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Skye In Our Hearts

Als Buch hier erhältlich:

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»Ich wusste nicht, was ich von diesem Malcolm halten sollte. Wie ich mich verhalten sollte. Es war, als würde man versuchen, zu seinem Lieblingssong zu tanzen, ohne den Takt zu treffen.«

Als die auf dem absteigenden Ast befindliche Top-Schauspielerin April nach Hause zurückkehrt, um zu überlegen, wie sie ihre Karriere wieder ankurbeln kann, hat sie nicht damit gerechnet, dass der stille und mürrische Mal nach dem Tod ihres Vaters dessen Whisky-Brennerei leitet. Das Einzige, was sie gemeinsam haben, ist der Wunsch, die Brennerei wieder in die Gewinnzone zu bringen, auch wenn das bedeutet, dass sie viel enger zusammenarbeiten müssen, als ihnen lieb ist....


  • Erscheinungstag: 20.08.2024
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907960
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1

April

Caledonia – Dougie MacLean

Schau nach vorn, kleines Vögelchen. Nur Versager schauen immer zurück. Gewinner schauen nach vorn, Richtung Ziel. Meine Finger krampften sich um das Lenkrad meines Mini Cooper, als ich mich an das Lieblingsmotto meines Großvaters erinnerte.

Als ich sieben gewesen war und meine einzige Freude im Leben darin bestanden hatte, die nächste Gelegenheit zu finden, bei der ich im Mittelpunkt stehen konnte, war ich mit ihm vollkommen einer Meinung gewesen.

Nur Versager blicken zurück.

»Schon ironisch.« Ich lachte in mich hinein, während ich unablässig auf das Armaturenbrett trommelte und die Minuten langsam verstrichen. Der ältere, gebückte Mann, auf den ich den Blick gerichtet hielt, hob eine gebrechliche Hand und winkte mein Auto näher heran. Schnell gab ich Gas und fuhr auf die wippende Rampe am Heck der Fähre zu, die täglich zweimal zwischen der Isle of Skye und dem schottischen Festland pendelte. Ein paar Meter näher an der Freiheit.

Das gemietete Wohnmobil vor mir – ich wusste, dass es gemietet war, weil ich die letzten vierzig Minuten damit verbracht hatte, permanent den Aufkleber auf der Stoßstange mit der Aufschrift »Highland motorhomes: Hier beginnt das Abenteuer!« angestarrt hatte – rollte weiter und hielt neben ihm. Der übergroße Anorak des alten Mannes flatterte wie die Flügel eines kleinen Vogels im Sturm. Dennoch grinste er breit, als er die Fahrkarten abstempelte und über seine Schulter hinweg auf die verbaute bergige Insel deutete. Mit dem Regen kam auch der Nebel, der das Grün mit seinen geisterhaften Händen verdeckte und so tief hing, dass man scheinbar nur den Arm ausstrecken musste, um ihn zu berühren.

Ich konnte die Worte praktisch von seinen wettergegerbten Lippen ablesen: Skye bedeutet auf Gälisch Nebel, sehr passend, stimmt’s! Er kramte mit seinen großen knöchernen Händen in seiner Jackentasche und zog schließlich eine zerknitterte Karte aus seiner Tasche. Natürlich laminiert – ein Mann, der draußen arbeitete, kannte die Herausforderungen des schottischen Wetters wie seine eigene Westentasche.

Ob ihr’s glaubt oder nicht, vor ner Viertelstunde hat noch die Sonne geschienen.

Dudley, mein Drahthaardackel, winselte genervt auf der Rückbank, wo ich seine Box festgeschnallt hatte. »Fast geschafft, Kumpel. Diesmal wirklich.« Sein Schnaufen klang, als würde er sagen: Du Lügnerin! Und er hatte ja recht. Ich hätte weinen können, als der Motor des Wohnmobils aufheulte und es losfuhr. »Siehst du«, sagte ich und blickte in den Rückspiegel, um sein kleines Gesichtchen zu sehen.

»Hallo, Mädchen.« Genau in dem Moment, als ich mein Fenster herunterließ, begrüßte mich der Alte mit heiterer Stimme. Er legte eine Hand auf das Autodach. »So, ich hoff, Sie haben ein Ticket, sonst müssense zurück zum Festland schwimmen.«

Ich lachte halbherzig. Ich hätte alles Geld auf meinem Bankkonto darauf verwettet (und das ist weniger, als ihr denkt), dass er diesen Witz jeder einzelnen Person erzählte, die hier anhielt. Ich lächelte, so nett ich konnte, und reichte ihm mein Ticket für eine einfache Fahrt, wobei ich den Regen ignorierte, der in meinen Ärmel hineinlief. Doch der Mann nahm es nicht. Stattdessen warf er einen Blick in den Kofferraum meines Kleinwagens und musterte die Kartons und Müllsäcke, in die ich eilig meine Klamotten gestopft hatte. »Was führt Sie nach Skye?«

»Besuche nur jemanden.«

»Familie?«

»So was in der Art«, antwortete ich bewusst vage.

Das schien ihn zu freuen. »Irgendjemand, den ich kenn?«

»Wahrscheinlich nicht.«

Er tippte sich mit einem Finger an die Lippen und musterte mich erneut, völlig unbeeindruckt von den Regentropfen, die seine lange Nase hinunterliefen. »Ich könnt schwören, ich kenn dich irgendwoher, Mädchen.«

Das war im Moment wirklich das Letzte, was ich gebrauchen konnte. »Das bezweifle ich.« Ich streckte meine Hand mit dem Ticket noch weiter zum Fenster hinaus, während der Regen mir bis zum Ellbogen hinunterlief, bis er es endlich kapierte. Mit unzufriedener Miene stempelte er das Ticket und gab mir ein Zeichen, weiterzufahren.

»Willkommen auf Skye.« Jetzt klang er schon deutlich weniger freundlich.

Als ich meine Hand zurückzog, fühlte ich mich schrecklich. Er war eine Plaudertasche, und da ich selbst eine war, verstand ich, wie sehr es schmerzte, wenn man so abgekanzelt wurde. Und der Alte war mein Landsmann. Aber anscheinend konnte eine zwölfstündige Autofahrt von London selbst den unbeschwertesten Persönlichkeiten aufs Gemüt drücken. Und wenn man dann auch noch das Lenkrad so fest umklammert hielt, dass die Knöchel ganz weiß wurden, weil man vergessen hatte, wie kurvenreich die Straßen in schottischen Highlands waren … Ich kam nicht mehr nur auf dem Zahnfleisch dahergekrochen, sondern schon auf dem Kieferknochen. Ich wollte nur noch was essen und ins Bett.

***

Die Ankunft auf Skye verlief unspektakulär. Ein schmaler Pier überspannte die felsige Armadale Bay am südlichen Ende der Insel und glänzte hübsch unter der grauen Wolkendecke. Die Insel selbst konnte man sich wie eine Hand mit fünf ausgestreckten Fingern vorstellen, wobei jeder Finger eine Halbinsel darstellte. Ich befand mich gerade auf dem Daumen.

Trotz der langen Fahrt schnurrte mein Mini behaglich, als ich in die vertraute, sich ans Ufer schmiegende Straße einbog. Die Straße Richtung Norden, die mich in fünfzehn Minuten zu meinem Elternhaus bringen würde, war auf der einen Seite von krummen Bäumen gesäumt. Alles, was zwischen meinem Auto und der spiegelnden blauen Wasserfläche auf der anderen Seite lag, war eine niedrige Steinmauer, und dahinter die schroffen Berggipfel des Festlands, die sich über den Nebelwolken erhoben.

Als ich am Schild »Willkommen in Kinleith« vorbeifuhr, setzte ich den Blinker und wurde langsamer. Meine Augen suchten automatisch nach der scharfen Kurve, die so von den Gebüschen auf dem Grundstück meines Großvaters Kier überwachsen war, dass sie sogar ihn gelegentlich überrascht hatte, sehr zur Belustigung meiner Großmutter. Ich konnte mir beinahe vorstellen, wie sie auf dem Beifahrersitz jedes Mal gekichert hatte, wenn er gezwungen gewesen war, das Auto auf der engen Landstraße zu wenden. Ihr könnt euch also vorstellen, wie sehr mich der Anblick an diesem Tag überraschte: Nicht nur, dass das Gebüsch zurückgeschnitten und ordentlich eingezäunt war, es befand sich auch ein großes schmiedeeisernes Tor vor dem Eingang.

»Was zum Teufel?«, murmelte ich und hielt an. Kier war vor fast drei Monaten gestorben. Er war mein letzter lebender Verwandter gewesen, außer man zählte meine Mutter mit, und das tat ich nicht. Sie lebte derzeit ihren Traum von Freiheit und Ungebundenheit in Thailand – oder war es mittlerweile Bali? Wie dem auch sei, sie war für mich eher wie eine Schulfreundin, eine von denen, die dich einmal im Jahr anrufen und dich anhauen, in ihr neues Kerzenbusiness oder Ähnliches zu investieren. Und Kier … na ja, mein Großvater hätte für so was jedenfalls kein Geld ausgegeben.

