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Schwarze Wut

Als Buch hier erhältlich:

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Special Agent Will Trent muss sich in Macon, Georgia, als krimineller Biker getarnt in einen Drogenring einschleusen, um die Drahtzieher vor Ort zu entlarven. Doch undercover holen Will seine eigenen Dämonen ein – und schon bald sieht er sich mit der Möglichkeit konfrontiert, von Sara Linton, der Frau, die er liebt, enttarnt zu werden. Denn Saras Stiefsohn schwebt in Gefahr, und sie wird plötzlich ebenfalls in Wills Fall verwickelt. Doch scheinbar stehen die beiden dieses Mal auf gegnerischen Seiten …


  • Erscheinungstag: 24.09.2024
  • Aus der Serie: Georgia Serie
  • Bandnummer: 7
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749908042
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Angela, Diane und Victoria – meine Champions

1.

Mittwoch

Macon, Georgia

Detective Lena Adams verzog das Gesicht, als sie ihr T-Shirt auszog. Sie kramte ihre Polizeimarke aus der Tasche, die Stablampe und ein Ersatzmagazin für ihre Glock, und warf alles auf die Kommode. Auf ihrem Handydisplay war es fast Mitternacht. Vor achtzehn Stunden hatte sie sich aus dem Bett gewälzt, und jetzt wollte sie nur noch wieder hineinfallen. Wobei sie das Gefühl hatte, in letzter Zeit nicht sonderlich viel getan zu haben. Seit vier Tagen verschwendete sie annähernd jede wache Stunde damit, an Konferenztischen zu sitzen und Fragen zu beantworten, die sie bereits am Vortag und am Tag davor beantwortet hatte, und sich durch den üblichen Unsinn zu lavieren, der zwangsläufig aufkam, wenn man sich bei einer Innenrevision verantworten musste.

»Wer leitete die Razzia in dem Haus?«

»Welche Hinweise hatten dazu geführt?«

»Was hatten Sie erwartet, dort zu finden?«

Die interne Ermittlerin des Macon Police Department hatte die mürrische, leblose Persönlichkeit einer karrieregeilen Schreibtischtäterin. Tagaus, tagein trug die Frau eine weiße Bluse zu einem schwarzen Rock – eine Garderobe, die eher zu einem Abendessen beim Edelitaliener gepasst hätte. Sie nickte viel und machte sich stirnrunzelnd Notizen. Wenn Lena nicht sofort antwortete, schaute sie nach, ob der Rekorder das Schweigen auch wirklich aufnahm.

Lena war überzeugt davon, dass die Fragen nichts anderem dienten, als sie zu einem Ausbruch zu provozieren. Am ersten Tag war sie noch derart benebelt gewesen, dass sie einfach wahrheitsgemäß geantwortet und gehofft hatte, dass es schnell vorübergehen würde. Am zweiten und dritten Tag war sie schon weniger kooperativ gewesen. Ihr Ärger war von Minute zu Minute angewachsen, und heute war sie schließlich explodiert. Aber genau darauf hatte die Frau offenbar gewartet.

»Was glauben Sie denn, was ich erwartet habe zu finden, Sie blöde Kuh?«

Wenn Lena es nur nicht gefunden hätte. Am liebsten hätte sie sich ein Rasiermesser geschnappt und sich die Bilder aus dem Hirn geschnitten. Sie verfolgten sie. Bei jedem Blinzeln liefen sie vor ihrem inneren Auge ab wie ein alter Film. Sie erfüllten sie mit einer beständigen, unerbittlichen Trauer.

Sie rieb sich die Augen, ließ es dann aber schnell wieder bleiben. Sechs Tage waren bereits vergangen, seit sie ihr Team in diese Razzia geführt hatte, doch ihr Körper war immer noch ein wanderndes Andenken an all das, was passiert war. Die Prellungen auf ihrem Nasenrücken und unter dem linken Auge hatten sich uringelb verfärbt, und die drei Stiche, die ihre Kopfhaut zusammenhielten, juckten unaufhörlich.

Und dann waren da noch die Sachen, die von außen niemand sehen konnte – Lenas geprelltes Steißbein, die Schmerzen in Rücken und Knien. Der Aufruhr in den Eingeweiden, sooft sie daran dachte, was sie in diesem trostlosen Haus im Wald gefunden hatte.

Vier Leichen. Einen Mann, der immer noch im Krankenhaus lag. Einen anderen, der nie wieder seine Marke tragen würde. Ganz zu schweigen von den grausigen Erinnerungen, die sie wahrscheinlich mit ins Grab nehmen würde.

Tränen brannten ihr in den Augen. Sie biss sich auf die Unterlippe, damit der Schmerz sie nicht überwältigte. Sie war erschöpft. Die Woche war hart gewesen. Verdammt, die letzten drei Wochen waren hart gewesen. Aber jetzt war es vorbei. Alles war vorbei. Lena war in Sicherheit. Sie würde ihren Job behalten. Diese Ratte von der Innenrevision war wieder in ihr Loch zurückgekrochen. Lena war endlich wieder zu Hause, wo niemand sie anstarren, ausfragen, piesacken und herumschubsen konnte. Aber es war nicht nur die Innenrevision. Alle wollten wissen, wie die Razzia gelaufen war, was Lena in diesem dunklen, feuchten Keller gefunden hatte.

Und Lena wollte nichts mehr, als das alles zu vergessen. Ihr Handy zirpte. Lena atmete aus, bis ihre Lunge leer war.

Das Telefon zirpte noch einmal. Sie nahm es zur Hand. Eine neue Nachricht.

VICKERY: Alles okay?

Lena starrte die Buchstaben auf dem Display an. Paul Vickery, ihr Partner.

Sie klickte auf Antworten. Ihr Daumen zögerte über der Tastatur.

Das entfernte Donnern eines Motorrads ließ die Luft erzittern.

Statt eine Antwort zu schreiben, hielt Lena den Aus-Knopf gedrückt, bis das Gerät sich abschaltete, und legte es neben ihre Marke auf die Kommode.

Das Dröhnen des Twin-Cam-Motors der Harley vibrierte in ihren Ohren, als Jared Gas gab, damit er es die steile Auffahrt hinaufschaffte. Lena lauschte den vertrauten Geräuschen: dem Abschalten des Motors, dem metallischen Ächzen des Ständers, den Schritten schwerer Stiefel, als ihr Mann das Haus betrat und Helm und Schlüssel auf den Küchentisch warf, obwohl sie ihn schon wer weiß wie oft gebeten hatte, es nicht zu tun. Für einen Augenblick blieb er stehen, wahrscheinlich um die Post durchzusehen, dann kam er auf das Schlafzimmer zu.

Lena blieb mit dem Rücken zur Tür stehen, während sie Jareds Schritte durch den langen Gang zählte. Sie klangen zaghaft, zurückhaltend. Wahrscheinlich hatte er gehofft, dass Lena bereits schlafen würde.

In der Tür blieb Jared stehen. Womöglich erwartete er, dass Lena sich zu ihm umdrehte. Als sie es nicht tat, fragte er: »Gerade erst heimgekommen?«

»Bin länger geblieben, um alles abzuschließen.« Das war nicht mal gelogen. Zudem hatte auch sie gehofft, dass er schon schlafen würde. »Wollte eben unter die Dusche gehen.«

»Okay.«

Doch Lena ging nicht ins Bad. Stattdessen drehte sie sich um und sah ihm direkt ins Gesicht.

Jareds Blick wanderte zu ihrem BH, dann sofort wieder hoch. Er war in Uniform, und sein Haar war unter dem Helm zu schiefen Büscheln zusammengeknautscht worden. Auch er war Beamter des Macon PD – Motorradpolizist, ein Dienstgrad unter Lena und zwölf Jahre jünger als sie. Früher hatte sie beides nicht gestört, doch in letzter Zeit schien jedes Detail in ihrem gemeinsamen Leben zur Provokation für sie zu werden.

Er lehnte sich an den Türstock. »Wie ist es gelaufen?«

»Ich wurde entlastet und darf mich wieder an die Arbeit machen.«

»Das ist doch gut, oder?«

Sie versuchte, seinen Tonfall zu deuten. »Warum sollte es das nicht sein?«

Jared antwortete nicht. Stattdessen fragte er nach einem Moment verlegenen Schweigens: »Willst du einen Drink?«

Lena konnte ihre Überraschung nicht verbergen.

»Schätze, das ist jetzt okay, oder?« Er neigte den Kopf zur Seite und zwang sich zu einem schiefen Lächeln. Er war nur wenige Zentimeter größer als Lena, aber sein muskulöser Körper und seine athletische Haltung ließen ihn deutlich größer erscheinen.

Normalerweise.

Jared räusperte sich, um ihr zu zeigen, dass er immer noch auf eine Antwort wartete.

Sie nickte. »Meinetwegen.«

Jared verließ das Zimmer, aber seine Hoffnung blieb – umhüllte sie, erstickte sie fast. Er hoffte inständig, dass Lena in die Knie gehen würde. Er hoffte inständig, dass sie sich auf ihn stützte. Er hoffte, dass die Geschehnisse sie berührt, sie auf irgendeine spürbare Weise verändert hätten.

