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To Die For

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Wem kannst du noch trauen, wenn so viel auf dem Spiel steht?

In der elitären Welt der Luxusimmobilien in Los Angeles ist sich jeder stets der Nächste, was die Maklerin Andi Hart nur zu gut kennt – und nach den jüngsten Ereignissen ist sie bereit, ihre eigenen Regeln aufzustellen. Als ihr Chef das Team herausfordert, einen Käufer für ein atemberaubendes Strandhaus in Malibu zu finden, das mit einer Provision von einer Million Dollar dotiert ist, weiß sie, dass dies ihre Eintrittskarte in ein neues Leben sein kann.  Aber sie ist nicht die Einzige, die das Geld nicht nur will, sondern braucht. Jeder ihrer vier Kollegen hat Geheimnisse, die sie unbedingt verbergen wollen – Geheimnisse, bei denen eine Million Dollar eine große Hilfe wäre. Und bald wird klar, dass die fünf alles tun würden, um das Geld in die Finger zu bekommen. Als beim Tag der offenen Tür eine Leiche gefunden wird, verwandelt sich das Traumhaus in einen albtraumhaften Tatort. Der Wettbewerb hat eine neue, tödliche Dimension erreicht ...


  • Erscheinungstag: 27.12.2024
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907465
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

MALIBU BEACH DRIVE

Das Haus war zum Sterben schön.

Ganz nach individuellen Wünschen gebaut und direkt am Strand. Und zwar nicht an irgendeinem Strand, sondern einem der exklusivsten der ganzen Welt. Auf Betonpfählen errichtet, dicker als Baumstämme, prangte es mit seinen fünf Schlaf- und fünfeinhalb Badezimmern über dem goldenen Sand und den Wellen wie eine funkelnde Trophäe unter der brennenden Sonne Malibus.

Die deckenhohen Schiebetüren ermöglichten einen nahezu unmerklichen Übergang von drinnen nach draußen und rahmten den Ausblick auf den Pazifischen Ozean und einen herrlich blauen Himmel ein, sodass er wirkte wie ein Landschaftsbild von Lori Mills. Ortsansässige Künstler – ein gutes Stichwort: An den strahlend weißen Wänden hingen ein Dutzend Originale wie kleine Farbexplosionen.

Abgerundet hatte man alles mit Porzellan, Walnussholz und Marmor. Die Möbel waren wunderschön arrangiert und ganz offensichtlich unglaublich teuer. Die protzige Küche barg hochmoderne Geräte, die noch nie benutzt worden waren und wahrscheinlich auch nie benutzt werden würden. Wer auch immer in diesem Haus lebte – er war reich genug, um nicht selbst kochen zu müssen, sondern auswärts zu essen oder sich Mahlzeiten kommen zu lassen. Es gab einen temperaturregulierten Weinkeller und eine Garage mit Platz für drei Ferraris. Zudem nicht nur einen, sondern zwei begehbare Schränke, von denen sich sogar Carrie Bradshaw hätte beeindrucken lassen.

Kurz gesagt: Das Haus am Malibu Beach Drive war ein Meisterwerk mit Meerespanorama.

Zutritt zur Veranstaltung heute wurde nur auf Einladung gewährt, man konnte nicht einfach so über das Grundstück und durch das Gebäude spazieren. Sie richtete sich also an die Crème de la Crème der südkalifornischen Maklerindustrie und Leute mit ausreichend Geld auf der Bank, um Schecks im Wert von fünfzig Millionen Dollar ausstellen zu können. Keine Nachbarn oder »Nur mal schauen«-Leute, keine spontan interessierten neugierigen Touristen.

Selbst die Spitzenagenturen von Malibu, immer noch sauer darüber, das Projekt an eine relativ kleine Firma in Hollywood verloren zu haben, waren persönlich vertreten, denn sie wollten mit eigenen Augen sehen, was ihnen durch die Lappen gegangen war.

Und auch sie mussten zugeben: Das Haus war zum Sterben schön.

Der Vintage-Dom-Pérignon floss in Strömen, und die Besucher labten sich diskret an von Nobu gelieferten Kanapees mit Meeresfrüchten.

Irgendwann im Laufe des Termins hatte es eine ungeplante Showeinlage gegeben: erhobene Stimmen, einen geschleuderten Drink, einen Abgang in Begleitung von Sicherheitsleuten. Inzwischen war die Ordnung wiederhergestellt und nur das leise Summen höflicher Unterhaltungen zu hören.

Dann erwähnte jemand den Pool.

»Ein Haus wie das hier hat doch sicher einen Pool, oder?«, erkundigte sich eine der Anwesenden, während ihr gerade von der Bedienung das Champagnerglas aufgefüllt wurde.

»Was will man denn mit einem Pool, wenn man das Meer direkt vor der Tür hat?«, gab eine andere zurück und deutete in Richtung der in der Nachmittagssonne glitzernden Wellen.

»Ich bin sicher, da wurde auch ein Pool erwähnt«, beharrte die Erste. Sie schnappte sich jemanden von der Maklerfirma. »Sie gehören dazu, oder? Sind Sie so lieb und zeigen uns den Pool?«

»Selbstverständlich, gern«, lautete die Antwort. »Er liegt an einer Seite des Gebäudes. Die Kacheln sind handgearbeitet und ziemlich beeindruckend. Bitte folgen Sie mir.«

Louboutin- und Manolo-Blahnik-Absätze klapperten über den gefliesten Boden, als die drei Frauen durch die offenen Schiebetüren hinaustraten und um die Ecke zur Terrasse mit dem Pool bogen.

Der Wind fuhr ihnen durchs Haar. Einen Augenblick lang wurden sie von der Sonne geblendet. Die Brise trug einen schwachen Geruch nach Salz und Algen heran. Die drei Frauen gingen auf den Pool zu.

Als Erstes bemerkten sie das Blut.

Dann eine Person, die mit dem Gesicht nach unten regungslos im Wasser trieb.

Und da setzte das Schreien ein.

Kapitel 1

ANDI

DAVOR

Ich laufe nicht davon. Ich entwickle mich. Ein riesiger Unterschied.

Andi Hart sagte sich das zum hundertsten Mal, während sie beide Straßenseiten in einer belebten Zone des Santa Monica Boulevards zwischen La Cienega und Crescent Heights nach einem Parkplatz absuchte. Es war fast Mittag, das Licht so gleißend, dass man eine Sonnenbrille brauchte, und es war warm genug für kurze Ärmel. Die frühen Lunchgänger füllten bereits die nahe gelegenen Cafés, deren Kundschaft weitgehend aus Hipstern und Müttern mit Kinderwagen bestand.

Endlich fand Andi einen Platz, stellte den Wagen ab und ging zu einem Gebäude am Ende des Blocks mit einem »Zu vermieten«-Schild in der staubigen Schaufensterscheibe. Das Ladenlokal wirkte grau, langweilig und uninspirierend – und kleiner als auf dem Foto auf der Webseite.

Andi drückte die Tür auf und trat in die schwere Hitze des Raumes. Entweder hatte hier die alte Klimaanlage den Geist aufgegeben, oder es hatte sich niemand die Mühe gemacht, sie für den Besichtigungstermin einzuschalten. Der Raum in dem Gebäude an der Ecke des Blocks war lang und schmal wie ein Schuhkarton. Mit gerade so über neunzig Quadratmetern klein genug für eine halbe Hausnummer. Damals zu Hause, zu Anfang ihrer Maklerinnenkarriere, hatte Andi ständig Objekte mit diesem Schnitt an den Mann oder an die Frau gebracht.

Heute würde sie sich selbst ein Objekt sichern. So weit zumindest der Plan.

Der Makler war Anfang vierzig und hatte beim Gelen seiner kurz geschnittenen schwarzen Locken etwas zu tief in den Tiegel gegriffen. Den Kragen seines weißen Hemdes trug er offen, sein Anzug war dunkelgrau, und er duftete wie die Parfümerieabteilung im Macy’s.