In der Einfahrt zog ich die Handbremse und löste den Sicherheitsgurt. Dudley heulte jämmerlich, was so viel bedeutete wie: Wenn ich nicht in den nächsten dreißig Sekunden was zu fressen kriege, sterb ich.

»Ich hab dich erst vor zwei Stunden gefüttert, du kleines Monster.« Na gut, es war eine hastig verschlungene Mahlzeit am Straßenrand gewesen, während ich versucht hatte, hinter einem Busch zu pinkeln und gleichzeitig nach Leuten mit Kameras Ausschau zu halten. Ich hatte mir die Schlagzeile schon vorstellen können: »Tief gefallenes Filmsternchen schädigt gefährdetes Ökosystem durch Urinieren«. Mittlerweile gehörte Paranoia für mich schon zum Alltag dazu.

Julia Roberts musste sich bestimmt nie mit so einem Mist rumschlagen.

Ich war so erschöpft, dass mir der Regen vollkommen egal war. Ich sprang aus dem Auto und hoffte inständig, obwohl es unwahrscheinlich war, dass derjenige, der das Anwesen zuletzt besucht hatte, das Tor offen gelassen hatte. Ich gab ihm einen kräftigen Stoß und heulte fast los, als es sich weit öffnete, so froh und erschöpft war ich.

Es war Mai, und der Abend war ungewöhnlich lau, aber trotzdem klapperten meine Zähne, als ich die holprige Einfahrt zum Herrenhaus entlangfuhr. Ich spannte mich an. Jede Rille und jedes Schlagloch belastete die Federung meines Stadtautos stark.

»Du schaffst es, Baby, du schaffst es«, säuselte ich und strich liebevoll über das Armaturenbrett. Schon bald öffnete sich der Weg zu einer breiten Schotterauffahrt, in deren Mitte die uralte Eiche stand, von der ich mal gefallen und mir dabei den Arm gebrochen hatte. Es sah aus, als hätte die Natur einen Kreisverkehr angelegt. Und dann tauchte das Herrenhaus vor mir auf. Das Haus, in dem vier Generationen von Murphys gelebt hatten und auf dessen einzigem Türmchen auf dem Schieferdach immer noch dieselbe vom Wind arg mitgenommene schottische Flagge wehte. Das zweistöckige Gebäude im viktorianischen Stil ragte stolz vor mir auf; sein Stein war im Laufe der Jahre zu einem hellen Sandfarben verblasst. Die großen Fenster im unteren Stockwerk waren fast vollständig von dichtem grünen Efeu verdeckt, der sich um das Gebäude schlängelte, als würde er seine Gliedmaßen zusammenpressen.

Ich merkte, wie mir der Mund offen stand. In den Jahren meiner Abwesenheit hatte ich vergessen, wie unglaublich groß das Herrenhaus war. Die Ausmaße des Anwesens waren von den Erinnerungen an gemütliche Weihnachtsfeste im Familienzimmer verdrängt worden. An die Pfannkuchen und den Zitronenstreuselkuchen, die meine Großmutter Elsie jeden Sonntag gemacht hatte. Damals hatte es sich ganz normal angefühlt, dass mein privater Spielplatz acht Hektar groß war.

Vielleicht lag es an den verdunkelten Fenstern oder daran, dass drinnen keine Menschenseele auf meine Rückkehr wartete, dass es sich zu groß für eine Person anfühlte. Ich stellte mir vor, wie Kier in den letzten Tagen seines Lebens in diesen verlassenen Räumen herumgegeistert war, und hasste mich selbst noch ein bisschen mehr. Ich hätte hier sein sollen. Ich hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmt.

Ich parkte direkt vor dem Haus und holte als Erstes Dudley heraus, bevor er eine seiner drei verbliebenen Pfoten abnagen konnte. Ich verfrachtete ihn aus seiner Transportbox in sein Tragetuch und legte es mir um. Sobald ich ihn reingebracht hatte, konnte ich meine Taschen holen.

»Was hältst du von deinem neuen Zuhause, Kumpel? Es ist ganz anders als unsere Wohnung in London. Du wirst so viel Platz zum Toben haben und wir können jeden Morgen zum Strand runterlaufen.« Er leckte mir aufgeregt übers Kinn, wahrscheinlich eher, um die Krümel des mickrigen Sandwichs zu ergattern, das ich auf der Fähre gegessen hatte, als um seine Begeisterung zu zeigen.

Ich stieg die Stufen zum Vordereingang hoch und drehte den Messinggriff, der in die Tür mit abblätternder Farbe eingelassen war.

Abgeschlossen. Tja, damit war dieser Plan also hinfällig.

Es war dumm von mir gewesen, zu glauben, dass die Haustür offen sein würde – auch wenn Kier nie groß Wert auf Sicherheit gelegt hatte –, aber ich hatte London ein wenig überstürzt verlassen. Ich legte den Kopf in den Nacken, maß die Entfernung zwischen dem Spalier und dem Fenster im zweiten Stock mit dem zerbrochenen Riegel ab und berechnete, mit welcher Geschwindigkeit ein Mensch höchstens fünfzehn Meter tief fallen durfte, um es unbeschadet zu überstehen.

Dudley wedelte ungeduldig mit dem Schwanz. »Schon gut, schon gut, ich denke nach! Wenn ich tot bin, kann dich niemand mehr füttern. Dann musst du in der Wildnis leben und Ratten und Kaninchen fressen, die zu schwach sind, um dir zu entkommen.«

Ich entschied mich dagegen, zum zweiten Stockwerk hochzuklettern, und schlenderte ein wenig herum, wobei ich den Kiesweg ignorierte, der zu der alten Whisky-Brennerei führte, die mein Urgroßvater vor fast siebzig Jahren gebaut hatte. Ich ging um das Haus herum und kam vor dem Küchenfenster im hinteren Teil zum Stehen. Ich musste lächeln, als ich die alten Holzrahmen bemerkte – ausnahmsweise war ich erleichtert, dass Kier Renovierungen nicht für nötig gehalten hatte. Wenn ich etwas Kraft anwandte, müsste sich das Fenster nach oben schieben lassen.

Ich kletterte in das Blumenbeet, in dem einst die Lieblingshortensien meiner Großmutter gewachsen waren, ignorierte das Schmatzen des nassen Schlamms und das Verbrechen, das er an meinen weißen Turnschuhen beging, und begann zu drücken. »Na los, komm schon …« Ich biss die Zähne zusammen, drückte fester, beugte meine Knie und drückte meine Schulter gegen den Rahmen, bis ich ihn ächzen hörte. »Geh schon auf, du Miststück.«

Plötzlich glitt er mit solcher Wucht nach oben, dass ich zurückstolperte und Schlamm auf meine nackten Oberschenkel spritzte. »Siehst du«, sagte ich zu Dudley, »kinderleicht.« Ich wischte mir die feuchten Hände an meiner Jeanshose ab und starrte in die schummrige Küche, die genauso aussah, wie ich sie in Erinnerung hatte, mit ihren frei liegenden Ziegeln und Balken – »Rustikaler Schick«, wie die Zeitschrift House & Garden es bezeichnen würde. Aber eigentlich war sie nur rustikal und alt. Ich schwang mein Bein über die Kante und sagte zu Dudley: »Da staunst du, was ich für verborgene Talente hab, Kumpel.«

Und so kam es, dass ich mir beim Einbruch in das Haus meines verstorbenen Großvaters hinten die Hose aufriss.

Ich wiederhole: Julia Roberts musste sich bestimmt nie mit so einem Mist rumschlagen.

***

Nachdem ich den letzten Müllbeutel aus meinem Auto am Fuß der Treppe deponiert hatte, wechselte ich meine durchnässten Klamotten und zog das erstbeste lange T-Shirt an, das ich finden konnte. Dann hängte ich meine feuchten Dessous zum Trocknen an den Heizkörper in der Küche, darauf achtend, den zarten Spitzenstoff sorgsam auszubreiten. Ich knüllte meine Lieblingsjeansshorts zusammen, die nicht mehr zu retten waren, und warf sie in den Mülleimer unter der Spüle. Ich wagte nicht, einen Blick auf die leeren Sofas im hinteren Teil des Raums zu werfen, der als Küche und Familienzimmer diente und in dem die Geister meiner Familie schon auf mich warteten.

