×

Ihre Vorbestellung zum Buch »SOL. Die Rache der Obsidians«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »SOL. Die Rache der Obsidians« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

SOL. Die Rache der Obsidians

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Das fulminante Finale der SOL-Dilogie

Teo hätte nicht einmal im Traum daran gedacht, dass er ein Held sein könnte. Nun hat er keine andere Wahl. All das Chaos und die Zerstörung in Reino del Sol ist seine Schuld. Nur seinetwegen wurden die auf Rache gesinnten Obsidians aus ihrem Gefängnis befreit. Jetzt ist die ganze Welt in Dunkelheit gehüllt, und Teo, Aurelio und Niya machen sich auf den Weg in die Wildnis von Los Restos. Gefährliche Monster und bedrückende Schuldgefühle machen ihnen das Leben schwer und nur die aufkeimenden Gefühle zwischen Teo und Aurelio sorgen für Ablenkung. Doch die drei sind fest entschlossen, die entführten Semidioses zu retten und den Sol-Stein zu finden, um das Licht zurückzubringen. Das Schicksal der gesamten Welt liegt in ihren Händen.

Eine atmosphärische Fantasywelt voller Gottheiten und Monster, starker Freundschaften und einer queeren Rivals to Lovers-Romance

Band 1: SOL - Das Spiel der Zehn


  • Erscheinungstag: 19.11.2024
  • Seitenanzahl: 432
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748802686

Leseprobe

Für Alex Abraham – deine Stimme, dein Humor und dein Genie sind auf jeder Seite spürbar. Dieses Buch würde es ohne deine Hilfe nicht geben.

Und für Holly West und Settle,
dafür, dass ihr meine Träume wahr werden lasst.

Was bisher geschah

Vor Tausenden von Jahren sind die Gottheiten (dioses) auf die Erde gekommen, und noch heute leben ihre Nachfahren in Reino del Sol. Um die bösen Obsidians zu vertreiben, hat sich Sol, die Sonnen-Gottheit, geopfert – und nun müssen alle zehn Jahre zehn junge Halbgötter (semidioses) in einem großen Wettbewerb gegeneinander antreten, um für die Ehre zu kämpfen, das Licht der Sonne zu tragen.

Der siebzehnjährige Halbgott Teo wird überraschend als einer von ihnen ausgewählt, obwohl er zu den Jades gehört, die auf den Wettbewerb nicht vorbereitet werden. Gemeinsam mit seiner besten Freundin Niya und Underdog Xio will er allen beweisen, dass sie das Zeug zu Ruhm und Ehre haben – vor allem Aurelio, Teos Freund aus Kindheitstagen. Das Leben der semidioses steht auf dem Spiel – denn der Verlierer des Wettbewerbs wird der Sonne geopfert.

In fünf Prüfungen beweisen die jungen Halbgottheiten ihr Können, und Teo schlägt sich erstaunlich gut. Nach der letzten Prüfung steht er als Sieger der Sonnenspiele fest, und Auristela, Aurelios hitzige Schwester, als Verliererin. Doch Teo bringt es nicht übers Herz, sie zu opfern. Als Folge seiner Entscheidung gelingt es Xio, die Obsidians aus ihrem Himmelsgefängnis zu befreien und Reine del Sol in Dunkelheit zu stürzen. Die semidioses werden entführt, und nun ist es an Teo, Niya und Aurelio, sie zu retten.

Ein Glossar und Figurenverzeichnis findet ihr hinten im Buch.

Prolog

Und so fängt die Geschichte an:

Nicht alle Gottheiten wurden gleich geschaffen.

Zuerst formte Sol die Golds, die mächtig waren, aber von Eitelkeit beherrscht.

Als Zweites gestaltete Sol die Jades, die gütig waren, aber vom Pflichtgefühl beherrscht.

Als Drittes schmiedete Sol die Obsidians, die klug waren, aber von Grausamkeit beherrscht.

Schließlich schuf Sol die Menschen, die zwar sterblich waren, aber zu grenzenloser Freude und Leidenschaft fähig.

Reino del Sol war reich an Liebe und Licht.

Doch das war nicht von Dauer.

Sol beauftragte die göttlichen Kinder, über die Sterblichen zu wachen und ihnen zu helfen zu gedeihen.

Sier [ * ] verteilte Gaben herabgefallener Sterne.

In einen besonders vertrauenswürdigen Jade legte Sol die Macht des Glücks, die Fähigkeit, das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden.

Die Gottheit Suerte arbeitete mit Sol und dem geliebten Tierra zusammen, um die Welt der Menschen zu gestalten.

Suerte zeigte Agua, wo die Flüsse verlaufen sollten.

Er lenkte die Estaciones, die Gottheiten der Jahreszeiten, zu Perioden von Sonnenschein und Regen für gute Ernten.

Er half Maize, den Sterblichen beizubringen, das von Tierra erhaltene Land zu nutzen.

Er schuf ein Paradies für Sols sterbliche Kinder, und für lange Zeit war alles gut.

Doch das war nicht von Dauer.

Die Obsidians in ihren Tempeln aus schwarzem Stein wurden immer verbitterter, an ihnen nagte der Groll über Sols Bevorzugung der Sterblichen und die ungleiche Verteilung der göttlichen Gaben.

Sie planten, die menschlichen Schützlinge zu versklaven,

Sol von der Erde zu stehlen und über das so zurückbleibende Chaos zu herrschen.

Sie schufen große Kreaturen, um das Land zu terrorisieren,

für dessen Schutz Suerte so schwer gearbeitet hatte.

Alles, was er mit aufgebaut hatte, wurde zerstört.

Und so

verschwand

das Glück.

Eine neue Gottheit stieg aus der Asche – Mala Suerte.

Unglück.

Eine Gottheit, erschaffen, um zurückzuschlagen.

Er ritt mit den Golds in die Schlacht

und machte die Städte der Obsidians dem Erdboden gleich.

Während Sol sien Leben gab, um die Verräter-Gottheiten unter der Erde gefangen zu halten,

entwickelten die Golds und Jades ein System, um die Sonnensteine Sols weiterleuchten zu lassen.

Sie nannten es »Die Sonnenspiele«,

eine Gelegenheit für die Kinder der Gottheiten, ihren Wert zu zeigen.

Doch das war nicht von Dauer.

Kapitel 1

Xio

»Kapierst du’s denn nicht? … Ich brauche deine Hilfe nicht, ich will nicht, dass du mich beschützt! Ich bin ein Obsidian, und das ist unsere Rache!«

Xio stieß diesen Satz aus, während er von der nebelhaften Dunkelheit verschluckt wurde, die Caos heraufbeschworen hatte. Der heftig rauschende Wind heulte in Xios Ohren, während er um sich schlug, im freien, scheinbar endlosen Fall. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gesaugt, und für einen kurzen, verwirrenden Augenblick dachte Xio, er würde ersticken – aber dann war es, als hätte jemand das Licht angeschaltet. Xio landete unsanft auf dem Rücken.

Ihm blieb nur eine Sekunde zu begreifen, wo sie waren – nasse Steine, die Xios Shirt durchtränkten, der Geruch von feuchtem Moos und die wohltuend kühle Luft tief unter der Erde, das Pochen in seiner rechten Hand – dann geriet die Welt um ihn herum explosionsartig in Bewegung.

Ocelo kam zuerst, die Krallen ausgefahren und direkt auf Venganzas Gesicht gerichtet. Die große ziegenköpfige Gottheit seufzte, als ob sie sich unglaublich langweilen würde, schnippte aus dem Handgelenk und traf Ocelo mit solcher Wucht im Rücken, dass sier kopfüber nach vorn flog und sich überschlug.

Auristela schrie. Im Gegensatz zu Ocelo hatte sie sich einen Moment Zeit gelassen, um die Umgebung einzuschätzen, bevor sie losstürmte – was, so dachte Xio, von ihr auch zu erwarten gewesen war. Ihr goldener Schmuck funkelte im Feuerschein, während sie von hinten eine gewaltige Flammenwelle auf Venganza, Caos und Chupacabra zurasen ließ.