»Nick Flores«, stellte er sich vor und streckte ihr die Hand hin. »Schön, Sie kennenzulernen.«

»Andi Hart.«

Sein Händedruck war außerordentlich schlaff, so wie das manche Männer bei Frauen machten. Flores musterte Andi aus zusammengekniffenen Augen. »Moment mal, ich glaube, wir kennen uns schon. Sie sind selbst Maklerin, oder?«

Shit.

»Stimmt.«

»Ich war ganz bestimmt schon auf einem Ihrer Open-House-Events. Für wen arbeiten Sie noch mal?«

»Saint Realty.«

»Auf dem Sunset Boulevard?«

Andi nickte. »Genau.«

»Cooler Laden. Gute Lage.«

»Stimmt auch.«

Flores hatte recht. Es war ein cooler Laden. Andi hätte niemals einen Gedanken ans Weggehen verschwendet, wäre sie nicht gezwungen gewesen zu handeln. Flores klatschte in die Hände – Zeit fürs Geschäftliche. »Und heute möchten Sie sich also einen Eindruck von diesem interessanten Objekt verschaffen. Wollen Sie bei Saint weg? Sich selbstständig machen? Das hier ist für ein aufstrebendes kleines Business perfekt geeignet.«

»Ich suche nicht für mich.« Die Lüge kam ihr ganz problemlos über die Lippen. »Sondern für einen Klienten.«

»Fantastisch. Wird der sich gleich zu uns gesellen? Sollen wir mit der Tour noch warten?«

Andi sah sich um, nahm den leeren Raum zur Gänze in sich auf. Das mit der Tour würde wohl nicht besonders lange dauern.

»Nein, ich bin allein gekommen. Die Besichtigung bleibt mir überlassen.«

»Okay, kein Problem. Dieser Kunde … Wofür will der die Räumlichkeiten nutzen?«

Eine Frau in abgeschnittenen Jeans und einem weißen Tanktop ging draußen auf der Straße vorbei, mit einem hechelnden Mops an einer rosa Leine.

»Für einen Hundesalon«, erklärte Andi. »Sicher mit viel Promi-Kundschaft.«

»Großartig!«

In Andis Gesäßtasche vibrierte ihr Handy. Sie zog es hervor und schaute aufs Display. Diana.

Shit.

David und Diana Saint führten das Maklerbüro, bei dem sie seit drei Jahren arbeitete. David war der Eigentümer, und seine Frau Diana kümmerte sich um den administrativen Teil. Sie wussten nicht, dass sich Andi selbstständig machen und damit einen Konkurrenzbetrieb eröffnen wollte. Sie wussten nicht einmal, dass Andi inzwischen ihre eigene Maklerlizenz besaß.

In den letzten sechs Monaten hatte sich viel verändert.

Andi überließ der Mailbox den Anruf. Sie hasste Geheimnisse, vor allem Geheimnisse Diana gegenüber, denn die war nicht nur ihre Chefin, sondern auch ihre Freundin. So empfand es Andi zumindest. Sie fühlte sich wie ein Ehebrecher, den man mit heruntergelassener Hose erwischt hatte, als wüsste Diana genau, was Andi da gerade trieb.

Flores führte Andi herum. Wie erwartet dauerte das nicht lange, und es gab auch nicht viel zu sehen. Schmutzig weiße Wände bettelten geradezu um einen neuen Anstrich. Der hässliche dunkelblaue Teppich war ganz fadenscheinig, weil er über die Jahre Tausende von Schuhsohlen buchstäblich über sich hatte ergehen lassen müssen. Obwohl die Fenster an der Vorderseite des Gebäudes bis zum Boden reichten, wirkte die Einrichtung düster und zudem ziemlich abgewohnt. Für bis zu vier Schreibtische gab es genügend Platz. Andi hatte vor, über die Jahre ein Team aufzubauen. Vielleicht ließ sich auch noch eine Ecke für Meetings reinquetschen, wenn sie geschickt plante.

Das Ganze war deutlich kleiner als die Büroräume, die sie sich auf dem Sunset Boulevard angesehen hatte. Anders als die Räumlichkeiten, in denen sich die Leute von Keller Williams, Rodeo Realty und der Lux Group niederließen – Betontürme mit viel Glas, glänzenden Aufzügen und Marmorböden, mit Möbeln aus Eichenholz und einem Blick auf den Sunset Strip, der einen neidisch werden ließ. Sie hatte in 8560 Sunset Besichtigungstermine gehabt – im ehemaligen Playboy-Gebäude –, außerdem im 9000- und im 9200-Block. Nichts davon konnte sie sich leisten, alles war ganz eindeutig außerhalb ihrer Reichweite. Andi wollte auf den Sunset Strip, doch ihr Kontostand legte sein Veto ein.

Deshalb war sie hier gelandet, in Santa Monica. Immer noch eine gute Adresse in einer lebendigen Gegend. Viel Laufkundschaft. Und schicke Restaurants und Boutiquen sowie Coffeeshops direkt vor der Tür. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich bereits beim schnellen Lunch bei Hugo’s und mit Gelson’s-Tüten vom täglichen Einkauf auf dem Heimweg von der Arbeit.

Hier könnte sie es schaffen, über die Runden zu kommen. Aber die Fassade des Gebäudes wirkte nach außen einfach nicht attraktiv, gleich nebenan war ein Imbiss, und preislich bewegte sich das Ganze am oberen Ende ihres Budgets. Der Raum würde ganz und gar neu ausgestattet werden müssen, von den ganzen Lufterfrischern, die sie wegen des Gestanks nach fettigen Pommes frites und verbranntem Fleisch, der von nebenan herüberzog, würde aufstellen müssen, mal ganz zu schweigen. Die Kosten für Wasser und Strom, die Gebäudewartung und weitere anfallende Posten nicht zu vergessen.

Wieder spürte sie, wie das Handy an ihrem Hintern vibrierte. Andi ignorierte es.

Sie entwickelte sich.

Von Weglaufen konnte definitiv keine Rede sein.

Weggelaufen war sie weiß Gott schon zu oft. Sie würde in keinen anderen Staat ziehen. Nicht mal in eine andere Stadt. Falls sie sich tatsächlich für dieses Objekt entschied, würde sie sich nur wenige Straßen südlich von Saint Realty niederlassen.

Falls.

»Pro Jahr würde mich die Miete dreihundertzehn Dollar pro Quadratmeter kosten, richtig?«, erkundigte sich Andi mit gerunzelter Stirn.

»Richtig.« Flores lächelte. Seine Zähne waren blendend weiß und mit Abstand das Strahlendste in diesem bedrückenden Raum.

»Ziemlich happig.«

Das Lächeln verschwand. »Ach was.«

»Anders gesagt, ziemlich überzogen.«

Flores lachte nervös. »Jetzt kommen Sie, das ist ein super Deal. Und das wissen Sie auch ganz genau.«

»Nicht, wenn man sich in der Gegend umschaut. Das habe ich schon überprüft. Ich bekomme hier deutlich attraktivere Räumlichkeiten für nur wenig mehr, ein paar Schritte den Block runter.«

Jetzt war Flores mit dem Stirnrunzeln dran. »Diese Daten sind ein halbes Jahr alt. Der Markt verändert sich doch ständig.«

»Ich zahle zweihundertsechzig Dollar. Ein fairer Preis, denke ich.«

»Sie? Ich dachte, Sie vertreten einen Klienten?« Verdammt.

»Ich wollte sagen, das wäre mein Klient zu zahlen bereit.«

»Sorry. Verhandeln ist nicht drin.«

»Verhandlungsspielraum gibt es immer. Ich bin selbst Maklerin, erinnern Sie sich? Darum geht’s bei uns, um Verhandlungsspielraum.«

»Diesmal nicht. Tut mir leid.«

»Im Ernst?« Andi war genervt. »Das Objekt steht doch schon seit zwei Monaten leer. Ganz offensichtlich ist auch niemand bereit, dreihundertzehn Dollar zu bezahlen.«

»Es haben noch zwei weitere Parteien Interesse angemeldet.«

Andi starrte Flores an. »Ach, tatsächlich?«

Flores stieg unter der Sonnenbräune die Röte ins Gesicht. »Kein Discount. Tut mir leid.«

Andi seufzte. Ihr Handy vibrierte wieder. Kürzer diesmal, eine SMS. Sie nahm das Gerät aus der Gesäßtasche. Eine Nachricht von Diana. Kurz und direkt.