Meine Großmutter Elsie strickte in ihrem Sessel vor dem Feuer; ich konnte den Ruß fast riechen. Ich konnte hören, wie sie aufsprang und von Kier verlangte, dass er seine Arbeitsmontur auszog, sobald er zum Abendessen durch die Tür trat. Ich konnte sehen, wie Kier mich angrinste, ein Grinsen, das mit zunehmendem Alter immer jungenhafter geworden war, und ich konnte sehen, wie er meine verworrenen Locken zerzauste und fragte: »Na, schönen Tag in der Schule gehabt, kleines Vögelchen?« Sogar meine Mutter war da. Ab und zu war sie uns für ein kurzes Weilchen besuchen gekommen. Eine junge alleinerziehende Mutter zu sein, das war nichts für sie gewesen. So hatte sie den größten Teil meiner Kindheit damit verbracht, als Animateurin auf einem Kreuzfahrtschiff zu arbeiten. Damals hielt ich das für den glamourösesten Job überhaupt, und ich habe sie immer so lange darum angebettelt, mir Geschichten zu erzählen, bis sie sich demonstrativ in eine aufgeschlagene Zeitschrift vertiefte. In diesen Mauern hatte es so viel Liebe und Schmerz gegeben. Und dann war alles weg gewesen, binnen eines Wimpernschlags. Auf einmal summte mein Telefon auf dem Tresen und riss mich aus meinen vagen Erinnerungen.

Ich brauchte nicht mal auf das Display zu schauen, um zu wissen, wer es war. »Du hast meine Nachricht also bekommen«, sagte ich, ohne sie zu begrüßen.

»April, bitte sag mir, dass das ein Scherz ist. Einer dieser dummen Streiche, die du gerne spielst.« Sydney war meine Mitbewohnerin und eine der wenigen Freundinnen, die ich in London hatte. Ihre Stimme klang nasaler als sonst, was bedeutete, dass sie immer noch ihre Anti-Schnarch-Nasenklammer trug. Sie war auch Schauspielerin und derzeit erfolgreicher als ich; im Moment drehte sie ihren ersten Spielfilm in Toronto.

»Danach habe ich es nie wieder gemacht, und das Pipi war schnell wieder aufgewischt!«, erwiderte ich zum hundertsten Mal. Nur ein Mal in unserer elfjährigen Freundschaft hatte ich ihr einen Streich gespielt, und sie trug es mir immer noch nach.

»Ich hasse Streiche.«

»Ich weiß.« Mann, das hatte ich auf die harte Tour gelernt. In der ersten Woche, in der wir im zarten Alter von zwanzig Jahren zusammengezogen waren, hatte ich mir eingeredet, meiner Mitbewohnerin, einer gleichgesinnten angehenden Schauspielerin, als eine Art Initiationsritus einen »Willkommensstreich« spielen zu müssen. Frischhaltefolie auf dem Toilettensitz war ein Klassiker, echt urkomisch. Zumindest hatte ich das gedacht.

»Und?«, fragte sie.

»Und

»Also … bitte sag mir, dass du nicht den Verstand verloren hast und nach Schottland gefahren bist!«

»Warum sollte ich dir das sagen, wenn du es bereits weißt? Ich hab wortwörtlich geschrieben: Bin für ne Weile in Schottland, weiß nicht, wann ich zurückkomme

»Ich hatte gehofft, dein Handy wäre gestohlen worden … oder du wärst entführt worden.« Ich lachte und fuhr mit dem Finger über die Staubschicht auf der Fensterbank. Es regnete immer noch, und der Regen versperrte mir die Sicht auf das grasbewachsene Ufer und den steilen Pfad, der hinunter zur Strandbucht führte. »Und, bist du entführt worden? So was passiert da oben anscheinend öfter.«

»In Schottland?«

»Genau

Ich verzichtete darauf, sie daran zu erinnern, dass ich gebürtige Schottin war, auch wenn mein geglätteter englischer Akzent mittlerweile etwas anderes vermuten ließ, und sagte einfach: »Ich denke, ich komm schon klar.«

»Warum tust du das jetzt, April? Was ist mit dem Job, den du in Aussicht hattest?«

»Job? Das war mehr so ein Wet-T-Shirt-Wettbewerb. Die wollten, dass die männlichen Gäste mich mit Champagner bespritzen, bevor ich die Getränke serviere.« Seitdem meine Karriere sozusagen einen Umweg über eine holprige Seitenstraße genommen hatte, nahm ich jeden Job an, der mir angeboten wurde. Ich hatte bei gefühlt jeder Reality-Show mitgemacht: Dancing With Celebrities, Celebrity Cook-Off (zweimal), Celebrities Go Dating. Ich bin in lächerlichen Aufzügen und mit Schuhen, die meine Füße aufscheuerten, zu PR-Veranstaltungen gegangen und habe mit einem Lächeln im Gesicht neben Männern gestanden, bei denen mir innerlich ganz übel wurde. Ich hatte mich mit der Rolle eines geldgierigen C-Promis abgefunden. Aber als ich dann dieses kleine weiße T-Shirt sah, war irgendwas in mir übergekocht. Die Worte des Eventplaners hatten mir dann quasi den Rest gegeben. Schätzchen, du zeigst nichts, was sie nicht schon Tausende Male gesehen haben.

Wenn ich an die Tage zurückdachte, als mir die Jobs nur so in den Schoß gefallen waren, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Mit sechsundzwanzig Jahren hatte ich einen BAFTA für die beste Nebenrolle gewonnen, ein Jahr später kamen zu meiner Sammlung noch zwei Golden Globes dazu. Jetzt fehlte nur noch der Oscar. Ich hatte sogar ein Bild davon an meinen Kühlschrank geklebt und mein Ziel somit immer vor Augen.

Immer Richtung Ziel schauen, kleines Vögelchen.

Wie es bei allem so ist, was im Leben einen Wert hat, hatte ich Jahre gebraucht, um meine Karriere aufzubauen. Zerstört war sie allerdings innerhalb weniger Sekunden gewesen. Jetzt, sechs Monate später, war es lächerlich, auch nur an den Oscar zu denken. Ich war mir ja nicht einmal sicher, ob ich wieder schauspielern würde.

»Ach, Mädchen. Bist du sicher, dass Skye im Moment besser für dich ist? Du bist auf einer Insel, um Himmels willen. Gibt’s dort überhaupt einen Supermarkt?«

Gab es nicht. Aber es gab mehrere Tante-Emma-Läden, und man konnte sich heutzutage ja auch Lebensmittel liefern lassen. Mir würde es hier gut gehen. Zumindest meistens.

»Hat Angela dir den Vertrag nicht zugeschickt? Sie hat gemeint, sie würde ihn schicken.«

Angela, die Agentin von LDN Artists, hatte mich tatsächlich kontaktiert, und obwohl sie eine aufrichtige, freundliche Person zu sein schien, hatte ich noch nicht geantwortet. »Ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin, ich bin erst vor ein paar Monaten aus meinem alten Vertrag rausgekommen. Ich brauch ein bisschen Zeit zum Nachdenken.« Ich schaltete das Handy auf Lautsprecher, damit ich parallel die Küchenschränke durchstöbern konnte. Dudley war zwar satt und glücklich und döste auf dem Boden, alle Beine von sich gestreckt, doch dafür knurrte mein Magen jetzt.

Sydneys Stimme hallte von der hohen Decke wider. »Aber du hast recht bekommen. Es ist an der Zeit, dass du wieder da rausgehst und dein Ding machst.«

Es fühlte sich ganz und gar nicht an, als hätte ich recht bekommen. Die dunkelsten Stunden meines Lebens waren unters Mikroskop gezerrt und gnadenlos seziert worden. Und währenddessen entschied eine Gruppe von Männern mittleren Alters, die alle meine Titten gesehen hatten, über mein Schicksal. »Recht bekommen?« Ich lachte tonlos in die Stille hinein. »Aaron hat vielleicht seinen Job verloren, aber wir wissen beide, dass er eine große Abfindung gekriegt hat, weil er ohne großes Trara gegangen ist. Er wird keine Probleme haben, aber ich …« Ich hatte Jahre verloren, in einem Beruf, in dem viele Frauen ohnehin ziemlich schnell weg vom Fenster sein konnten.

»Deshalb musst du wieder schauspielern.«

»Ich weiß nicht, ob ich wieder schauspielern will.« Es erschreckte mich, als ich merkte, dass ich es ernst meinte. Ich kannte nichts anderes. Ich war in nichts anderem gut. Hinzu kam, dass ich das Anwesen verlieren würde, wenn ich nicht wieder arbeiten ging … mein Leben war ein einziges Chaos. Ich war die lebende Verkörperung des Memes von dem Typen, der mit einer Pizza in seine Wohnung kommt und merkt, dass alles in Flammen steht.