Xio hatte nicht Monate seines Lebens damit zugebracht, alle Tricks von Auristela zu lernen, um jetzt darauf hereinzufallen.

»Passt auf!«, rief er und rappelte sich mühsam auf. Aber das war gar nicht nötig.

Caos streckte eine blaugraue Hand aus, und Auristelas Feuer erlosch – es verpuffte einfach. Auristela knurrte, und Xio war sich ziemlich sicher, ein Kichern aus Caos’ verhülltem, konturlosem Gesicht zu hören. Sier schien über dem Boden zu schweben, die mitternachtsblauen Gewänder bildeten im Tanz immer neue Formen.

Xio ging in die Hocke und bereitete sich darauf vor, die Wut der Golds abzubekommen, aber sie schienen ihn nicht einmal zu bemerken.

Die semidioses kämpften geschickt gegen die drei Gottheiten und wandten ihre besten Moves an. Die Golds, immer noch in ihrer farbenprächtigen Festkleidung, wirkten fehl am Platz. Eigentlich sollten sie um den Sol-Tempel ziehen und inmitten der Opulenz und Pracht glänzen. Stattdessen befanden sie sich in nasskalter, feuchter Dunkelheit.

Xochis Stacheln waren zu voller Stärke ausgefahren, bereit, alles zu zerfetzen, was sie mit ihren Ranken treffen konnte. Marino benutzte Hochdruckwasserstrahlen, die so kräftig waren, dass sie Holz spalten konnten, eine hochentwickelte Fähigkeit, die er so selten nutzte, dass Xio bisher nur ein einziges Video auf TúTube davon gesehen hatte. Atzi schleuderte Blitze, von ihrem Rüschenkleid nicht im Geringsten behindert. Ohrenbetäubendes Knacken erfüllte den gesamten Raum, Blitze verfehlten ihr Ziel und prallten an den Wänden ab.

Dezi, schnell wie ein Kolibri, wich den anderen aus und versuchte, in die Nähe einer der Gottheiten zu kommen, aber es gelang ihm nicht. Sie bewegten sich, ohne auf die anderen zu achten, nachlässig und hektisch statt überlegt.

Xio entspannte sich. Er war nicht in Gefahr.

Ausnahmsweise waren die Kinder der Golds-Gottheiten einmal unterlegen. Und, verdammt, es war ein schönes Gefühl, das mitzuerleben.

Xochi kam wieder näher, und dieses Mal lachte Xio und schüttelte seine Aufregung ab.

»Ernsthaft?«, fragte er laut. »Gib’s einfach auf, bevor du …«

BUMM.

Zischende Elektrizität spannte jeden Muskel in Xios Körper an, seine Beine erstarrten. Es dauerte nur einen Moment, dann schaute Xio wieder vom Boden auf. Alles tat ihm weh, vom Kopf über den Rücken bis zum Po. Er stöhnte, in den Ohren klingelte und im Schädel pochte es.

Atzi stand links neben ihm und wirkte selbstgefällig. Sie schubste Xio aus dem Weg, bevor Caos mit den Fingern schnippte und ihre Arme mit Seilen fesselte.

Mit glühenden Wangen kämpfte sich Xio auf die Beine und versuchte, das Kribbeln seiner Haut zu ignorieren, als würden Ameisen darauf herumkrabbeln. Er hätte Atzi im Auge behalten sollen, er wusste doch, wozu sie fähig war. Er schaute zu Venganza, ob er vielleicht beschämt oder enttäuscht war, fand aber keine Anzeichen dafür. Die Obsidians schienen über die Gegenwehr der Golds einfach nur amüsiert zu sein – aber Xio wusste, sie durften nicht unachtsam werden.

Er hatte die Golds ausführlich studiert. Er kannte ihre Strategien, ihre bevorzugten Angriffstaktiken und vor allem ihre ultimativen Schachzüge, die sie nur in den brenzligsten Situationen einsetzten.

Als er sah, wie Auristela ihre Flammen zwischen den Händen zusammenpresste und ihr Schweißperlen auf die Stirn traten, während die Flammen von Orange und Rot zu strahlendem Weiß wechselten, rief Xio den Obsidians zu: »Achtung!«

Venganza drehte abrupt den Ziegenkopf in Richtung Auristela, seine waagerechten Pupillen erkannten ihren Angriff. Er wirbelte beiseite und wich dem Feuerstoß nur knapp aus, bevor er gegen die Wand knallte und explodierte. Der entstandene Hitzeschwall traf Xio mitten ins Gesicht, und der alte Steinboden unter seinen Füßen bebte.

»Wow«, hauchte Xio und blinzelte durch den Rauch zu dem nun riesigen Brandloch im Kalkstein. »Explosive Feuerballdruckwelle«, murmelte er und aktualisierte innerlich die Datenbank der Golds Heldenhaften. Xio wusste bislang nicht, dass Auristela zu so etwas überhaupt imstande war. Er wünschte, er hätte seine Mappe dabei, um sich Notizen zu machen.

»Genug gespielt«, sagte Venganza und zupfte ein glimmendes Fellbüschel neben einem seiner Hörner heraus.

Nur einen Sekundenbruchteil später flog etwas Großes durch den Raum, und das Nächste, was Xio sah, war, dass Auristela in der Luft baumelte, ihre Handgelenke gefangen in Chupacabras Klauen. Die Haut der diosa war mit Fell bedeckt, ihr Kopf der einer Wölfin, und sie lief auf den Hinterbeinen.

»Netter kleiner Trick, diosita«, sagte Chupacabra und stieß ein schreckliches, kreischendes Lachen aus. Die Augen – scharlachrote Pupillen in giftgelber Lederhaut – tanzten vergnügt.

Auristela bewegte die Finger hin und her, aber die Flammen züngelten nur, und sie konnte sie nicht einfangen, egal, wie viele Funken sie zum Leben erweckte. Xio wusste, dass Auristela ohne den freien Einsatz ihrer Hände kein Feuer erzeugen konnte, das groß genug war, um echten Schaden anzurichten, und die Obsidians wussten das auch, weil er es ihnen verraten hatte.

Aber das hielt Auristela nicht auf. Sie wehrte sich heftig – schlug, fluchte und trat nach Chupacabra, die nur lachte, bis Auristela ihr einen Tritt in die Rippen versetzte.

Chupacabra packte Auristelas Pferdeschwanz und riss kräftig daran, sodass ihr Kopf nach hinten schnellte. Auristela schrie vor Schmerz.

Ocelo brüllte auf. Sier stürmte auf Chupacabra zu, die Muskeln angespannt, die Reißzähne entblößt und die Krallen ausgefahren.

Mit einer solch schnellen Bewegung, die Xio gar nicht recht erfassen konnte, erschien ein Obsidian-Dolch in Chupacabras Hand und lag schon an Auristelas Hals. »Runter mit dir, Kätzchen«, warnte Chupacabra, ihr Wolfsgesicht plötzlich mit Furcht einflößend fröhlichem Entzücken.

Schlitternd kam Ocelo zum Stehen. Auristela hörte auf zu strampeln. Die anderen erstarrten. Erschrockenes Schweigen überall im Raum.

Ocelo knurrte nervös, hinter den geschlitzten Pupillen war Furcht zu erkennen, während sier zwischen Chupacabra und Auristela hin- und herblickte. Die Schneide der schwarzen Glasklinge schwebte über Auristelas Halsschlagader.

»Eine falsche Bewegung, und dies hier wird durch ihre hübsche semidiose-Haut fahren wie durch Butter«, machte sich Chupacabra im Singsangton lustig. »Deine kleine semidiose-Heilfähigkeit kann gegen reines Obsidian nicht viel ausrichten – stimmt’s?«, fragte sie und blickte zu Xio.

