gesetzt haben, stellt Liam zwei Getränke als »Gruß des Hauses« vor Lola und mich hin. Nachdem wir uns bedankt haben, stoßen wir an und trinken von dem köstlichen Nektar. Da ich nur wenig Erfahrung mit Alkohol habe, kann ich nicht beurteilen, was die Grundlage ist, aber eins ist sicher, er ist köstlich. So etwas Gutes habe ich noch nie getrunken.

Ich liebe die Stimmung hier. Nichts als Gelächter, Tanz und laut im Chor mitgesungene Songs. Alles emotionale Gepäck bleibt vor den schallgedämpften Türen zurück, um einen Abend außerhalb der Zeit zu verbringen. Es wird angestoßen, gestritten und angebaggert. Lola und ich lassen uns von dem Rausch mitreißen. Wir singen und lachen uns heiser, teilweise dank Liam und seiner Witze, die ebenso platt wie komisch sind. Ich versuche, seine begehrlichen Blicke zu ignorieren, als wäre nichts, bis meine neue Freundin das Thema aufbringt und versucht, mich für ihn zu erwärmen, als er uns den Rücken zudreht.

»Ich bin nicht hier, um jemanden kennenzulernen. Ich will mich auf mein Studium konzentrieren und habe keine Zeit für Jungs.«

Lola sieh mich verdattert an, während ich amüsiert die Augen zur Decke verdrehe.

»Aber wir sind an der Uni! Du musst dich amüsieren, schließlich sind das unsere letzten Jahre, bevor wir arbeiten gehen und Verantwortung übernehmen müssen! Unsere letzte Gelegenheit, das Leben zu genießen, bevor wir erwachsen werden!«

Ich komme nicht dazu, ihr etwas zu antworten, denn auf der Tanzfläche wird unverständliches Stimmengewirr laut. Gellende Schreie hallen durch die Bar, und die Feiernden wechseln die Plätze und sehen bei etwas zu, das eine Schlägerei zu sein scheint.

»Das ist einer von den Devil’s Sons!«, ruft ein Mann und hebt sein Bier.

Andere fallen ein, und diese Schwachköpfe feuern die Kämpfenden noch an.

Verzweifelt drehe ich mich zu Lola um, doch diese rennt schon blitzschnell an mir vorbei und stürzt sich hastig in die Menge. Sie macht sich Sorgen um ihren Bruder.

Was für ein Mist!

Ich springe von meinem Stuhl auf und stoße mit einigen Leuten zusammen, als ich mich ebenfalls in die Menschenmassen werfe. Auf Zehenspitzen suche ich nach einem braunen Haarschopf, den zu finden mir schwerfällt. Die Discobeleuchtung ist dabei nicht hilfreich: die Menge wird immer wieder in Dunkelheit getaucht. Ein Aufschrei entfährt mir, als mir jemand fast den Zeh zerquetscht, aber ich beiße die Zähne zusammen und kämpfe mich weiter vor. Zweimal verliere ich fast das Gleichgewicht, doch endlich taucht Lola vor mir auf. Ein letztes Mal setze ich die Ellbogen ein, um zu ihr zu gelangen, und fasse sie erleichtert am Arm. Doch sie schenkt mir nicht die geringste Aufmerksamkeit, denn sie steht wie erstarrt vor der Szene, die sich vor uns abspielt.

Nicht Set prügelt sich, aber angesichts der Lederjacke ist es auf jeden Fall ein Devil’s Son.

Er beugt sich über einen Mann, der darum kämpft, bei Bewusstsein zu bleiben, holt mit der Faust aus und schlägt so gewalttätig zu, dass ich vor Entsetzen zusammenfahre. Die Wucht des Schlags hallt in meinem Schädel wider und ruft Übelkeit hervor, doch er ist noch lange nicht fertig. Obwohl Blut auf den Boden tropft, holt der Devil’s Son noch einmal aus. Ich sehe sein Gesicht nicht, doch ich spüre seinen Hass. Er wirkt zerstörerisch. Er beweist es, indem er noch einmal zuschlägt. Ein unheimliches Knacken erklingt, und dieses Mal wird sein Kontrahent wirklich ohnmächtig. Doch das Gangmitglied schlägt wieder und wieder zu. Er geht auf seinen Gegner, besser gesagt sein Opfer, los, als wolle er ihn ermorden. Und wenn ihn niemand aufhält, schafft er das sogar.

