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Rituale, die dein Leben verändern

Als Buch hier erhältlich:

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»Das Wesen einer Gewohnheit besteht im Was, das eines Rituals im Wie
Was wir gewinnen, wenn wir Rituale pflegen

Serena Williams lässt den Ball vor jedem Aufschlag genau dreimal aufspringen. Keith Richards isst immer das erste Stück eines Sheperd’s Pie, bevor er die Bühne betritt. Marie Curie konnte fatalerweise nur einschlafen, wenn ein Fläschchen Radium auf ihrem Nachttisch stand. Doch wie entstehen Rituale dieser Art? Und was unterscheidet sie von Gewohnheiten und Zwängen?

Harvard-Professor Michael Norton hat sich mit einem Team aus Psychologen, Neurowissenschaftlern, Ökonomen und Anthropologen zehn Jahre lang mit Ritualen befasst: mit religiösen wie weltlichen, privaten und beruflichen. Sein Fazit: Rituale haben nicht nur eine wichtige Funktion bei der Verarbeitung von Trauer und Verlusten, sie können auch große Lebensabschnitte markieren, Menschen zu Höchstleistungen anspornen und in Jubel und mitreißende Ekstase versetzen.

Dieses Buch ist eine fundierte Ermutigung, uns in Ritualen zu üben (gemeinsam oder allein) – um unserem Leben mehr Struktur, Zufriedenheit und Sinn zu verleihen. Was könnte Ihr Stück Sheperd’s Pie sein?

»Fesselnd. Das Buch lässt einen nicht los, weil es modernste Wissenschaft mit lebendigem Erzählstil verbindet.«
Charles Duhigg, Autor des Bestsellers »Die Macht der Gewohnheit«

»Unendlich faszinierend. Michael Norton überzeugt dich, die eigenen Glaubenssätze und Beziehungen mit neuen Augen zu sehen.«
Daniel H. Pink, Autor von »Mehr Wert«


  • Erscheinungstag: 19.11.2024
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907656
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Mel

Vorwort

Wiederverzauberung

Flannery O’Connor beginnt ihren Tag vor Sonnenaufgang mit einem Morgengebet und einer Thermoskanne Kaffee, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter leert. Täglich um 7 Uhr besucht sie die katholische Messe. Zur selben Zeit kommt Maya Angelou unweit ihres Hauses in einem Motelzimmer an, in dem auf ihre Bitte hin sämtliche Kunstwerke von den Wänden abgehängt wurden. Irgendwann im Laufe des Vormittags zieht Victor Hugo sich aus und weist seinen Diener an, seine Kleider zu verstecken, bis er das Schreibziel des Tages erreicht hat. Exakt um 15:30 Uhr (so exakt, dass die ganze Stadt die Uhr nach ihm stellen kann) tritt Immanuel Kant mit seinem Spazierstock in der Hand aus der Tür und beginnt seinen Nachmittagsspaziergang. Am Abend steigt Agatha Christie in die Badewanne und isst dort einen Apfel.[1] Und am Ende eines langen Tages holt Charles Dickens den Kompass hervor, den er immer bei sich trägt, um sich zu versichern, dass sein Bett nordwärts ausgerichtet ist, bläst die Kerze aus und schläft ein.[2]

Der Absatz, den Sie gerade gelesen haben – ein Tag im Leben von sechs weltberühmten Autorinnen und Autoren –, mag wie eine Parade kreativer Verrücktheiten oder zumindest Schrulligkeiten wirken. Diese großen Geister führen jedoch zutiefst bedeutsame Handlungen durch, die sie etliche Male wiederholten. Ihnen mögen sie völlig willkürlich erscheinen, doch diesen Menschen erschienen sie durch und durch richtig – und sie funktionierten für sie. Sie alle legten eine Form ritualisierten Verhaltens an den Tag.

Vielleicht denken Sie, dass ein exzentrischer Lebenswandel bei Kreativen wie Dichterinnen, Schriftstellerinnen und Philosophen Teil des Jobs ist. Aber ich hätte genauso gut jede andere Kategorie von Menschen wählen können, die Bemerkenswertes leisten. Kurz bevor Keith Richards mit den Rolling Stones auf die Bühne geht, muss er ein Stück Shepherd’s Pie essen, und zwar immer das erste.[3] Chris Martin würde nie die Garderobe verlassen, um mit seiner Band Coldplay aufzutreten, ohne vorher Zahnbürste und Zahncreme zur Hand zu nehmen und seine Zähne kurz, aber präzise zu putzen.[4] Marie Curie konnte – tragischerweise – nur mit einer Ampulle Polonium neben dem Bett einschlafen.[5] Und Barack Obama überstand den Wahltag nur, indem er ein sorgfältig geplantes Basketballspiel mit bestimmten Freunden spielte.[6]

Nun raten Sie einmal, wer hinter diesen zwei Performanceritualen steckt:

Ich lasse meine Finger knacken und klopfe bestimmte Teile meines Körpers ab. Danach gehe ich im Geiste meinen Körper von Kopf bis Fuß durch.

Ich schließe die Augen und stelle mir vor, mit meinem Hund zusammen zu sein. Ich liste vier Dinge auf, die ich sehe, drei Dinge, die ich rieche, zwei, die ich höre, und eins, das ich spüre.

Serena Williams? Tom Brady? Keine schlechten Ideen – und wir werden uns Rituale dieser beiden später noch anschauen. Aber die hier beschriebenen wurden von zwei Unbekannten in Fragebögen von mir und meinen Kolleg*innen aus über zehn Jahren, in denen wir Rituale wissenschaftlich erforscht haben, berichtet.

Meine Kolleg*innen aus Harvard und aller Welt – Psychologen, Wirtschaftswissenschaftlerinnen, Neurowissenschaftler und Anthropologinnen – und ich hatten das Privileg, ein wirklich erstaunliches Spektrum von individuellen und kollektiven Ritualen zu untersuchen. Unser Ziel war es, besser zu verstehen, was Rituale sind, wie sie wirken und wie sie uns dabei unterstützen, Herausforderungen gewachsen zu sein und Möglichkeiten wahrzunehmen. Mehr als ein Jahrzehnt lang haben wir weltweit Zehntausende Menschen befragt, haben Experimente in unseren Laboren durchgeführt und uns sogar mittels Gehirnscans die neurologischen Mechanismen hinter Ritualen angeschaut.