Der Adrenalindunst verzog sich, und Xio erinnerte sich plötzlich daran, wie er den Zeremoniendolch über seine Hand gezogen hatte. Er blickte auf seine Hand. Ein sauberer Schnitt, schwarzes Blut floss wie Tränen aus einem weinenden Auge. Es gab noch keine Anzeichen für Heilung, aber er konnte ja auch nicht so schnell heilen wie andere semidioses, und der Obsidian der Klinge tat sein Übriges. Das Blut sickerte ihm zwischen den Fingern hindurch und tropfte auf den schmutzigen Steinboden.

Die Golds starrten ihn entsetzt und verwirrt an.

Instinktiv verbarg Xio die Hand hinter seinem Rücken.

Auristela schaute Chupacabra an, als wollte sie sie mithilfe ihrer Gedanken in Brand stecken. »Ich würde dich in einen Haufen verkohlter Knochen verwandeln, bevor du überhaupt die Gelegenheit dazu bekommst«, zischte sie durch die zusammengebissenen Zähne.

Chupacabra lachte wieder kreischend auf. Sie beugte sich dicht über Auristelas Gesicht und streckte die lange Zunge aus, um sich speichelnd über die Wangen zu lecken. »Wollen wir wetten?« Nur ein ganz leichter Druck, und schon floss goldenes Blut über die Klinge und an Auristelas Hals hinunter.

Auristela verstummte, aber ihre Augen glühten aggressiv, während ihre Freunde Chupacabra anflehten, damit aufzuhören.

Xio schlug das Herz bis zum Hals, als die anderen semidioses aufschrien. Etwas in ihm sagte: Wen kümmert es, was mit ihr passiert? Sie ist eine Gold. Sie ist DIE Gold, Ihre königliche Hoheit Auristela, Stolz von Reino del Sol und all seinen korrupten Gottheiten. Golds zu töten gehörte schon immer zum Plan.

Man kann keine Rebellion führen, ohne ein paar Kehlen aufzuschlitzen, hatte ihm Venganza während der Sonnenspiele gesagt, als die beiden ihren geheimen Kommunikationsweg genutzt hatten – den Stein an Xios Azabache-Armband.

Venganza war Xios einziger echter Verbündeter während der Sonnenspiele gewesen, die einzige Person, die sich einen Dreck darum scherte, was mit dem niederblütigen, machtlosen Dreizehnjährigen geschah, den alle für das offensichtliche Opfer hielten.

Na ja, nicht jeder. Aber Xio hatte gerade keine Zeit, darüber nachzudenken.

»Aber, aber, jetzt beruhigen wir uns mal«, sagte Venganza und trat vor. »Es gibt überhaupt keinen Grund für all das hier.«

Xio war sehr erleichtert, als sich Venganza einmischte. In der Nähe von Chupacabra zu sein war, als würde man von einem Raubtier verfolgt – man musste ständig auf der Hut sein, immer befürchten, angegriffen zu werden. Chupacabra war unberechenbar und gewalttätig, Xios Vater aber war besonnen.

»Fügt euch einfach, dann gibt es keinen Grund für Unannehmlichkeiten«, erklärte er ruhig und betrachtete die semidioses nacheinander.

Marino gab Dezi in Gebärdensprache weiter, was Venganza sagte, während die anderen Golds nervöse Blicke austauschten. Mit Ausnahme von Auristela, die immer noch mit Chupacabra um die Wette starrte.

Venganza wandte sich an Xio. »Oje«, seufzte er. »Komm, lass mal deine Verletzung sehen.«

Xio hob das Kinn und ging zu seinem Vater. Er legte die geöffnete Hand in Venganzas göttliche Pranke.

»Caos, würdest du bitte«, sagte Venganza.

Urplötzlich tauchte ein Stück Stoff in Xios Hand auf. Das dunkle Mitternachtsviolett war mit silbrigen wellenförmigen Sternenkonstellationen bestickt. Vorsichtig wickelte Venganza den Stoff um Xios Hand und band ihn fest.

Es war, als würde Xio den Nachthimmel in der Hand halten. Als könnte er durch den Stoff hindurch bis zu den Sternen greifen.

Venganza lächelte ihn an. »Da wird sicher eine Narbe bleiben, aber mit der Zeit wird sie heilen.«

Xio bemühte sich zurückzulächeln und versuchte, seinen flatterhaften Herzschlag zu ignorieren. Schließlich war das sein Vater, niemand, vor dem er Angst haben musste. Er musste sich nur an Venganza gewöhnen, an seinen Ziegenkopf, seine großen Zähne und die in ihm pulsierende Racheenergie. Sein Vater wirkte äußerlich ruhig und gefasst, aber Xio spürte die rohe Kraft, die sich unter Venganzas Oberfläche verbarg.

»Das hast du sehr gut gemacht«, sagte Venganza aufrichtig und presste ihm eine Hand auf die Brust, bevor er sie auf Xios Schulter legte. »Ich bin stolz, dich meinen Sohn nennen zu dürfen.«

Xio atmete unsicher aus, diese bestärkenden Worte trafen ihn so unvermittelt, dass ihm fast die Knie schlotterten. Er atmete tief ein und erwiderte den Blick seines Vaters. Xio zuckte nicht einmal, als sich Venganzas Nägel in seine Schulter krallten.

»Was?«, fauchte Auristela.

Die Golds starrten Xio an, in einer Mischung aus Verwirrung, Verrat und Angst.

Xio starrte zurück und saugte das alles in sich auf. Zum ersten Mal nahmen sie ihn ernst.

Zum ersten Mal hatten Leute Angst vor ihm.

Mit Ausnahme von Dezi. Nachdem Marino ihm alles gebärdet hatte – der größere Junge wandte seine aufgerissenen Augen dabei nicht von Xio ab –, drehte sich Dezi nun auch zu Xio. Er zog die Brauen zusammen, seine Gesichtszüge wurden weicher. In Dezis Blick war Mitleid zu erkennen. Aber nicht für sich selbst. Sondern für Xio.

Und Xio hasste es.

»Wir sollten die Gefangenen sichern, bevor sie noch etwas versuchen«, sagte Xio und wandte sich von Dezis mitfühlender Miene ab.

Auristela wehrte sich erneut gegen Chupacabras Griff, was ihr einen weiteren Schnitt einbrachte, aber das war ihr offenbar egal. Auristelas ganze Wut galt Xio, ihr Blick loderte gefährlich, und sie knurrte: »Wenn ich dich in die Finger kriege, brenne ich dir die Augen aus dem Schädel …«

Xio wich zurück und stieß mit Venganza zusammen.

»Caos«, sagte Venganza höflich über Auristelas Kopf hinweg.

Mit einem Ruck klappte Auristelas Mund zu. Ihr Kiefer bewegte und spannte sich, aber ihre Lippen waren wie zusammengeklebt.

Xio schloss die Augen und versuchte, die Gesichtsmuskeln zu entspannen, während Chupacabra lachend aufheulte.

Xio war nicht verängstigt. Er war nicht mal wütend wie eine gewisse entflammbare kleine Prinzessin. Es war mehr als das. Und er würde sich nicht mit Ausreden herauswinden. Das war das Klügste, was er tun konnte. Er war gefasst. Er war stark. Er war in seinem Element. Er war zu Hause.

Als Xio die Augen öffnete, sah er Atzi, die ihn aufmerksam betrachtete und den hübschen Mund vor Abscheu verzog. Xio starrte zurück.

»Ich denke, das reicht erst mal«, verkündete Venganza an die anderen Obsidians gewandt. Chupacabra steckte ihren Dolch weg, was alle ein wenig zu beruhigen schien.

»Junior hat recht, wir haben später noch viel Zeit zum Spielen«, gurrte sie und zerrte Auristela mit sich, wobei die diosa Xio einen herablassenden Klaps auf den Kopf verpasste. Er widerstand dem Drang, ihr in die Hand zu beißen.

Xio musste einem Tritt von Auristela ausweichen, aber Chupacabra riss sie rechtzeitig zurück.

»Machen wir es unseren Gästen doch etwas bequemer«, sagte Venganza und wandte sich an Caos.

Sier schnippte mit den Fingern. Goldene Armreife, Armbänder, Ringe lösten sich von den semidioses und landeten auf einem Haufen. Xios eigener Brustschmuck aus Jade und Gold wog schwer um seinen Hals.