Er begriff einfach nicht, dass ihre Unnachgiebigkeit das Einzige war, das sie vor dem völligen Zusammenbruch bewahrte.

Lena zog ihren Pyjama aus der Kommode. Sie hörte Jared in der Küche werkeln. Er zog die Kühlschranktür auf, griff in den Eisbehälter. Lena schloss die Augen, schwankte leicht, wartete darauf, dass Eiswürfel in Gläser klirrten. Unwillkürlich lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

Sie schob das Kinn vor. Zwang sich, die Augen aufzuschlagen.

Sie brauchte diesen Drink. Zu sehr. Wenn Jared zurückkäme, würde sie das Glas beiseitestellen und ein paar Minuten warten, um sich selbst zu beweisen, dass sie es auch ohne schaffte.

Und um ihm zu beweisen, dass sie ihn nicht brauchte.

Ihre Hände taten weh, als sie die Jeans aufknöpfte. Am Tag der Razzia hatte sie ihr Gewehr so fest umklammert, dass ihre Finger sich jetzt noch anfühlten, als wären sie auf ewig verkrampft. Warum ihr immer noch alles wehtat, konnte sie sich nicht erklären. Eigentlich müsste es ihr inzwischen wesentlich besser gehen, doch ihr Körper schien sich regelrecht an die Schmerzen zu klammern. Er klammerte sich an das Gift, das sie zerfraß.

»Hier.« Jared war zurück, und diesmal trat er über die Schwelle. Noch während er auf sie zukam, schenkte er ihr einen großen Wodka ein. Sie hörte es in der Flasche gluckern, ehe die Flüssigkeit ins Glas plätscherte. »Dann bist du ab morgen also wieder im Dienst?«

»Ab morgen früh, ja.«

»Keine Auszeit?« Er hielt ihr das Glas hin.

Lena nahm es ihm aus der Hand und trank die Hälfte in einem Zug.

»Schätze, es ist genau wie nach der …«

Jared beendete den Satz nicht. Und er musste auch nicht sagen, wonach. Stattdessen sah er aus dem Fenster. Die dunkle Scheibe warf sein Spiegelbild zurück.

»Schätze, dafür kriegst du Sergeantstreifen.«

Sie schüttelte den Kopf, sagte aber: »Kann sein.« Er sah sie an. Abwartend und sehnsüchtig.

»Was sagen sie auf dem Revier?«

Jared ging zum Wandschrank. »Dass du Eier aus Stahl hast.« Er stellte die Kombination des Waffensafes ein. Lena starrte auf seinen Nacken. Ein geröteter Streifen markierte die Stelle, wo sein Helm die Haut nicht schützte. Unter Garantie spürte er, dass sie ihn anstarrte, trotzdem zog er ungerührt das Holster vom Gürtel und legte seine Waffe neben ihre. Auf Abstand. Er ließ nicht einmal zu, dass ihre Waffen einander berührten.

»Stört dich das?«

Er schloss die Safetür und drehte das Schloss herum. »Warum sollte es mich stören?«

Lena sprach es nicht aus, aber die Worte gellten ihr durch den Kopf: Weil sie mich für tougher halten als dich. Weil deine Frau ein paar echt böse Jungs zur Strecke gebracht hat, während du auf deiner Harley rumgefahren bist und Strafzettel an Hausfrauen verteilt hast.

»Ich bin stolz auf dich.« Seine Stimme war so sachlich, dass Lena ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte. »Sie sollten dir dafür ’nen Orden verleihen.«

Er hatte ja keine Ahnung. Jared kannte nur den groben Verlauf, die wenigen Details, über die sie mit den anderen hatte sprechen dürfen.

»Stört es dich?«, fragte sie noch einmal.

Er zögerte eine Sekunde zu lange. »Es stört mich, dass du dabei hättest umkommen können.«

Er hatte ihre Frage immer noch nicht beantwortet. Lena betrachtete sein Gesicht. Die Haut war faltenlos, frisch. Sie hatte Jared kennengelernt, als er einundzwanzig gewesen war, und in den anschließenden fünfeinhalb Jahren hatte er es irgendwie geschafft, zusehends jünger auszusehen, als hätte sich bei ihm der Alterungsprozess umgekehrt. Vielleicht wurde sie selbst aber auch einfach nur schneller älter. Seit ihren ersten gemeinsamen Tagen hatte sich so vieles verändert. Am Anfang hatte sie ihm immer ansehen können, was er dachte. Natürlich hatte sie ihm seitdem aber auch viel Mörtel geliefert, mit dessen Hilfe er eine Mauer um sich herum errichten konnte.

Er knöpfte sein Hemd auf. »Ich glaube, ich baue jetzt endlich diese Schränke zusammen.«

Sie lachte überrascht auf. »Ach, wirklich?«

Ihre Küche war seit drei Monaten in lauter Einzelteile zerlegt, vorwiegend weil Jared jedes Wochenende einen neuen Vorwand gefunden hatte, um sich nicht darum zu kümmern.

Er ließ das Hemd zu Boden fallen. »Dann weiß wenigstens Ikea, dass ich immer noch der Mann im Haus bin.«

Jetzt, da es im Raum stand, wusste Lena nicht, wie sie darauf reagieren sollte. »Du weißt, dass es nicht so ist.« Doch selbst in ihren eigenen Ohren hatte das schwach geklungen. »So ist es einfach nicht.«

»Ach, wirklich?« Lena schwieg.

»Na schön …«

Unvermittelt klingelte Jareds Handy. Er zog es aus der Tasche, warf einen Blick auf die Nummer und drückte den Anruf weg.

»Deine Freundin?«

Lena gefiel selbst nicht, wie dünn ihre Stimme klang. Und es war auch nicht lustig gewesen, das wussten sie beide.

Er wühlte in dem Korb mit der Schmutzwäsche, zog eine Jeans und ein T-Shirt heraus.

»Es ist fast Mitternacht.« Sie warf einen Blick auf den Wecker. »Nach Mitternacht.«

»Ich bin nicht müde.« Er zog sich eilig um und steckte das Handy in die Gesäßtasche. »Ich mach auch leise.«

»Brauchst du dein Handy, um die Schränke zusammenzubauen?«

»Muss den Akku aufladen.«

»Jared …«

»Es wird nicht lange dauern.« Wieder dieses falsche Lächeln. »Das ist doch das Wenigste, was ich tun kann.«

Lena erwiderte das Lächeln und prostete ihm wortlos zu.

»Du solltest unter die Dusche gehen, bevor du hier tot umfällst.«

Sie nickte, konnte aber den Blick nicht von dem T-Shirt abwenden, das straff seine Brust und die Wölbungen seiner Bauchmuskulatur umspannte. Sie war jetzt schon leicht beschwipst. Endlich fing ihr Körper an, sich zu entspannen. Die Art, wie Jared vor ihr stand, rief alte Erinnerungen in ihr wach. Sie ließ ihre Gedanken zu einem Ort schweifen, den sie für gewöhnlich verdrängte – zu jener Stadt, in der sie gelebt hatte, ehe sie mit Jared nach Macon gezogen war. Der Stadt, in der sie gelernt hatte, Polizistin zu sein.

Damals im Grant County hatte Jareds Vater Lena alles beigebracht. Na ja, fast alles. Sie hatte das Gefühl, dass ihn die Kniffe, die sie sich seit Chief Jeffrey Tollivers Tod angeeignet hatte, verärgert hätten. Obwohl auch er selbst die eine oder andere Grenze überschritten hatte, hatte er Lena jedes Mal zusammengestaucht, wenn sie sich einer dieser Grenzen auch nur genähert hatte.

»Lee?«, fragte Jared.

Er hatte Jeffreys Augen und legte genau wie er den Kopf schief, wenn er auf eine Antwort wartete.

Lena nahm noch einen Schluck, obwohl ihr bereits leicht schwindlig war. »Ich liebe dich.«

Jetzt war es Jared, der überrascht auflachte.

»Sagst du mir nicht, dass du mich auch liebst?«

»Willst du es wirklich hören?« Lena antwortete nicht.

Mit einem resignierten Seufzer trat er auf sie zu. Sie trug nichts als BH und Slip, aber er küsste sie nur auf die Stirn, wie er es auch bei seiner Schwester getan hätte. »Schlaf nicht unter der Dusche ein.«

Lena sah ihm nach. In letzter Zeit trug er dieses schmutzige T-Shirt oft. Auf Rücken und Schultern waren gelbe Farbspritzer, weil er vor drei Wochen angefangen hatte, das zweite Schlafzimmer umzugestalten.

Lena hatte ihm gesagt, er solle mit dem Streichen lieber noch ein paar Wochen warten – nicht weil es noch zehn andere Projekte gegeben hätte, die zuerst hätten abgeschlossen werden müssen. Sondern weil es Unglück brachte.