Dieses Buch handelt davon, was wir dabei entdeckt haben. Im persönlichen wie im beruflichen Zusammenhang, im Privatleben und in der Öffentlichkeit stellen Rituale emotionale Katalysatoren dar, die uns in Schwung bringen, inspirieren und erheben. Unsere Forschung legt die Logik des Rituals offen, indem sie nach und nach verschiedene Elemente bestimmter Rituale isoliert, um deren Wirkung je für sich zu betrachten. Einige unserer Fragen lauten beispielsweise: Was genau ist der Unterschied zwischen einem Ritual, einer Gewohnheit und einem Zwang? Wie entstehen Rituale? Und wie stellen wir sicher, dass Rituale uns nutzen, statt uns zu schaden?

Wir werden außerdem der Frage nachgehen, warum es Freude machen kann, Ihre Socken genau so, gekringelt wie auf der Seite liegende Schnecken, in die Schublade legen; wie Familien das lästige Abendessen zum Vergnügen werden lassen können; wieso Marken wie Starbucks davon profitieren können, wenn sie ihre Kundschaft dazu auffordern, »Geborgenheit in Ritualen« zu suchen. Wir werden ergründen, weshalb offene Büros keine gute Idee sind; warum traditionelle Regentänze und diese nervigen, scheinbar sinnlosen Teambuilding-Übungen tatsächlich funktionieren können; und weshalb ein Effekt von Ritualen, nämlich das Erzeugen einer größeren Vielfalt von Emotionen – ein Phänomen, das ich als Emodiversität bezeichne –, nachweislich wichtig für unser psychisches Wohlbefinden ist.

Diejenigen unter Ihnen, die der Meinung sind, keine Rituale zu haben, werden sehen, dass diese in Wahrheit eine Rolle dabei spielen, wie Sie Geschäfte machen, sich gegenüber anderen Menschen verhalten, Meilensteine zelebrieren und Ihren Alltag erleben, bis hin zur Frage, was Sie essen und trinken und sogar, wie Sie sich die Zähne putzen.

Rituale operieren häufig unter dem Radar, doch sie ermöglichen uns, unsere Alltagserfahrungen auszukosten. Wir werden sehen, wie Rituale uns helfen, den Tag richtig zu beginnen und friedlich zu beenden; wie sie Beziehungen im Privatleben und bei der Arbeit fördern; wie sie sich im Krieg und im Frieden auswirken und wie sie eine automatisierte in eine lebendigere Daseinsform verwandeln können.

Ich möchte Sie zu einer wissenschaftlichen Reise einladen, auf der Sie entdecken werden, dass Rituale den Strukturen unseres Alltags zugrunde liegen. Am Ende dieses Buches werden Sie sich hoffentlich ermutigt und gerüstet fühlen, eigene Rituale zu entwickeln und einzuführen, um die vielen Herausforderungen, denen wir uns alle stellen müssen, immer besser zu meistern und mehr von den Dingen zu tun, die das Leben lebenswert machen.

Dieses Buch erzählt von den zahlreichen Arten und Weisen, auf die Rituale unser Leben erweitern und verzaubern – kurz, verändern.

1
Was sind Rituale?

Maeby: Wo kriege ich so ’ne Halskette her,
eine mit ’nem T?

Michael: Das ist ein Kreuz.

Maeby: Schreibt man das mit T?

- Arrested Development[1]

In meiner Kindheit fochten meine irisch-katholischen Eltern und ich einen erbitterten Kampf aus, in dem ich tapfer zu erklären versuchte – und daran scheiterte –, weshalb es für mich keinen Grund gab, zur Messe in St. Theresas zu gehen. Mich störte nicht so sehr, was während des Gottesdienstes gesagt wurde (»Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch« erschien mir immer wie ein vernünftiger Rat). Es war der Ablauf: reingehen, hinsetzen, aufstehen, Kreuzzeichen machen, hinsetzen, aufstehen, gehen, Kerzen anzünden, trinken, knien, sitzen, stehen, Hände schütteln, sitzen, aufstehen, singen, rausgehen. Die Menschen in den Bänken um mich herum, darunter einige, für die ich so viel Liebe und Respekt empfand wie für niemanden sonst, sahen eine tiefe Bedeutung in dieser Abfolge. Aber ich fühlte mich wie ein Roboter, der das alles buchstäblich mechanisch mitmachte.

Diese speziellen religiösen Rituale funktionierten für mich nicht, andere hingegen schon. Was meine bevorzugten Rituale angeht, war ich, wie die meisten Menschen, wählerisch. Die heilige Messe war nichts für mich, Heiligabend aber mochte ich – oder vielmehr die ganze Reihe von Feiertagen von Halloween über Thanksgiving bis Weihnachten mit dem krönenden Abschluss Silvester. Nun denken Sie sicher schlau: Na klar, Kerzen, Süßigkeiten, liebevolle Verwandte, lange aufbleiben, Geschenke. Natürlich waren dir diese Rituale als Achtjähriger lieber. Und es ist nicht zu leugnen, dass Süßigkeiten und Spiele eine gewisse Zauberkraft besitzen.

Aber ich weiß auch, dass das, was mir daran am meisten gefiel – und was mir in Erinnerung geblieben ist –, die besondere Art und Weise war, wie meine Familie diese Feiertage beging. Dazu gehörte das zerkratzte Weihnachtsalbum von Johnny Mathis, das auf dem Plattenspieler meines Vaters abgespielt wurde (der nur einmal im Jahr und ausschließlich zu diesem Zweck hervorgeholt wurde), und dass wir an Thanksgiving drei Arten von Truthahnfüllung hatten (obwohl mir keine davon schmeckte). Es gab auch viele Rituale, die nichts mit den Feiertagen zu tun hatten. Beispielsweise saßen wir jahrzehntelang an denselben Plätzen am Esstisch (meiner war gegenüber meiner Mutter, zwischen meinem Vater und einer meiner Schwestern). Es gab einen Riesenaufstand, wenn jemand es wagte, diese Ordnung durcheinanderzubringen. Hatte meine Mutter genug von uns fünf Kindern, zählte sie bis drei, damit wir uns beruhigten. Fing sie jedoch an zu zählen: »Once, twice …«, stimmte irgendwer von uns ein und sang: »Three times a lady«. Das machte sie noch wütender. Jahrzehnte später jedoch tanzte sie zu diesem Song mit meinem Bruder auf dessen Hochzeit. Nun, nach ihrem Tod, ist sie für einen Augenblick wieder bei mir, wenn ich das Lied höre. Diese individuellen Verhaltensweisen sind irgendwie wichtig geworden. Im Laufe der Zeit haben sie sich zu Ritualen entwickelt, die meine Familie zu meiner Familie machten. Sie machten uns aus.