»He!« Atzi versuchte, den großen Tormentoso-Anhänger um ihren Hals festzuhalten, aber sie war nicht schnell genug. Der gesamte Schmuck landete vor Caos’ Füßen, darunter auch Ocelos Halskette mit den Jaguarzähnen und die polierten Muscheln von Marino.

Wie von unsichtbaren Händen wurden die frischen Blumen auf Xochis Kleid fortgerissen, sodass sie sich mit Tränen in den Augen an den zerrissenen Rock ihres schwarzen Kleides klammerte. Dann war da noch Auristela, die seltsam brav aussah, ohne all den glitzernden Schmuck, den sie normalerweise trug.

»Lass mich los!«, blaffte sie.

Chupacabra drehte sich zu Caos und hob Auristela an den Handgelenken in die Luft, während sie weiter um sich trat. »Und? Was kannst du dagegen tun?«

Schnipp.

Auristelas Körper erschlaffte.

»NEIN!«, schrie Ocelo, während die anderen panisch wurden und entsetzt zusahen, wie Chupacabra Auristelas reglosen Körper losließ.

»STOPP!« Venganzas dröhnende Stimme hallte von den Wänden, und es lief Xio eiskalt den Rücken hinunter. Die Golds verfielen in fassungsloses Schweigen. Venganza räusperte sich und lächelte freundlich. »Eurer Freundin geht es gut, sie schläft nur«, erklärte er.

Das stimmte. Xio erkannte, dass sich Auristelas Brustkorb langsam hob und senkte.

Dann bombardierten ihn die Golds wild gestikulierend mit Fragen.

»Was hast du getan?« Xochi versuchte, mutig zu wirken.

»Was ist eigentlich los?«, fragte Atzi.

In Marinos Stimme war deutlich Verzweiflung zu hören, als er sagte: »Was wollt ihr überhaupt von uns?«

Dezi war auf der Hut und beobachtete aufmerksam alles. Xio bemerkte, wie die Rädchen in seinem Kopf an einem Plan arbeiteten, was nichts Gutes bedeutete.

»Was waren das für Dinger, die vom Himmel gefallen sind?«

»Wo sind unsere Eltern?«

»Wo sind wir hier?«

»Was bist du?«, fragte Ocelo angewidert und betrachtete das schwarze Blut auf Xios Hand.

Xio verspannte sich und schaute zu Ocelo, unfähig, etwas zu sagen.

Venganza hob die Hände, und die semidioses hörten sofort auf zu reden. Diesmal war es keiner von Caos’ Tricks.

Venganza grinste angesichts des Gehorsams. »Wir haben nur getan, wozu Sol uns gezwungen hat«, erklärte er. »Wir waren bei der Erschaffung der Welt dabei. Wir gehören nach Reino del Sol wie jeder andere diose, semidiose oder Mensch. Aber wir konnten nicht unter Sols wachsamem Auge zurückkehren. Damit wir nach Hause kommen konnten, musste Sols Licht gelöscht werden, also mussten wir eurem lästigen kleinen Ritual ein Ende setzen. Anstelle des leckeren goldenen Opfers, das die Sol-Steine aufladen und uns für das nächste Jahrzehnt gefangen halten sollte, haben wir die Erde mit dem reichen Obsidianblut meines Sohnes gefüttert.«

Mit wissendem Grinsen wandte er sich an Xio. »Ohne die Sonne zwischen uns war Xio imstande, uns nach Hause zu holen. Und diese Dinger«, fuhr er naserümpfend fort, »sind Celestials.«

Die Golds flüsterten leise miteinander.

»Ihr braucht keine Angst zu haben«, sagte Venganza und schmunzelte. »Das sind unsere Schöpfungen.« Er deutete auf sich, Chupacabra und Caos. »Bestimmt haben eure Eltern euch beigebracht, das seien Monster, aber sie sind eher wie Haustiere. Sehr gehorsam.«

Xio grinste. Venganza untertrieb, wie gefährlich die Celestials wirklich waren. Und die semidioses waren vermutlich verzweifelt genug, ihm zu glauben.

»Der Kosmos ist ein dunkler, kalter und schrecklicher Ort«, fuhr Venganza fort. »Die Celestials wurden mit uns verbannt, wir konnten sie nicht einfach da draußen aussetzen.« Er machte eine lässige Handbewegung. »Sie bekommen endlich die dringend benötigte Zeit, um sich die Beine zu vertreten.«

»Meinst du wirklich, dass unsere Eltern dir das durchgehen lassen?«, fragte Atzi sarkastisch und blickte Venganza an. Xio wusste nicht genau, ob sie mutig oder nur dumm war. Auf jeden Fall hatte sie so etwas wie Todessehnsucht.

Venganza verzog die Ziegenlippen zu einem Lächeln. »Nein, deshalb habe ich ja ihre Lieblingskinder als Pfand gestohlen.«

Chupacabra brüllte vor Lachen. »Ich meine, ernsthaft, die Sonnenspiele? Warum stellt ihr nicht einfach alle eure talentiertesten und besonders begabten Kinder auf ein offenes Feld mit einem Schild, auf dem ›Bitte entführt mich‹ steht! Die Golds waren schon immer dermaßen arrogant.« Sie lachte erneut, aber Xio erkannte die kaum unterdrückte, zuckende Wut in ihrem Wolfsgesicht.

»Wir waren nicht alle Golds«, sagte Marino zögerlich.

Venganza nickte Xio zu. »Offensichtlich.«

»Das meine ich nicht«, sagte Marino. Er atmete tief ein, sodass sich seine Brust hob, und blickte trotzig. »Der diesjährige Sonnenträger war ein Jade.«

Ein stechender Schmerz fuhr Xio durchs Herz, aber auf die Golds hatte der Satz die gegenteilige Wirkung.

»Teo!«, sagte Xochi und sah sich um, als hätte sie gerade erst bemerkt, dass er nicht da war.

»Stimmt, und niemand hat ihn kommen sehen«, sagte Atzi, als ob das eine Art Drohung wäre.

»Einschließlich der dioses«, fügte Ocelo barsch hinzu.

Dezi nickte eifrig.

»Ja, diese Wendung haben wir auch nicht kommen sehen«, gab Venganza zu. »Aber das macht es nicht komplizierter. Das macht die Sache für unseren lieben Xio sogar viel einfacher. Es wäre ein Haufen Arbeit gewesen, als Zuschauer die Abschlusszeremonie der Sonnenspiele zu sprengen.« Wieder schmunzelte Venganza. »Nicht nur, dass Sol ihn direkt in die Prüfungen gesteckt hat, der Sohn von Quetzal hat auch noch die ganze schwere Arbeit übernommen, die Opfergabe für uns zu organisieren. Das alles war echt einfach.«

Venganza präsentierte den Sol-Stein. Ohne das Licht war Sols goldener Schädel durch das Rauchglas kaum zu erkennen. »Die dioses und die Heldenhaften werden mit den Celestials alle Hände voll zu tun haben, und die Sonnensteine, die die Städte schützen, werden in wenigen Tagen erlöschen«, fuhr er fort. »Ohne ihn hier …«, er ließ den Sol-Stein in den Fingern hin und her rollen, »wird es den Golds unmöglich sein, uns aufzuhalten. Wir werden Reino del Sol so wiederherstellen, wie es sein sollte – die dioses werden nicht im Dienste der Menschen stehen, sondern die Menschen im Dienste ihrer dioses.« Venganza lächelte. »Wir brauchen nur zu warten.«

Als daraufhin die Golds in Panik ausbrachen und sich zu streiten begannen, überraschte das Xio nicht, aber es war echt peinlich, das zu beobachten.

»Wie ich schon sagte«, donnerte Venganza langsam. »Wenn ihr kooperiert und tut, was man euch sagt, wird euch nichts passieren.«

Alle drehten sich zu Dezi um, weil er gebärdete. Mala Suerte hatte immer Wert darauf gelegt, barrierefreie Sprachen zu lernen, und als Xio nun Vogel und Bruder las, wurde ihm mulmig. Da unterbrach Venganza Dezi.