Aber Sydney konnte ich das nicht sagen. Wir waren zwar Freundinnen, aber nicht solche, die sich über so persönliche Sachen unterhielten. Also zwang ich mich zu lächeln und sagte: »Ich werde drüber nachdenken und mir den Vertrag durchlesen.«

»Gut. Bist du sicher, dass du da oben klarkommst?«

»Ja.« Ich sah mich in der Küche um, betrachtete die abgegriffenen Schränke aus dunklem Kiefernholz und den großen Esstisch mit sechs Stühlen, den Kier als Hochzeitsgeschenk für Elsie gezimmert hatte. Auf allem lag eine dicke Staubschicht, wie auf meiner Kindheit. Dennoch fühlte sich mein nächster Atemzug wie der leichteste an, den ich seit Jahren getan hatte.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht.« Ich kaute auf einem Nagel. »Worauf ich grade Lust habe. Plätzchen backen und all die Liebesromane lesen, die ich auf meinem E-Reader gespeichert hab. Spazieren gehen. Ich könnte mal Yoga statt Zirkeltraining probieren … du weißt, wie sehr ich Burpees hasse.«

Sie lachte. »Du wirst dich so langweilen, dass du schon morgen früh nach London zurückkommen wirst.«

Auf einmal war die Leitung tot, und um mich herum herrschte Stille. »Ich schätze, das werden wir bald rausfinden.«

2

April

Bad Blood – Taylor Swift

»Was ist das Problem? Das Bett?« Ich hätte schwören können, dass mein Hund pikiert dreinsah. »Die Matratze ist ein bisschen alt, ja, aber ich habe unser Bettzeug von zu Hause mitgebracht, sogar die kleine Decke, die du so magst, siehst du?« Ich hielt ihm den kratzigen grün-lila Schottenkarostoff hin – ein Relikt aus meiner Kindheit – und machte mich dann wieder daran, das Bett zu beziehen. Ich hatte mich nicht dazu durchringen können, mich ins alte Schlafzimmer meiner Großeltern einzuquartieren, obwohl es dreimal so groß war und über ein eigenes Bad verfügte. Nein, das Zimmer hier musste fürs Erste reichen.

Ich zog den Matratzenschutz ab und drehte die Matratze um, die erstaunlich gut in Schuss war. Tatsächlich hatte das ganze Zimmer die Jahre gut überstanden. Die blassrosa-weiß gestreifte Tapete, die ich als Teenie ausgesucht hatte, weil sie fast identisch mit der in Chers Schlafzimmer in Clueless war, wellte sich leicht an den Rändern, und die Dielen knarrten mehr als früher. Ansonsten kam es mir vor, als würde ich in eine andere Zeit zurückversetzt.

Nachdem ich den seidigen Bezug geglättet hatte, warf ich meine jadegrünen Lieblingskissen darauf, die auf meinen Instagram-Bildern so extravagant aussahen, obwohl ich sie in Wirklichkeit in einem Schnäppchenladen gekauft hatte. Ich warf einen Blick darauf – gab es eine bessere Metapher für mein Leben?

Ich war gerade dabei, das Bett zu beziehen, hatte meinen in beigefarbener Unterhose steckenden Hintern in die Luft gestreckt, während ich versuchte, die Zipfel der Steppdecke genau in die Ecken des Bezugs zu stopfen, als ich ein Geräusch hörte.

Krach. Knirsch. Stöhn.

Krach.

Knirsch.

Stöhn.

Ich kannte dieses Stöhnen ganz genau. Ich hatte genauso gestöhnt, als ich mich nur Stunden zuvor durch das verdammte Küchenfenster gezwängt hatte. Es war das Stöhnen, das man von sich gab, wenn man eine Aktion bereute.

Ein weiteres leises Rumpeln drang die Treppe herauf. Der Urheber war eindeutig männlich. Es war laut genug, dass Dudley sich zur Tür drehte und sein Schwanz aufgeregt und rhythmisch zu peitschen begann.

Bums. Jemand war auf dem Boden gelandet.

Das brachte mich in Bewegung. Ich stürzte mich auf Dudley, schloss mein Teufelchen auf drei Beinen in meine Arme und hielt ihm den Mund zu, bevor er uns verraten konnte. Ich war nicht zwölf Stunden gefahren, um jetzt in einem lahmen, zweitklassigen Horrorfilm mitzuspielen, der es nicht einmal in die Kinos schaffen würde. Nein, dieser Mistfilm würde direkt auf einer Streaming-Plattform landen. Oder noch schlimmer … auf DVD gebrannt werden. Oh, heute Abend war ich echt kreativ mit den Metaphern.

Ich stolperte ein paar Schritte zurück und drückte Dudleys winzigen Körper an meine Brust, während mir meine Möglichkeiten durch den Kopf gingen … Ganz ruhig, niemand außer Sydney weiß, dass du hier bist. Mist. Niemand außer Sydney wusste, dass ich hier war. Ich war so gut wie tot.

Ich suchte nach meinem Handy, während weitere Geräusche heraufdrangen – Schränke wurden geöffnet, Töpfe und Pfannen herumgeschoben. Plötzlich fiel mir ein, dass ich es auf dem verdammten Esstisch liegen gelassen hatte. Mir blieben nur wenige Minuten, bevor der Typ es bemerken und sich nach oben wagen würde. Ich brauchte einen Plan, musste in die Offensive gehen. Ein Überraschungsangriff war immer der effektivste … oder so ähnlich. Ich war zwar nur ein Meter achtundfünfzig groß, aber ich trainierte jeden zweiten Mittwoch. Und ich war rauflustig wie ein Chihuahua.

»Du schaffst das, du schaffst das«, versuchte ich mir gut zuzureden. Ich setzte Dudley aufs Bett und bedachte ihn mit dem gleichen »Rühr-dich-ja-nicht–vom-Fleck«-Blick, mit dem ich ihn immer ansah, wenn er im Park eine langsame Taube erspähte. Dann durchwühlte ich meine Taschen nach irgendetwas, das ich als Waffe verwenden könnte. Aber ich fand nur eine Dose Deospray und ein Paar Stiefel mit Pfennigabsätzen. Mit den Stiefeln konnte ich ihm Schmerzen zufügen, aber mit dem Deo … das würde ihn vielleicht lange genug außer Gefecht setzen, damit ich mir mein Handy schnappen und Hilfe rufen konnte.

Die Entscheidung war getroffen. Ich nahm die Kappe vom Deo ab und schlich zur Tür hinaus. Auf dem alten Teppichboden machten meine nackten Füße kaum ein Geräusch. Die Treppe war schon kniffliger. Ich überließ dem Muskelgedächtnis die Führung und hüpfte wie ein Teenager, der sich nach Einbruch der Dunkelheit an den Strand schleicht, um mit Freunden zu trinken, über lose Dielen.

Licht drang aus der Küche durch die rissige Tür. Die imposante Silhouette des Eindringlings huschte über das Fischgrätenparkett der Eingangshalle. So richtig dreist. Ich schüttelte angewidert den Kopf und umklammerte das Deo noch fester. Hatte der denn keine Ahnung, wie man so eine Nacht-und-Nebel-Aktion richtig anging?

Ich hielt mich dicht an der Wand und versuchte, meinen Herzschlag zu beruhigen. Das Geräusch seiner Schritte, während er auf der Suche nach irgendwas hin und her lief, überlagerte meine eigenen Fußtritte. Erst als ich die Türschwelle erreichte und seinen unordentlichen braunen Haarschopf erblickte, wie er sich auf der Kücheninsel abstützte und aus Elsies Lieblingstasse trank, sah ich richtig rot. Sämtliche Angst verließ meinen Körper. Ich duckte mich nicht, dachte nicht, atmete nicht. Ein heißer Strom der Gerechtigkeit floss durch meine Adern, und ich stürzte mich auf ihn.

Drei Schritte, und ich hing auf seinem riesigen Rücken. Er schrie überrascht auf und versuchte sofort, mich abzuschütteln, aber ich war zu schnell, schlang schreiend meine Beine um seine Taille. Meine Arme schlossen sich um seinen Hals, der den Durchmesser eines kleinen Baumstamms hatte.

Der Eindringling taumelte vor und zurück und stieß mit der Hüfte so hart gegen die Kante der Arbeitsfläche, dass ein Schneidebrett runterfiel. Möhren flogen wie winzige Raketen durch die Gegend, ein mörderisch scharfes Messer krachte auf die grauen Fliesen. Kurz kam mir der Gedanke, dass es schon seltsam war, dass ein Einbrecher Gemüse schnippelte. Aber ich steckte zu tief in der Sache drin, war zu sehr im Blutrausch. Nichts war mehr wichtig außer dem hier.

Von fern nahm ich wahr, wie ein Hund bellte. Zwei Hunde, Dudley und noch ein anderer. Der andere bellte lauter und in tieferem Bariton. »Was zum Teufel soll das?« Der Riese klang benommen und versuchte, sich mit seinen tellergroßen Händen von mir zu befreien. Mein Griff wurde schwächer, in ein paar Sekunden würde er mich überwältigt haben. »Wer zum Teufel sind Sie?«

Er klang verängstigt. Gut so. »Ich bin die Rache, Scheißkerl«, zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor – dieser Satz war übrigens völlig improvisiert –, bevor ich die Dose hob und den Sprühkopf drückte. Ein nach Kokosnussblüten duftender Sprühstoß vernebelte die Luft und traf nicht nur sein Gesicht, sondern auch meines. Er war nass und kratzte, brannte in meinen Augen und kroch meinen Hals hinunter. Wir schrien gleichzeitig auf. Jetzt hatte ich absolut keine Chance mehr. Ich klammerte mich fester an ihn, während mir die Tränen aus den Augen liefen, aber es war wie ein Ritt auf einem bockenden Wildpferd.