Willkommen in einem weltlicheren Zeitalter

Jahre später ist leicht zu erkennen, dass mein Widerstand gegen traditionelle religiöse Rituale wie den Kirchgang und im Gegensatz dazu meine Begeisterung für viele weltliche Rituale – insbesondere die speziellen Varianten meiner Familie – den allgemeinen kulturellen Tendenzen entsprechen, die unser »säkulares Zeitalter« ausmachen, wie es der Philosoph Charles Taylor genannt hat.[2]

In den Vereinigten Staaten beispielsweise sagen inzwischen drei von zehn Erwachsenen, sie würden »keiner Religion« angehören, während sich in den 1990ern beinahe 90 Prozent als christlich identifizierten. Schätzungen zufolge wird sich die Zahl derer, die sich als »keiner Religion zugehörig« definieren, im Jahr 2070 der annähern, die sich als christlich bezeichnen.[3] Eine Gallup-Meinungsumfrage von 2022 hat gezeigt, dass sich das Vertrauen der amerikanischen Bevölkerung in Institutionen wie den Obersten Gerichtshof und organisierte Glaubensgemeinschaften auf einem Rekordtief befindet.[4] Diese Zahlen bezeugen eine einfache Wahrheit: Im 20 und 21. Jahrhundert hat der Glaube sowohl an die traditionellen Autoritäten, die einst das Muster unseres Lebens vorgaben, als auch an die Einrichtungen, die dafür sorgten, dass wir diese Muster einhielten, überall nachgelassen.

Vor mehr als einem Jahrhundert entwickelte der deutsche Jurist und Wirtschaftswissenschaftler Max Weber ein kühnes Narrativ, in dem er diese Entwicklungen vorwegnahm. 1897, nachdem er sich in weniger glamouröse Themen wie die römische Landwirtschaft vertieft hatte, erlitt Weber einen Nervenzusammenbruch und wurde bettlägerig. Umsorgt von seiner Frau und Cousine Marianne begann er dort zu dokumentieren, was er als die »Entzauberung« der modernen Welt bezeichnete. Er argumentierte, technische Systeme und Bürokratie seien die neuen gesellschaftlichen Organisationsprinzipien. Wo einst Bräuche, religiöse Verpflichtungen und Rituale diktierten, wie wir unsere Tage und Leben ordnen, befand sich die Gesellschaft Weber zufolge nun unter der Herrschaft rationalisierter Abläufe und Verfahren. Wissenschaft und Technologie – und die von ihnen beeinflussten Institutionen – ersetzten die Lehren des Glaubens, Aberglaubens und anderer Formen des magischen Denkens. In Wirtschaft und Gesellschaft, seinem (unvollendeten) Hauptwerk, warnt Weber, dass sich eine »Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte« auf die Menschheit herabsenke.[5] Er war der Ansicht, dass diese sich in eine Welt ohne Licht und Wärme begab, ohne Sinn und Magie. Das Ergebnis? Eine entzauberte Welt ohne Rituale.

Die große Wiederverzauberung

In mancher Hinsicht waren Webers Worte prophetisch. Die etablierten, traditionellen Rituale, die er vor Augen hatte, haben im vergangenen Jahrhundert an Bedeutung verloren. Doch unsere Welt ist weit entfernt von kühler Rationalität und Desillusion. Der Glaube an Gott ist nach wie vor auf der ganzen Erde verbreitet, unter anderem in den Vereinigten Staaten, wo sich 2022 etwa 81 Prozent als Gläubige bezeichneten.[6] Wenngleich einer von sechs Menschen weltweit angibt, konfessionell ungebunden zu sein, praktizieren doch immer noch viele religiöse Rituale. In China sagten beispielsweise 44 Prozent der konfessionell ungebundenen Erwachsenen, sie hätten an einem Grab oder an einer Gruft gebetet.[7] Der Glaube an andere übernatürliche Wesen wie Außerirdische ist sogar auf dem Vormarsch.

Betrachtet man Rituale außerhalb des Einflussbereichs offizieller Religion, wird schnell klar, dass das späte 20 und frühe 21. Jahrhundert unzählige säkuläre oder spirituell angehauchte Rituale hervorgebracht haben. Zu den sich neuerdings verbreitenden Arten von Gruppenzugehörigkeit, die rasch ritualisiert wurden, gehören die zahlreichen Varianten des Pilgerns in die amerikanischen Wüsten: angefangen beim Burning Man über Coachella und die Bombay Beach Biennale, ein Kunstfestival, in der kalifornischen Umweltwüste Salton Sea.[8] Yoga- und Sportgruppen haben Initiationsriten wie die »Hell Week« der Fitnesskette Orangetheory entwickelt – gespickt mit High fives für den sozialen Zusammenhalt[9] – und die von Kerzen erleuchteten Räume von SoulCycle, in denen sich während der Kurse predigtartige Coachingmomente und »beseelte« Augenblicke abspielen.[10] In den Jahren der Coronalockdowns befriedigte Peloton als führendes Unternehmen in der Fitnesswelt das kollektive Bedürfnis, sich zu versammeln und sich im Gleichtakt mit anderen Menschen zu bewegen.[11] Das Heimworkout bot einen virtuellen Raum, in dem sich Menschen jeglicher Konstitution und Gewichtsklasse versammeln und in der Simulation eines schwitzigen Studios atmen konnten. Überall in den Vereinigten Staaten sieht man Menschen, die die aus dem Internet bekannten T-Shirts mit dem Slogan GYM IS MY CHURCH (»das Fitti ist meine Kirche«) tragen.[12]

Rituale bieten den Menschen aber auch sinnvollere Möglichkeiten, um sich aus dem technologischen Optimierungswahn und der von ihm beanspruchten Aufmerksamkeit zu lösen. »Digitaler Sabbat«-Rituale bilden einen heiligen Raum, in dem sich die Praktizierenden mit dem gegenwärtigen Augenblick verbinden können, während »I am here«-Tage einladen, ohne digitale Geräte zusammenzukommen. Der Journalist Anand Giridharadas, der gemeinsam mit seiner Frau, der Autorin Priya Parker, die »I am here«-Tage initiiert hat, beschreibt diese Treffen als besondere Zeiten, in denen man »Freundschaft und Gespräche in einer Weise genießt, wie man sie auf Facebook nicht findet; ganz und gar an einem Ort ist statt überall, aber nirgendwo ganz«.[13] Dasselbe Bedürfnis nach Verbundenheit lässt sich auch bei einer Gruppe Jugendlicher beobachten, die sich jeden Sonntag an derselben Stelle im Brooklyner Prospect Park verabredet. Sie rücken Baumstämme zu einem Kreis zusammen, legen ihre Handys weg, sprechen über analoge Bücher und zeigen sich Skizzenbücher. Es handelt sich um die Mitglieder des Luddite Club. Sie haben Rituale entwickelt, um sich gegenseitig darin zu unterstützen, sich von allen Social-Media-Plattformen loszusagen und ein Prä-iPhone-Leben zu führen – und sei es nur für einige Stunden.[14]