»Er bringt ihn noch um!«, schreit Lola entsetzt auf.

Sie blickt sich um und sucht panisch nach jemandem, der einschreiten könnte. Die Anfeuerungsrufe sind verstummt, und ich nehme nur noch Aufschreie und verwirrte und angstvolle Gesichter wahr. Manche ergreifen die Flucht, aber niemand scheint zum Eingreifen bereit zu sein, um den armen Kerl zu retten, der diesem Geisteskranken ausgeliefert ist. Sogar die Rausschmeißer drücken sich in ihre Ecke, obwohl sie bei dem Gemetzel zusehen.

»Wir müssen die Devils holen, damit er aufhört, sonst bringt er ihn noch um!«, ruft Lola mir mit Tränen in den Augen zu.

Zähne fliegen durch die Luft, um dann vom Boden abzuprallen. Ohne nachzudenken, stürze ich voran, als der Devil’s Son zum x-ten Mal ausholt.

»Aufhören, verdammt noch mal!«, brülle ich unter vollkommener Missachtung der Lage.

Ich schnappe mir seine Hand, die mit voller Wucht heranrast, und reiße sie mit aller Kraft zurück, damit sie nicht noch mehr Schaden anrichtet.

Ich höre, wie Lola einen Entsetzensschrei ausstößt, als der Biker meinen Griff heftig abschüttelt und sich blitzschnell aufrichtet, sodass er mich um einen Kopf überragt. Bevor ich richtig begreife, dass er jetzt auf mich losgeht, sehe ich voller Grauen, wie seine Faust jetzt auf mein Gesicht zuhält.

Bei allen Göttern …

Er wird mich schlagen.

Das wird wehtun.

Und wahrscheinlich werde ich k. o. gehen.

Wie erstarrt stehe ich vor seinen imposanten, einschüchternden Schultern, ganz zu schweigen von seinem Blick, der so schwarz wie das Nichts ist. Der ganze Zorn der neun Welten 9 scheint sich in seinen Augen zu konzentrieren und ist so grauenvoll, dass ich mir in die Hosen machen würde, wenn ich noch ein Glas mehr getrunken hätte. Aber nein, kein Schlag trifft mich.

Der Devil hält abrupt in seiner Bewegung inne, als ihm klar wird, dass hier eine zierliche junge Frau vor ihm steht, der es verdammt wehtun würde, sollte seine Faust in ihrem Gesicht landen. Eine Faust, die in der Luft hängt, während er den finsteren, zornigen Blick auf mich richtet, während seine Augenfarbe langsam zu einem lebhaften Grün wechselt.

Ich stoße keinen Seufzer der Erleichterung aus, weil ich angesichts von so viel Schönheit einfach noch keine Luft bekomme. Eine gerade Nase über vollen, sinnlichen, beinahe schmollenden Lippen.

Sein kantiger Kiefer betont seine Männlichkeit. Zerzaustes schwarzes Haar, von dem einige Strähnen ihm in die Stirn fallen. Tattoos, die bis auf sein Gesicht fast jeden Zentimeter seiner gebräunten Haut bedecken. Er ist groß und kraftvoll und strahlt eine primitive, unsympathische Aura aus. Gefährlich.

Er mustert mich, taxiert mich, als wolle er das Geheimnis der Götter erkennen und die Antwort in meinen Augen finden.