»Ah-ah«, sagte er und tadelte Dezi mit gebärdenden Fingern. »Nichts von alledem.«

Dezi fuhr erschrocken zusammen, als Seile seine Hände zusammenbanden. Er drehte sich zu Venganza um und starrte ihn schockiert und ungläubig an.

»Nicht!«, rief Marino, was mutiger war als alles, was Xio seit ihrer Ankunft in Los Restos erlebt hatte. Verzweifelt machte Marino beschwichtigende Zeichen in Richtung Dezi.

Venganza hob eine Augenbraue, dann wurden die Hände aller Golds mit Seilen gefesselt.

Xochi war verblüfft. »Ohne unsere Hände können wir nicht mit ihm kommunizieren!«

»Hast du eine Ahnung, wie schwer es ist, von den Lippen zu lesen, Arschloch?!«, schimpfte Ocelo und versuchte sich mit ganzem Körpereinsatz zu befreien.

»Oh«, gurrte Chupacabra. »Schau mal, wie schlau sie sind, Venganza!«

»Ich weiß genau, welche Tricks die Kinder von Amor draufhaben«, sagte Venganza. »Ich denke, es ist für uns alle besser, wenn wir sämtliche Möglichkeiten, uns Probleme zu bereiten, verhindern.«

Xio musste den Blick von Dezis flehenden Augen abwenden – es war grausam, ja, aber Xio vertraute darauf, dass Venganza seine Gründe dafür hatte. Sein Vater hatte ihn nie belogen, hatte ihm nie weisgemacht, dass er etwas sein sollte, was er nicht sein konnte.

Ein Schauer lief Xio über den Rücken, als geisterhaftes Lachen zu hören war. Caos erschien in einer indigoblauen Rauchwolke zwischen den beiden anderen Obsidians. »Bist du immer noch sauer wegen der kleinen Sache mit Amor, Venganza?«, fragte Caos in sieser seltsamen Art zu sprechen, als ob mehrere Stimmen gleichzeitig redeten und in einem langen Gang widerhallten. »Wie lange ist das her, ein paar Tausend Jahre?«

Chupacabra kreischte vor Lachen, doch ein einziger Blick von Venganza ließ sie verstummen. Xio entging nicht, wie sie und Caos vor seinem Vater zurückwichen. Sie waren alle auf ihre Weise furchterregend und mächtig, aber Caos und Chupacabra wussten, wer ihr Anführer war. Venganza verlangte Respekt und ein gesundes Maß an Furcht.

Das wollte Xio auch.

Er blickte zu den gefesselten Golds. In Xochis Augen sammelten sich Wuttränen, und Marino hatte sich zwischen Dezi und den Obsidians aufgebaut, doch Xio sah, wie sich Marinos Nacken anspannte. Bei Atzi und Ocelo kam praktisch Rauch aus den Ohren.

»Caos, würdest du bitte die Unterkünfte für unsere Gäste vorbereiten?«, fragte Venganza.

Die Haut von Caos’ konturlosem Gesicht verzog sich zu etwas, was ein Grinsen hätte sein können. Indigoblaue Rauchschwaden drangen aus siesem Gewand, bevor sier in sich zusammensank und im Boden verschwand.

»Mitkommen«, wies Venganza alle anderen an und ging den Gang entlang voraus.

Die Golds tauschten fragende Blicke, als wüssten sie nicht, was sie tun sollten. Xio wunderte sich, ob das daran lag, dass Auristela sie nicht anführen konnte, weil Chupacabra ihren bewusstlosen Körper immer noch festhielt.

Chupacabra setzte sich in Bewegung und umkreiste die semidioses wie ein Hütehund seine Schafherde. Oder genauer, wie ein Wolf seine Beute. Falls jemand zu langsam ging und zurückfiel, war sie zur Stelle und fletschte die Zähne, bis sich alle eng aneinanderkauerten. Auristela hing dabei über Chupacabras Schultern, mit dem Gesicht nach unten und baumelnden Armen und Beinen.

»Sieh dir an, was aus deinem Tempel geworden ist, Venganza«, knurrte Chupacabra, die Nasenspitze zuckte, die Lefzen waren angewidert verzogen. »Eine Schande.«

Der zerstörte Tempel war ein Labyrinth aus zerfallenen Steinwänden und verrottender Vegetation mit Sackgassen aus eingestürzten Trümmern. Die Böden waren rissig und uneben, durchbohrt von sich windenden Baumwurzeln. Wasser plätscherte vom Blätterdach der wuchernden Farne, die ganze Bereiche der Decke ausfüllten. Die kunstvoll gemeißelten Wände waren verwittert und von Moos und Schimmel bedeckt.

»Seit ein paar Tausend Jahren konnte sich niemand darum kümmern«, erinnerte Venganza sie trocken.

Die Schritte auf dem kalten, nassen Steinboden hallten in dem leeren Gang wider. Spinnweben – und Schlimmeres, was Xio auszublenden versuchte – hingen von den Türöffnungen, und eine dicke Schicht Staub färbte den ganzen Tempel in trübe, stumpfe Grautöne.

Xio dachte an das erste Mal, als er an diesem Ort gewesen war. Der Tag, der alles verändert hatte, der Tag, an dem er die Wahrheit darüber erfahren hatte, woher er stammte – und die ganz anders war als die Lügen, die Mala Suerte ihm erzählt hatte.

Er wusste nicht mehr, wann er das erste Mal weggelaufen war, er hatte das zu oft getan. Woran er sich jedoch erinnerte, war, dass irgendwann sein schlechtes Gewissen sehr groß gewesen und er darum nach Hause zurückgekehrt war. Dort aber hatte niemand sein Verschwinden bemerkt. Der Tempel von Mala Suerte war voller Leute, es ging zu hektisch zu, als dass ein vermisstes Kind hätte auffallen können. Also wurde Ausreißen zu Xios neuer Lieblingsbeschäftigung. Manchmal lief er nur für ein paar Stunden weg, manchmal sogar für ein paar Tage, nur um von anderen Leuten wegzukommen. Um nicht zu spüren, dass sie ihn anstarrten, um nicht ständig nervös zu sein.

Anfangs gerieten die Geistlichen in Panik und riefen Mala Suerte – der ihn immer aufspürte –, aber dann passierte es zu häufig, und Xio wurde als notorischer Ausreißer bezeichnet, der irgendwann sowieso zurückkam, und so ließen die Geistlichen ihn einfach laufen.

Xio wagte sich immer näher an den Stadtrand heran und dann über die Grenzen hinaus zu Los Restos. Er fühlte sich zum Dschungel hingezogen. Immer, wenn er näher kam, kribbelte seine Haut wie elektrisiert.

Alle waren vor den Gefahren von Los Restos gewarnt. Das ehemalige Territorium der Obsidians galt als verflucht und voller blutrünstiger Monster. Manchmal hörte Xio, wie sich etwas bewegte, und sah glühende Augen in den Schatten, aber keine der Kreaturen von Los Restos hatte ihn jemals belästigt.

Vielleicht hätte das ein Hinweis sein sollen.

Selbst jetzt, ein Jahr später, spürte er noch den Schreck seiner ersten Periode, als er nach unten blickte und feststellte, dass schwarze Rinnsale seine Beine hinunterliefen und in den Duschabfluss kreiselten. Entsetzt hatte er versucht, alles aufzuwischen, alles zu stoppen, schnell, bevor jemand es sehen konnte – doch natürlich hatte ihn Renata durch die Tür weinen hören und war sofort zu ihrem Vater gerannt.

Als Mala Suerte begriff, was geschah, schloss er die Tür hinter sich und wies die neugierigen Geschwister und Geistlichen an, zu gehen. Xio umklammerte ein Handtuch, Tränen liefen ihm über das Gesicht, und er zitterte. Mala Suerte konnte ihn nun nicht mehr anlügen, denn die Wahrheit war auf den weißen Bodenfliesen verteilt.