Denken Sie auch an den Aufstieg der Seattle Atheist Church, in der sich Atheist*innen sonntags versammeln, um all das Gute mitzunehmen, das eine konfessionelle Kirche bietet – Gemeinschaft, Einkehr, Gesang –, und bloß den Teil mit Gott auslassen. Nach dem Nichtgottesdienst setzen sich die Mitglieder in eine Runde und reichen einen »Sprechhasen« herum. Wer seine Gefühle und Gedanken teilen möchte, hält ihn in der Hand, während er zur Gruppe spricht. Die offizielle Mission dieser Kirche ist es, mithilfe solcher Rituale die Vorzüge einer religiösen Gemeinschaft zugänglich zu machen – ohne die »kognitive Dissonanz«, die der Glaube an übernatürliche Wesen mit sich bringt.[15]

In all diesen Beispielen sind Rituale lebendig, sie funktionieren und gedeihen. Sie haben bloß Formen angenommen, die traditionellen Vorstellungen von Ritualen widersprechen. Aus diesem Grund werden sie oft als hippiemäßig, als »typisch Millennial«, ichbezogen oder einfach nur seltsam abgetan. Doch das Wort »Ritual« hat eindeutig eine Aura beibehalten, einen Gestus des Heiligen oder Magischen, der von der Wellnessindustrie äußerst erfolgreich monetarisiert wurde. Man kann nun »Ritualexperten« buchen, die Unternehmen beraten,[16] und unzählige Apps und Onlineplattformen für tägliche Meditationen, Dankbarkeitspraktiken, Affirmationen und Bullet-Journaling nutzen, um nur ein paar Auswüchse zu nennen. Was sagen uns diese neuen Bewegungen über die Bedeutung von Ritualen im 21. Jahrhundert?

Die Geschichte eines Ritualskeptikers

Ich bin diesen neuen, säkulären Ritualen gegenüber häufig genauso skeptisch wie den vielen traditionellen, mit denen ich aufgewachsen bin. Anfangs fand ich sie auch gar nicht sonderlich interessant. Obwohl sich Rituale ihre Plätze in der Kultur eroberten, lag mir in meiner Anfangszeit als Verhaltensforscher nichts ferner als der Gedanke, mich mit ihnen zu beschäftigen. Ich mochte es, streng kontrollierte Laborexperimente zu entwickeln, in denen ich Phänomene auf ihren Kern herunterbrechen, wesentliche Variablen isolieren und die Effekte dieser Variablen auf irgendeine Ergebnismessung auswerten konnte. Mein Fokus lag darauf, die exakte Wirkung der Form unseres Geldausgebens (beispielsweise ob wir es für uns selbst oder andere tun) auf unser Glück zu messen,[17] unsere Wahrnehmung von Politikern und Politikerinnen zu evaluieren, indem ich die Art von Informationen variierte, die politische Berater in Umlauf bringen,[18] und zu zeigen, welche spezifischen Gehirnregionen die weitverbreitete Neigung unserer Gedanken zum Abschweifen fördern[19].

Die Herausforderung, Effekte von Ritualen in einem Labor zu messen, schüchterten mich (und viele meiner Kolleg*innen in den Verhaltenswissenschaften) bestenfalls ein. Denn die Praktiken, die mir in den Sinn kamen, wenn ich an »Rituale« dachte, waren höchst detailreich, aufwendig, mit bestimmten Kulturen verbunden und häufig mit jahrhundertealter Bedeutung aufgeladen. Deshalb erschien es mir unmöglich, dasselbe altbewährte methodische Strickmuster anzuwenden wie immer. Wie entfernt man Kultur und Geschichte aus Praktiken dieser Art? Würde dann überhaupt noch irgendetwas übrig bleiben, das man erforschen könnte?

Selbst bei meinen frühesten Untersuchungen der Frage, wie und weshalb Rituale wirken, betrachtete ich mich noch als Ritualskeptiker. Was bedeutet das? Vielleicht ahnen Sie es bereits. Viele von uns kennen Menschen, die ihre Tage – möglicherweise ihr ganzes Leben – durch Rituale strukturieren. Wie Flannery O’Connor beginnen sie beispielsweise ihren Tag stets zur selben Zeit in einer bestimmten Weise und fahren so fort, bis sie ihn, wie Charles Dickens, auf eine andere spezifische Art abschließen. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich stand zu unterschiedlichen Zeiten auf, frühstückte zu unterschiedlichen Zeiten, machte Pausen zu unterschiedlichen Zeiten und ging zu unterschiedlichen Zeiten ins Bett – nichts an dem, wie ich mein Leben führte, war ritualisiert. Dachte ich jedenfalls.

Bis eines Tages etwas in mein Leben trat. Oder, besser gesagt, jemand. Meine Tochter. Nachdem sie geboren worden war, verwandelte ich mich augenblicklich und ohne nachzudenken in einen schamanischen Wahnsinnigen. Dem Zubettgehen – das früher ein paar langweilige, aber funktionale Handlungen wie Zähneputzen und Handyaufladen beinhaltet hatte – ging nun bald ein ungefähr siebzehnstufiges Ritual voraus. Es hatte nur ein Ziel: mein Kind zum Einschlafen zu bringen. Darin gab es Schlüsselfiguren: mich, meine Frau, Piggy, das braune und (besonders wichtig) das graue Häschen. Es gab wichtige Lieder: eins, das meine Frau im Sommerlager gesungen hatte, der Buddy-Holly-Song »Everyday« (meine Tochter nannte ihn »das Achterbahnlied«), James Taylors »Sweet Baby James« (alias »das Cowboylied«). Es gab heilige Texte: Gute Nacht, lieber Mond, Die kleine Raupe Nimmersatt, Oh, the Thinks You Can Think! Es gab essenzielle Handlungen: Wir mussten sie langsam ins Bett tragen, damit sie allen Treppenstufen eine Gute Nacht wünschen und sie fragen konnte, ob sie vor dem Schlafen noch etwas brauchten, und dann so oft leise Pscht machen, bis sie einschlief. (Ich war so überzeugt, dass meine Art und Weise, Pscht zu machen, die beruhigendste auf der ganzen Welt war, dass ich mich dabei aufnahm und das loopte, damit wir immer zehn Minuten davon zur Verfügung hatten.)