Doch Jared hatte nicht auf sie gehört. Natürlich hörte sie auch nie auf ihn.

Lena nahm die Wodkaflasche mit ins Bad. Sie stellte das leere Glas auf den Spülkasten und trank direkt aus der Flasche. Wahrscheinlich unvernünftig nach den Schmerztabletten, die sie geschluckt hatte, kaum dass sie durch die Haustür getreten war, aber ihr stand der Sinn im Augenblick nicht nach Vernunft. Sie wollte die Amnesie. Sie wollte, dass die Tabletten und der Alkohol alles ausradierten, was vor der Razzia, während der Razzia und danach passiert war. Sie wollte alles gelöscht wissen, damit sie sich endlich hinlegen und die Dunkelheit sehen konnte anstelle des flackernden Stummfilms, der sie seit sechs Tagen heimsuchte.

Sie stellte auch die Flasche auf den Spülkasten. Ihre Finger fühlten sich geschwollen an, als sie sich die Haare hochsteckte. Sie starrte ihr Spiegelbild an. Dunkle Schatten unter den Augen. Die stammten nicht alleine von der Prellung. Sie presste die Hand auf den Spiegel. Allmählich offenbarte ihr Gesicht, was sie verloren hatte.

Die Leichen, die sie zurückgelassen hatte.

Lena sah nach unten. Unbewusst hatte sie sich die Hand auf den Bauch gelegt. Noch vor neun Tagen war dort der Ansatz einer Wölbung zu spüren gewesen. Ihre Hosen hatten sich fast schon ein wenig zu eng angefühlt. Die Brüste hatten geschmerzt. Und Jared hatte nicht aufhören können, sie anzufassen. Manchmal war sie aufgewacht und hatte seine Hand auf ihrem Bauch gespürt, als wollte er für sich beanspruchen, was er geschaffen hatte. Das Leben, das er ihr eingepflanzt hatte.

Natürlich war dieses Leben nicht geblieben. Seine Hand hatte den stechenden Schmerz nicht stillen können, der Lena aus dem Schlaf gerissen hatte. Seine Worte hatten sie nicht trösten können, während das Blut geflossen war. Im Bad. Im Krankenhaus. Auf der Heimfahrt. Eine rote Flut, die nichts als den Tod hinterlassen hatte.

Und jedes Mal, wenn sie an diesem verdammten Zimmer mit den strahlend gelben Wänden vorbeiging, packte sie ein so kalter Hass auf ihn, dass sie vor Wut zitterte.

Lena sah zur Decke empor. Sie hielt einen Augenblick den Atem an und hauchte ihn dann aus wie ein dunkles Geheimnis. Heute ging ihr alles an die Nieren. Der Verlust, die Trauer. Wodka und Tabletten halfen nicht. Würden nie genug helfen.

Sie sah sich nach dem Deckel für die Flasche um, fand ihn aber nicht. Als sie die Tür aufzog, war das Schlafzimmer leer. Jareds Kleider lagen auf dem Boden, wie er sie zuvor hingeworfen hatte. Lena hob sein Hemd auf. Sie roch die Abgase, den Schweiß, das Öl von seinem Tag auf dem Motorrad. In der Gesäßtasche seiner Hose steckte seine Brieftasche. Sie angelte sie hervor und legte sie auf den Nachttisch. Und auch die vorderen Hosentaschen waren vollgestopft. Eine Handvoll Kleingeld. Ein Döschen mit Burt’s Bienenwachs gegen trockene Lippen. Ein paar Zwanziger, sein Führerschein und drei Kreditkarten, mit einem grünen Gummiband zusammengehalten. Ein kleiner schwarzer Samtbeutel, in dem er seinen Ehering aufbewahrte.

Lena steckte den Finger in den Beutel und zog den Goldring heraus. Jared trug ihn nicht mehr bei der Arbeit, seit einer seiner Kumpel mit seiner Maschine verunglückt war. Sein Ehering hatte sich in den Knöchel gedrillt und ihm die Haut abgerissen wie eine Socke. Danach hatte Lena Jared das Versprechen abgenommen, den Ring auf dem Motorrad nicht mehr zu tragen. Der schwarze Beutel war ihr Kompromiss gewesen. Sie hatte ihn gebeten, den Ring einfach zu Hause zu lassen, aber ihr Mann war ein Romantiker – viel mehr als jede Frau, die Lena kannte – und hatte auf den Ring nicht verzichten wollen.

Wahrscheinlich trug er ihn inzwischen nur mehr aus Gewohnheit mit sich herum.

Lena steckte ihn zurück in den Beutel und klappte Jareds Brieftasche auf. Sie hatte sie ihm in ihrem ersten Jahr geschenkt, und er benutzte sie noch immer, obwohl er nie zuvor eine Brieftasche besessen hatte. Im Grunde war es nicht mehr als ein tragbares Fotoalbum. Lena überblätterte die vielen Schnappschüsse, die Jared in den vergangenen fünf Jahren aufgenommen hatte: Lena vor dem Haus am Tag ihres Einzugs, Lena auf seiner Maschine, sie beide in Disney World, bei einem Spiel der Braves, den SEC-Play-offs, der Landesmeisterschaft in Arizona.

Beim Foto ihrer Hochzeit hielt sie inne. Sie hatten vor einem Richter im Gerichtsgebäude von Atlanta geheiratet. Lenas Onkel Hank hatte auf der einen, Jared auf der anderen Seite gestanden und neben Jared seine Mutter, sein Stiefvater, die Schwester, die Großeltern, zwei Cousinen und eine Grundschullehrerin, zu der er über all die Jahre den Kontakt gehalten hatte.

Alle waren fein herausgeputzt gewesen – bis auf Lena, die denselben marineblauen Hosenanzug angehabt hatte, den sie normalerweise auch zur Arbeit trug. Ihr Haar hatte sie offen getragen, es war ihr bis über die Schultern gefallen. Sie hatte sich bei Lenox Macy von einem Transsexuellen Make-up auflegen lassen. Er hatte ihren Hautton in den höchsten Tönen gelobt. Wenigstens einer, der Lena an diesem Tag gewürdigt hatte. Der mürrische Ausdruck auf dem Gesicht von Jareds Mutter sprach Bände und erklärte, warum der Bräutigam nicht auf einer formelleren Feier bestanden hatte. Irgendwo in Alabama betete Darnell Long wohl gerade darum, dass ihr Sohn endlich zur Besinnung kommen möge und sich von dieser Schlampe scheiden ließe.

Manchmal fragte sich Lena, ob sie nur an Jared festhielt, um dieser Frau eins auszuwischen.

Sie blätterte zum nächsten Foto, und ihre Knie wurden weich.

Lena setzte sich aufs Bett.

Sie hatte das Foto schon oft gesehen, aber nie in Jareds Brieftasche. Es stammte aus einem Schuhkarton, den Lena in ihrem Wandschrank aufbewahrte. Es war ein Foto ihrer Zwillingsschwester Sibyl. Lena verspürte einen Anflug von Eifersucht, doch dann musste sie unwillkürlich lachen. Jared hatte offensichtlich angenommen, das Foto wäre von Lena. Er hatte Sibyl nie kennengelernt. Sie war bereits zehn Jahre tot gewesen, als Jared in ihr Leben getreten war.

Sie schlug die Hand vor den Mund, als aus dem Lachen ein Schluchzen wurde. Nachdem Lena herausgefunden hatte, dass sie schwanger war, hatte sie zuallererst an Sibyl gedacht. In dem flüchtigen Moment des Glücks hatte sie zum Telefon greifen wollen, um sofort ihre Schwester anzurufen.

Und dann hatte der Verlust sie erneut getroffen wie ein Schlag in die Magengrube.

Lena wischte sich über die Augen. Sie wusste intuitiv, warum Jared sich dieses Foto ausgesucht hatte. Sibyl saß darauf in einem Park auf einer Picknickdecke. Sie hatte den Kopf in den Nacken geworfen und lachte so frei und selbstvergessen, wie Lena sich nur selten zeigte. Dass sie eine mexikanisch-amerikanische Großmutter gehabt hatten, war überdeutlich zu sehen. Sibyls Haut war von der Sonne gebräunt. Ihre lockigen braunen Haare hingen offen herab, so, wie Lena sie jetzt ebenfalls gerade trug. Doch Sibyl hatte keine Strähnchen gehabt wie Lena, nicht einmal graue Einsprengsel.

Wie würde Sibyl wohl heute aussehen? Die Frage hatte sich Lena im Lauf der Jahre oft gestellt. Wahrscheinlich fragte sich das jeder Zwilling, wenn der andere gestorben war. Sibyl hatte nie Lenas harte Gesichtszüge und die scharfen Konturen gehabt. Auf Sibyls Gesicht hatte eine Weichheit gelegen, eine Offenheit, die die Menschen einlud, statt sie abzustoßen. Nur ein Narr hätte die Eine für die Andere halten können.

»Lee?«

Sie sah zu Jared auf, als wäre es völlig normal, dass sie in Unterwäsche auf dem Bett saß und über seiner Brieftasche weinte. Erneut war er auf der Schwelle zur Schlafzimmertür stehen geblieben.