Der dios, den er für seinen Vater hielt, hatte Xio in das Observatorium auf dem Dach seines Tempels geführt. Während sie langsam durch den Saal gingen, enthüllte Suerte ihm die wahre Geschichte des Krieges der Gottheiten. Nachdem Sol die Obsidians verbannt hatte, sorgten die Golds und Jades dafür, dass kein Obsidian mehr Reino del Sol bedrohen konnte. Doch es reichte nicht, allein die Gottheiten zu verbannen – man musste auch ihre Nachkommen auslöschen.

Xios Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben. Aber es war nicht einfach Unglück gewesen, sondern sie war von den dioses abgeschlachtet worden, als diese auf der Suche nach den Kindern von Venganza, Caos und Chupacabra die Obsidian-Städte niederbrannten. Mala Suerte hatte sich daran beteiligt. Er versuchte nicht einmal, es zu leugnen.

Tausende von Jahren später, erzählte sein Vater, zog ihn etwas nach Los Restos zurück. Das war kurz nach den letzten Sonnenspielen, als Suerte sich auf den neuen Sonnenträger hätte vorbereiten und den Sonnenstein von Ciudad Afortunada aufladen sollen. Stattdessen war er in Los Restos herumgelaufen. Er fand die Überreste von Venganzas Tempel, nicht mehr als ein Haufen Schutt, aber er stolperte über etwas Seltsames.

In den Trümmern fand Mala Suerte eine große Kugel aus Obsidian, bedeckt mit dem Staub, Schmutz und Moos Tausender von Jahren. Als er sie berührte, öffnete sich die Kugel und enthüllte ein kleines, in weiche Decken gewickeltes Kind, das fest schlief und unverletzt war. Danach begannen all die Lügen und Scharaden.

Sein Vater versuchte es zu erklären, aber Xio verstand ihn nicht.

»Warum bin ich hier?«, fragte Xio. »Warum lebe ich?«

Suerte hatte nur die Achseln gezuckt. »Sol hat es so gewollt.«

Xio hielt es trotzdem für eine Bullshit-Antwort.

An diesem Abend beim Essen waren seine Geschwister freundlich und behandelten ihn behutsam. Sie dachten, er hätte mit der Dysphorie seiner ersten Periode zu kämpfen – erst vor ein paar Monaten hatte er angefangen, die neuen Pronomen zu verwenden, und sie wollten ihm einfach beistehen. Aber durch ihr Verständnis fühlte er sich nur noch schlechter – wenn er der wäre, für den er sich immer gehalten hatte, wäre die Genderdysphorie vielleicht jetzt sein größtes Problem. Stattdessen musste er sich mit der Tatsache abfinden, dass sein ganzes Leben eine einzige Lüge war. Dass er eines der Monster war, über die sich Kinder am Lagerfeuer Geschichten erzählten.

Sein ganzes Leben schon hatte er das Gefühl gehabt, dass mit ihm etwas nicht stimmte.

Sein ganzes Leben lang hatte Mala Suerte es gewusst.

Mala Suerte ließ Xio schwören, niemandem die Wahrheit über seine Herkunft zu sagen. Die Golds würden ihn sonst bestimmt töten lassen. Völlig sprachlos konnte Xio seinen angeblichen Vater nur schweigend anstarren. Als er in dieser Nacht weglief, hatte er nicht die Absicht zurückzukommen.

Er floh nach Los Restos und suchte den Tempel von Venganza. Es war, als würde eine Stimme durch den Dschungel rufen. Xio fand die Trümmer seiner Heimatstadt, in deren Mitte Venganzas Tempel auf ihn wartete. Er entdeckte die riesige zerstörte Glyphe auf dem Altar.

Und genau in diesem Moment fand Venganza ihn.

Er sprach mit Xio durch die Glyphe. So erfuhr Xio, was mit seinem Volk geschehen war. Wie die Obsidians nur wegen der Farbe ihres Blutes angegriffen und gejagt worden waren. Venganza warnte ihn vor den Golds und versprach Xio eine Zukunft, in der er eine Familie hatte – seine wahre Familie.

Alles, was er dazu brauchte, war ein wenig Pech.

So in Gedanken versunken verlangsamte Xio seinen Schritt, bis er Seite an Seite mit den gefangenen semidioses ging. Er brachte es nicht über sich, in ihre Richtung zu schauen, aber als eine Ratte über den Weg huschte, konnte er Ocelos angeekeltes Knurren hören und sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Niya hätte sich in diesem Moment bestimmt über »das arme Kätzchen« lustig gemacht.

Hör auf, schimpfte Xio mit sich selbst. Er durfte nicht an Niya oder Teo denken oder an die Zeit, die sie bei den Sonnenspielen zusammen verbracht hatten. Ihre Freundschaft war eine Farce gewesen, alles Teil von Xios Plan. Und selbst wenn er es genossen hatte – tja, das war nun Vergangenheit.

Außerdem hatten Niya, Teo und Aurelio es geschafft, der Falle zu entkommen. Sie arbeiteten vermutlich bereits mit den Golds an einem Angriff gegen die Obsidians. Das hier war Krieg, und sie standen auf der falschen Seite. Xio würde keine Zeit damit verschwenden, über zwei unbedeutende Golds und einen Jade nachzudenken.

Sie erreichten eine Tür, die zu einer langen Wendeltreppe führte. Sie verschwand in der Dunkelheit, und Xio konnte das Ende nicht erkennen. Chupacabra hüpfte förmlich in den Kerker hinunter, während Auristela über ihrer Schulter baumelte.

Am Fuße einer steinernen Treppe wartete ein großer Torbogen auf sie, der wie das Maul einer Bestie aufklaffte. Dahinter war es stockdunkel. Xio strengte die Augen an, um in der Finsternis etwas zu erkennen, aber es war unmöglich.

»Ah, da sind wir«, sagte Venganza. Die Stimme hallte in der höhlenartigen Leere wider, als er rief: »Caos, wärst du bitte so gut?«

Xio beobachtete, wie die Golds blass wurden. Dezi blickte verzweifelt zu Marino, dann zu den anderen, aber niemand machte ein beruhigendes Zeichen.

Schnipp.

Alle sechs verschwanden in einer Rauchschwade.

Xio riss den Kopf herum. »Wo sind sie hin …?«

Venganza gluckste, griff nach unten und legte die mächtige Pranke auf Xios Rücken. »Komm, ich zeig’s dir«, sagte er und stupste ihn ermutigend an.

Xio blickte zurück zum Eingang. Er war bei seinen eigenen Erkundungen noch nie so weit in den Tempel vorgedrungen. So tief unter der Erde strömte kühle, muffige Luft über seine Haut und brachte den Gestank von Schimmel und Fäulnis mit. In der Dunkelheit hallten seltsame Geräusche wider.

Er zwang sich, Venganza zu folgen.

Kapitel 2

Teo

Auf der langen Liste von Teos aktuellsten Fuck-ups rückte versehentliches Auslösen der Apokalypse wohl an Nummer eins.

Der Sol-Stein war zerstört, Luna war tot, und die Sonne – die echte Sonne – war weg. Er hatte es so sehr vermasselt, dass die stärksten jungen Golds in Reino del Sol in die Hände der Obsidians gefallen waren, die bis vor Kurzem noch in den Sternen eingesperrt gewesen waren. Und das alles nur, weil sich Teo nicht an die Regeln gehalten hatte.

Trotz allem wusste Teo, dass er, selbst wenn er die Möglichkeit hätte, die Zeit zurückzudrehen, sich immer noch weigern würde, Auristela zu töten. Verdammt, er würde sogar wieder versuchen, Xio zu fangen, bevor er fiel.

Xio, Sohn von Venganza.