Ich glaubte, ich würde diese Schritte Monat für Monat, Abend für Abend durchführen, weil meine Tochter sie brauchte. Wie bei jedem Ritual hielt ich mich strikt an die genaue Reihenfolge der Handlungen und wiederholte sie. Ließe ich irgendetwas aus, würde meine Tochter die ganze Nacht wach bleiben, davon war ich überzeugt. Und wie bei den meisten Ritualen waren meine Handlungen zu einem gewissen Grad willkürlich – warum zwei Häschen, aber nur ein Schwein? Warum nicht Pu der Bär? Warum die Treppenstufen und nicht die Haushaltsgeräte? Wir wussten es nicht. Dennoch wichen wir selten von den einzelnen Schritten ab. Es stand zu viel auf dem Spiel. Das vorherrschende Gefühl war, wenn wir versuchen würden, Varianten einzubauen oder – weil wir unbedingt selbst ins Bett wollten – hier und da etwas auszulassen, könnte das ganze Unternehmen scheitern. Eine Abkürzung oder Variation könnte nicht die notwendige müde machende Geborgenheit vermitteln – und dann müssten wir wieder ganz von vorn anfangen.

Mit der Zeit betrachtete ich dieses abendliche Theater mit einem analytischeren Blick. Was tat ich da? Das Ritual fand nicht nur für meine Tochter statt, sondern auch für mich. Ich hatte diese Reihe strikter, exakter Schritte ausgeführt in dem Glauben, dass sie etwas bewirken könnten und würden. Nachdem wir das Ritual Abend für Abend ausgeführt hatten, glaubten wir allmählich an seine Macht, uns vom Abend in die Nacht zu geleiten und Schlaf heraufzubeschwören. Irgendwie hatte ich mich, ohne mich bewusst dafür zu entscheiden, von einem überzeugten Ritualskeptiker zu einem Ritualgläubigen entwickelt.

Als mir diese Entwicklung bewusst wurde, begann ich mir Gedanken zu machen: Verließen sich die Menschen, an denen ich an einem ganz normalen Tag auf der Straße vorbeilief, ebenfalls auf selbst ausgedachte Rituale? Und funktionierten sie? Falls ja, warum und wie? Verließen sich – jenseits von ritualisierten Gruppenidentitäten und Fitnessgruppen wie Peloton und Orangetheory und ganz abgesehen von Menschen, die den kollektiven Rausch auf dem Burning-Man-Festival suchten – andere erklärte Skeptiker wie ich in ihrem Alltag ebenfalls auf die Macht von Ritualen, ohne dass es uns bewusst war?

Die Anforderungen des Zubettgehrituals meiner Tochter konfrontierten mich mit der überraschenden Möglichkeit, dass fast alles, was ich über Rituale gedacht hatte, bestenfalls von Unkenntnis zeugte und schlimmstenfalls einfach falsch war. Ja, Rituale sind religiöse Traditionen und Zeremonien, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Sie sind aber auch sehr individuelle Verhaltensweisen, die unwillkürlich entstehen können. Ich war der lebende Beweis dafür, dass anscheinend jede Kombination von Handlungen zum Ritual werden kann. Der Antrieb hinter jedem Ritual ist der Bedarf danach – Tradition und ein langer Stammbaum sind kein Muss.

Der frischgebackene Vater in mir hatte sich instinktiv eines Rituals bedient, um den jüngsten Menschen in seinem Leben so zu beruhigen, dass er einschlafen konnte, doch nun verlangte der Wissenschaftler in mir Antworten darüber, was da unter der Haube geschah. Wenn Menschen sich auf der einen Seite spontan eigene Rituale ausdenken können und auf der anderen ihre Erfahrungen und Emotionen durch sie geformt werden: Was genau sind Rituale dann, und wie funktionieren sie? Diese Fragen weckten eine brennende Neugier in mir. Ich war entschlossen, es herauszufinden.

Woher Rituale kommen

Abgesehen von meinen Kindheitserfahrungen mit religiösen Ritualen stammt vieles von dem, was ich über Rituale weiß, aus der anthropologischen Forschung und anderen deskriptiven sozialwissenschaftlichen Bereichen. Die Idee hinter den ethnografischen Methoden der Anthropologie ist, zuerst zu beobachten, was Menschen tun, und dann zu versuchen herauszufinden, warum sie es tun. Ein großer Teil dieser mittlerweile zum Kanon gewordenen Wissenschaft wurde von westlichen Forschenden produziert, die nichtwestliche Kulturen untersuchten, und das meiste konzentrierte sich auf eine bestimmte Art von Ritual: altbewährte Riten, die als Traditionen gelten. Dabei handelt es sich um die strikten gemeinschaftlichen Praktiken, die einem als Erstes in den Sinn kommen, wenn man das Wort Ritual hört. Ich bezeichne sie als überlieferte Rituale.

Von dieser Forschung, auch wenn sie faszinierend war, half mir nichts in irgendeiner Weise, mein Erlebnis mit dem Zubettgehen meiner Tochter zu verstehen. Keine Vorfahren hatten ihr Wissen über Kuscheltiere an mich weitergegeben; in keinem uralten Text wird Buddy Holly erwähnt. Ein Ritual konnte, so begriff ich schließlich, eine individuell gestaltete Erfahrung sein.

Als ich meine stillschweigenden Annahmen über Rituale dahingehend veränderte, dass nicht nur unveränderliche traditionelle Riten dazugehörten, sondern auch spontan von Individuen erschaffene Praktiken, sah ich sie plötzlich überall. Genau wie bei meinem Versuch, die nötige Ruhe zur Schlafenszeit meiner Tochter herzustellen, bedienen sich Einzelpersonen und Gruppen häufig der Requisiten, Ausstattung und Bühnentechnik, die sie spontan zur Hand haben. Manchmal übernehmen sie Aspekte eines überlieferten Rituals, dann wieder denken sie sich ein völlig neues aus, und häufig werden die beiden Techniken auch kombiniert.