Ruf mich zurück, so schnell es geht. Es ist dringend.

»Shit«, verkündete Andi. »Ich muss los.«

»Sprechen Sie mit Ihrem Klienten«, rief ihr Flores nach, als sie auf die Tür zuging. »Ich melde mich dann heute Nachmittag bei Ihnen.«

»Ohne Verhandlungsspielraum können Sie sich die Mühe sparen. Zweihundertsechzig Dollar!«

Draußen rief Andi Diana zurück. Die nahm das Gespräch sofort an.

»Andi, endlich!«

Das Maklerbüro Saint Realty war vor fünfundzwanzig Jahren aus London nach Los Angeles gezogen, aber ihre beiden Chefs klangen immer noch wie Schauspieler in einem Film von Richard Curtis.

»Sorry, ich hatte gerade … zu tun. Worum geht’s?«

»Ich weiß, du hast dir heute freigenommen, aber ich brauche dich im Büro.«

»Wie, jetzt?«

»Ja, Andi. Jetzt. Es ist dringend.«

»Alles okay bei euch?«

»Alles okay. Aber wir müssen da etwas besprechen.«

Diana klang nicht nach »Alles okay«, sondern angespannt, und ihre Stimmlage war höher als sonst. Andi meinte David im Hintergrund zu hören. Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals.

»Und das kann nicht bis morgen warten?«

»Nein, Andi.«

Diana sollte nicht mitbekommen, dass sich Andi nur wenige Straßen entfernt aufhielt, auf der Jagd nach Räumlichkeiten für ihre eigene Firma.

»Okay. Ich bin zu Hause. Gib mir fünfzehn Minuten. Höchstens zwanzig.«

»Großartig. Dann also bis in zehn Minuten.«

Diana beendete das Gespräch.

Andi spürte, dass sie schwitzige Hände hatte. Ihre Finger hinterließen feuchte Abdrücke auf dem Display ihres Handys. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Sie weiß es.

Diana musste herausgefunden haben, dass Andi plante, von Saint Realty wegzugehen und sich selbstständig zu machen.

Andis Herzschlag beschleunigte sich.

Aber kannte Diana auch den Grund?

Kapitel 2

ANDI

DAVOR

Zwölf Minuten später betrat Andi Saint Realty durch die vordere Tür. In ihrem Bauch blubberte es geradezu vor Nervosität, und tausend Fragen schwirrten ihr durch den Kopf.

Hatte man sie vorhin gesehen, als sie einen der Büroblöcke ganz in der Nähe betrat?

Hatte irgendein Rivale in einem dieser Büros sie verpfiffen?

Hatte Nick Flores gegenüber einem ihrer Kollegen ihren Termin von heute Morgen erwähnt?

Wie die Location in Santa Monica hatte das Maklerbüro von Saint Realty eine Fensterfront zur Straße hin, doch damit hörten die Ähnlichkeiten auch schon auf. Von draußen wirkte die Location täuschend klein. Drinnen fand man sich in einem großen Raum im Industriestil wieder, mit unverputzten Backsteinwänden, Schreibtischen aus Holz und Chrom, plüschigen Samtsofas in Edelsteinfarben, einer Beleuchtung im modernen Design. Das Ganze strahlte Andis Gefühl nach einen eindeutigen New-York-Vibe aus, auch mitten auf dem Sunset Strip.

Sie ging davon aus, dass Diana sie sofort beiseitenehmen und nach oben ins Zwischengeschoss führen würde, in Davids Büro. Das wurde kaum genutzt, nur für Meetings mit wichtigen potenziellen Klienten oder eine diskrete Unterredung mit einem Makler, der nicht die erforderliche Leistung brachte. David und Diana zogen es vor, bei den anderen im Großraumbüro zu arbeiten.

Andi fragte sich, ob David bei diesem so dringenden Gespräch mit Diana anwesend sein würde. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Das wäre schlecht. Sehr schlecht.

Am Ende bot sich Andi ein gänzlich unerwartetes Bild: Ihre beiden Chefs hatten sich zusammen mit den vier Kollegen um den Konferenztisch im hinteren Teil des Raumes versammelt.

Hunter Brooks stach mit der Fingerspitze auf sein Handy ein, einen Ausdruck höchster Konzentration im Gesicht. Der hellhaarige, sonnengebräunte und auf klassische Weise attraktive Mann war am längsten von ihnen allen in der Maklerbranche tätig – inzwischen Anfang dreißig, hatte er vor über einem Jahrzehnt voller Ambitionen hier zu arbeiten begonnen. Er war auf verbissene Weise ehrgeizig und bis zu Andis Eintritt der erfolgreichste Makler der Firma gewesen.

Myles Goldman – typischer Sohn reicher Eltern, einst Absolvent der Beverly Hills High School, mittlerweile ein aufstrebender Mann in den Zwanzigern – trommelte ungeduldig auf der Tischplatte herum. Er trug ein maßgeschneidertes Sakko und ein schickes Hemd, außerdem eine riesige, mit winzigen Diamanten besetzte Platin-Rolex am Handgelenk. Andi konnte nicht unter den Tisch sehen, doch sie vermutete, dass der Kollege sehr enge Jeans und Designerhalbschuhe anhatte, keine Socken. Das entsprach seinem ganz persönlichen Look.

Krystal Taylor warf sich das lange blonde Haar über die Schulter und beobachtete Andi aus zusammengekniffenen Augen. Ganz ohne Zweifel störte sie sich am Freizeit-Outfit ihrer Kollegin, die in T-Shirt, Jeans und Turnschuhen erschienen war. In flachen Schuhen hätte sich Krystal nicht mal tot erwischen lassen, und in Turnschuhen schon gar nicht. Ihr Markenzeichen waren Pumps mit roten Sohlen und so schwindelerregend hohen Absätzen, dass sie selbst einer akrobatischen Tänzerin alles abverlangt hätten.

Verona King starrte in die Ferne und wirkte völlig in Gedanken versunken. Sie war Ende vierzig, glücklich verheiratet und Mutter zweier Kinder. Andi kannte sonst niemanden, der so hart für seine Familie arbeitete.

Nun hatte Diana Andi entdeckt und kam mit schnellen Schritten auf den Türrahmen zu, in dem diese noch stand. Dabei lächelte sie, und Andi sah ihre Augen leuchten. Diana wirkte eher freudig erregt als angespannt. Darum also hatte sie am Telefon so seltsam geklungen. Vor Erleichterung atmete Andi einmal tief durch.

»Danke, dass du so schnell gekommen bist«, begrüßte sie Diana, nahm Andi beim Arm und lenkte sie in Richtung der anderen. »David hat Neuigkeiten, große Neuigkeiten, und die sollst du zusammen mit allen hören.«

Andi ließ sich auf einen freien Stuhl sinken, und Myles’ Gemurmel klang verdächtig nach »Na endlich«.

»Danke, dass du es einrichten konntest«, wandte sich David an sie. »Sicher hast du an deinem freien Tag Besseres zu tun. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen.«

»Ich habe nur zu Hause ein paar Dinge erledigt. Kein Thema.« Andi mied Davids Blick. Wieder hatte sie das heftige Gefühl, gerade auf frischer Tat ertappt worden zu sein.

»Komisch, und dabei dachte ich, ich hätte dein Auto auf dem Santa Monica Boulevard stehen sehen, ungefähr vor zwanzig Minuten.« Das war Krystal. »Auf dem Rückweg von meinem Termin am Melrose Place.«

Andi spürte, dass Dianas Blick auf ihr ruhte. »Kann nicht sein. Ich war zu Hause. Wie gesagt.«

»Ich bin mir sicher, es war dein Wagen. Du fährst doch immer noch diesen alten blauen Beemer, oder?« Krystal klang, als spreche sie gerade über Columbos schrottreifen Peugeot. Myles schnaufte. Andi hatte sich nach einem grandiosen ersten Jahr in Los Angeles von ihren Ersparnissen ein gebrauchtes 2018er-BMW-Coupé gegönnt.