Der Blickkontakt reißt ab, als ein Mann ihn anspringt und ihm einen Hieb in die Rippen versetzt. Aber der Devil’s Son zuckt mit keiner Wimper; man könnte meinen, er hätte nichts gespürt. Da er die grünen Augen immer noch auf mich richtet, kann ich erkennen, wie sie wieder schwarz werden und ein unbezähmbarer Zorn hineintritt. Bevor er sich mit angespannten Muskeln seinem neuen Gegner zuwendet, nehme ich sein sadistisches Grinsen wahr, bei dem es einem kalt über den Rücken läuft. Und ich bin nicht die Einzige, die blass wird. Der Mann schluckt heftig, weicht einen Schritt zurück und bereut den Schlag, den er dem Devil’s Son versetzt hat, sichtlich. Doch es ist zu spät. Letzterer rammt seinem neuen Opfer die Faust in die Magengrube, sodass ihm deutlich die Luft wegbleibt.

Mit einem Mal reißt mich eine starke Hand nach hinten, damit ich keinen verirrten Schlag abbekomme, und ich finde mich an die Brust von Set gedrückt wieder, Lolas Bruder. Mit einer Ruhe, die mich verunsichert, mustert er eingehend mein Gesicht, um sicherzugehen, dass ich nichts abbekommen habe. Die Furcht, die ich ihm heute Nachmittag eingeflößt habe, scheint von der Erleichterung, mich unverletzt zu sehen, weggewischt worden zu sein. Dieser Zustand hält allerdings nicht lange vor. Jetzt ist er wütend.

»Verdammt, was ist bloß in dich gefahren? Hast du den Verstand verloren?«

Wenn ich dachte, dass Set nicht wie ein Gangmitglied wirkt, hatte ich mich gründlich geirrt. Die Anspannung in seinen Zügen verändert sein Gesicht vollkommen und macht ihn Angst einflößend, gefährlich.

Ich mache mich von ihm los, da ich den Ton, den er mir gegenüber anschlägt, wirklich nicht schätze, und da bemerke ich einen anderen Devil’s Son neben ihm. Sein Kopf ist rasiert, und seine Tattoos ziehen sich an seinem Hals hinauf, über seinen Nacken und erstrecken sich bis oben auf seinen Schädel. Sogar an den Schläfen und im rechten Augenwinkel ist er tätowiert. Er braucht nicht wütend zu werden, um grauenerregend zu wirken. Hinter seiner scheinbaren Gelassenheit verbirgt sich wahrscheinlich ein gefährliches Temperament.

Als ein verstörendes Geräusch zu uns dringt, wenden die beiden Devil’s Sons ihr Gesicht ihrem Kameraden zu, der weiter auf sein zweites Opfer einschlägt, das jetzt ebenfalls bewusstlos ist. Eine Reihe Flüche entfährt ihnen, und sie greifen rasch ein, wenn auch mit einer gewissen Verdrossenheit auf Seiten des Kerls mit dem rasierten Schädel. Ohne Umstände stoßen sie die paar Leute, die ihnen im Weg stehen, beiseite, bis sie mitten in der Prügelei ankommen, packen ihren Kameraden an den Armen und zwingen ihn mit aller Kraft zum Zurücktreten.

Der wütende Trottel reißt sich heftig von seinen beiden Freunden los, und der merkwürdige Eindruck, dass er in der Lage ist, die zwei ebenfalls zu verprügeln, bereitet mir Übelkeit. Die Frage ist nicht, ob ich mich übergeben werde, sondern wann. Noch ein Hieb, und mein Magen streicht die Segel.

Set legt die Hände um das Gesicht seines Freundes, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und ihn zu beruhigen, aber der Raufbold macht sich los und öffnet und schließt völlig außer sich die Fäuste. Trotz allem lässt Set die Arme nicht sinken. Er wiederholt seine Bewegung und bekommt schließlich, was er will. Dann sagt er etwas zu ihm, das nur er versteht. Daraufhin beißt der andere wütend die Zähne zusammen, scheint sich aber damit abzufinden, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Er wirft seinen Opfern einen letzten abschätzigen Blick zu und sieht dann mich an. Das Grün seiner Iris versteckt sich immer noch hinter dem Schwarz seiner Seele, und doch durchbohrt mich sein Blick. Er runzelt abschätzig die Stirn, und ich bin mir sicher, dass seine Haltung »Komm mir bloß nicht zu nahe, verflucht!« ausdrückt. Dann dreht er sich auf dem Absatz um und verlässt die Bar durch die Hintertür, nachdem er sie mit einem kräftigen Tritt geöffnet hat.