Er hieb sich die Nägel ins Gesicht, Schimpfwörter flogen durch die Luft, und dann setzten wir uns in Bewegung. Eine meiner Hände rutschte ab, als ich mit dem Rücken an die Wand über dem Heizkörper prallte. Ich tastete blind herum, bis ich weichen Stoff zwischen die Finger bekam. Ich hievte mich auf die Oberfläche und fummelte mit dem Stoff in der Hand vor seinem Gesicht herum, um ihm das Tuch in den Mund zu stopfen. Er versuchte erneut, mich abzuschütteln, und taumelte vorwärts. Zwei der Esszimmerstühle wurden bei unserem Handgemenge in Mitleidenschaft gezogen und krachten auf den Boden. Währenddessen wurde das Bellen immer lauter.

Ich sah mich nach Dudley um, um sicherzugehen, dass er in Sicherheit war, wenn sich die Situation zuspitzte, doch der Eindringling langte mit einer seiner Bärentatzen nach hinten, packte mich am Kragen und schleuderte mich durch die Luft.

»Uuuf«, machte ich, als würde ich eine Staubwolke ausspucken. Nicht vor Schmerz, sondern vor Überraschung. Ich prallte zweimal gegen irgendetwas und lag dann plötzlich flach auf dem Rücken auf dem Sofa. Ein Schatten tauchte über mir auf, aber alles, was ich mit meinem verschwommenen Blick ausmachen konnte, war ein Durcheinander aus Haaren, Bart und Schottenkaros, bevor sich Hände auf meine Schultern legten. Ich strampelte wild, das Deo fiel mir aus der Hand.

»Herrgott, du verdammtes Teufelsweib«, rief er und spuckte das zusammengeknüllte Material aus seinem Mund. »Was machst du hier? Erklär dich!«

»Was ich hier mache?« Ich versuchte, ihn mit meinen Fingernägeln zu erwischen, aber er kam mir zuvor, legte seine Hände auf meinen Bizeps und drückte mich auf die Kissen. Wie konnte er überhaupt irgendwas sehen? Meine Augen waren nur noch flammende Feuerbälle. Verschwommen konnte ich sehen, wie er sich mit seinem Hemdsärmel über beide Augen fuhr. Beinahe siegte meine Genugtuung über den Schmerz. »Ich hab schon die Polizei gerufen, sie ist auf dem Weg. Wenn du schlau bist, verschwindest du, bevor sie kommen.«

»Soso, du hast die Polizei gerufen? Mit wem hast du gesprochen?« Er gab mir keine Gelegenheit zu antworten. »Ich weiß genau, dass Tom sein Telefon nach neun abstellt.«

Verdammt sei diese kleine Insel und ihre niedrige Kriminalitätsrate!

Ich legte so viel Autorität in meine Stimme, wie ich konnte, und sagte ruhig: »Du bist ein Einbrecher. Wenn du jetzt gehst, kann ich noch mal ein Auge zudrücken.«

Er schnaubte ungläubig. »Du …« Er brach ab und verzog das Gesicht, als ob ein Schleier gelüftet worden wäre und wir nun plötzlich Gegenteiltag hätten, an dem sich alles, was er für richtig gehalten hatte, als schlimmer Irrtum herausstellte. Er ließ mich los und rieb sich erneut die Augen. »April?« Er sprach meinen Namen aus, als widerstrebte es ihm, dass er ihm vertraut war. Er kannte mich also. Und zwar nicht als April Sinclair, sondern als April Murphy. »Was tust du hier?«

Als er endlich die Hände von meinen Oberarmen nahm, zog ich den Saum meines T-Shirts hoch und wischte mir damit über die Augen, bis ich auch ihn deutlich sehen konnte.

Meine Hände erstarrten vor Schreck. Vor mir stand, den Mund missmutig verzogen unter dem wirren Haar und dem Bart, den ich fälschlicherweise für braun gehalten hatte, obwohl er eigentlich dunkelblond war, Malcolm – Mal – Macabe.

Malcolm. Eine süße Erleichterung durchströmte mich.

Es überraschte mich nicht, dass ich seine Stimme nicht erkannt hatte. Ich konnte an einer Hand abzählen, wie oft ich ihn in den Sommern, in denen er mit Kier in der Brennerei gearbeitet hatte, hatte reden hören. Sein Gesicht dagegen, das erkannte ich gleich. Das Gesicht über mir verschwamm und verwandelte sich in das des schlaksigen Teenagers, der so unbeholfen gewesen war und dabei doch so gut aussah. Zu große Füße und unruhige Hände, die Löcher in die Ärmel seiner Pullover bohrten. Doch irgendetwas an ihm hatte mich so in seinen Bann gezogen, dass ich oft zugesehen hatte, wie der Griff seiner Hände immer sicher und fest wurde, wenn er Gerste von der Ladefläche eines Lastwagens hievte und ins Lagerhaus lud. Drei Jahre lang, von fünfzehn bis achtzehn, war das meine Lieblingsbeschäftigung gewesen.

Über mir bewegte sich sein auf dem Kopf stehender Mund. Ich merkte, dass er etwas sagte. »Was tust du hier?«

Warum fragt er mich das ständig?

»Ähm … das ist mein Haus.« Dudley nutzte diesen Moment, um aufs Sofa zu hüpfen und sich in meine Armbeuge zu kuscheln. Und der Preis für den schlechtesten Wachhund der Welt geht an …

Malcolms Augen huschten zu Dudley und dann zu mir, wie ich ausgestreckt dalag. Vielleicht war es die Art, wie seine blaugrauen Augen über mich hinwegglitten, auf jeden Fall erkannten wir beide gleichzeitig, was ich trug … oder besser gesagt, nicht trug. Mein T-Shirt war bis zur Taille hochgerutscht, sodass mein beiger Slip voll zur Geltung kam. Er schluckte und trat einen Schritt zurück. Seine Wangen glühten tiefrot. Da – das war der Malcolm, an den ich mich erinnerte. Anstatt mich aufzusetzen, streckte ich ein Bein aus und beobachtete, wie seine Augen der Bewegung folgten.

Ich stellte fest, dass ich es mochte, wenn er mich ansah. Das war schon immer so gewesen.

Mal zuckte zurück, als hätte er mich beim Umziehen erwischt, und stellte die umgestürzten Stühle wieder auf. Da bemerkte ich den Stoff, der schlaff von seinen Fingern baumelte. Mein BH. Der knappe weiße Spitzen-BH, den ich auf dem Heizkörper hatte trocknen lassen. Die letzten sechzig Sekunden liefen noch einmal vor meinem geistigen Auge ab, und mir entfuhr ein Lachen. Ich hatte gerade mit Malcolm Macabe gerungen. Ich hatte mich auf ihn gestürzt wie ein verdammter Klammeraffe und ihm meinen BH in den Mund gestopft. Diese Nacht war auf dem besten Weg, die seltsamste meines Lebens zu werden.

Ich zwang mich dazu, mich hinzusetzen, wischte mir die Tränen von den Wangen und fand schnell die Quelle des zweiten Gebells: einen wunderschönen Golden Retriever, der jetzt zu Malcolms Füßen saß. Der lebhafte Hund und sein mürrischer Besitzer waren so gegensätzlich wie Tag und Nacht. Der ganze Körper des Hundes bebte, und sein Schwanz peitschte vergnügt auf den Fliesen. Malcolm blickte weiterhin finster drein, seine Lippen, von denen ich noch wusste, wie lächerlich voll sie waren, halb verdeckt von einem beeindruckenden, aber ordentlich gestutzten Bart. Er hatte den Mund zu einer schmalen Linie zusammengepresst, sodass die OP-Narbe, die sich von seinem linken Nasenloch bis zur Mitte seiner Oberlippe zog und damals fleischrosa gewesen war, noch deutlicher hervortrat. Mittlerweile war sie zu Weiß verblasst.

Mal bemerkte meinen Blick und sah auf seine Füße hinunter. Na gut, dann starrte ich eben den Hund an. »Hey, Süßer«, sagte ich und streckte eine Hand aus.

Malcolm stieß ein schroffes »Hiergeblieben!« aus, aber der Hund war schon in Bewegung und lief auf meine Hand zu. Dudley, der sich nicht ignorieren lassen wollte, ließ sich auf den Rücken plumpsen und berührte mit einer Pfote meinen Arm, bis ich ihn mit meiner freien Hand streichelte.