Im konventionellen Verständnis von Ritualen geschehen solche Dinge nicht aus dem Nichts heraus. Das Ritual ist das Ritual: Man setzt sich, steht auf und kniet, wenn man gesagt bekommt, man solle sich setzen, aufstehen und knien. Man isst, was einem aufgetischt wird, weil es das ist, was die eigenen Leute immer getan haben und für immer tun werden. In meiner Erfahrung mit meiner Tochter entdeckte ich den Schimmer einer völlig anderen Art und Weise, über Rituale nachzudenken. Menschen haben ihre Rituale schon immer so angepasst, dass sie die Ressourcen und Materialien nahmen, die ihnen im Augenblick zur Verfügung standen. Vielleicht hat das überlieferte Ritual, das über Generationen weitergegeben worden war, nicht für alle funktioniert – wie die Rituale, die ich als Kind in der Kirche praktiziert habe. Oder vielleicht existierte in manchen Fällen, wenn die Menschheit mit einem völlig neuen Problem konfrontiert war – beispielsweise einer Pandemie im 21. Jahrhundert[20] – das, was benötigt wurde, noch nicht.

Diese Herangehensweise an die Ritualforschung – die Idee, dass ein Individuum an irgendeinem Punkt sagen könnte: »Ich mache das jetzt anders« –, versetzte mich geradewegs in die Domäne der Verhaltensökonomie, also der Wissenschaft dessen, wie Individuen Entscheidungen treffen. Ich hatte einen Doktor in Sozialpsychologie und arbeitete als Postdoc im Bereich der Verhaltensökonomie an der Sloan School of Management am MIT. Als ich dort direkt nach der Verteidigung meiner Dissertation anfing, entdeckte ich ein intellektuelles Paradies, eine Welt voller interessanter und großzügiger Menschen, die alle möglichen überraschenden, spitzfindigen Fragen dazu stellten, warum Menschen Entscheidungen treffen. Aus diesem Geist intellektueller Freiheit heraus kam ich erstmals mit einem möglichen Weg in Berührung, wie man die Wirkung von Ritualen messen könnte.

Die vorherrschende Annahme über Rituale war, dass sie untrennbar mit Gruppen und Kultur verbunden waren. Dadurch war es unmöglich, sie mit empirischen Methoden wissenschaftlich zu untersuchen. Man kann nicht willkürlich einige Studienteilnehmenden im Labor einer Kultur zuweisen und andere einer anderen (»Okay, in dieser Gruppe sind nun alle Ghanaer*innen, und in jener Brasilianer*innen«). Näherte ich mich Ritualen jedoch auf der Ebene individueller Entscheidungen, konnte ich auf einmal ihren Nutzen untersuchen, indem ich den Maßstab der Verhaltensökonomie anlegte: »Ist es dumm oder klug?« Wenn das Ziel ist, sich anders zu fühlen, ist das Ritual dann eine dumme oder kluge Verwendung Ihrer Zeit? Was, wenn Sie die Absicht haben, sich stärker mit Ihren Lieben verbunden zu fühlen oder Ehrfurcht und Transzendenz zu erleben? Ergeben Rituale Sinn im Hinblick darauf, was Sie erreichen möchten? Mit diesem einfachen Ansatz – Menschen nach ihren Zielen zu fragen und den Erfolg von Ritualen, ihnen beim Erreichen dieser Ziele zu helfen, zu messen – sah ich nun einen möglichen Weg, eine Spur aus Brosamen, die mich zu einer anderen Methode führte, die Wirkung von Ritualen zu erfassen.

Während ich mich in die Logik der Verhaltensökonomie vertiefte, stieß ich auf einen weiteren wesentlichen Einfluss auf mein Denken. Als ich am MIT begann, bekam ich einen Büroraum im dortigen Media Lab zugeteilt. Dieses Labor war und ist eine legendäre Kreativwerkstatt für Technolog*innen, Künstler*innen, Träumende und Erfinder*innen. Ein Ort, an dem es wichtiger ist, etwas zu machen – sei es etwas Technisches, eine menschliche Erfahrung oder die Entwicklung eines Systems –, als etwas zu studieren oder einen Aufsatz darüber zu schreiben. Der Geist des Labors – ein Ethos des Ausprobierens[21] – hat immer dazu geführt, etwas im realen Raum mit realen Materialien zu kreieren. Zum ersten Mal in meiner akademischen Karriere nahm ich Sozialwissenschaften nicht nur als Bemühen wahr, den Menschen in seiner natürlichen Umgebung zu verstehen, sondern als Prozess, in dem diese Umgebung aktiv gestaltet und verändert wird. Das, so dämmerte mir, könnte eine alternative Betrachtungsweise von Ritualen sein. Im 21. Jahrhundert schaffen Menschen ritualisierte Erfahrungen aus allem, was ihnen in ihrer Umgebung zur Verfügung steht – Johnny Mathis und Dr. Seuss, Äpfel und Shepherd’s Pie zum Beispiel.

Doch erst in meiner aktuellen Position als Professor an der Harvard Business School erwog ich ernsthaft, die Wirkung von Ritualen zu erforschen. Während ich über mögliche neue Konzepte für unsere Erfahrung von Ritualen nachdachte, entdeckte ich das Werk einer zeitgenössischen Soziologin aus Berkeley, Ann Swidler. In ihrem Buch Talk of Love, das achtundachtzig Interviews mit nordkalifornischen Männern und Frauen – verheiratet, Single und geschieden – aus den 1980er-Jahren enthielt, analysierte Swidler, wie Menschen spontan Rituale erschaffen, um Liebe und Verbindlichkeit auszudrücken. Die Quellen dafür sind vielfältig: Religion, New-Age-Ideologien, Texte von Popsongs und Hollywoodfilmbilder.[22]

Diese eher informelle, improvisierte Herangehensweise an Rituale – bei der ihre einzigartige Fähigkeit, unterschiedliche emotionale Zustände zu erzeugen, genutzt wurde – schien mit dem Bastel- und Schaffensgeist des Media Lab übereinzustimmen. Und vor allem entsprach sie meinem Erleben, dass Rituale scheinbar aus dem Nichts auftauchen können. Meine Bemühungen, Rituale zu erschaffen, fühlte sich an wie Bastelei – ich verwendete, was mir zur Hand war (Stofftiere und Treppenstufen). Swidlers bahnbrechende Theorie darüber, wie Menschen die Welt um sich herum nutzen, bescherte mir einen Rahmen, um besser zu verstehen, dass Rituale alte Traditionen genauso wie ganz neue Verhaltensweisen enthalten können. Sie bezeichnete dies als »Kultur in Aktion.«