Set und das andere Mitglied der Devil’s Sons helfen den beiden Verletzten hoch, die langsam zu sich kommen und dabei gefährlich schwanken. Herablassend erlauben sie ihnen sogar, sich auf sie zu stützen, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden haben.

»Verschwindet und lasst euch hier nie wieder blicken!«, sagt Set mit eiskalter Stimme.

Ohne ein Wort verlassen die beiden Männer mit ramponierten Gesichtern die Bar.

Nach und nach machen die Feierwütigen weiter wie zuvor, als wäre nichts passiert, aber Lola und ich rühren uns nicht. Wir starren auf die ausgeschlagenen Zähne auf dem Boden und die zahlreichen Blutspritzer. Lola umfasst mit zitternden Fingern meine Hand, und sie flüstert mir, immer noch unter Schock, etwas zu.

»Das ist Clarke Taylor. Der beste Freund meines Bruders.«

Apropos Bruder: Er kommt unheilverheißend auf uns zu, packt uns fest an den Armen und schiebt uns zum Ausgang wie zwei kleine Mädchen, die für ihren Leichtsinn bestraft werden müssen.

»Was soll das?«, protestiert Lola.

Set gibt keine Antwort, sondern zieht uns durch die Tür, durch die Clarke vor ein paar Sekunden gegangen ist, nach draußen.

»Fahrt zurück zum Campus. Heute Abend wird es übel.«

»Oh nein«, gibt Lola zurück und schüttelt den Kopf. »Wenn du willst, dass wir nach Hause gehen, musst du uns das schon genauer erklären!«

Set seufzt, aber seine Schwester verschränkt unmissverständlich die Arme vor dem Körper.

»Ein Gangchef hat die Kontrolle über seine Männer verloren, und sie sind in unser Revier eingedrungen, um uns zu provozieren.«

Meine Mitbewohnerin reißt die Augen auf und lässt die Arme an ihre Seiten sinken, ein offensichtliches Zeichen dafür, dass sie kapituliert. Mir für meinen Teil wird klar, dass Ann Arbor ein Tummelplatz für Banden ist.

»Das heißt, dass die beiden …«

Set nickt.

»Kein Recht hatten, hier zu sein. Clarke hat dafür gesorgt, dass ihnen die Lust vergangen ist, noch einmal die starken Männer zu spielen. Und jetzt ab mit euch! Es sind noch andere da, mit denen wir noch nicht fertig sind.«

Nachdem er diese Erklärung abgegeben hat, dreht Set sich um und entfernt sich. Lola und ich sehen uns besorgt an und gehen widerspruchslos zum Auto. Wir haben nicht die geringste Lust, uns ein weiteres Mal mitten in einer Abrechnung zwischen zwei Banden wiederzufinden.

Ich öffne die Beifahrertür, als uns ein dumpfes Geräusch zusammenfahren lässt. Set hat Clarke gegen das Metalltor einer Garage gestoßen. Der Devil mit dem rasierten Schädel säubert sich die Nägel und wirkt, als hätte er nicht das Geringste mit dem Ganzen zu tun.

»Carter darf nicht erfahren, was passiert ist, sonst sind wir alle tot!«, brüllt Set.

Clarke packt seinen besten Freund am Kragen seiner Lederjacke und dreht den Spieß um. Ich verziehe das Gesicht, als ich den Knall höre, mit dem Sets Rücken gegen die Tür prallt, doch das ist nichts im Vergleich zu dem, mit dem Clarkes Faust ihm ins Gesicht fährt.