Malcolm beobachtete das Ganze mit geschwollenen, wenn auch wachsamen Augen, so als wäre meine Hand eine Schlange, die sein geliebtes Haustier erwürgen wollte. Na gut, war in Anbetracht der Situation vielleicht sogar eine faire Einschätzung. Ich beschloss, das Thema direkt anzusprechen. »Hör mal, es tut mir so leid, dass ich dich angegriffen und dir ins Gesicht gesprüht hab … und auch das mit dem Scheißkerl. Wenn ich gewusst hätte, dass du es bist, hätte ich nie …«

»Hättest du mich nicht fast geblendet?«

Ich streichelte weiter die Hunde. »Das Deo hat nur natürliche Inhaltsstoffe, es hätte dich gar nicht blenden können.«

»Und wenn da Feenstaub drin ist, ist mir scheißegal.«

Ich musste mir auf die Lippe beißen, um ein Lachen zu unterdrücken. »Das Schicksal unseres Planeten liegt in jedermanns Verantwortung, Malcolm.«

»April.« In seinem Tonfall lag etwas Warnendes. Wäre da nicht der BH gewesen, den er immer noch umklammert hielt, ohne es zu merken, wäre ich mir vorgekommen, als stünde ich im Büro des Schuldirektors.

»Okay, gut, tut mir leid. Lass mich die Sache kurz erklären … es ist wirklich irgendwie lustig. Ich war grade oben in meinem Schlafzimmer, da hab ich gehört, wie du durch das Fenster eingestiegen bist. Und als Frau natürlich, wenn ein Mann einen bedroht …«

»Bedroht?« Er sah aus, als würde ihm gleich eine Ader platzen.

»… bin ich gleich vom Schlimmsten ausgegangen.« Ich stand auf, und die Hunde sprangen aufgeregt um meine Füße herum. Wie er es schon als Jugendlicher getan hatte, begegnete Malcolm meinem Blick nicht und starrte stattdessen weiter auf seine Stiefel.

»Ich bin nicht eingebrochen, ich bin nur durch das Fenster rein, weil der Sicherheitsriegel vorgeschoben war.«

»Du meinst den Sicherheitsriegel, den eine einsame Frau vielleicht zur, ich weiß nicht … Sicherheit vorschieben könnte?« Ich grinste breit. Er reagierte nicht darauf, nada, null. Nicht einmal ein winziger Riss in seiner kühlen Fassade. Seltsam, dieses Lächeln wirkte normalerweise bei jedem. »Malcolm, ich mache dir keine Vorwürfe. Ich habe die Situation eindeutig falsch eingeschätzt, und es tut mir echt leid – ich versuche nur, mich zu erklären.«

»Wie bist du eigentlich reingekommen?«, fiel er mir ins Wort. Er lehnte sich mit dem Rücken an den Esstisch und verschränkte seine in dunkelblaues Karo gehüllten Arme vor der Brust, bis die Nähte spannten. Das Stückchen Spitze hing immer noch an seinen Fingern, er hatte es nicht bemerkt. Und bei der Göttin Meryl Streep, ich schwöre, ich bemühte mich wirklich, es nicht anzustarren. »Heute Abend. Wie bist du reingekommen?«, wiederholte er.

»Ähm … das Küchenfenster.« Ich gestikulierte über meine Schulter. »Es ist eigentlich ziemlich seltsam, wenn ich so drüber nachdenke … Wir sind beide auf genau dieselbe Weise eingebrochen – warte, hast du dir auch die Hose aufgerissen?«

Als Reaktion hob er nur eine Augenbraue. »Bist dann nicht du die Einbrecherin?«

»Ich?« Ich machte einen Schritt zurück. Warum fühlte ich mich jetzt plötzlich ertappt? »Ich bin hier aufgewachsen, ich bin Kiers Enkelin, somit gehört das Anwesen mir.«

»Enkelin?«, spottete er grimmig. Sein Tonfall passte überhaupt nicht zu dem Malcolm, den ich kannte. Offenbar brauchte er mich nicht mal anzusehen, um mir den Todesstoß zu verpassen. Er starrte weiter auf seine Stiefel, während er die Worte aussprach, die mir direkt ins Herz stachen. »Würde eine Enkelin nicht ein paar Tage mal das Ganze Promigetue sein lassen und zur Beerdigung ihres Großvaters kommen?«

Ich wusste, dass mir der Mund offen stand, aber ich schaffte es nicht, ihn zu schließen. Als Teenager war Malcolm furchtbar schüchtern gewesen, aber niemals gefühllos. Ich hatte ja nicht mit einer Umarmung oder einer Einladung zum Abendessen gerechnet – auch wenn ich sie auf jeden Fall angenommen hätte –, aber vielleicht wenigstens mit einem Lächeln und ein paar netten Worten, etwa: »Hallo April, schön, dich zu sehen« oder »Lass uns einen Kaffee trinken gehen«.

Was um alles in der Welt war mit ihm los? Vielleicht war heute wirklich Gegenteiltag. Oder ich hatte mir während des Handgemenges irgendwo den Kopf gestoßen und halluzinierte das alles nur. »Malcolm …«

Er schritt auf mich zu, beugte sich ein wenig näher zu mir herunter, als es angemessen war, und gab seinem Hund zwei sanfte Klapse auf den Hintern. »Ab nach Hause, Junge.« Der Hund warf Dudley einen fast menschenähnlichen Blick zu, folgte seinem Herrchen aber gehorsam. Ich beobachtete das Ganze mit fassungslosem Schweigen.

Bevor er verschwand, versenkte Malcolm noch einen letzten Treffer. Eigentlich eine Granate, und der Befehl zum Feuern wurde in sanftem schottischen Dialekt gegeben. »Geh zurück nach London, Prinzessin. Hier wird sich niemand freuen, dich zu sehen.«

Ich starrte vor mich hin, bis ich hörte, wie sich die Haustür schloss. Dann tat ich das Einzige, worin ich gut war … ich schauspielerte. Meine zitternden Lippen dehnten sich zu einem Lächeln, und ich sagte mit der falschen Fröhlichkeit, die ich mittlerweile so mühelos hinbekam, zu Dudley: »Tja … das war seltsam, aber egal, er hatte wahrscheinlich einfach einen ziemlich miesen Tag. Morgen wird’s bestimmt super, du wirst schon sehen.« Ich machte mich daran, die Küche auf Vordermann zu bringen, und kroch auf Händen und Knien herum, bis ich auch den letzten Karottenwürfel gefunden hatte. Als es schließlich keinen Grund mehr gab, weiter in der Küche zu bleiben, schleppte ich mich wieder hoch in mein Zimmer, das zu sehr nach Zuhause roch, und schlüpfte in mein frisch gemachtes Bett, Dudley an meine Brust gekuschelt.

3

Mal

This Is Me Trying – Taylor Swift

»Hmm, ein bisschen nach rechts – nein, nach links, zurück nach links … links!« Ich stöhnte unter dem Gewicht und schob den massiven Eichenschrank um einen Bruchteil eines Zentimeters nach links. »Wieder nach rechts … Perfekt! Genau, jetzt ist es perfekt.« Jessica Brown, die Inhaberin von Brown’s Coffee & Cakes, klatschte in die Hände und gab ein anerkennendes »Hm-hm« von sich.

Ich hatte die schwere Eichenvitrine einen ganzen Meter von der Glasvitrine weggeschoben, in der die Torten ausgestellt waren, weil Jessica behauptete, dass man ihre selbst gemachte Marmelade in diesem Winkel von der Straße aus besser sehen konnte. Für mich machte das keinen Unterschied, aber Brown’s war in dieser Gegend eine Institution, und wenn Jessica um Hilfe bat, musste man ihr verdammt noch mal helfen, wenn man ein geschätzter Kunde bleiben wollte. Außerdem sollte sie keine schweren Gegenstände allein herumhieven.

Ich wischte mir den Schweiß des schwülen Morgens von der Stirn, sah mich in dem kleinen Café um, das das Dorf Kinleith seit über drei Jahrzehnten schmückte, und betrachtete dann das Chaos, das ich zum Vorschein gebracht hatte. Dort, wo zuvor der Schrank gestanden hatte, glänzte das angegraute Linoleum in strahlendem Weiß. Es war mit einer feinen Schicht aus Staubkügelchen, alten Kassenbons und Schokoladenstückchen bedeckt – zumindest betete ich inständig, dass es sich um Schokolade handelte. Besser, ich räumte das weg, bevor die Lebensmittelbehörde dem Café einen Überraschungsbesuch abstattete.

»Hast du einen Besen?«, fragte ich sie, als sie hinter den Tresen huschte. Jessica war sechsundsiebzig Jahre alt, wirkte aber ein Jahrzehnt jünger und ließ sich auch von der doppelten Hüftprothese, die sie sich hatte einsetzen lassen, nicht aufhalten. Sie schaltete den Strom wieder ein, und ihre blau getönten Haare leuchteten unter der Deckenbeleuchtung, die ich erst letzten Monat auf LEDs umgestellt hatte. Das würde ihr während des langen Winters eine Menge Stromkosten ersparen.