Verrat, Scham und Kummer erfassten Teo und sein Herz. Wie hatte er das bloß nicht sehen können? Jede Sekunde, in der er, Niya und Xio zusammen gewesen waren – in der sie darüber gesprochen hatten, dass sie die Außenseiter waren und zusammenhalten mussten, in der sie beim Frühstück gelacht, in der sie Xios alberne Sammelkartensammlung durchstöbert hatten, um sich Statistiken über die Konkurrenz zu merken – all das brauste durch Teos Kopf. Schon vor dem Ende der Sonnenspiele hatte er geahnt, dass da etwas nicht stimmte, aber er hätte nie gedacht, dass Xio hinter alldem steckte.

Niya und Auristela hatten auf dem Dschungelboden gekämpft. Ocelo hatte ständig versucht, Teo zu provozieren. Und kurz bevor Auristela die letzte Prüfung vermasselt hatte, was sie ihr Leben kosten würde – waren Ocelos Augen ganz schwarz gewesen. Sier hatte so wütend, so … so rachsüchtig gewirkt.

Teo dachte an die Geschichte, die Xio erzählt hatte, über die Mädchen in Xios Klasse, die auf einmal Läuse hatten, nachdem er von ihnen wegen seiner Haare geärgert worden war. Pech gehabt, hatte Xio gesagt.

Nein, begriff Teo jetzt. Rache. Die ganze Zeit über plante Xio die Rache der Obsidians. Wie hatte er das nur übersehen können?

Und jetzt musste ganz Reino del Sol für Teos Fehler bezahlen.

Doch es gab noch eine Chance. Teo musste nur durch Los Restos kommen, sich in Venganzas Tempel schleichen, den Sol-Stein zurückstehlen und dann die Gottheiten beschwören, Sol wiederzuerwecken.

Was sollte schon groß schiefgehen?

Teo zog das inzwischen schmutzige und zerfledderte Zeremoniegewand aus und ließ den gefiederten Umhang und die Sonnenkrone in seinem Zimmer zurück. Er schlüpfte wieder in seine von der Akademie entworfene Uniform und hatte plötzlich das Gefühl, als würden die Sonnenspiele von vorn beginnen.

Huemac und die Sol-Geistlichen brachten ihnen die wichtigsten Vorräte, während Teo, Niya und Aurelio ihre Rucksäcke packten. Teo wickelte Fantasmas halb abgebrannte Spitzkerze sorgfältig in den Ärmel einer Jacke. Er wusste nicht, wo er die schillernde Feder seiner Mutter, die sie aus ihrem Haar gezogen hatte, sicher unterbringen sollte. Sie war lebenswichtig für den Erfolg der Mission und die Beschwörung der Gottheiten, also musste er sie nah am Körper haben – nicht irgendwo im Rucksack, wo sie zerdrückt werden konnte.

Als Niya sah, dass er mit sich kämpfte, trat sie zu ihm. Mit etwas Gold von ihrem Armreif formte Niya einen Ohrring mit einer kleinen Kette und befestigte die Feder, indem sie ein weiteres Stück Gold um den Federkiel drückte. Die weiche Feder kitzelte Teos Hals, als er den Ohrring anlegte.

Aurelio hatte die winzige Phiole mit dem Zauberelixier an einer Lederschnur um den Hals gebunden, und die Kristallflasche mit der endlosen Wasserquelle steckte in einer Seitentasche seines Rucksacks, aber Teo bemerkte, dass er das Brandarmband seiner Mutter ganz tief in sein Gepäck gestopft hatte. Niya trug immer noch den Schutzring und hielt die unzerstörbare Klinge in der Hand. Teo wusste, dass sie es ernst meinte, weil sie keinen einzigen Witz machte, als sie Tormentosos Windbeutel und den Regenerationsstein einpackte.

Teo hatte Mühe, sein Gepäck auf den Rücken zu hieven, während sich Niya und Aurelio ihre Rucksäcke über die Schultern warfen, als würden die nichts wiegen. In der Schule waren seine Flügel immer festgebunden gewesen, sodass er, zwar etwas unbequem, einen normalen Rucksack tragen konnte. Doch jetzt, da die Flügel frei waren, benötigte er eine spezielle Tasche, um sie darunter unterzubringen.

Zum Glück hatten die Sol-Geistlichen ihm eine für die Sonnenspiele gemacht, aber diesen Rucksack hatte er noch nie benutzt. Er war birnenförmiger und hing unter den Schulterblättern und Flügeln. Zusätzlich zu den Schulterriemen gab es einen Brustgurt, damit er ungehindert fliegen konnte, und jeder Gurt war mit Schnellverschlüssen versehen.

Teo, Niya und Aurelio folgten Huemac die kaputten Stufen des Sol-Tempels hinunter, die in der ewigen Nacht nun von Fackeln beleuchtet wurden.

»Ihr habt zwei Wochen, bevor die Sonnensteine erlöschen und die Städte völlig schutzlos sind«, sagte Huemac, während er sie mit überraschendem Tempo durch die Straßen von Sol City führte. »Ohne die Sonnensteine ist es unmöglich, Sol wiederauferstehen zu lassen und die Obsidians zurück in die Sterne zu verbannen.«

Als ob Teo das je vergessen könnte.

»Entweder wir schaffen das, oder Reino del Sol wird von den Celestials überrannt und vernichtet und alle Menschen gleich mit«, bestätigte Niya, die versuchte, zuversichtlich zu klingen, aber kläglich scheiterte.

Normalerweise würde Teo Niya mit aller Kraft daran hindern, die Obsidians zu jagen, um sich zu rächen. Aber jetzt starrte sie immer wieder in den Nachthimmel und wirkte … verloren.

»Kein Druck oder so«, sagte Teo, der stolpernd versuchte, mit Huemac Schritt zu halten und die Gedanken seines Mentors zu erahnen.

Teo konnte ihn nicht einschätzen. Seit der Zeremonie war Huemac im Notfallreaktionsmodus – konzentriert, gehetzt und mit düsterem Gesichtsausdruck, der schwer zu deuten war. Seine schroffe Art machte Teo eine Gänsehaut. Er wusste nicht, ob Huemac sauer auf ihn war, ob er meinte, Teo hätte das alles vermasselt.

Ob er der Ansicht war, dass sich Teo falsch entschieden hatte.

Aurelio war noch stiller als sonst – wirklich erstaunlich. Er hatte kein Wort mehr mit Teo gewechselt, seit sie sich umgezogen hatten. Eine tiefe Stirnfalte hatte sich auf seinem hübschen Gesicht eingenistet, die Augenbrauen waren sorgenvoll zusammengezogen und die Kiefermuskeln zuckten fortwährend, als er auf eines seiner goldenen Armbänder tippte.

Sie erreichten die Docks, und Huemac zeigte nach vorn: »Nehmt die trajinera«, sagte er. Alle anderen Boote waren längst verschwunden, und zurückgeblieben war eine einzige weiß-goldene trajinera aus Sol City. Die überdachte Gondel dümpelte lautlos im dunklen Wasser, während in der Ferne, jenseits der den Sol-Tempel schützenden Bergketten, Rufe und Sirenen zu hören waren.

Die Gottheiten hatten sofort gehandelt und sich in ihre Städte zurückgezogen, um ihre Leute zu beschützen. Ihre Kinder und Geistlichen waren ihnen gefolgt. Sie alle schienen genau zu wissen, was sie zu tun hatten, aber Teo fühlte sich wie ein kleines Kind, das sich auf einem Straßenfest verirrt hatte.

»Wir haben am fünften Tag der Sonnenspiele nur einen halben Tag gebraucht, um nach Los Restos zu kommen«, sagte Niya und blickte mit großen, hoffnungsvollen Augen zu Teo. »Also, das sollte doch einfach sein, oder?«

Schlagartig erkannte Teo, was sie von ihm erwartete: Er war der Anführer dieser Mission.