Lola erschauert und wendet den Blick ab. Dann setzt sie sich in ihr Auto. Ich tue es ihr sofort nach und stelle mich darauf ein, sie zu trösten. Doch anders als erwartet wirkt sie nicht traurig. Sie kommt mir nur vor, als wäre sie es gründlich leid, sich Sorgen um ihren Bruder zu machen. Ich wahre mein Schweigen, doch sie lacht nervös auf.

»Ich muss dir wirklich beibringen, wie die Regeln in dieser Stadt sind! Erstens, wenn du siehst, dass Clarke sich prügelt, verziehst du dich schnellstens. Wenn er in diesem Zustand ist, könnte er einen Welpen totschlagen, ganz zu schweigen von einem Hieb, den du dir zufällig einfangen könntest. Zweitens, misch dich niemals ein. Wenn es ein stärkeres Wort als niemals gäbe, würde ich es benutzen, denn ich kann dir versichern, dass du heute Abend enormes Glück hattest.«

Sie seufzt, um ihrer Erleichterung Ausdruck zu verleihen, denn sie hatte offensichtlich große Angst um mich.

»Zusammengefasst, wenn du Clarke siehst, verdrück dich. Denn wenn mein Bruder und die Devils nicht in der Nähe sind, kann ihn niemand aufhalten, und dann …«

Ihr Satz mündet in einen kurzen, spitzen Klagelaut, als sie sich vorstellt, was wohl passieren könnte. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich ihr antworten soll, denn ich bin immer noch schockiert über so viel Hass. Ich wusste gar nicht, dass ein Körper so viel Gewalt aushalten kann.

Ich höre ihre Worte und glaube ihr. Clarke Taylor mit seinem finsteren Blick ist fraglos gefährlich. Er ist unkontrollierbar und offensichtlich stark genug, um ganz allein mit zwei Männern fertigzuwerden, die fast so kräftig sind wie er selbst.

Nicht lange, und wir sind wieder auf dem Campus und dann in unserem Zimmer. Sobald wir uns für die Nacht fertig gemacht haben, liegen wir in unseren Betten, und Lola beginnt zu lachen, dieses Mal fröhlicher. Verständnislos wende ich ihr den Kopf zu.

»Du bist total verrückt, ich kriege mich gar nicht wieder ein! Du hast dich Clarke Taylor mitten in einer Schlägerei in den Weg gestellt! Noch nie hat außer den Mitgliedern seiner Gang jemand gewagt, dabei einzugreifen.«

Ich sehe an die Decke, verziehe das Gesicht und denke daran, wie seine starke Faust kurz vor meinem Gesicht verhalten hat. Ich dachte ernsthaft, ich müsste dran glauben.

»Was machen die eigentlich, abgesehen von der Gang?«

»Sie sind alle an dieser Uni eingeschrieben, aber man sieht sie selten im Seminar. Ihre Aktivitäten beanspruchen ihre ganze Zeit.«

Ich muss wieder an Clarke und diesen Hass denken, der ihn von innen auffrisst. Das muss ein Loch ohne Boden sein, eine Quelle, die nie versiegt.

»Was hat er erlebt, um dermaßen zornig zu sein?«

Sie kennt die Antwort auf meine Frage.

»Seine Eltern sind vor seinen Augen ermordet worden. Da war er vierzehn.«

Das Herz krampft sich in meiner Brust zusammen und sackt dann schwer wie ein Stein in meine Magengrube. Ich öffne den Mund, aber kein Wort kommt heraus. Wer ist in der Lage, Eltern vor den Augen ihres Kindes zu töten? Ich begreife nicht, wie jemand so unmenschlich sein kann. Aber das erklärt die Finsternis in Clarkes Augen. Wenn ich zusehen müsste, wie meine Mutter ermordet wird, würde ich mich nie davon erholen. Allein bei dem Gedanken wird mir schwindlig.