»Das muss eine Verwechslung sein«, presste Andi durch zusammengebissene Zähne.

Krystal wollte gerade etwas erwidern, ganz offensichtlich weiter auf ihrer Behauptung beharren, doch dazu erhielt sie nicht die Chance.

»Also gut, Leute«, setzte David an. »Legen wir los. Wenn das in Ordnung für dich ist, Hunter?«

»Hä?« Hunter, der immer noch hektisch auf sein Handy eingetippt hatte, schaute auf. »Oh, na klar. Sorry.« Er legte das Gerät mit dem Display nach unten auf den Tisch.

David hielt einige offiziell wirkende Dokumente hoch. »Das hier ist ein Exklusivauftrag. Sieht genauso aus wie all die anderen Exklusivaufträge, die euch hier bisher begegnet sind, oder?«

Über seine Hornbrille hinweg schaute David einen nach dem anderen an.

Allgemeines Nicken. Diana lächelte wissend, wie jemand, der die Pointe eines Witzes bereits kennt. Verona und Myles wirkten fasziniert, Krystal gelangweilt, Hunter immer noch abgelenkt.

»Falsch!«, rief David triumphierend. »Das hier ist nämlich der Exklusivauftrag für ein Strandhaus in Malibu, und dieses Haus ist fünfzig Millionen Dollar wert.«

Jetzt hatte er die Aufmerksamkeit aller Anwesenden.

»Fünfzig Millionen Dollar?« Krystals blassblaue Augen weiteten sich.

»Im Ernst?« Verona, die in den letzten Tagen müde und erschöpft gewirkt hatte, war plötzlich voll da.

»Warte mal – bedeutet das, das ist unser Exklusivauftrag?«, wollte Myles wissen.

David grinste. »Der Deal mit dem Developer wurde heute Morgen unterzeichnet. Ich brauche euch wohl nicht zu sagen, dass das hier der größte Exklusivauftrag aller Zeiten für uns ist. Wenn wir dieses Haus verkaufen können, sind wir richtig dick im Geschäft. Dann brechen hier andere Zeiten an. Natürlich werde ich in diesem Fall als Verkaufsagent auftreten. Aber am besten würde es mir gefallen, wenn mir einer von euch einen Käufer bringt.«

Krystal nickte energisch. »Am besten mit Double-Ending.« Wäre sie eine Comicfigur gewesen, hätte sie gerade riesige Dollarzeichen in den Augen gehabt.

Bei solchen Deals bedeutete Double-Ending, dass dieselbe Maklerfirma sowohl Verkäufer als auch Käufer vertrat. Wenn einer von Davids fünf Leuten einen Klienten lieferte, der zu einem Gebot für das Malibu-Haus bereit war, durfte Saint Realty davon ausgehen, mit diesem Exklusivauftrag richtig Kohle zu machen.

»Korrekt«, gab David zurück. »Allerdings, nur um das klarzustellen: Das Objekt kommt auf alle Fälle auf den Markt, sobald man es hergerichtet und fotografiert hat, und am kommenden Freitag wird es außerdem eine Besichtigungsoption für die Broker geben, ein Open-House-Event. Für Top-Broker und Käufer, ganz exklusiv. Diana kümmert sich um alles.«

»Und das Ganze läuft zu unserer üblichen Rate, was die Courtage betrifft?«, erkundigte sich Hunter, der sein Handy inzwischen völlig vergessen hatte.

»Genau.«

Schnell rechneten alle im Kopf nach. Fünf Prozent des Verkaufspreises, fifty-fifty zwischen dem Makler des Verkäufers und dem des Käufers geteilt, außerdem würde das betreffende Maklerbüro zwanzig Prozent der Gebühr erhalten, die dem Makler des Käufers zustand.

»Aber das bedeutet ja …«

Myles brachte den Satz nicht zu Ende, weil David ihn unterbrach: »Eine Million Dollar für denjenigen, der einen Käufer für dieses Haus findet.«

»Krass«, kam jetzt von Verona. »Das klingt ja alles super. Aber ich muss das trotzdem fragen: Wenn sich das Objekt in Malibu befindet, warum hat der Developer sich dann keinen Broker vor Ort gesucht, der die Zahlen und die Gegend kennt? Warum kommt er damit zu uns?«

Gut mitgedacht, fand Andi.

David schien die Frage zu irritieren. Er fuhr sich mit einer Hand durch das schlaffe Haar und stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. »Weißt du, was meine alte Mutter immer gesagt hat? ›Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.‹ Wenn sich einem eine solche Gelegenheit bietet, muss man mit beiden Händen zugreifen. Keine Fragen stellen. So einfach ist das. Euch bleibt weniger als eine Woche, bevor das Objekt offiziell auf den Markt kommt. Macht das Beste aus dieser Zeit. Sprecht mit euren Klienten – jetzt.« Er wandte sich an Andi. »Kannst du sofort anfangen? Diana trägt dann einen neuen freien Tag für dich ein. Meiner Ansicht nach ist dieses Haus perfekt für einen unserer Klienten an der Ostküste.«

»Klar.« Andi zögerte keine Sekunde. »Ich plane einfach um.«

»Äh, hallo?«, meldete sich jetzt Krystal zu Wort. »Dir ist doch wohl bewusst, dass du noch vier weitere Leute hier hast, die auch wunderbar in der Lage sind, einen Käufer zu finden. Das hast du auf dem Schirm, oder?«

»Durchaus, aber Andi ist seit über einem Jahr die beste Maklerin in dieser Firma.«

»Weil sie immer die besten Aufträge bekommt«, murmelte Hunter.

»Jetzt hört mal zu, Leute. Jeder von euch könnte einen Klienten haben, der ein Gebot abgeben will. Und darum fahren wir auch gleich morgen früh alle zusammen nach Malibu und schauen uns das Objekt an«, kündigte David an.

Ein aufgeregtes Summen breitete sich im Raum aus.

Eine Million Dollar.

Das würde reichen, um mir eine eigene Firma aufzubauen, dachte Andi. Und zwar in einer ordentlichen Lage. Eine Assistentin wäre auch drin. Solche Summen veränderten das Leben. David hatte recht – sie war tatsächlich Saint Realtys beste Maklerin, und das hatte nichts mit Bevorzugung zu tun. Nein, Andi war einfach verdammt gut in ihrem Beruf.

Eine Million Dollar.

Als sie sich am Tisch umsah, erkannte sie ihre eigene Aufregung und Entschlossenheit in den Gesichtern von Krystal, Myles, Verona und Hunter wieder.

Die vier waren wie sie Maklerinnen und Makler. Ihre Kolleginnen und Kollegen. Ihre Rivalinnen und Rivalen.

In ihren Gesichtern nahm sie aber auch Verzweiflung wahr. Als hätten sie alle ganz persönliche Motive, aus denen sie das Geld benötigten. Aus irgendeinem Grund setzte Andi dieser Gedanke zu, und trotz der Hitze im Raum lief ihr ein Schauer über den Rücken.

Kapitel 3

ARIBO

DANACH

Der Anruf kam zwischen Hauptgang und Dessert.

Detective Jimmy Aribo nahm gerade mit seiner Frau in einem der besten Restaurants von Calabasas einen Lunch zu sich. Es gehörte zu Denises Lieblingslokalen, doch ihr letzter Besuch lag schon Monate zurück. Aribo ging viel zu selten mit ihr aus. Sie saßen an einem kleinen Tisch für zwei draußen auf der Terrasse. Der gepflasterte Innenhof mit seinen Bäumen, der Sonnenschein, die leise Musik – man hatte den Eindruck, in einer Trattoria in der Toskana zu sitzen und nicht nah an zu Hause.