Kultur in Aktion –
wie Sie Ihr rituelles Repertoire erweitern

Swidlers Analyse zufolge gehören Rituale – selbst die ältesten und traditionellsten – zu der Auswahl an Ressourcen, die jeder Mensch in seinem »kulturellen Werkzeugkasten« hat. Die Menschen schustern Reaktionen und Handlungen aus ihrem kulturellen Repertoire zusammen, wählen aus und verwerfen auf jede erdenkliche Art und Weise. Nehmen Sie beispielsweise das Ritual einer traditionellen Hochzeit mit Smoking, weißem Tüllkleid und klassischem Ehegelübde. Für einige von Swidlers Interviewpartner*innen fühlte es sich richtig an, die Schritte des konventionellen Eherituals durchzuführen. Es rief die für den Augenblick angemessenen Emotionen hervor – Liebe, Verbundenheit, Freude. Andere erlebten eine traditionelle Hochzeit als unangenehm – als unecht, verschwenderisch oder beides. Es hinderte sie eher daran, die ganze Bandbreite ihrer Gefühle zu erleben, die bei diesem Anlass passend wären. Swidlers Argument ist, dass diese unterschiedlichen Reaktionen exakt spiegelten, wie Kultur in Aktion funktioniert. Statt unsere individuellen Handlungsmöglichkeiten zu ignorieren und uns gehorsam dem Kollektiv einer monolithischen »Kultur« zu unterwerfen, bestücken wir unsere kulturellen Werkzeugkoffer dynamisch und taktisch aus dem Inneren heraus: Manchmal üben wir Rituale mit echter Inbrunst aus, dann wieder langweilen sie uns, oder wir vollführen sie zwiegespalten oder gar ironisch distanziert und rebellisch, wie der Musiker Kurt Cobain, der bei seiner Hochzeit an einem hawaiianischen Strand eine gebügelte Schlafanzughose trug.[23]

Das Konzept von Kultur in Aktion eröffnete eine mögliche Vorgehensweise für mich. Anders als bei den Ethnograf*innen und Anthropolog*innen der Vergangenheit galt mein Interesse weniger dem Katalogisieren etablierter Rituale rund um große gemeinschaftliche, häufig religiöse Ereignisse. Ich wollte wissen, wie Menschen Rituale im Alltag verwenden und erleben. Wenn so viele unserer liebevoll gepflegten Rituale persönlich sind – individuell und idiosynkratisch –, was macht ein Ritual dann genau aus? Wie unterscheiden wir ein Ritual von allen anderen Routinen und Aufgaben, die wir im Laufe eines Tages verrichten? Und sind Rituale dumm oder klug? Können sie wirklich unser Leben verbessern?

Mir wurde klar, dass der beste Weg, um zu beantworten, was ein Ritual ist, darin bestand herauszufinden, was es nicht ist: Ein Ritual ist keine Gewohnheit.

Gewohnheit oder Ritual?
Automatisierung versus Animierung

Eine meiner frühesten Erkenntnisse zum Unterschied zwischen Ritual und Gewohnheit gewann ich beim Zahnarzt. In einem Gespräch – ich murmelte meine Antworten, so gut ich konnte, durch seine Finger – über seine Theorie zu Zahnputzgewohnheiten sagte er mir, ein rascher Blick in jemandes Mund genüge ihm, um das Putzmuster einer Person zu erkennen. Viele beginnen mit Schwung, die ersten Zähne haben also weniger Plaque, aber dann geht ihnen die Puste aus, was mehr Plaque an den hinteren Zähnen zur Folge hat. Als ich daraufhin über meine eigenen Putzgewohnheiten nachdachte – gehöre ich zu den Menschen, die vielversprechend anfangen und dann aufgeben? Fange ich links an oder rechts? Vorn oder hinten? –, kamen mir zahlreiche weitere alltägliche Praktiken in den Sinn, vom Anziehen bis zum Abwasch, vom Pendeln bis zur PC-Arbeit. Auch folgende Frage, die ich inzwischen Menschen auf der ganzen Welt gestellt habe: 

FRAGE: Was tun Sie, wenn Sie morgens aufstehen (oder sich abends bettfertig machen)?

A: Zuerst Zähne putzen und dann duschen?

B: Zuerst duschen und dann Zähne putzen?

Ich frage das bei all meinen Vorträgen vor einem größeren Publikum. Von Deutschland über Brasilien bis nach Norwegen, von Singapur über Spanien nach Kanada, von Cambridge, Massachusetts, bis nach Cambridge in Großbritannien und selbst in einem Raum voller Verhaltensökonom*innen (darunter die zwei Nobelpreisträger Daniel Kahneman und Richard Thaler). Und jedes Mal sind die Antworten etwa gleich verteilt auf A und B. Es scheint keinerlei Konsens darüber zu herrschen, welches die »richtige« Reihenfolge dieser Aktivitäten ist. (Ein kleiner Anteil putzt sich die Zähne in der Dusche, aber diese im Minzschaum watenden Individuen sind natürlich zutiefst gestört.)

Dann bitte ich das Publikum, die beiden Aktivitäten im Geiste in umgekehrter Reihenfolge durchzuführen. Als Duschen-dann-Zähneputzen-Person stellen Sie sich vor, mit dem Zähneputzen zu beginnen, als Zähneputzen-dann-Duschen-Mensch beginnen Sie mit der Dusche.

FRAGE: Wie fühlt sich diese Umkehrung an?

A: Hat keinen Unterschied gemacht.

B: Fühlte sich seltsam an, aber ich weiß nicht, warum.

Haben Sie mit (a) geantwortet, dann sind diese Aktivitäten für Sie eher eine Morgenroutine. Sie müssen duschen, und Sie müssen sich die Zähne putzen; die Reihenfolge, in der Sie das tun, ist Ihnen jedoch gleichgültig. Sie tun diese Dinge regelmäßig mit dem ausdrücklichen Ziel, sie zu erledigen. Haben Sie jedoch mit (b) geantwortet, kam Ihnen die umgekehrte Reihenfolge also auch nur ein kleines bisschen falsch vor, selbst wenn Sie dafür keine Erklärung haben, ist die Abfolge dieser Aktivitäten für Sie eher zu einem Ritual geworden. Ihre Morgenroutine ist mehr als eine automatisierte Gewohnheit, für die Sie mit Sauberkeit und Gesundheit belohnt werden. Sie ist ein Ritual, das neben den praktischen Vorteilen emotionale und psychologische Anklänge hat. Für Sie ist nicht nur wichtig, dass Sie diese Aufgaben (Zähneputzen und Duschen) von der To-do-Liste streichen können, sondern auch, wie Sie sie durchführen – in diesem Fall heißt das, in welcher Reihenfolge.