»Wir brauchen länger als einen halben Tag«, sagte Aurelio schließlich, und seine Stimme klang so fest, als hätte er sich bei jedem Wort bewusst angestrengt. »Die fünfte Prüfung hat am Rande von Los Restos stattgefunden – Venganzas Tempel liegt aber mittendrin.«

Huemac nickte. »Stimmt. Die Reise dauert länger und trajineras sind nicht gerade für ihre Schnelligkeit bekannt, vor allem, wenn kein Kind von Agua am Steuer ist«, sagte er. »Ihr müsst die kleineren Flüsse und Kanäle benutzen, um dorthin zu gelangen. Das wird alles schwierig zu finden sein.«

Ein Gedanke schoss Teo in den Kopf. »Zuerst müssen wir Mala Suerte finden.«

Huemac, Niya und Aurelio drehten sich zu Teo um. Er versuchte zu schlucken, aber seine Kehle war zu trocken.

»Wir müssen wissen, was zur Hölle mit Xio los war«, erklärte er. »Unmöglich, dass Mala Suerte Xio aufgezogen hat, ohne seine wahre Identität zu kennen, aber er ist abgehauen, als die Obsidians auftauchten. Wenn wir die Obsidians aufhalten und alle zurückholen wollen, muss uns Mala Suerte erst ein paar Antworten geben.«

»Der Feigling ist wahrscheinlich mit eingezogenem Schwanz nach Hause gerannt«, schnaubte Niya zornig.

In der Ferne ertönte ein BUMM, und die Erde unter ihren Füßen bebte.

»Keine Zeit zu verlieren«, sagte Huemac und winkte sie vorwärts. »Beeilt euch.«

Es war an der Zeit, sich zu verabschieden, aber Teo war noch nicht bereit. Sein Herz hämmerte, als er zögerlich den Steg betrat, während Niya und Aurelio einfach weitergingen.

Als Huemac es bemerkte, blickte er zu Teo und runzelte fragend die Stirn.

»Es tut mir leid!«, platzte Teo heraus und rang die Hände, während seine Flügel nervös flatterten. »Wegen … wegen …« Er gestikulierte unsicher. Allem. Und überhaupt.

Huemacs überraschtes Lachen traf Teo völlig unvorbereitet. Der alte Mann seufzte tief, schüttelte den Kopf und ließ die Schultern sinken. »Teo, Sohn von Quetzal.« Huemac hielt Teo mit seinen warmen, schwieligen Händen an den Oberarmen. »Ich war noch nie so stolz auf dich wie jetzt.« Er lächelte, und um seine glänzenden dunklen Augen bildeten sich Fältchen.

Teo erstarrte erschrocken, als Huemac ihn fest umarmte. Teo brauchte eine Sekunde, um sich zu berappeln, bevor er Huemac zurückdrückte und seine Flügel sie beide umhüllten. Die Erleichterung, dass sein Mentor nicht böse auf ihn war, sondern sogar stolz, ließ Teo die Knie schlottern.

»Jetzt beende, was du begonnen hast«, sagte Huemac und löste sich räuspernd aus der Umarmung. »Ich bin hier, wenn du zurückkommst.«

Teo nickte eifrig und blinzelte mit brennenden Augen. »Ich werde dich nicht enttäuschen.«

Huemac grinste. »Ich weiß.« Damit wandte sich der Hohepriester von Quetzal wieder dem Sol-Tempel zu und verschwand in der Dunkelheit.

Nachdem Teo seine Emotionen wieder unter Kontrolle hatte, wischte er sich die Nase und wandte sich seinen Freunden zu, die schon auf ihn warteten. »Na denn, also mit dem Boot?«

»Mir ist es egal, wie wir dorthin kommen, ich will einfach nur ankommen!«, verkündete Niya. »Xios kleiner Arsch wird untergehen.«

»Wir müssen vorsichtig sein, wie wir fahren«, sagte Aurelio. »Je näher an den Städten, desto mehr Monster werden dort sein.«

»Ich kann es kaum erwarten, diesen kleinen Hohlkopf in die Finger zu bekommen«, brummte Niya vor sich hin und umklammerte mit beiden Händen den Griff ihres Schwertes.

»Und auch je näher wir Los Restos kommen«, vermutete Teo stöhnend.

»Ich werde ihn mir schnappen …«

»Wenn wir die dicht besiedelten Gegenden meiden, treffen wir auf weniger Hindernisse und können schneller vorankommen«, bestätigte Aurelio, aber er klang nicht glücklich. Offensichtlich war er nicht begeistert von der Vorstellung, Leuten aus dem Weg zu gehen, die Hilfe brauchten.

»Und ich werde ihn schütteln …«, fuhr Niya fort und gestikulierte wild.

»Wir können die Kanäle ganz in der Nähe von Afortunada nehmen, Mala Suerte finden und dann nach Los Restos fahren«, sagte Aurelio und blickte Teo an, damit er sein Einverständnis gab.

»Bis sein blöder kleiner Kopf abfällt …«

»Was ist mit schlafen und, na ja, einer Pause?«, fragte Teo etwas verzweifelt.

»Mir geht’s gut!«, sagte Niya. »Ich halte mindestens noch einen weiteren Tag durch.«

Teo staunte. »Was?!«

»Es ist doch erst …« Aurelio schaute auf seine Uhr und hielt dann inne. Er machte sich kerzengerade und warf Teo einen fragenden Blick zu. »Bist du müde?«

»Du nicht?«, gab Teo zurück.

»Auf der Akademie werden wir darauf trainiert, lange wach zu bleiben«, erklärte Aurelio langsam. »Im Notfall können wir zweiundsiebzig Stunden am Stück wach bleiben …«

»Ich schaffe achtzig!«, unterbrach Niya und senkte stolz ihr Kinn.

»Großartig«, sagte Teo und versuchte, seinen Stolz hinunterzuschlucken.

Er war erschöpft, aber wenn Aurelio und Niya nicht zu müde waren, um weiterzumachen, dann war er das auch nicht. Es war schon schlimm genug, dass er sie überhaupt in diese Lage gebracht hatte, und er wollte sie nicht aufhalten, weil er ein Jade war, der nicht so ausdauernd oder trainiert war wie ein Gold.

Teo war fest entschlossen mitzuhalten.

»Wisst ihr, wie man eine trajinera steuert?«, fragte Teo, als sie auf dem Steg standen und das Boot mit dem flachen Boden anschauten.

Aurelio seufzte. »Ja, ich«, sagte er und stieg vorsichtig in die Gondel. Teo war sich ziemlich sicher, dass das Letzte, was Aurelio im Moment wollte, war, von Wasser umgeben zu sein, aber er beschwerte sich nicht.

Stattdessen streckte er Teo die Hand hin. »Bereit?«, fragte Aurelio und blickte Teo fest und mit glühendem Blick an.

Teos Herz krampfte sich zusammen, von Aurelios unvermittelter Geste wurde ihm beinahe schwindelig. Teos Lippen umspielte ein Grinsen, als er bemerkte, wie Aurelios Wangen rot anliefen.

»Danke!«

Aurelio erschrak, als Niya auf einmal seine Hand nahm und sich auf das Boot zog.

»Komm, Teo!« Sie drehte sich um, packte ihn vorn am Shirt und zerrte ihn kurzerhand auf die Gondel. »Je eher wir losfahren, desto eher kannst du ein Nickerchen machen!«, meinte sie liebevoll.

»Danke, Niya«, sagte Teo sarkastisch, als er Halt unter den Füßen fand. Er blickte zu Aurelio und verdrehte die Augen. Aurelio lachte leise.

Vielleicht würde diese Mission gar nicht so schrecklich werden.

Aurelio lenkte die trajinera vom Heck aus, indem er die Ruderstange geschickt einsetzte, um sich von der Anlegestelle weg in Richtung der verzauberten Wasserfälle zu drücken und den Sol-Tempel hinter sich zu lassen.

Teo und Niya saßen an dem langen Tisch, die leeren Stühle um sie herum wirkten irgendwie gespenstisch. Normalerweise wurde das Besteigen einer trajinera mit Fanfaren und Pomp begleitet, aber jetzt waren sie hier nur zu dritt.

Alle drei suchten Schutz unter dem gewölbten Dach, während sie durch den ersten Wasserfall glitten und in die Dunkelheit der ersten Höhle eintauchten. Mit einem Schnippen seiner mit Feuersteinen besetzten Handschuhe entfachte Aurelio ein Feuer un...

Autor