»Von wem war der Anruf?«, fragte sie. »Auf deinem Handy?«

»Die Nummer war unterdrückt.« Er hakte die Daumen in seinen Werkzeuggürtel und lehnte sich an den Türstock. »Alles okay?«

»Ich bin … äh …« Die Stimme versagte ihr. »Müde.«

Lena sah ein letztes Mal auf Sibyl hinab und klappte dann die Brieftasche zu. Sie spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, gegen ihre Gefühle anzukämpfen. Egal was sie tat, sie stiegen immer wieder in ihr auf, schnürten ihr die Kehle zu, legten sich ihr wie eine Klammer um die Brust.

»Lee?« Er kam noch immer nicht ins Zimmer.

Lena schüttelte den Kopf. Sie wollte, dass er wieder ging. Sie konnte ihn nicht ansehen, konnte nicht zulassen, dass Jared sie so sah. Dass sie zusammenbrach, war genau das, worauf er wartete. Was er erwartete.

Wollte.

Doch dann zerriss etwas in ihr. Ein unkontrolliertes Schluchzen brach sich Bahn – tief, schwermütig. Sie konnte nicht mehr dagegen ankämpfen, konnte ihn nicht länger von sich wegstoßen. Trotzdem rief sie Jared nicht zu sich. Stattdessen durchquerte sie das Zimmer, warf sich ihm an den Hals, drückte ihr Gesicht an seine Brust.

»Lena …«

Sie küsste ihn. Ihre Hände wanderten zu seinem Gesicht, berührten seinen Nacken. Anfangs sträubte er sich, doch er war ein sechsundzwanzig Jahre alter Mann, der seit einer Woche auf der Couch schlief. Lena musste nicht viel unternehmen, um ihn zu einer Reaktion zu bewegen. Seine schwieligen Hände strichen über ihren nackten Rücken. Er zog sie enger an sich, küsste sie heftiger.

Dann schnellte sein Körper von ihr weg. Blut spritzte ihr in den Mund.

Erst Sekundenbruchteile später hörte Lena den Schuss.

Nachdem Jared getroffen worden war. Nachdem er auf sie draufgesackt war.

Er war zu schwer. Lena strauchelte, fiel rücklings zu Boden, und Jared kippte auf sie drauf, nagelte sie am Boden fest. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Sie versuchte verzweifelt, ihn hochzudrücken, dann fiel ein weiterer Schuss. Sein Körper zuckte, hob sich ein paar Zentimeter und fiel dann wieder auf sie drauf.

Lena hörte ein schrilles Kreischen. Es kam aus ihrem eigenen Mund. Sie kroch unter Jared hervor, packte sein T-Shirt, um ihn aus der Schusslinie zu ziehen. Sie schaffte es einen knappen Meter weit, bevor sein Werkzeuggürtel sich im Teppich verhakte.

»Nein, nein, nein …« Sie hatte beide Hände auf den Mund gepresst, um nicht noch mehr Lärm zu machen, fiel schwer mit dem Rücken gegen die Wand und kämpfte gegen die aufkommende Hysterie an. Jetzt rächten sich der Wodka und die Tabletten. Der Mageninhalt stieg ihr in die Kehle. Sie wollte schreien. Musste schreien.

Aber sie konnte es nicht.

Jared bewegte sich nicht mehr. Der Schuss hallte ihr immer noch in den Ohren. Schrotkugeln waren weitflächig in seinen Rücken und in den Schädel eingedrungen. Leuchtend rote Kreise breiteten sich über den getrockneten gelben Farbflecken auf seinem T-Shirt aus. Der Schraubenzieher aus seinem Werkzeuggürtel hatte sich ihm in die Seite gedrillt. Unter seinem Körper sammelte sich immer mehr Blut. Sie legte die Hand auf sein Bein, spürte den schlanken Muskel seiner Wade.

»Jared?«, flüsterte sie. »Jared?«

Doch seine Lider blieben geschlossen. Blut blubberte auf seinen Lippen. Seine Finger zitterten über dem Boden. Sie sah den bleichen Streifen auf seinem Finger, wo der Ehering gesteckt hatte, obwohl er ihr versprochen hatte, ihn draußen nicht zu tragen.

Lena griff nach seiner Hand, zuckte aber dann zurück. Schritte.

Der Schütze kam den Flur entlang. Langsam. Zielsicher.

Er trug Stiefel. Sie hörte den Hall der hölzernen Absätze, die auf die nackten Dielen knallten, dann das weichere Kratzen der Schuhspitze.

Ein Schritt. Noch einer. Stille.

Der Schütze zog den Duschvorhang im Bad zurück.

Panisch sah Lena sich im Schlafzimmer um. Ihre Waffen hatten sie im Safe eingeschlossen. Ihr Handy lag am anderen Ende des Zimmers. Einen Festnetzanschluss hatten sie nicht. Das Fenster war zu leicht einsehbar. Das Zimmer war eine Todesfalle.

Jareds Handy!

Sie tastete an seinem Bein entlang, befühlte seine Hosentaschen. Leer. Leer. Sie waren leer.

Wieder waren Schritte zu hören, sie hallten den Flur entlang, ein Geräusch wie brechende Zweige.

Und dann – nichts mehr.

Er war direkt vor dem anderen Zimmer stehen geblieben. Zwei Schreibtische. Kartons mit alten Fallakten. Die Schranktür ließ Jared immer offen stehen. Der Schütze konnte vom Flur aus hineinsehen.

Er räusperte sich, spuckte auf den Boden. Er wollte Lena wissen lassen, dass er kam.

Sie presste den Rücken an die Wand, zwang sich aufzustehen. Sie wollte nicht im Sitzen sterben. Sie würde auf beiden Beinen um ihr Leben und um das ihres Mannes kämpfen.

Wieder hielten die Schritte inne. Der Schütze warf einen Blick ins nächste Zimmer. Strahlend gelbe Wände. Die Schranktür lag immer noch über zwei Böcken, damit Jared blaue Ballons draufmalen konnte. Selbst vom Flur aus konnte man die dünnen Bleistiftstriche sehen, die er freihändig daraufgezeichnet hatte. Man konnte bis auf die Rückwand des leeren Schranks sehen.

Der Schütze kam weiter den Flur entlang.

Ihre Hand zitterte, als sie sich nach Jared ausstreckte. Sein Hammer war halb aus der Schnalle gerutscht. Sie angelte ihn zu sich herüber, legte die Hand um den Griff. Er fühlte sich an ihrer Haut warm, beinahe heiß an.

Jareds Lider flatterten. Er sah Lena zu, wie sie aufstand und den Rücken erneut an die Wand presste. Sein Blick wirkte glasig. Schmerz. Intensivster Schmerz. Es jagte ihr einen Stich durchs Herz. Sein Mund öffnete sich. Lena hob den Finger an die Lippen. Sie wollte, dass er still blieb, sich tot stellte, damit nicht noch einmal auf ihn geschossen würde.

Kurz vor der Schlafzimmertür, vielleicht anderthalb Meter entfernt, hielten die Schritte wieder inne. Der Schatten eines Mannes fiel ins Zimmer und über die Hälfte von Jareds Körper.

Lena drehte den Hammer so, dass die Klaue nach vorne zeigte. Dann hörte sie, wie eine Schrotflinte durchgeladen wurde. Es hatte die beabsichtigte Wirkung. Sie musste sich mit aller Macht zusammennehmen, um nicht zu Boden zu sinken.

Der Schütze hielt inne. Sein Schatten schwankte kaum merklich. Ins Zimmer kam er nicht.

Lena spannte die Muskeln an, zählte die Sekunden. Eins, zwei, drei. Der Mann kam immer noch nicht. Er stand einfach nur da.

Sie versuchte, sich in den Schützen hineinzuversetzen, sich auszumalen, was er gerade dachte. Zwei Polizisten. Beide mit Waffen, die sie nicht benutzt hatten. Einer lag auf dem Boden. Die andere hatte sich nicht gerührt, hatte das Feuer nicht erwidert, hatte nicht geschrien, war nicht durchs Fenster gesprungen, hatte ihn nicht angegriffen.

Lena spitzte die Ohren, während sie beide warteten. Schließlich machte der Schütze einen Schritt vorwärts – einen kurzen, zögerlichen Schritt. Dann noch einen.

Die Mündung der Schrotflinte war das Erste, was Lena sah. Abgesägt. Der Metallrand war schartig, offensichtlich frisch bearbeitet. Dann entstand eine Pause, eine leichte Korrektur, als der Schütze sich zur Seite drehte. Lena nahm flüchtig zur Kenntnis, dass die Hand, die den Lauf abstützte, tätowiert war. Ein schwarzer Schädel und gekreuzte Knochen auf der Haut zwischen Daumen und Zeigefinger.

Ein letzter, vorsichtiger Schritt.

Lena packte den Hammer mit beiden Händen und jagte ihn dem Mann ins Gesicht.