Sie saßen bei einem späten Lunch – oder einem frühen Abendessen, je nach Sichtweise –, weil sie für heute Abend Eintrittskarten zu einem Howard-Jones-Konzert im Ace Hotel besaßen. Aribo hatte Tisch und Veranstaltung als Überraschung für ihren zwanzigsten Hochzeitstag gebucht. Und für sie beide den teuersten Wein auf der Karte bestellt. Was seine Chancen auf Sex heute Abend betraf, war er ziemlich optimistisch.

Aribo und Denise waren schon fast so lange verheiratet, wie er seinen Beruf ausübte. Dreiundzwanzig Jahre im Los Angeles County Sheriff’s Department. Wenn er in den Ruhestand ging, würde er eine anständige Altersversorgung und vielleicht eine goldene Uhr bekommen. Denise jedenfalls hatte einen Orden verdient, so viel stand fest. Für den Augenblick würde sie sich jedoch mit einer Portion guter Gnocchi und Musik aus den Achtzigern zufriedengeben müssen.

»Da vibriert was«, sagte Denise.

»Bitte?«

»Dein Handy. Es vibriert.«

»Tatsächlich?« Aribo klopfte sich die Hosentaschen ab.

»Im Sakko.«

Aribo fand das Handy in seinem Jackett, das er lässig über die Stuhllehne geworfen hatte.

»Es ist Tim.«

»Dann gehst du wohl besser mal ran.« Denise klang resigniert.

Aribo zögerte. »Ich habe mir extra freigenommen. Darum habe ich das Ding doch auf lautlos gestellt.«

»Geh einfach ran.«

Tim Lombardi war Aribos Partner am Los Angeles County Sheriff’s Department und hatte strikte Anweisung erhalten, heute nicht anzurufen. Was ihn aber anscheinend nicht davon abhielt, es jetzt zu tun. Sie arbeiteten seit mehr als einem Jahrzehnt zusammen, und manchmal fühlte sich ihre Beziehung wie eine Ehe an, allerdings mit weniger Vorteilen.

»Tim. Du weißt genau, dass ich heute keinen Dienst habe. Hoffentlich hast du einen guten Grund.«

»Ich weiß, ich weiß. Euer Hochzeitstag. Zwanzig Jahre, stimmt’s? Bitte sag Hallo zu Denise. Es ist nur so, dass hier was anliegt. Ganz eindeutig kein natürlicher Tod. Tut mir leid, Aribo, aber wir brauchen dich hier.«

»Warum hat mich der Captain nicht angerufen?«

»Weil Garcia ein Feigling ist. Er hat Angst vor Denise. Ich habe das kurze Streichholz gezogen.«

Aribo musste wider Willen lachen. »So schlimm ist sie gar nicht. Eigentlich ist sie ein liebes kleines Schmusekätzchen.«

Denise zog eine Augenbraue hoch und goss sich mehr Wein ins Glas. Ihm nicht.

»Klar«, meinte Lombardi.

»Okay, was liegt an?«

»Eine Leiche im Pool in einem Haus am Malibu Beach Drive.«

Malibu Beach Drive, das bedeutete sehr reiche Leute, also Medieninteresse und damit ganz genaue Beobachtung von höherer Stelle.

»Shit. Was ist denn da so verdächtig?«

»Blut. Mögliches Kopftrauma. Die Möbel am Pool stehen irgendwie falsch. Und unsere Leiche war auch nicht unbedingt zum Schwimmen angezogen.«

»Welchen Eindruck hast du? Ist da irgendeine häusliche Auseinandersetzung aus dem Ruder gelaufen?«

»Nein. Das passt nicht. Da lief gerade ein Open-House-Event, als der Anruf bei uns reinkam.«

»Was?«

»So eine Art Maklerparty.«

»Ja, ich weiß, was ein Open-House-Event ist. Aber willst du damit sagen, wir haben auf einer gut besuchten Party eine Leiche im Pool?«

»Genau das.«

Ein Kellner erschien, auf dem Tablett zwei Schokoladensoufflés mit Vanilleeis. In den Soufflés steckten Wunderkerzen, und auf den Tellerrand hatte man jeweils mit einer exquisiten Schokoladensoße in eleganten Schnörkeln »Alles Gute zum Hochzeitstag« geschrieben. Gutes Timing hatten sie hier drauf, das musste man ihnen lassen.

»Ich kann in einer halben Stunde bei euch sein«, sagte Aribo.

Mit versteinertem Gesichtsausdruck zog Denise einen der Teller zu sich heran. Die Wunderkerzen erloschen. Sie nahm mit der Gabel ein wenig Soufflé auf und steckte es sich in den Mund. Heute Nacht würde er keinen Sex bekommen. Nicht unter den gegebenen Umständen.

»Folgendes, Aribo«, fuhr Lombardi fort. »Wir haben hier fünfzig Zeugen. Aber niemand hat irgendwas gesehen, und niemand hat irgendwas gehört.«

Kapitel 4

HUNTER

DAVOR

Lässig lenkte Hunter Brooks seinen eleganten schwarzen Rolls-Royce Ghost in die Auffahrt seines Hauses im Spanish-Colonial-Revival-Stil in Brentwood und stellte den Motor ab. Er fühlte sich gleichzeitig aufgekratzt und angepisst.

Aufgekratzt durch die Vorstellung, die coole Summe von einer Million Dollar könnte demnächst auf seinem Konto landen, und beim Gedanken an den Unterschied, den das in seinem Leben machen würde. Gerade jetzt.

Angepisst, weil David, sein langjähriger Boss und früherer Mentor, ganz offensichtlich die Ansicht vertrat, Hunter sei dem Job nicht gewachsen. David hatte allen in diesem ganzen verdammten Büro nur zu deutlich zu verstehen gegeben, dass seiner Überzeugung nach Andi Hart die größten Chancen hatte, einen Käufer für das Objekt in Malibu an Land zu ziehen.

Hunter mochte Andi nicht – und nicht nur, weil sie mehr Objekte verkaufte als er selbst.

Dieses ganze betont entspannte »Ich komme aus New York«-Getue ging ihm so richtig auf die Nerven. Es war, als glaube sie, sich nicht wie alle anderen anstrengen zu müssen. Mal ehrlich, was sollte das mit den abgewetzten Stiefeln, der abgetragenen Lederjacke und dem zerzausten Haar? Andi zog sich nicht so an wie die anderen Frauen, die Hunter kannte. Aber viele Leute schienen ihren Stil geradezu zu lieben, vor allem die jungen Kreativen von Hollywood, die aufstrebenden Schauspieler und Musiker und Künstler. Sie alle wollten, dass sie für sie arbeitete. Wenn man diese Leute zu Andis bestehender Klientel an der Ostküste hinzurechnete, so musste Hunter zähneknirschend einräumen, besaß Andis Klientenliste ein außergewöhnliches Potenzial.

Natürlich hatte Hunter seine Hausaufgaben gemacht, als Andi Hart ins Team von Saint Realty gekommen war. Einer seiner alten Kumpel mischte in der Maklerszene in Brooklyn mit und hatte sich diskret für ihn umgehört. Aber da gab es keine schmutzige Wäsche zu waschen, nichts, was da ungewöhnlich oder interessant gewesen wäre – abgesehen von der Tatsache, dass Andi Manhattan wohl ziemlich überstürzt verlassen hatte. Ihren Job und ihr Apartment aufgegeben und ihren Freund verlassen, alles innerhalb einer Woche. Dann war sie mit Sack und Pack hierher nach La-La-Land gezogen.

Hunter entdeckte sein Handy in der Autotür und merkte, dass es immer noch ausgeschaltet war. Nach Davids großer Ankündigung hatte er von seinem Schreibtisch aus einige Anrufe tätigen wollen, ohne Ablenkungen, ohne dass ständig unerwünschte SMS auf seinem Handy erschienen. Er schaltete das Gerät ein, während er aus dem Wagen stieg und sich auf die Haustür zubewegte. Es erwachte zum Leben und piepte ein paarmal, um kundzutun, dass etliche neue Nachrichten eingegangen waren. Hunter blieb stehen, um sie zu lesen.