»Er trägt solch einen Zorn in sich, dass er das gewalttätigste Mitglied der Devil’s Sons ist«, fährt Lola fort. »Er ist unberechenbar. Wenn du glaubst, die Schlägerei von heute Abend sei heftig gewesen, dann hast du ihn zum Glück nicht vor ein paar Tagen erlebt, als er drei Typen krankenhausreif geschlagen hat. Alle Devils waren da, um ihn zurückzuhalten, und trotzdem dachte ich schon, wir würden es nie schaffen, ihn dazu zu bringen, dass er aufhört.«

Ich schlucke mühsam und bringe nur ein Flüstern heraus.

»Aber er läuft immer noch frei herum …«, meine ich.

»Dank Carter, ihrem Boss. Alle haben zwar Angst davor, was die Devil’s Sons ihnen körperlich antun können, aber Carter ist das Genie. Er lässt sich nur selten blicken, er sitzt lieber hinter seinem Schreibtisch und bereitet alle möglichen Coups vor. Er befiehlt, und seine Männer führen es aus. Er ist über fünfzig und Millionär, und kaum jemand kann es mit ihm aufnehmen. Vielleicht die Devil’s Sons selbst. Anscheinend legt der Boss besonderen Wert auf Jesses Meinung – das ist der mit dem rasierten Schädel –, obwohl Clarke sein Stellvertreter ist.«

Ich setze mich in meinem Bett auf und wende mich in einer Mischung aus Ärger und Unverständnis Lola zu.

»Warum machen die so etwas? Ich begreife nicht, was sie davon haben.«

»Sie würden ihr Leben füreinander opfern. Sie sind eine Familie. Als Clarke wegen seiner unkontrollierbaren Gewaltausbrüche beinahe aus der Gang ausgeschlossen wurde, haben die Devils bei Carter darum gekämpft, seine Meinung zu ändern; aber meiner Ansicht nach hatte der Boss nicht wirklich die Absicht, ihn hinauszuwerfen. Sie können nicht auf Clarke verzichten, nicht zuletzt wegen seines Rufs. Anscheinend ist er bei den anderen Gangs sehr gefragt.«

Ich will von Lola wissen, ob sie ein enges Verhältnis zu ihrem Bruder hat. Als sie einräumt, dass sie sich gut mit ihm versteht, aber sie nicht viel miteinander zu tun haben, bin ich beruhigt. Ich will nichts von den Devil’s Sons wissen, denn es ist klar, dass dabei nichts Gutes für mich herauskommen kann. Vielleicht sind sie nicht der schlimmste Abschaum des Planeten, aber trotzdem sind sie gewalttätig und ihre Aktivitäten illegal. Sie sind Straftäter, Kriminelle, und ich sollte keinerlei Umgang mit ihnen pflegen.

Die drei Tage bis zum Beginn der Vorlesungen sind unglaublich schnell vergangen. Ich hatte keine Zeit, mich zu langweilen. Ich habe in der Bibliothek für meine Seminare gelernt und den Rest der Zeit mit Lola verbracht. Ich habe sie ungemein zu schätzen gelernt. Nie hätte ich gedacht, so schnell eine Bindung zu jemandem zu entwickeln, und ihre Anwesenheit in dieser neuen Phase meines Lebens wirkt beruhigend. Lola redet ohne Unterlass. Sie ist ein bisschen verrückt, wenn auch im Rahmen des Vernünftigen. Na ja, Letzteres bleibt noch abzuwarten. Sie ist nicht die fleißigste Studentin, doch sie hat Köpfchen, obwohl sie immer so tut, als würde sie das alles hier gar nicht so ernst nehmen. Besonders mag ich ihre Aufrichtigkeit und Spontaneität.

Nachdem ich heute Morgen mein Kissen nach meiner Mitbewohnerin geworfen habe, damit sie ihren höllischen Wecker ausschaltet, bin ich gut gelaunt aufgestanden und bereit für meine Vorlesungen.