Die Klaue verschwand in seiner Augenhöhle. Sie hörte Knochen splittern, als der geschärfte Stahl sich in den Schädel bohrte. Die Schrotflinte ging los, riss ein Loch in die Wand. Lena versuchte, den Hammer für einen weiteren Schlag herauszuziehen, doch die Klaue hatte sich in seinem Schädel verfangen. Der Mann taumelte, versuchte, sich am Türstock abzustützen. Seine Finger umklammerten ihr Handgelenk. Blut quoll aus seiner Augenhöhle, lief ihm in den Mund und den Hals hinab.

Erst in diesem Augenblick sah Lena den zweiten Mann. Er lief den Flur entlang und hatte eine fünfschüssige Smith & Wesson in der Hand. Lena riss an dem Hammer, benutzte ihn als Handgriff, um den ersten Mann wie einen Schild vor sich zu zerren. In rasender Folge fielen drei Schüsse, die allesamt den Körper des Schützen trafen. Lena stieß ihn mit aller Kraft dem zweiten Angreifer entgegen. Beide Männer taumelten. Die Smith & Wesson schlitterte über den Boden.

Dann schnappte Lena sich die Flinte. Sie drückte den Abzug, doch die Patrone hatte sich verklemmt. Sie zog den Pumpgriff durch, um die Kammer freizubekommen, während der zweite Kerl sich wieder aufrappelte. Er machte einen Satz auf sie zu, streifte mit den Fingern die Mündung der Waffe, bevor er stolperte.

Jared hatte ihn am Knöchel gepackt. Er hielt ihn fest umklammert, sein Arm zitterte vor Anstrengung. Der Mann holte aus, wollte Jared schon die Faust ins Gesicht rammen.

Lena drehte die Flinte um, packte sie am Lauf und schmetterte sie wie einen Knüppel gegen den Kopf des Mannes. Blut und Zähne spritzten, als sein Unterkiefer aufklappte. Er stürzte zu Boden.

»Jared!«, schrie Lena und ließ sich neben ihn fallen. »Jared!«

Er stöhnte. Blut lief ihm aus dem Mund. Seine Augen waren leer, sie sahen nichts.

»Alles okay«, sprach sie beruhigend auf ihn ein. »Alles okay.«

Er hustete. Sein Körper erzitterte, dann packte ihn ein heftiger Krampf.

»Jared«, kreischte sie. »Jared!«

Tränen stiegen ihr in die Augen, ihre Sicht verschwamm. Sie legte ihm die Hände um die Wangen.

»Schau mich an«, flehte sie. »Schau mich einfach an.« Eine Bewegung. Sie sah es aus den Augenwinkeln heraus.

Der zweite Mann kroch auf das Bett zu, versuchte, an die Waffe zu kommen. Sein Körper schien halb gelähmt zu sein, er zog sich nur mit einem Arm vorwärts wie eine verletzte Kakerlake, die eine Blutspur hinterließ.

Lena spürte, wie ihr Herz einen Schlag lang aussetzte. Irgendetwas hatte sich verändert. Die Luft hatte sich verschoben. Die Welt drehte sich nicht mehr.

Sie sah auf ihren Mann hinab.

Jareds Körper war erschlafft. Seine Augen waren nur mehr Schlitze. Sie berührte sein Gesicht, seinen Mund. Ihre Hand zitterte so heftig, dass ihre Fingerspitzen gegen seine Haut schlugen.

Sibyl. Jeffrey. Das Baby.

Ihr Baby.

Lena stand auf.

Sie bewegte sich wie eine Maschine. Der Hammer ragte noch immer aus dem Gesicht des ersten Mannes. Lena stemmte den Fuß gegen seine Stirn, packte den Griff mit beiden Händen und riss die Klaue los.

Die Kakerlake kroch immer noch aufs Bett zu, kam aber kaum vorwärts. Lena nahm sich Zeit, wartete, bis er nur mehr Zentimeter von der Waffe entfernt war, und rammte ihm dann das Knie in den Rücken. Sie spürte, wie seine Rippen unter der Wucht brachen. Erneut stoben Zahnsplitter aus seinem Mund wie Klumpen nassen Sands.

Lena hob den Hammer hoch über den Kopf. Mit einem krachenden Splittern bohrte er sich in den Rücken des Mannes. Er schrie auf, seine Arme schnellten zur Seite, sein Körper bäumte sich unter ihr auf. Lena ließ nicht locker, sie war voll konzentriert, ihr Körper starr vor Wut. Sie hob den Hammer noch einmal hoch über den Kopf und zielte auf seinen Hinterkopf, doch dann blieb plötzlich alles stehen.

Der Hammer rührte sich nicht mehr. Er hing in der Luft fest.

Lena sah über die Schulter. Da war ein dritter Mann. Er war groß und schlank und hatte starke Hände, die Lena von dem Schlag abhielten.

Sie war zu schockiert, um zu reagieren. Sie kannte diesen Mann. Wusste genau, wer er war.

Er war angezogen wie ein Biker – Stirnband um den Kopf, eine Metallkette am Ledergürtel. Er hielt sich einen Finger an die Lippen, so, wie sie selbst es nur Augenblicke zuvor Jared gegenüber getan hatte. In seinem Blick lag eine Warnung, und hinter dieser Warnung erkannte sie die blanke Angst.

Langsam kam Lena wieder zur Besinnung. Zuerst ihr Gehör – das kratzende Geräusch ihres eigenen, angestrengten Atmens. Dann spürte sie den stechenden Schmerz in ihren angespannten Muskeln, die versengte Haut an ihrer Handfläche, wo sie den Lauf der Flinte gepackt hatte. Der ätzende Gestank des Todes stieg ihr in die Nase. Und direkt darunter roch sie den Duft der offenen Straße, den Hauch von Auspuffgasen und Öl und Schweiß, den Jared jeden Abend mit nach Hause brachte.

Jared.

Der Rücken seines T-Shirts war durchnässt und klebte auf der Haut. Die gelben Flecken getrockneter Farbe waren verschwunden. Sie waren jetzt schwarz wie seine Haare – dunkel vom Blut.

Lenas Körper erschlaffte. Die Kampfeslust sickerte aus ihr heraus. Sie ließ den Hammer fallen.

Sirenen zerrissen die Luft. Zwei, drei, mehr, als sie zählen konnte.

Von irgendwo draußen rief eine heisere Stimme: »Junge, wo steckst du?«

Die Sirenen wurden lauter. Kamen näher.

Will Trent warf Lena einen letzten Blick zu und verließ das Zimmer.

2.

Donnerstag

Atlanta, Georgia

Aufzüge in Krankenhäusern waren notorisch unzuverlässig, aber Sara Linton hatte den Eindruck, dass es in den Aufzügen im Grady Memorial in Atlanta ganz besonders knirschte. Trotzdem drückte sie wie ein Spielsüchtiger vor einem Automaten jedes Mal wieder in der vagen Hoffnung auf die Knöpfe, dass die Türen sich so schneller öffneten.

»Na, komm schon«, murmelte Sara und starrte die Nummern über der Tür an, als könnte sie sie dazu zwingen, auf sieben zu springen. Mit den Händen in den Taschen ihres weißen Laborkittels stand sie da, während die Anzeige auf zehn sprang, auf neun und dann bei acht stehen blieb.

Sara tippte mit dem Fuß auf den Boden und sah auf die Uhr. Und dann packte sie das kalte Grauen, als sie Oliver Gittings durch die Aufzugtür treten sah.

Als fest angestellte Kinderärztin in der Notaufnahme des Grady Hospital war Sara verantwortlich für eine Gruppe von Studenten, die sich – trotz gewisser Indizien, die auf das Gegenteil hindeuteten – einbildeten, eines Tages Ärzte werden zu wollen. Die Nachtschichten waren besonders mühsam. Der Mond hatte etwas an sich, das ihre kleinen Hirne in Brei zu verwandeln schien. Sara fragte sich oft, wie einige von ihnen es überhaupt schafften, sich alleine anzuziehen, geschweige denn die Aufnahmeprüfungen für die medizinische Fakultät gemeistert hatten.

Oliver Gittings war eines der besseren Beispiele. Oder der schlimmeren, wie es öfter der Fall war. In den letzten acht Stunden hatte er es geschafft, sich eine Urinprobe über den Kittel zu kippen und sich versehentlich ein steriles Tuch an den Ärmel zu nähen. Zumindest hoffte sie, dass es ein Versehen gewesen war.

»Dr. Linton …«

»Kommen Sie mit«, sagte Sara, verließ den Aufzug und ging zur Treppe.

»Wie gut, dass ich Sie gefunden habe.« Oliver rannte hinter ihr her wie ein eifriges Hündchen. »Es hat sich da ein interessanter Fall ergeben …«

Oliver fand all seine Fälle interessant.