Charlie Vance: Ich lasse mich nicht für dumm verkaufen, Hunter. Ich brauche mehr Geld.

Charlie Vance: Hunter?? Melde dich lieber, sonst …

Melissa: Hey, Süßer, wie läuft dein Tag? Ich mache heute Abend Brathähnchen, wenn das okay ist? Love you xx

Betsy Bowers: Ein Klient interessiert sich für dein Objekt auf der Homepage. Können wir ganz schnell eine Besichtigung arrangieren?

Melissa: Habe versucht, dich anzurufen. Warum ist dein Handy abgestellt? Ich habe das Huhn. Essen um sieben, ja? Xx

Charlie Vance: IGNORIERE MICH NICHT. Du weißt, was dann passiert.

Hunter schrieb eine rasche SMS an Betsy Bowers, in der er einen Besichtigungstermin für den kommenden Nachmittag anbot.

Erst als er die Tür öffnete, fiel ihm auf, dass in keinem der Fenster Licht brannte. Dabei war es fast neunzehn Uhr. Hunter runzelte die Stirn.

Er betrat das Haus. Ab dem frühen Abend hatte Melissa normalerweise in jedem Zimmer eine Lampe an. Heute lag das gesamte untere Stockwerk im Dunkeln. Es duftete auch nicht nach Huhn oder irgendwelchem anderen Essen. Kein Klappern mit Töpfen oder Geschirr in der Küche. Kein lauter Fernseher im Wohnzimmer. Nichts von den Geräuschen und Gerüchen, die ihn üblicherweise bei der Rückkehr von der Arbeit willkommen hießen.

»Melissa?«, rief er. »Bist du da, Sweetheart?«

Keine Antwort.

Ihr Auto stand in der Einfahrt. Hunter hatte seinen Wagen genau neben ihrem geparkt. Er ging ins Wohnzimmer und fand es leer vor. Weiter in die Küche. Der schicke Vintage-Ofen und der Herd waren nicht eingeschaltet. Die große Kücheninsel, auf der Melissa ihre Mahlzeiten zubereitete, war blitzsauber. Dann bemerkte er das Handy seiner Frau in einer Ecke, ihre Handtasche direkt daneben. Hunter berührte das Display und entdeckte mehrere ungelesene und unbeantwortete SMS von einigen ihrer Freundinnen.

Das passte überhaupt nicht zu Melissa. Ein mulmiges Gefühl ließ sich in Hunters Eingeweiden nieder. Hier stimmte etwas nicht. Ganz und gar nicht.

»Melissa

Die Kehle wurde ihm eng.

Stille.

Und dann … war da etwas. Ein Aufschrei oder ein Wimmern. Es kam von oben.

Hunter nahm zwei Stufen auf einmal. Unter der Tür zum großen Badezimmer kam Licht hervor. Jetzt hörte er, dass drinnen jemand weinte. Er drückte vorsichtig die Klinke herunter. Die Tür war nicht verschlossen.

Melissa saß zusammengesunken auf dem Boden, ihr Haar hing ihr ins Gesicht. An den Händen und auf den bloßen Beinen Blut. Überall Glasscherben. Wanne und Fußbodenkacheln ebenfalls mit Blut verschmiert.

»Oh Gott, Melissa.« Hunter fiel neben ihr auf die Knie. Etwas Feuchtes drang durch seine schicken Hosen. Er spürte den eigenen Herzschlag in den Ohren. »Was zum Teufel ist passiert? Bist du in Ordnung?«

»Oh, Hunter«, rief sie weinend, schlang ihm die Arme fest um den Hals und vergrub das Gesicht an seiner Schulter. Sie atmete schwer, schluchzte und hatte gleichzeitig Schluckauf.

Hunter versuchte, die in ihm aufsteigenden Gefühle von Angst und Panik zu unterdrücken. »Hat man dir etwas angetan? War jemand im Haus? Was haben sie mit dir gemacht?«

Melissa lehnte sich zurück und schaute ihn verständnislos an. Auf ihrem Gesicht waren Rotz, Tränen und Mascara verschmiert. Ihre Augen waren geschwollen wie dicke rote Kissen. Sie schüttelte den Kopf. »Es war niemand im Haus.«

Plötzlich nahm Hunter einen penetranten Geruch wahr, der ihm hinten in der Kehle brannte und in den Augen stach. Jetzt begriff er, dass die Glasscherben zu einigen seiner teuren Duftwasserflaschen gehörten, die normalerweise oben auf dem Badezimmerschrank standen.

»Erzähl mir, was passiert ist, Mel.«

»Die Klinik hat angerufen.« Melissa begann wieder zu weinen.

»Es hat nicht geklappt. Ich bin nicht schwanger.«

Hunter spürte, wie in seinem Bauch ein schwerer Anker auf Grund ging.

»Ach, Baby.« Er zog sie an sich und streichelte ihr das lange, dunkle Haar. »Es tut mir so leid.«

Eine Weile ließ er sie leise weinen, und seine Angst und Panik wichen Verzweiflung und Schuldgefühlen.

»Ich war mir wirklich sicher, diesmal hätte es geklappt«, meinte sie. »Es hat sich einfach anders angefühlt als vorher. Ich war so fest davon überzeugt. Dann hat Dr. Kesslers Sekretärin mit den Ergebnissen angerufen, und ich bin so wütend geworden. Da habe ich ein paar Flaschen kaputt gemacht. Als ich die Scherben aufheben wollte, habe ich mich geschnitten. Es ist so verdammt unfair!«

»Ich weiß, ich weiß«, versuchte Hunter sie zu beruhigen.

Er untersuchte die Schnitte an Melissas Händen und Beinen und stellte erleichtert fest, dass sie nur oberflächlich waren. Dann holte er einen Erste-Hilfe-Kasten aus dem Badezimmerschrank, desinfizierte die Wunden und klebte ein paar Pflaster darauf.

»Ich glaube, du wirst es überstehen.« Er lächelte. »Von meinem Duftwasser kann man das allerdings nicht behaupten.«

Melissa erwiderte sein Lächeln, dann wurde sie wieder ernst. »Wir versuchen es aber weiter, oder? Noch eine künstliche Befruchtung. Noch mehr Tests. Was immer nötig ist. Wir können es uns leisten, oder? Du hast doch gerade erst letzten Monat dieses Haus in der Doheny Road verkauft. Also können wir die Courtage benutzen.«

Hunter zögerte. »Lass uns später darüber reden, ja?«

»Du gibst doch nicht auf?« Melissa packte ihn am Hemd, klammerte sich fest. »Sag, dass du immer noch Vater werden möchtest. Dass du unser Baby nicht aufgibst. Dass du mich nicht aufgibst.«

»Natürlich nicht.« Er seufzte. »Ich möchte einfach nur, dass du glücklich bist, Mel. Das ist für mich das Allerwichtigste. Wir machen noch einen Termin mit Dr. Kessler und hören uns an, was sie vorschlägt. Okay?«

Seine Frau nickte. »Okay.«

»Warum legst du dich nicht ein bisschen hin? Dann räume ich auf und koche uns was. Ich wecke dich, wenn alles fertig ist. Klingt das gut?«

»Wunderbar.« Melissa küsste ihn sanft. »Womit habe ich dich nur verdient?«

Nachdem im Bad alles erledigt war, ging Hunter nach unten. Im Kühlschrank fand er das Huhn, steckte es in den Ofen und machte einen Salat. Dann öffnete er für sich eine Flasche Châteauneuf du Pape. Melissa verzichtete schon seit längerer Zeit auf Alkohol, um ihre Chancen auf eine Schwangerschaft zu erhöhen. Das erste Glas trank er rasch aus und goss sich sofort ein weiteres ein.

Er fuhr zusammen, als sein Handy einen schrillen Ton von sich gab. Auf dem Display erschien der Name Charlie Vance.