Wir verlassen unser Zimmer und durchqueren plaudernd den Campus, um zu den Hörsälen zu gelangen. Als gute Kameradin begleitet mich Lola bis zu meinem Hörsaal, damit ich nicht umherirre und mich verlaufe. Als wir vor der Tür stehen, küsst sie mich auf die Wange und entschwindet hemmungslos gähnend zu ihrer ersten Vorlesung des Tages. Da ich eine Viertelstunde zu früh dran bin, beschließe ich, mir in der Cafeteria eine ordentliche Dosis Koffein zu besorgen. Ich betrete den riesigen Saal und gehe zur Theke, wo ich einen XXL-Kaffee bestelle. Ich nehme den Becher, bedanke mich bei der Bedienung und gehe zum Ausgang, wobei ich einen Schluck trinke, der mir natürlich die Geschmacksknospen, die Wangen, den Gaumen und den Hals verbrennt. Wirklich, ich lerne nie aus meinen Fehlern … Gerade als ich denke, dass nichts schlimmer sein kann als dieses Gefühl, falle ich beinahe auf die Nase, als mich jemand heftig anrempelt. Eine Hand hält mich gerade noch fest, aber der Schaden ist schon angerichtet. Ein scharfer Schmerz fährt mir durch die Schulter; so stark, dass ich den Eindruck habe, gegen eine Wand gerannt zu sein.

»Wenn ich mir die Schulter ausgerenkt habe, verklage ich dein Kraftstudio, Idiot!«

Mit zusammengepressten Lippen blicke ich zu dem Besitzer der Hand auf und sehe Set vor mir, mit gerunzelter Stirn und drohendem Blick. Zu dieser furchterregenden Kombination gesellt sich noch das blaue Auge, das ihm sein wunderbarer Freund vor ein paar Tagen verpasst hat. Doch seine Miene schlägt vollkommen um, als er mich erkennt, als verleihe es mir Sonderrechte, die Freundin seiner Schwester zu sein.

»Avalone.«

»Set.«

Neben ihm steht der x-te Devil’s Son, und …

»Der fragliche Idiot ist Clarke«, erklärt mir Set süffisant lächelnd.

So ein Mist …

Ich habe gerade den Kerl beleidigt, der Männer krankenhausreif geschlagen hat, und er ist nicht begeistert davon, mich wiederzusehen. Der Seitenblick, den er mir zuwirft, ist alles andere als freundlich, eher genau das Gegenteil.

Kann er sich nicht mal zwei Sekunden lang entspannen? Schließlich habe nicht ich seine Mutter umgebracht!

Ich schlucke heftig und nehme es mit diesem schwarzen Schleier in seinem Blick auf, der ihn nie wirklich zu verlassen scheint. Wie bringt er es fertig, mit dem Mord an seinen Eltern im Kopf zu leben? Hört er in seinen Träumen ihre Schreie, kurz bevor sie ihr Leben verloren haben? Sieht er ihre entsetzten, flehenden Gesichter vor sich? Was für düstere Gedanken halten ihn abends wach?

Diese ungesunde Neugier reißt mich mit und führt mich zu meiner eigenen Mutter. Würde sie meinen Tod verkraften, oder würde ihre Seele genauso Schaden nehmen wie die von Clarke?

Sets Räuspern holt mich in die Gegenwart zurück. Sofort wende ich den Blick von seinem zerschundenen Gesicht ab, um mich auf Lolas Bruder zu konzentrieren.

»Das ist Clarke«, erklärt er und zeigt mit dem Finger auf ihn. »Und der da ist Tucker.«

Im Kopf stelle ich eine Liste aller Devil’s Sons auf.

Set, Lolas Bruder. Sean, der unseren Tisch fast in Stücke gehauen hat. Clarke, der unkontrollierbare Gewalttäter. Jesse, der Gleichgültige mit dem rasierten Schädel. Und jetzt Tucker. Wie viele sind sie genau?

Ich lächle Tucker, der ein wenig kleiner als seine beiden Freunde ist, höflich zu. Er ist blond und hat braune Augen, und mit seinen langen Haaren würde er fast wie ein Surfer aussehen, wäre seine Haut nicht von Tattoos bedeckt. Wie alle Devils, die mir bis jetzt begegnet sind, sieht er äußerst gut aus, als wäre er direkt einer Hochglanzzeitschrift entsprungen. Das Testosteron, das diese drei ausstrahlen, erfüllt die ganze Cafeteria.