»Geben Sie mir die Eckdaten.«

»Ein sechsjähriges Mädchen«, sagte er und zog zweimal an der Ausgangstür, bevor er merkte, dass sie in die andere Richtung aufging. »Dom erzählt, das Mädchen hat sie mitten in der Nacht geweckt, weil sie einen Schluck Wasser will. Sie gehen die Treppe runter. Das Mädchen stolpert. Mom packt sie am Arm. Irgendwas knackt. Das Mädchen fängt an zu schreien. Mom bringt sie hierher.«

Sara ging voraus die Treppe hinunter. »Und die Röntgenaufnahme zeigte eine Torsionsfraktur«, mutmaßte sie.

»Ja. Das Mädchen hatte eine Quetschung hier am Arm …«

Sara drehte sich um, um zu sehen, wohin er deutete. »Das heißt, Sie vermuten einen Missbrauch. Haben Sie eine Gesamtuntersuchung des Skeletts angeordnet?«

»Ja, aber die Radiologie ist dicht. Meine Schicht ist fast vorbei. Ich dachte mir, stattdessen reagiere ich lieber gleich und rufe D-FACS an, damit Bewegung in die Sache kommt.«

Sara blieb abrupt stehen. Die Division of Family and Children’s Services, so etwas wie das Jugendamt. »Wollen Sie sich wirklich so weit aus dem Fenster hängen und das Kind dem System überantworten?«

Oliver zuckte mit den Schultern. »Das Mädchen ist zu still. Und die Mutter ist nervös, unwirsch. Sie will nur wissen, wann sie wieder gehen können.«

»Wie lange sind sie schon hier?«

»Keine Ahnung. Ich glaube, die Aufnahme war gegen eins.« Sara sah erneut auf die Uhr. »Es ist jetzt 5.58 Uhr in der Früh. Sie sind schon die ganze Nacht hier. Ich würde auch gehen wollen. Sonst noch was?«

Allmählich schienen Oliver die ersten Zweifel zu beschleichen. »Na ja, der Bruch …«

Sara ging weiter die Treppe hinunter. »Kein spezifischer Bruch weist eindeutig und ausschließlich auf Kindesmisshandlung hin. Wenn Sie D-FACS anrufen, wird das zu einer juristischen Angelegenheit. Wenn die Mutter eine Missbrauchstäterin ist, wollen Sie sie nicht damit durchkommen lassen. Und dann brauchen Sie wasserdichtes Beweismaterial. Macht die Kleine den Eindruck, als hätte sie Angst vor ihrer Mutter? Oder schaut sie einem in die Augen und beantwortet Fragen? Gibt es noch andere Verletzungen? Erkennbare Entwicklungsstörungen? Ist sie Bettnässerin? Gibt es eine Vorgeschichte von Besuchen in der Notaufnahme? Wie stellt sie sich allgemein dar?«

Oliver antwortete nicht sofort.

»Ist sie gesund?«, fuhr Sara fort. »In gutem Ernährungszustand?«

»Ja, aber …«

»Stopp.« Sara hatte keine Lust auf eine Diskussion. Sie sah von Neuem auf die Uhr. »Dr. Connor löst mich gleich ab, aber Sie haben ja meine Nummer. Fordern Sie eine Gesamtuntersuchung des Skeletts an, und stellen Sie fest, ob es frühere Brüche oder Verletzungen gab. Sagen Sie dem Sicherheitsdienst, dass er die Mutter im Auge behalten soll. Rufen Sie die anderen Notaufnahmen an, und finden Sie heraus, ob das Mädchen je dort aufgenommen wurde.« Sara mäßigte ihren Ton, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie ihm etwas beibringen wollte und ihn nicht tadelte. »Oliver, fünfundsechzig Prozent aller Fälle von Kindesmisshandlungen werden in Notaufnahmen entdeckt. Wenn Sie in der Kinderheilkunde bleiben wollen, wird dies ein Problem sein, mit dem Sie sich Woche für Woche herumschlagen werden. Ich will damit nicht sagen, dass Sie sich irren. Ich will nur sagen, dass Sie sämtliche Fakten kennen sollten, bevor Sie das Leben dieses Mädchens völlig durcheinanderbringen. Und das seiner Mutter.«

»Ja, Ma’am.« Mit beiden Händen tief in den Taschen lief er die Treppe runter.

Sara blieb noch für einen Moment stehen. Ihr war klar, dass Olivers Ego nun ohnehin schon angeknackst war, auch ohne dass sie ihm auf den Fersen folgte. Stattdessen setzte sie sich auf die unterste Stufe und kontrollierte ihr Krankenhaus-Blackberry. Sie verdrehte die Augen, als sie sich durch all den Verwaltungsmist klickte, der ihre Inbox verstopfte. Besprechungen, Konferenzen, verweigerte Anforderungen und neue Prozeduren für jene Anforderungen, Beratungskonferenzen und geplante Treffen.

Sie steckte das Blackberry wieder ein und tastete die Taschen nach ihrem Handy ab. Das war doch schon um einiges besser. Ihr Vater hatte ihr einen blöden Witz über Schnecken gemailt, den er im Waffle House gehört hatte. Ihre Mutter hatte ihr ein Rezept weitergeleitet, das sie nie nachkochen würde. Ihre Schwester hatte ihr eine lange E-Mail mit einem Foto von Saras Nichte im Anhang geschickt. Sie markierte die Mail als ungelesen und speicherte sie für später. Die nächste Nachricht stammte von Saras Freund. Vor einer Stunde hatte er ihr ein Foto seines Frühstücks geschickt: sechs Mini-Donuts mit Schokoglasur, ein Brötchen mit Käse und Ei und eine große Cola.

Sara wusste nicht, wer von ihnen beiden zuerst einen Herzinfarkt bekommen würde.

Eine Tür ging auf, und Dr. Felix Connor steckte den Kopf ins Treppenhaus. Er musterte Sara argwöhnisch. »Woher dieser fröhliche Gesichtsausdruck?«

»Weil ich jetzt heimfahren kann, nachdem du endlich da bist.«

»Lass mich nur noch schnell aufs Klo gehen.«

Sara steckte das Handy wieder in die Tasche und stand auf. Oliver war nicht der Einzige, der allmählich nach Hause wollte. Aufgrund einer Magen-Darm-Grippe, die im Krankenhaus wütete, hatte Sara in der vergangenen Woche mehrere Nachtschichten hintereinander übernommen. So langsam hatte sie das Gefühl, für ihre gute Gesundheit bestraft zu werden.

Nach Hause. Schlafen. Stille. Während sie die Notaufnahme durchquerte, machte sie bereits Pläne. Dank ihres verrückten Dienstplans hatte sie jetzt vier freie Tage vor sich. Sie würde ein Buch lesen. Mit den Hunden laufen gehen. Ihren Freund daran erinnern, warum sie zusammen waren.

Dieses letzte Vorhaben zauberte ihr ein Grinsen ins Gesicht. Als Reaktion bekam sie einige merkwürdige Blicke. Nicht viele Leute waren glücklich, hier im Grady zu arbeiten – im letzten aus öffentlicher Hand finanzierten Krankenhaus Atlantas. Überwiegend war hier eher das abgebrühte Auftreten von ehemaligen Frontkämpfern verbreitet. Allein schon die Medizin an sich war ein schwerer Kampf, aber das Grady stand im Großen und Ganzen synonym für Guadalcanal: Messerstechereien, Schlägereien, Vergiftungen, Vergewaltigungen, Schießereien, Morde, Drogenüberdosen.

Zum Glück ging es hier nur um Pädiatrie.

Vor dem Computer neben dem Schwesternzimmer blieb Sara stehen. Sie rief die Akte von Olivers Patientin auf. Die Röntgenaufnahme zeigte eindeutig einen Bruch des Oberarmknochens durch eine starke Verdrehung. Entweder hatte die Mutter wahrheitsgemäß geschildert, was passiert war, oder sie war schlau genug gewesen, um sich eine glaubhafte Erklärung einfallen zu lassen.

Sara hob den Blick und sah zu dem Bereich mit den offenen Vorhängen hinüber, der wie zu erwarten mit Stammkundschaft belegt war. Ein paar Säufer schliefen ihren Rausch aus. Ein Junkie, der jedes Mal damit drohte, sich umzubringen, wenn er verhaftet wurde. Eine ältere Obdachlose, die eigentlich in eine psychiatrische Anstalt gehörte, das System aber immer wieder austrickste, sodass sie auf der Straße bleiben durfte. Olivers kleines Mädchen schlief zusammengerollt auf der hintersten Pritsche. Die Mutter saß auf einem Stuhl daneben. Auch sie schlief, aber ihre Hand hielt die ihrer Tochter. Den Wachmann, der nur wenige Meter entfernt stand, hatte sie nicht mal bemerkt.

Nicht zum ersten Mal wünschte sich Sara, die Natur hätte ein System entwickelt, das den Rest der Welt alarmierte, wenn irgendjemand ein Kind misshandelte. Ein scharlachroter Buchstabe. Ein Teufelsmal. Irgendein Zeichen, das den Anständigen zeigte, dass man diesen Monstern nicht trauen durfte.