Hunter drückte den Anruf weg. Sofort klingelte sein Handy wieder, und er ließ erneut die Mailbox rangehen. Gerade wollte er das Gerät ausstellen, da traf eine SMS ein.

Ich stehe draußen. Meine Anrufe kannst du ignorieren, an die Tür wirst du ja wohl gehen.

Hunter stürzte ins Wohnzimmer und spähte durchs Fenster. Inzwischen war es stockdunkel. Ein Auto stand unter einer Straßenlaterne, die Scheinwerfer eingeschaltet. Sie blinkten zweimal hintereinander kurz auf.

Fuck.

Hunter wählte Charlie Vance’ Nummer.

»Was zum Teufel soll das?«, zischte er.

»Du lässt mir keine andere Wahl, Hunter.«

»Na und? Ist es deswegen in Ordnung, einfach vor meiner Tür aufzutauchen? Bist du verrückt geworden, verdammt noch mal? So war das nicht abgemacht.«

»Es war auch nicht abgemacht, dass du mich einfach ignorierst. Soll ich jetzt also aus dem Auto steigen, oder was? Ich bin nicht allein, falls du das geglaubt hast.«

In der Küche gab der Wecker einen lauten Summton von sich. Hunter schaute zur Decke und fragte sich, ob Melissa wohl wach war. Er fluchte leise. »Okay. Was willst du?«

»Reden will ich. Ein persönliches Gespräch. Wir müssen an unserem finanziellen Abkommen ein paar Veränderungen vornehmen.«

»Wann?«

»Morgen.«

»Morgen geht es nur am späten Nachmittag. Ich habe Termine, die ich nicht verschieben kann. Eine wichtige Besichtigung.«

»Gut. Das Geld wirst du brauchen. Sechzehn Uhr. Üblicher Treffpunkt. Und komm nicht zu spät.«

Kapitel 5

KRYSTAL

DAVOR

Auf der anderen Seite der Interstate 405, im Vorland der Santa Monica Mountains, lag Krystal Taylors Haus ebenfalls im Dunkeln. In ihrer Brust zog sich etwas zusammen, und sie umfasste das Lenkrad ihres lippenstiftroten Porsche 911 mit festem Griff.

Anders als Hunter Brooks war sie jedoch nicht alarmiert – nicht einmal überrascht, als sie ihr Haus in der Siedlung Trousdale Estates mit dunklen Fenstern und einer leeren Auffahrt empfing. In letzter Zeit kam es sehr häufig vor, dass sie bei ihrer Ankunft niemanden zu Hause antraf.

Stinksauer machte es sie trotzdem.

Krystal konnte sich nicht daran erinnern, wann sie und ihr Ehemann zuletzt zusammen zu Abend gegessen hatten. War das einen Monat her? Länger? Eigentlich egal. Fest stand, sie verbrachten immer weniger Zeit miteinander. Zugegeben, sie hatte einen hektischen Arbeitsalltag, aber Micah war in letzter Zeit wirklich sehr viel unterwegs.

Im Haus stellte Krystal die Alarmanlage ab und glitt aus ihren Louboutins. Ließ sie einfach an der Haustür liegen. Micah hasste Unordnung – na und? Er war ja nicht da, um sich zu beschweren. Barfuß tappte sie durchs Haus, schaltete in allen Räumen das Licht ein. Krystal rief nicht einmal, um festzustellen, ob vielleicht doch jemand zu Hause wäre. Nicht nötig.

Der Zettel lag auf dem Küchentisch. Ein Stück Papier von einem Notizblock abgerissen und doppelt gefaltet. Micahs so vertraute Schnörkelschrift mit blauem Kugelschreiber auf billigem gelbem Linienpapier.

Arbeitsessen mit Al. Möglicherweise neuer Gig. Warte nicht auf mich.

Kein »Hi, Honey« als Begrüßung, kein Kuss am Ende. Es ging nur darum, die allerwichtigsten Informationen mitzuteilen. Sonst nichts. Genau wie bei den ganzen anderen kurzen Nachrichten, die er für sie hinterließ, wenn er wegen eines sogenannten Arbeitstreffens erst nach Mitternacht nach Hause kam.

Arbeitstreffen.

Krystal lachte bitter auf, und in der stillen Küche hallte ihr Lachen laut wider.

Micah Taylor hatte nicht mal eine Arbeit. Nicht wirklich jedenfalls, nicht mehr.

Er war Football-Profi, ein ehemaliger NFL-Wide Receiver, der seine gesamte Karriere bei den Los Angeles Rams verbracht hatte. Am Tag nach der Rams-Niederlage im Super Bowl LIII war er ausgestiegen.

Heutzutage ging es bei seiner »Arbeit« um Auftritte auf Spendenveranstaltungen für Prominente (gegen Bezahlung, versteht sich), ums Bänderdurchschneiden bei der Eröffnung einer neuen Pizzakette, um einen Auftritt bei Dancing with the Stars (obwohl er zwei linke Füße hatte) oder was auch immer sein langjähriger Agent Al Toledo an Land zog, damit auch nach dem Football Geld in die Kasse kam.

Krystal knüllte den Zettel zusammen und warf ihn in den Müll. Manche Frauen fanden handschriftliche Nachrichten von ihren Ehemännern romantisch oder niedlich. Krystal gehörte nicht zu ihnen.

Sie suchte in ihrer Louis-Vuitton-Tasche nach ihrem Smartphone und rief ihren Mann an, obwohl sie ziemlich sicher war, dass sein Handy ausgeschaltet sein würde. Dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte, verschaffte ihr eine Art grimmiger Genugtuung. Der Anruf wurde direkt an die Mailbox weitergeleitet. Krystal legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen.

Dass er so häufig nicht zu erreichen war, begründete Micah damit, er könne während wichtiger Meetings keine unnötigen Unterbrechungen gebrauchen – unnötige Unterbrechungen wie alberne Anrufe und SMS von seiner Frau oder seinen Kumpels. Das, so Micah, wirke unprofessionell.

»Und was, wenn irgendwann ein Unfall passiert und ich dich nicht erreichen kann?«, hatte sie ihn einmal gefragt.

Micah hatte nur mit den Schultern gezuckt. »Ich passe immer ziemlich gut auf. Warum sollte ich einen Unfall haben?«

»Ich meine, wenn ich einen Unfall habe?«

Erneutes Schulterzucken. »Dann könntest du doch eine Freundin anrufen oder irgendwen von der Arbeit, oder die 911, wenn es wirklich schlimm ist.«

Krystal brauchte nicht lange, um darauf zu kommen, dass der eigentliche Grund für Micahs konsequentes Handyabstellen seine Sorge war, sie würde ihm mit einer dieser Tracking-Apps hinterherspionieren. Dieser Gedanke gefiel Micah nicht, könnte sie doch herausfinden, dass er nicht war, wo er zu sein behauptete. Oder besser gesagt, mit wem er dort zu sein behauptete.

Micah hielt sich für außergewöhnlich clever, aber Krystal hatte ihn ganz bestimmt nicht wegen seines Superhirns geheiratet. Fairerweise musste sie einräumen, dass sie selbst ihn auch nicht gerade durch ihre eigenen akademischen Leistungen beeindruckt hatte, aber klüger als er war sie allemal. Und klüger, als die meisten Leute sie einschätzten.

Vor einiger Zeit hatte sie für hundertfünfzig Dollar auf Amazon einen GPS-Tracker gekauft. Einen kleinen schwarzen Apparat mit einem Magneten daran, der in ihre Hand passte und sich leicht unauffällig platzieren ließ. Offiziell sollte er wohl bei Fahrzeugdiebstahl oder -verlust helfen, hatte Krystal überlegt, aber bei verlogenen Ehemännern funktionierte er genauso gut.

Das Ding ließ sich auf jeder beliebigen ebenen Metallfläche anbringen, aber sie hatte sich gegen die Unterseite von Micahs Wagen entschieden. Erstens wollte sie auf keinen Fall auf dem Bauch liegend etwas unter seinen tiefergelegten Aston Martin schieben. Zweitens wäre diese Taktik zu offensichtlich gewesen, denn Micah hatte zweifellos dieselben Filme gesehen wie sie. Stattdessen hatte sie den Tracker im Kofferraum versteckt, in der Ecke hinter den teuren Golfschlägern, die Micah nur einmal im Leben benutzt hatte.