»Du bist ein guter Kerl, Mal«, sagte sie und reichte mir den kleinen Besen. Ich spürte das vertraute Brennen an meinen Ohrenspitzen und ging in die Hocke, um das Chaos aufzufegen, während sie weiterplapperte.

»Wo wir gerade von Teufelskerlen sprechen …« Hatten wir das? »Wie geht’s deinem Bruder?«

»Du siehst Callum wahrscheinlich öfter als ich«, knurrte ich. Er war noch verfressener als ich, was Süßigkeiten anging.

»Er kommt immer nur ganz kurz vorbei, hat nie Zeit zum Plaudern.«

Ich knurrte noch einmal, kippte den Staub und die Quittungen aus dem Jahr Zweitausendzwei in den Mülleimer und schob die Tische und Stühle wieder an ihren Platz.

Genau aus dem Grund gehörte Jessica zu den wenigen Menschen, deren Nähe ich ertragen konnte: Sie redete und redete, ohne jemals eine Antwort zu erwarten. Solche Erwartungen brachten mich immer ins Schwitzen, und mir wurde schwindelig. Ich bekam dann das Gefühl, so schnell wie möglich flüchten zu müssen. Bei ihr brauchte ich nur ein wenig zu nicken und zu knurren, und schon erzählte sie dem Rest meiner Familie von dem wunderbaren Gespräch, das wir geführt hatten. Mehr brauchte ich nicht an sozialen Kontakten.

»Hab ich dir erzählt, dass meine Enkelin schon immer für ihn geschwärmt hat? Du kennst doch meine Enkelin Maggie, oder? Schade, dass sie nicht näher wohnt. Sie musste ja unbedingt nach Glasgow ziehen, sich die Haare rasieren und sie rosa färben«, schimpfte sie. »Wird Zeit, dass Callum mit nem netten Mädchen aus der Gegend ne Familie gründet. Er hat nen guten Job, da wär’s direkt egoistisch, wenn er’s nicht täte.«

Ich schluckte die Bemerkung hinunter, dass »ein nettes Mädchen aus der Gegend« meinen Bruder zu Tode langweilen würde, und antwortete diplomatisch: »Er ist schon mit seinem Job verheiratet.«

Sie drohte mir mit einem leicht gekrümmten Finger. »Der Junge wird eines Tages plötzlich feststellen, dass er alt und hässlich ist und ne Glatze bekommt, und dann wird er sich wünschen, dass er sich eine Frau gesucht hätte.«

Ich widersprach ihr nicht, vor allem, weil mir die Vorstellung gefiel, dass mein charmanter großer Bruder, der noch nie in seinem Leben irgendwelche Probleme gehabt hatte, sein kostbares Haar verlieren könnte. Außerdem fiel mir auf, dass sie sich gar nicht nach meinem Liebesleben erkundigte. Wahrscheinlich war ich in ihren Augen mit meinen zweiunddreißig Jahren bereits dazu verdammt, ein Leben lang nur für eine Person zu kochen. Die Hitze hinter meinen Ohren breitete sich aus, bis ich spürte, wie sie über mein ganzes Gesicht kroch. Ich strich mit meinen Daumen nacheinander über die Spitzen meiner anderen Finger, auf die übliche ruhelose Art. Zum Glück kündigte das Klingeln der Glocke über der Tür den ersten Kunden des Tages an, sodass ich unauffällig verschwinden konnte.

»Ich pack’s dann, Jessica.« Ich schulterte meine Tasche und stellte die Flasche Whisky ab, die ich alle zwei Wochen für ihren Mann Angus vorbeibrachte. Wie es die gesellschaftlichen Gepflogenheiten verlangten, nickte ich dem Eintretenden zu, ohne ihn direkt anzusehen, und trat auf die sonnenbeschienene Hauptstraße, die Freiheit zum Greifen nah.

»Warte. Du hast dein Geld vergessen.«

Ich hob die Schultern. »Ich habe dir schon beim letzten Mal gesagt, dass du mir nichts geben musst.«

»Du spinnst doch, Junge, jetzt nimm es.« Sie drehte mich mit überraschender Kraft herum und klatschte mir ein Stück Victoria-Biskuit-Kuchen auf die leere Handfläche. Marmelade und Buttercremeglasur tropften zwischen meinen Fingern nach unten, während eine verirrte Erdbeere neben meinem Stiefel landete. »Und jetzt ab mit dir.«

Direkt auf die Hand, jedes Mal.

Ich führte das Kuchenstück an meine Lippen und bog direkt in die Hauptstraße in Richtung des kleinen Dorfparkplatzes ab. Der gepflasterte Weg fiel zum Hafen hin ab, wo in der Ferne Möwen kreischten und hinabsausten, um sich auf einen weiteren arbeitsreichen Tag vorzubereiten, an dem sie ahnungslosen Urlaubern Eiswaffeln klauen konnten. Die vor Kurzem aufgehängten Wimpel für die bevorstehende Sommersaison wehten in der Morgenbrise wie Dutzende von Miniaturdrachen. Es war noch nicht einmal neun Uhr, doch auf der Straße herrschte bereits reger Betrieb. Die Einheimischen grüßten einander, putzten die Fenster und öffneten die Türen der zahlreichen kleinen Geschäfte, die sich entlang der Straße aufreihten. Touristen suchten mit verschlafenen Augen nach Frühstück und posierten für Fotos neben den malerischen Gebäuden, die in den vielen Farben gestrichen waren, für die Kinleith berühmt geworden war. Der Rainbow Walk, wie er auch genannt wurde. Selbst die Anwohner fingen an, ihn zu nutzen.

Ich senkte den Kopf und wich einer Gruppe kichernder Mädchen aus, die mit passenden Peace-Zeichen auf den Nägeln vor dem knallrosa Nagelstudio posierten. Ich schluckte den letzten Bissen Kuchen hinunter und leckte den Zuckerguss von den klebrigen Fingern, während sich mein Nacken langsam verspannte. Ich hasste diese Jahreszeit, hasste die Menschenmassen, den Lärm und die Tatsache, dass sie die Landschaft zerstörten. Ich verstand, dass der Tourismus den Einwohnern Vorteile brachte, aber das hieß nicht, dass ich ihn gut finden musste.

Als mein alter Land Rover in Sicht kam, zog ich die Schlüssel sofort aus der Tasche, und der Druck ließ ein wenig nach. Boy, mein Golden Retriever, schlief tief und fest und nahm die gesamte Länge des Rücksitzes ein, genau dort, wo ich ihn fünfzehn Minuten zuvor zurückgelassen hatte. »Verdammt«, fluchte ich und hielt mir Nase und Mund zu, als ich mich hinter das Lenkrad setzte. Trotz der vier leicht geöffneten Fenster hatte er es geschafft, die kleine Fahrerkabine in einen Gasofen zu verwandeln. »Wir müssen deine Ernährung umstellen, Kleiner.« Mein Hund rollte sich auf den Rücken und furzte als Antwort erneut.

Ich verließ den Parkplatz und machte mich auf den kurzen Weg zum Sheep’s Heid Pub, wobei ich mir das, was ich dem Besitzer Ian sagen wollte, bereits jetzt wie ein Drehbuch zurechtlegte. Die letzte Lieferung des Tages, sagte ich zu mir selbst. Nur noch ein Zwischenstopp, dann konnte ich zurück zur Brennerei fahren – zurück zu meinem Cottage.

Ich hatte eine Routine, an die ich mich strikt hielt. Whisky-Lieferungen einmal pro Woche. Einkäufe zweimal pro Woche. Jeden zweiten Nachmittag Takeaway von Brown’s. Kleine soziale Interaktionen, zu denen ich mich zwang, weil ich mich sonst in meinem Cottage verbarrikadieren und nie wieder herauskommen würde.

Kier hatte diesen Teil der Arbeit genossen, Kier hatte sich um den Verkauf der Produkte gekümmert und mit den Kunden geschwatzt, während ich die Routinearbeit erledigt hatte. Je kränker er geworden war, desto mehr war die Verantwortung auf mich übergegangen, und obwohl uns unser kleiner Kundenkreis treu blieb, wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich ihn in gewisser Weise im Stich ließ. Jedes Mal wenn ich bei einer Lieferung an einen Kunden ins Stottern geriet oder eine verspätete Zahlung – die ich mir eigentlich nicht leisten konnte – einfach ignorierte, nur weil ich Konfrontationen hasste, versagte ich.

Ich wusste, was die Leute hier von mir dachten. Der Griesgram. Der Einsiedler. Dieses Dorf war sowohl ein Segen als auch ein Fluch. Es war meine Heimat, und doch hatte ich mich hier nie richtig wohlfühlen können.

Klar, ich fühlte mich in meinem Cottage mit Boy wohl oder wenn ich mit Kier und manchmal mit meinen Geschwistern zusammen war. Aber dennoch war ich jedes Mal unglaublich erleichtert, wenn sie wieder gingen und das Alleinsein, nach dem mich so sehr verlangte, mich wie eine warme, nicht verurteilende Decke umgab, wenn ich in Ruhe gelassen wurde. Kleine Gemeinden hielten zusammen, aber sie tratschten und verurteilten auch sofort, wenn sich jemand nicht so verhielt, wie sie es für richtig hielten.