Bis vor ein paar Jahren hatte Sara in einer Kleinstadt vier Stunden südlich von Atlanta gelebt. Sie hatte dort sowohl als Kinderärztin als auch als Medical Examiner des Countys gearbeitet. Ihr Vater hatte damals gescherzt, bei ihren beiden Jobs sehe sie die Leute kommen und gehen. Das hatte zwar gestimmt, doch überdies hatte Sara auch viel zu oft vor Augen geführt bekommen, welch schreckliche Dinge Erwachsene Kindern antun konnten. Röntgenaufnahmen, die wiederholt gebrochene Knochen offenbarten. Zahnbefunde, die in Form von Fäulnis auf Vernachlässigung hindeuteten. Haut, die für immer von Brandwunden und Schlagverletzungen entstellt war.

Seit sie wieder in Atlanta lebte, hatte Sara auch noch andere Dinge erfahren, vor allem weil sie mit einem Mann zusammenlebte, der in staatlicher Obhut aufgewachsen war. Saras Freund redete nicht gerne über seine Kindheit. Wenn sie die Brandnarben von ausgedrückten Zigaretten auf seiner Brust berührte oder die gezackte Narbe über seiner Oberlippe küsste, wo ein Faustschlag die Haut aufgerissen hatte, konnte sie nur mutmaßen, welche Hölle er durchlebt hatte.

Trotzdem konnten einem Kind noch deutlich schlimmere Dinge passieren. Das System hatte einfach zu viele Fehler, aber es existierte doch aus guten Gründen.

»Wenn du bloß aufhören könntest zu grinsen.« Felix Connor trocknete sich die Hände mit einem Papierhandtuch, während er auf Sara zukam. »Ich muss sagen, ich hab immer noch Schwierigkeiten mit dieser Darmgrippe.«

Sara klang bewusst vergnügt. »Lieber krank in der Arbeit als krank daheim.«

»Sagst du das auch deinen Patienten?«

»Nur den Babys.« Und noch ehe Felix sich eine Ausrede zurechtlegen konnte, warum er besser wieder gehen sollte, fing sie an, ihm die jüngsten Fälle zu referieren. Sie hatte gerade die letzten Details zu Olivers Fall aufgezählt, als sie im Rücken plötzlich Hitze spürte und das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Sie warf einen Blick über die Schulter und erschrak regelrecht, als sie ihren Freund vor sich sah.

Will Trent lehnte an der Wand. Er trug einen anthrazitfarbenen Dreiteiler, der wie angegossen an seinem schlanken Körper saß. Die Hände hatte er in die Taschen versenkt. Sein blondes Haar war feucht und fiel ihm im Nacken bis kurz über den Kragen.

Er lächelte sie an.

Sara erwiderte das Lächeln und spürte dabei ein vertrautes Kribbeln in der Brust. Sie kannte Will seit fast zwei Jahren – sie hatte ihn hier in diesem Krankenhaus kennengelernt –, und in letzter Zeit war aus ihrer Beziehung deutlich mehr geworden. Die Tiefe der Gefühle, die sie für ihn entwickelt hatte, kam für Sara einem unerwarteten Schatz gleich. Vor fünf Jahren hatte Sara ihren Ehemann verloren. Sie hatte angenommen, dass sie den Rest ihres Lebens alleine verbringen würde.

Doch dann hatte sie Will kennengelernt.

»Felix, ich …« Sie sah sich nach ihm um, doch er war bereits verschwunden.

Will stieß sich von der Wand ab und kam auf sie zu. »Du siehst gut aus.«

Sara musste über diese offenkundige Lüge lachen. »Was machst du hier? Ich dachte, du müsstest arbeiten.«

»Meine Besprechung ist erst in einer Stunde.«

»Hast du noch Zeit für ein zweites Frühstück?« Will schüttelte langsam den Kopf.

»Oh.« In diesem Augenblick dämmerte es Sara, dass er nicht einfach so vorbeigekommen war. »Was ist passiert?«

»Können wir vielleicht irgendwo hingehen?«

Sie führte ihn zum Ärztezimmer. Die zehn Meter bis zur Tür reichten, damit Sara sich immer größere Sorgen machte.

Will war Sonderermittler im Georgia Bureau of Investigations. Seit zehn Tagen arbeitete er verdeckt. Er konnte – oder wollte – Sara keine Details verraten, aber er rief immer wieder von seltsamen Nummern aus an oder tauchte zu den merkwürdigsten Zeiten einfach auf, und sie hatte keine Ahnung, woher er da kam oder wohin er unterwegs war. Wenn sie fragte, wechselte er entweder das Thema oder fand einen Vorwand zum Gehen. Wenn Sara nicht gerade leicht verärgert darüber war, machte sie sich große Sorgen, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Oder bereits passiert war. Saras verstorbener Ehemann war ebenfalls Polizist gewesen. Er war im Dienst ermordet worden, und ihn zu verlieren hätte auch sie beinahe umgebracht. Der Gedanke, dass Will etwas Ähnliches passieren könnte, war für sie unerträglich.

»Lass mich …« Will griff an Sara vorbei, um ihr die Tür aufzuhalten. Zum Glück war das Ärztezimmer leer. Er wartete, bis sie am Tisch Platz genommen hatte, bevor er sich ihr gegenüber niederließ.

»Was ist passiert?«, fragte sie erneut.

Schweigend nahm er ihre Hand. Sara sah zu, wie er mit den Fingern ihre Handfläche und dann ihrem Handgelenk entlangstrich. Auch Will starrte darauf hinab, seine dunkelblauen Augen folgten der Bewegung seiner Finger. Sara spürte ein Kribbeln, als sie sah, wie sein Blick die Bewegungen seiner Finger auf ihrer Haut beobachtete.

Sie legte ihre freie Hand auf seine. Es musste nun wirklich nicht sein, dass zufällig ein Student hereinplatzte und sie schnurren sah wie ein Kätzchen. Außerdem kannte sie Wills Hinhaltetaktik inzwischen.

Sie beugte sich vor. »Was ist los?«

Er grinste schief. »Funktioniert die Ablenkung nicht?«

»Nur beinahe.«

Will atmete einmal tief durch. »Mein Auftrag ist ein bisschen komplizierter geworden.«

Sara hatte so etwas erwartet, aber sie brauchte trotzdem einen Augenblick, um die Information zu verdauen.

»Ich kann dir immer noch nicht sagen, warum, aber ich werde länger verdeckt arbeiten müssen. Und ich werde es nicht mehr so oft zurück nach Atlanta schaffen. Dich nicht mehr so oft sehen können.«

Sara wusste nicht genau, warum Will ihr von seinem Auftrag nichts erzählen durfte, aber sie wollte die wenige Zeit, die sie miteinander hatten, nicht damit vergeuden, noch einmal durchzukauen, was sich bereits früher als fruchtlose Diskussion erwiesen hatte.

»Okay.«

»Gut.« Er starrte wieder auf ihre Hände hinab. Sara folgte seinem Blick. Seine Handgelenke waren gebräunt, aber nur bis zu den Manschetten seines Hemds. Sein Haar war in der Sonne stellenweise hellblond ausgebleicht. Was Will auch tat, erforderte offensichtlich, dass er viel Zeit an der frischen Luft verbrachte.

»Ich wollte dir nur sagen«, fuhr er fort, »dass du nicht denken darfst, ich würde dir aus dem Weg gehen. Oder dass ich …« Er beendete den Satz nicht. »Ich meine, was wir tun …« Erneut hielt er inne. »Was wir getan haben …«

Sara sah ihn abwartend an.

»Ich will nicht, dass du meine Abwesenheit interpretierst als …« Er schien um die richtigen Worte zu ringen. »Mangel an Interesse?« Er starrte weiter auf ihre Hände hinunter.

»Weil ich es bin. Interessiert, meine ich.«

Sara starrte seinen Scheitel an, den Wirbel, der dort abstand. Irgendwann in naher Zukunft würden sie an einen Punkt gelangen, da sie seine Ausflüchte nicht länger würde akzeptieren können. Er würde sich ihr öffnen müssen, oder sie müsste sich überlegen, ob sie so weitermachen wollte. Je länger Sara darüber nachdachte, umso deutlicher spürte sie, dass dieser Punkt bereits sehr nahe war.

Sie zwang sich, den Gedanken beiseitezuschieben. Stattdessen sagte sie: »Versprich mir einfach, dass du vorsichtig bist. Was immer du tust.«

Er nickte, aber sie hätte sich besser gefühlt, wenn er es tatsächlich ausgesprochen hätte. Will war schließlich nicht bloß Detective. Das GBI war für den Staat Georgia, was das FBI für die Vereinigten Staaten war. Abgesehen von Fällen von Drogenhandel und Kindesentführung musste die Agency eigens damit beauftragt werden, einen Fall zu bearbeiten, und die lokalen Polizeibehörden forderten deren Hilfe eigentlich nur dann an, wenn sie selbst mit ihrem Latein am Ende waren. Egal aus welcher Perspektive Sara es betrachtete: Das Verbrechen, in dem Will verdeckt ermitteln musste, war für die örtlichen Behörden offensichtlich zu kompliziert gewesen. Und schlimmer noch: Verdeckt zu arbeiten hieß auch, dass Wills Partnerin nicht an seiner Seite war, um ihm den Rücken freizuhalten. Er war komplett auf sich allein gestellt und wahrscheinlich umgeben von Männern mit einer gewalttätigen Vorgeschichte und diversen Abhängigkeiten.