Jetzt rief Krystal die dazugehörige App auf und schaute sich die Karte genauer an. Die Daten wurden direkt übertragen, und der unbewegliche rote Punkt verriet ihr, dass ihr Mann den Motor ausgeschaltet hatte und sein Wagen in der Nähe des Grandmaster Recorders stand, einem Restaurant mit Bar im Westen Hollywoods.

»Ach«, sagte Krystal laut.

Mit dieser Art Information hatte sie nicht gerechnet. Vielleicht sagte Micah ja einmal im Leben die Wahrheit. Vielleicht aß er tatsächlich mit seinem Agenten Al Toledo und einem Klienten zu Abend. Um das herauszufinden, gab es nur eine Möglichkeit. Krystal nahm ihre Handtasche, ging durch den Flur und schlüpfte wieder in ihre Louboutins.

Während sie über den Loma Vista Drive glitt, den zu beiden Seiten riesige Bäume, Luxusvillen und Baustellen für weitere Objekte im Wert von mehreren Millionen Dollar säumten, rasten Krystals Gedanken genauso schnell wie ihr Porsche.

Mit wem ist Micah zusammen? Was treibt er gerade?

Krystal hatte das scheußliche Gefühl, die Antwort auf diese Fragen bereits zu kennen. Sie fuhr auf der Doheny Road weiter östlich, bevor sie auf den Sunset Boulevard einbog, wo die Neonlichter aufpoppten, geradezu zischten, und riesige Reklamewände einen zu verführen versuchten. Sie fuhr weiter, vorbei am Pendry Hotel mit seinem eleganten Glasmodernismus und am Chateau Marmont, das in all seiner vergangenen Glorie hoch oben auf dem Hügel thronte. Dann an den minimalistischen, klaren Linien des trendigen Moment Hotel.

All diese Orte stellten Stationen auf einer Landkarte der Untreue dar. In Cahuenga schließlich fand Krystal etwa fünfzig Meter vom Restaurant entfernt einen Parkplatz hinter einem großen Geländewagen, sodass sie den Eingang im Auge behalten konnte, ohne dass ihr eigenes Auto mit seinem leuchtenden Rot zu sehr aufgefallen wäre.

Ursprünglich war das Grandmaster Recorders ein Stummfilmtheater gewesen, bis man es Anfang der Siebziger in ein Tonstudio umgewandelt hatte, in dem Stevie Wonder, David Bowie, Bonnie Raitt und viele andere Stars Songs aufnahmen. Inzwischen konnte man dort etwas essen und trinken – aber keine Musik mehr machen. Trotzdem zog es immer noch Prominente an. Das Restaurant gehörte zu Micahs Lieblingsorten.

Krystal saß im Wagen, wartete und schaute und dachte an all die anderen Male, als sie ihrem Mann hinterherspioniert hatte. 

Die erste Aktion mit dem Tracker hatte sie zum Sunset Tower Hotel geführt. Sie war direkt nach drinnen marschiert und hatte Lobby, Bar, Restaurant und andere öffentliche Bereiche abgesucht. Von Micah keine Spur. Dann war sie zu ihrem Wagen zurückgekehrt und hatte sich jedes einzelne Fahrzeug notiert, das das Gelände etwa zur selben Zeit verließ wie sein Aston Martin. Später hatte sie dasselbe am Pendry Hotel erledigt und am Chateau Marmont und am Moment Hotel, bis sich ein Muster abzeichnete: Es kam jedes Mal ein silberner Mercedes-Sportwagen mit heruntergelassenem Verdeck, am Steuer eine Rothaarige, immer mit einer riesigen Sonnenbrille, die ihr Gesicht teilweise verdeckte. Krystal hätte nicht sagen können, wie alt die Frau war oder wie attraktiv. In zweierlei Hinsicht hegte sie allerdings keinerlei Zweifel: Die Bitch hatte Geld, und sie ging mit Krystals Ehemann ins Bett.

Etwas mehr als eine Stunde später verließ Micah das Grandmaster Recorders. Übersehen konnte man ihn kaum: 1,85 Meter groß, über 85 Kilo schwer, die Haut so dunkel wie der Nachthimmel, Sneakers so weiß wie der Mond, und in einem grellen Sportjackett, das mehr kostete als das Monatsgehalt der meisten Leute. Mit seinen vierundvierzig Jahren immer noch so fit, kompakt und attraktiv wie auf dem Höhepunkt seiner Football-Karriere.

Seine Begleitung war definitiv nicht Al Toledo.

Schlank und zierlich, etwa dreißig Zentimeter kleiner als Micah, und eine Mähne aus dickem rotem Haar, die auf ihren schmalen Schultern lag. Keine Sonnenbrille diesmal. Etwa Ende dreißig. Krystal hämmerte fluchend auf ihr Lenkrad ein. Die Frau da war nicht einmal jünger oder hübscher als sie selbst – die ultimative Beleidigung.

Micah überreichte dem Parkplatzwächter ein Ticket und wartete auf seinen Wagen, während Krystals Welt um sie herum wie ein Kartenhaus zusammenbrach. Inzwischen zeigte er seine Untreue also öffentlich, verdammt noch mal. Entweder war Micah sogar noch dümmer, als sie gedacht hatte, oder es war ihm längst gleichgültig, wenn man ihn mit einer Frau sah, bei der es sich ganz eindeutig nicht um seine Ehefrau handelte.

Micah zieht das wirklich durch, dachte Krystal. Ihre Brust hob und senkte sich hektisch, und sie war kurz davor, sich über die Ledersitze ihres Wagens zu übergeben. Er würde sie wirklich verlassen. Schlimmer noch, er würde sie mittellos zurücklassen.

Es gab einen Ehevertrag. Al – das Gehirn in der Partnerschaft Toledo/Taylor – hatte dafür gesorgt. Damals hatte Krystal damit kein besonders gutes Gefühl gehabt, unterschrieben hatte sie dennoch, weil Micah immer sehr großzügig mit seinem Geld gewesen war. Am Anfang ihrer Beziehung hatte er sie mit teuren Geschenken nur so überschüttet und ihr dann eine hohe monatliche Zuwendung und ihre eigene Platin-Amex-Karte versprochen, wenn sie erst einmal verheiratet wären.

Krystal hatte sich eingeredet, sie würde sich niemals wegen einer Scheidung sorgen müssen.

Dann hatte sie die Affäre entdeckt, die alles veränderte.

Ein eigenes Scheckkonto besaß sie schon – für das »Taschengeld«, das sie mit ihrer »kleinen Tätigkeit« verdiente, wie Micah das nannte. Seit vier Monaten gab sie ihre durch Courtagen eingenommenen Honorare nun schon nicht mehr für Schuhe und Handtaschen aus. Stattdessen legte sie sie zurück, außerdem alles, was von ihrer monatlichen Zuwendung übrig blieb. Eines Tages, so hatte sie sich überlegt, würde sie dieses Geld vielleicht brauchen.

Jetzt spitzte sich die Lage tatsächlich zu, viel schneller als befürchtet, und Krystal verfügte noch längst nicht über ausreichend hohe Ersparnisse. Aber den Lebensstandard, an den sie sich gewöhnt hatte, aufzugeben, dazu war sie auf keinen Fall bereit. Nie wieder würde sie die bettelarme Kasey Franks aus Grapevine in Texas sein.

Armut kam für Krystal Taylor nicht mehr infrage.

Während sie zusah, wie ihr Ehemann der Rothaarigen die Beifahrertür aufhielt, schweiften ihre Gedanken zu David Saints Ankündigung ab, zu dem Fünfzig-Millionen-Dollar-Haus am Strand von Malibu und zu der Tatsache, dass es da eine Courtage zu holen gab.

Eine Million Dollar.

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