»Jungs, das ist Avalone, die hübscheste der Freundinnen meines Schwesterleins.«

Tucker lächelt mir unbeholfen zu.

»Warte mal! Bist du nicht die, die Clarke neulich abends zurückgehalten hat?«

Ich fühle mich wie ein wildes Tier, das plötzlich vor den Scheinwerfern eines Autos steht, und nicke langsam. Tucker bricht in Gelächter aus und klopft Clarke auf die Schulter.

»Ah, verdammt, die hat aber Mumm, was!«

Nachdem die Konfrontation vorbei ist, wirkt Set entspannter und lacht ebenfalls, doch Clarkes Stimme lässt alle verstummen.

»Das war selbstmörderisch und absolut dumm. Obwohl ein guter Schlag ihr schon die Flausen ausgetrieben hätte. Soll sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, statt die mittelmäßige Retterin zu spielen!«

Ich knirsche mit den Zähnen und werfe ihm einen finsteren Blick zu.

Was für eine schöne Stimme, tief und vibrierend zugleich. Sie hätte mich tief im Herzen anrühren können, hätte er sie nicht zu solchen Worten gebraucht.

»Keine Ahnung, ob du ein Arsch bist, weil gerade Merkur rückläufig ist, aber gern geschehen, Clarke. War mir ein Vergnügen, dich davor zu bewahren, wegen Mord im Knast zu landen.«

Set und Tucker sehen mich mit aufgerissenen Augen an und fangen dann an zu lachen. Clarke nicht. Mit mörderischem Blick und geballten Fäusten tritt er zwischen seinen Freunden hindurch und bezieht langsam mir gegenüber Stellung.

Er ist einen Kopf größer als ich, obwohl ich High Heels trage. Er hält seinen Mund an mein Ohr.

»Leidest du unter Geltungsdrang?«, flüstert er mit eisiger Stimme. »Ich sage es dir kein drittes Mal, meine Schöne. Misch dich nicht in unsere Angelegenheiten ein, sonst wirst du es bereuen …«

Ein unangenehmer Schauer läuft mir durch den ganzen Körper, und ich beschließe, dieses eine Mal nichts zu erwidern, und wenn ich mir auf die Zunge beißen muss, um mich zurückzuhalten. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich davonrenne, als er mir erneut gegenübersteht. Stattdessen setze ich eine ungerührte Miene auf, um die Wut zu verbergen, die in meinem Inneren kocht.

Als wäre ich ein lästiges Insekt, legt Clarke mir eine Hand auf die Schulter, schiebt mich ohne Umstände beiseite und geht dann weiter.

Die Verblüffung verschlägt mir lange Sekunden die Sprache, und dann ergreift Zorn Besitz von mir.

Was für ein Volltrottel!

Noch nie hat sich jemand mir gegenüber so respektlos benommen.

Mit geballten Fäusten wende ich mich den restlichen Devil’s Sons zu, die immer noch feixend dastehen, werfe ihnen einen vernichtenden Blick zu und gehe zum Ausgang.

»Schönen Tag noch!«, ruft Tucker mir fröhlich zu.

Über meinen Kopf hinweg recke ich den Mittelfinger, biege in den Gang ein und stoße dabei einen Haufen Flüche aus, die den größten Haudegen hätten erblassen lassen.

Immer noch wütend, betrete ich den Vorlesungssaal und stoße zum zweiten Mal innerhalb einer halben Stunde mit jemandem zusammen, was mir einen weiteren Fluch entlockt.

»Wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden?«

Ich sehe zu dem Mann auf, der mir herzlich zulächelt, und augenblicklich verfliegt angesichts seiner sichtlich guten Laune mein Zorn. Aber er sagt lange Sekunden nichts und ist anscheinend hypnotisiert von meinem Blick.

Allmächtiger Odin, sag mir nicht, dass …

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