»Wir verstehen uns also?«, fragte er jetzt.

Sara presste die Lippen zusammen, verkniff sich, was sie eigentlich hatte sagen wollen. »Natürlich verstehen wir uns.«

»Gut.« Als Will sich auf seinem Stuhl nach hinten fallen ließ, war seine Erleichterung beinahe greifbar. Nicht zum ersten Mal fragte sich Sara, wie ein Mann, der sein ganzes Erwachsenenleben damit zugebracht hatte, komplizierte Rätsel zu lösen, in seinem Privatleben so hartnäckig begriffsstutzig sein konnte.

»Wie lange wird es noch dauern?«

»Zwei, vielleicht drei Wochen.«

Sie wartete auf mehr, doch dann wandte Will einfach den Blick ab. Die Geste war naiv ausgeführt, als würde er eine Checkliste beiläufiger Bewegungen abarbeiten. Blinzeln. Sich am Kinn kratzen. Interesse für die Notizen an der Wand vortäuschen.

Sara wandte sich den Postern zu, die ihn plötzlich derart zu faszinieren schienen. Die typischen Krankenhausplakate: Warnungen vor HIV und Hepatitis C neben einem rüde verunstalteten Hygiene-Cartoon mit SpongeBob in der Hauptrolle. Sara drehte sich wieder zu ihm um. Dieses passiv-aggressive Rollenspiel hatte sie noch nie gut beherrscht. »Können wir uns wenigstens darauf einigen, dass sonst noch etwas ist? Weil ich es spüren kann, Will. Da steckt doch noch was anderes dahinter – und ich glaube, du verheimlichst es vor mir, weil du nicht willst, dass ich mir Sorgen mache.«

Sie musste ihm zugutehalten, dass er es nicht abstritt. »Würde es dir dann besser gehen?«

Sie nickte.

»In Ordnung.«

Sara nagte an ihrer Unterlippe. Sie wartete auf mehr, aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie das Krankenhaus hatte verlassen wollen, noch ehe sie das Rentenalter erreichte. »Das ist alles?«

Er zuckte bloß mit den Schultern.

Sie war zu müde, um weiter Sisyphos zu spielen. »Du machst mich wahnsinnig.«

»Aber auf eine gute Art?«

Sie drückte seine Hand. »Nicht unbedingt.«

Er lachte kurz auf, doch sie wussten beide, dass sie es ernst gemeint hatte.

»Hast du gehört«, fragte er, »dass der Heimatschutz SpongeBob am Flughafen verhaftet hat?«

»Will …«

»Ich meine es ernst. Kam heute Morgen in den Nachrichten.«

Sara stöhnte auf. »Erregung öffentlichen Ärgernisses?«

»Versteht sich von selbst. Aber der Hauptgrund für die Verhaftung war, dass er versucht hat, zu viel Flüssigkeit mit an Bord zu nehmen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist ja grässlich.«

»Er behauptete, irgendjemand hätte ihm da etwas in die Schuhe schieben wollen.« Will machte eine dramatische Pause. »Aber offenbar hat ihn einfach niemand zum Trocknen rausgehängt.«

Sara schüttelte wieder den Kopf. »Wie lange hast du gebraucht, um dir das auszudenken?«

Will beugte sich vor und küsste sie – kein entschuldigendes, schnelles Wischen über die Lippen, kein flüchtiger Abschiedskuss, sondern etwas Längeres, Bedeutungsvolleres.

Kurz dachte Sara daran, dass sich auf der anderen Seite der Tür die gesamte Notaufnahme befand, dass jeder einfach hereinplatzen und sie ertappen könnte, aber dann vertiefte Will seinen Kuss, und plötzlich war alles andere unwichtig. Er war von seinem Stuhl aufgestanden und kniete vor ihr, drängte sich an sie, drückte sie gegen die Stuhllehne. Sara wurde leicht schwindlig.

»Jell-O«, schrie plötzlich ein Mann in der Notaufnahme. Sara schreckte hoch, und Will hockte sich auf die Fersen.

Mit dem Handrücken wischte er sich über den Mund.

»Tut mir leid«, sagte Sara, als könnte sie die Patienten je kontrollieren. Dann zupfte sie Wills Kragen glatt, zog seine Krawatte zurecht. Sie spürte das Blut in seiner Halsarterie pochen. Es passte zum Klopfen ihres Herzens. »Die Säufer wachen auf.«

»Ich mag Jell-O auch …«

»Will …«

»Ich sollte mich jetzt langsam auf den Weg machen.« Er stand auf und klopfte sich ein bisschen Staub von der Hose.

»Vergiss nicht, was ich gesagt habe, okay? Ich flüchte nirgendshin.« Er grinste. »Ich meine, ich gehe jetzt, aber ich komme wieder. Sobald ich kann. In Ordnung?«

Ihr Kopf war voller Dinge, die sie ihm sagen wollte – dass er ihr versprechen sollte, sich nicht in Gefahr zu begeben, dass er ihr versichern sollte, alles würde gut ausgehen. Doch Sara wusste, dass diese Versprechen bestenfalls bedeutungslos und schlimmstenfalls eine Belastung wären. Das Letzte, woran ein Polizist denken sollte, wenn er ins Kreuzfeuer geriet, war seine Freundin und ob sie es gutheißen würde.

»In Ordnung.« Mehr brachte sie nicht hervor.

Er lächelte sie wieder an, doch Sara konnte erkennen, dass irgendwas nicht stimmte. Sie sah es in seinen Augen – ein Zögern, Sorge. Wie üblich ließ Will ihr nicht die Zeit, ihn danach zu fragen.

Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf den überfüllten Gang, als er die Tür aufzog und hinausschlüpfte. Die morgendliche Hektik war bereits in vollem Gang. Die Kakofonie piepsender Monitore und Apparate drehte bereits wieder hoch. Schon lagen Patienten auf Rollbahren in den Gängen. Der Säufer schrie wieder nach Jell-O, dann brüllte ein zweiter den ersten an, er solle das Maul halten und dass er selbst auch ein Jell-O haben wolle.

Sara faltete die Hände im Schoß und ging die Unterhaltung mit Will im Geist noch einmal durch. Was hatte er ihr wirklich sagen wollen? Warum war er zu ihr ins Krankenhaus gekommen, obwohl er ihr doch all das, was er gesagt hatte, auch am Telefon hätte sagen können? Wenigstens hatte er zugegeben, dass sonst noch etwas im Argen lag. Er konnte so verdammt unergründlich sein, und Sara musste sich einmal mehr eingestehen, dass sie sich von ihm ausmanövriert fühlte. Sie berührte ihre Lippen, die Will eben noch geküsst hatte. Was war der Grund seines Besuchs gewesen? Waren die Küsse Wills Art gewesen, dafür zu sorgen, dass sie ihn nicht vergaß, während er weg war? Oder hatte er lediglich sein Revier markieren wollen, ehe er die Stadt verließ?

Keine dieser Möglichkeiten war besonders schmeichelhaft. Saras Handy klingelte. Sie griff in die Tasche, tastete nach der verräterischen Vibration. Sie erwartete – hoffte –, dass es Will wäre, aber die Ortskennung lautete »TALLADEGACO., AL.«. In den vergangenen Wochen hatte er sie häufig von den merkwürdigsten Orten aus angerufen, doch nie aus Alabama.

»Hallo?«, meldete sie sich.

Niemand antwortete, nur ein leises Summen war zu hören. Sara versuchte es noch einmal. »Hallo?« Noch immer keine Antwort, doch das Summen wurde lauter, eher animalisch als elektronisch.

»Hallo?«

Sara wollte eben auflegen, doch dann blitzte unvermittelt ein Bild vor ihren Augen auf – Will, dessen Körper zerrissen auf einem Bürgersteig lag. Sie sprang von ihrem Stuhl auf.

»Will?«

Am anderen Ende der Leitung atmete jemand schwer.

»Hallo?«

Sara riss die Tür auf. Sie rannte auf den Gang hinaus und wäre beinahe mit einem Patienten zusammengestoßen. Das war doch lächerlich. Will ging es gut. Er war gerade erst vor zwei Minuten losmarschiert. Sie konnte immer noch seinen Kuss auf ihren Lippen spüren.

»Hallo?« Sara presste sich das Handy ans Ohr. »Wer ist denn da?«

»S-S-S-ara?« Die Frau am anderen Ende der Leitung konnte kaum sprechen.

Sara legte sich die Hand über die Augen, und Erleichterung durchströmte sie. »Ja?«

»Hier ist … Hier ist … Tut mir leid, ich …«...

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