Das hatte mich nie gestört – bis jetzt.

Ich dachte an meine drei Geschwister, vor allem an meinen ältesten Bruder Callum, und an die unbeirrbare Leichtigkeit, mit der er durchs Leben ging. Er wollte zum Militär? Dann tat er das. Er wollte auf die Uni in Edinburgh gehen? Dann ging er eben hin. Er wollte zurück nach Skye ziehen und seine eigene Tierarztpraxis eröffnen? Dann tat er schlussendlich auch das. Er wollte mit einer netten Frau aus der Gegend eine Familie gründen? Dann war die einzige Frage, die sich noch stellte: Mit welcher?

Ein nettes Mädchen aus der Gegend.

Ich hatte keine Ahnung, warum mir sofort April in den Sinn kam.

April Sinclair war also zurück in Kinleith. Ich hätte es fast nicht geglaubt, wäre ich heute Morgen nicht an dem schlammverschmierten Mini Cooper vorbeigefahren, der vor dem Herrenhaus geparkt war. Ich erinnerte mich, wie sie in der Nacht zuvor ausgesehen hatte, zwar verschwommen, aber die roten Locken hatte ich sofort erkannt. Wie sie alle nackten Gliedmaßen von sich gestreckt wie ein Seestern auf dem alten Sofa lag, nachdem ich sie wie einen Sack Gerste darauf geworfen hatte. Das Teil aus Spitze, das ich ganz unten in meiner Sockenschublade versteckt hatte. Ich schüttelte den Kopf und wand mich.

April Sinclair, das bedeutete nichts Gutes.

Murphy, musste ich mich erinnern, während sich meine Hände um das Lenkrad krampften. April Murphy.

Ich hätte nie gedacht, dass ich den Tag erleben würde, an dem sie sich herabließ, um auf die Insel zurückzukehren. Und wenn es nach mir ginge, würde ich sie sofort dorthin zurückschicken, wo sie hergekommen war.

***

Der Knoten in meiner Brust löste sich in dem Moment, als ich die Tür zu dem kleinen Arbeitercottage schloss, das an die Kinleith Distillery angrenzte.

Boy trottete direkt zu seinem Napf, schnupperte, als er ihn leer vorfand, und ließ sich dann in sein übergroßes Körbchen fallen. Von seinem üblichen Platz neben dem Kamin aus beobachtete er mitleidig, wie ich Haferflocken in eine Schüssel schüttete, Milch dazugab und die Schüssel in der Mikrowelle erwärmte.

»Du kennst die Regeln, Kleiner. Erst esse ich, dann du«, erinnerte ich ihn und stellte den Timer ein. Ich hatte nur ein paar Minuten Zeit zum Essen, wenn ich noch vor Sonnenuntergang den Bottich mit Gerste füllen und die leeren Whiskyfässer verladen wollte. Ich musste auch noch die Scharniere der Tür zum Lagerraum auswechseln – meine Werkzeugtasche stand seit mindestens einer Woche bereit. Seit ich mich allein um alles kümmerte, hatte der Tag einfach nicht genug Stunden, um alle Aufgaben zu bewältigen. Callum kam vorbei, wenn er Zeit hatte, aber selbst das reichte nicht aus. Ich brauchte eigentlich einen weiteren Mitarbeiter in Vollzeit, hatte aber kein Geld, um ihn zu bezahlen. Also musste ich mich im Moment mit Teilzeitkräften und Gefälligkeiten durchschlagen.

Ich holte die dampfende Schüssel aus der Mikrowelle und setzte mich an den Esstisch, der gerade noch so in den Raum passte, solange ich ihn direkt ans Fenster schob. Boy winselte noch einmal, und ich tat so, als würde ich es nicht hören.

Ich konnte mich noch genau an die Nacht erinnern, in der Callum vor meiner Tür aufgetaucht war, mit einem zotteligen Golden Retriever im Arm, und verkündet hatte, der Welpe brauche ein Zuhause. Mein »Auf keinen Fall« hatte er einfach überhört, mir den Hund prompt in die Arme gedrückt und war zurück zu seinem Auto geschlendert, ohne sich noch mal umzudrehen. Ich hatte weder den Platz oder die Zeit für einen Hund noch den Willen, mich ihm zu widmen. Doch jetzt, zwei Jahre später, war er immer noch hier, und es klappte ganz gut.

Ich konnte das gesamte Cottage in zehn Schritten durchqueren. Die Küchenzeile bestand nur aus einem kompakten Kühlschrank, einer Spüle, einer Mikrowelle und einer Kochplatte, was der Grund dafür war, dass ich es normalerweise vorzog, im Herrenhaus zu essen. In der Mitte des Raums befand sich der Wohnbereich mit Fernseher, Zweisitzersofa – obwohl ich nie Gäste hatte – und meinem Lieblingssessel. Die einzigen Dinge, bei denen ich im Hinblick auf die Größe keine Kompromisse machte, waren das Kingsize-Bett in der hintersten Ecke und die Regalreihen aus Altholz, in denen meine Film- und Büchersammlung untergebracht war.

Klein, aber fein und ganz meins.

Aber eigentlich ist es nicht deins, oder?

Meine Hand wanderte reflexartig zu dem Stapel Papiere auf dem Tisch, zu dem Brief, den ich im letzten Monat unzählige Male gelesen hatte, und ich überflog die Zeilen, die ich mittlerweile auswendig kannte.

Bezugnahme auf den letzten Willen von Kier Angus Murphy.

Antrag vom Begünstigten abgelehnt.

Keine Klagebefugnis.

Dann das zweite Schreiben, eine Antwort der Bank auf meinen Antrag auf einen Geschäftskredit. Ebenfalls abgelehnt.

Abgelehnt.

Abgelehnt.

Abgelehnt.

Ich schlug mit der Faust auf den Tisch und empfand keinerlei Genugtuung, als das Papier unter der Wucht knitterte. Dieser Ort gehörte mir, das Cottage, die Brennerei. Alles hätte mir gehören sollen. Jahrelang hatte ich monatliche Raten in den Kauf von Kiers Kinleith Distillery investiert, mit der Aussicht, dass sie irgendwann rechtmäßig in mein Eigentum übergehen würde. Dann war er krank geworden, und niemand hatte mehr einen Gedanken an juristische Dokumente und Landtitel verloren.

Ich war kein eiskalter Mistkerl; ich vermisste meinen Freund, den Mann, der für mich mehr Vater als mein eigener Vater gewesen war. Aber er war weg, und alles, worauf ich hingearbeitet hatte, war mit ihm verschwunden. Und jetzt besaß April Murphy die Frechheit, hier aufzutauchen, dieses Prinzessinnenlächeln zu lächeln und sich über die Umstände unseres Wiedersehens zu amüsieren, während sie ganz allein von meinem Ruin profitiert hatte.

Nein, sie war kein nettes Mädchen aus der Gegend. Vielleicht war sie das einmal gewesen, aber ich hatte die Verachtung in ihren Augen gesehen, als sie sich gestern Abend im Anwesen umgesehen hatte, als hätte sie gehofft, ein größeres Erbe vorzufinden. Für sie war dieses Leben zu klein, Kier war nicht wichtig genug gewesen. Sie war zu sehr mit ihrem schicken Londoner Leben und ihren prominenten Freunden beschäftigt gewesen, um mitzukriegen, dass Kier sich den Arsch aufgerissen hatte, um das Anwesen in Schuss zu halten. Um die Destillerie am Laufen zu halten, während seine Gesundheit ihn langsam im Stich gelassen hatte. Sie hatte keine Lust gehabt, zu seiner Beerdigung zu kommen, aber sobald es etwas abzustauben gab, was sie nicht verdient hatte, war sie ganz schnell da.

Am Anfang hatte ich noch verstanden, wieso sie die ganze Zeit weg war, als ihre Karriere abgehoben hatte. Sogar die Leute auf der Insel hatten sie auf ein Podest gestellt; man hatte keine Straße entlanggehen können, ohne dass jemand ehrfürchtig den Namen April Sinclair flüsterte. Doch die Filmrollen waren weniger geworden, und während die Gerüchte in der Presse kursierten, begann sie, in diesen lächerlichen Reality-Shows aufzutauchen. Wir alle konnten zusehen, wie sie jede Gelegenheit nutzte, um im Rampenlicht zu stehen.

Ich hatte einmal mit Kier gesprochen und ihn ermutigt, einen Schritt auf sie zuzugehen und sie eine Weile bei sich aufzunehmen, obwohl ich wusste, dass das nicht meine Aufgabe war. Ich hatte gedacht, dass es vielleicht nur eine ausgestreckte Hand brauchte, damit sie zurückkommen und Kier und sie sich umeinander kümmern würden. Doch sie hatte sich gewe...

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