Was also macht ein Ritual zu einem Ritual statt zu einer Gewohnheit?

Das Wesen einer Gewohnheit ist das Was

Eine Gewohnheit ist ein Was. Etwas, was wir tun: die Zähne putzen, das Fitnessstudio besuchen, dunkelgrünes Blattgemüse zu uns nehmen, E-Mails lesen, Rechnungen bezahlen, zu einer vernünftigen Uhrzeit ins Bett gehen (oder auch nicht). Gelingt es uns, eine schlechte durch eine gute Gewohnheit zu ersetzen, möchten wir die gute automatisieren. Mühe-, ja, gedankenlos führen wir Routinen durch, die uns von Punkt A nach Punkt B bringen. Wir vermeiden es, unsere Tiefs an Arbeitstagen durch Schokokekse mit extra viel Schokostückchen zu bekämpfen; wir reduzieren unseren Social-Media-Konsum und treiben stattdessen jeden Morgen als Erstes eine halbe Stunde Sport; wir räumen auf – und das Ergebnis ist, das wir wichtige Ziele erreichen (Gewicht verlieren, uns konzentrieren, Chaos zu Hause vermeiden).

Das Wesen eines Rituals ist das Wie

Ein Ritual ist nicht bloß eine Handlung, sondern die Art und Weise, wie wir sie ausführen – das Wie. Für uns ist nicht nur relevant, dass wir die Handlung begehen, sondern die spezifische Struktur, in der wir das tun. Rituale sind außerdem zutiefst und grundsätzlich emotional. Im Gegensatz zu den meisten Gewohnheiten rufen Rituale Gefühle hervor, gute wie schlechte. Führen Menschen ihr Morgenritual korrekt aus, haben sie das Gefühl, »den Morgen richtig begonnen« zu haben, sie fühlen sich »bereit, den Tag in Angriff zu nehmen.« Werden diese ansonsten unmerklichen Morgenrituale jedoch gestört – ist beispielsweise die Lieblingszahnpasta leer oder das bevorzugte Müsli aus, sodass man sich bei der Partnerin oder dem Partner bedienen muss, oder ist ein Gast als Erstes duschen gegangen und beansprucht das heiße Wasser für sich, fühlen sich Menschen den ganzen Tag »neben der Spur«. Forschungen mittels Gehirnscans von mir und meinen Kolleg*innen haben gezeigt, dass sich unsere Rituale für uns so richtig anfühlen, dass es mit Bestrafung assoziierte Hirnregionen aktiviert, wenn wir Menschen dabei beobachten, wie sie sie anders durchführen als wir.[24]

Indem wir die Unterschiede zwischen Ritual und Gewohnheit herauskitzeln, stellen wir fest, dass es keine festgelegten Verhaltensweisen gibt, die nur zu Ritualen gehören und andere, die ausschließlich Gewohnheiten charakterisieren. Vielmehr geht es um die Emotionen und die Bedeutung, die wir mit dem Verhalten verknüpfen. Zwei Menschen können exakt dasselbe tun, zum Beispiel etwas so Alltägliches wie Kaffee kochen. Für den einen ist das Ziel, so schnell wie möglich eine Dosis Koffein zu bekommen. Das Was. Für die andere dreht sich alles um das Wie. Grober Mahlgrad, nie medium oder fein. French Press. Für den einen ist es eine automatisierte Gewohnheit. Für die andere ein bedeutungsvolles Ritual.

Die Forschung zu Verhaltensänderungen kann helfen, den Unterschied zwischen dem Was einer Gewohnheit und dem Wie eines Rituals zu verstehen. In den 1930ern hat der Psychologe B. F. Skinner, ein selbst ernannter »radikaler Behaviorist«, als Erstes die dreistufige Abfolge von »Stimulus, Reaktion und Belohnung« als wesentlich für ein System beschrieben, das unser Verhalten formt – die sogenannte operante Konditionierung. Wir alle lernen durch positive und negative Verstärkung aus unserer Umwelt.[25] Wenn wir eine befriedigende Belohnung erhalten – sagen wir, wir gehen joggen und werden danach von Endorphinen geflutet –, wird unser Verhalten positiv verstärkt. Wir wiederholen dieses Verhalten dann in der Erwartung, dieselbe Belohnung wieder zu erhalten. Werden wir erneut in Form weiterer Runner’s Highs belohnt, werden wir süchtig danach.

In Die Macht der Gewohnheit identifiziert Charles Duhigg dieses Verlangen als die treibende Kraft hinter der Gewohnheitsschleife.[26] Gute Gewohnheiten sind frustrierend schwer aufrechtzuerhalten, bis wir in diese Schleife geraten. Ab diesem Punkt sind sie automatisiert, laufen also mühelos und ohne Nachdenken ab. Sie können sich Gewohnheiten als bewährte Lösungen für die Herausforderungen und Versuchungen vorstellen, denen wir Tag für Tag begegnen: Textnachrichten stören uns bei der konzentrierten Arbeit, der Geruch nach frischem Croissant verlockt uns, über ein zweites Frühstück nachzudenken, oder ein harter Tag lässt den Sirenengesang eines Bingewatching-Abends vor dem Fernseher unwiderstehlich werden. Stimmen unsere Gewohnheiten mit positiven Ergebnissen wie Fitness, Produktivität und Wohlbefinden überein, können wir diese Botschaften aus unserer Umgebung getrost ignorieren. Wie ein gut programmierter Algorithmus – wenn dies, dann jenes – lässt unser Gehirn uns die vertraute Handlung ausführen. Brummt das Smartphone während der Arbeitszeit, stellen wir es lautlos. Macht uns der aus der Bäckerei wehende Croissantduft hungrig, wechseln wir rasch die Straßenseite und entfernen uns so von dem Geruch, der uns das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Solche Gewohnheiten sind enorm hilfreich. Im Bereich der Verhaltensökonomie prägen die Interventionen, die heute unter dem Begriff »Nudges« bekannt sind, unser Handeln auf ähnliche Weise. Nudges stärken gute Gewohnheiten, indem sie »Entscheidungsumgebungen« schaffen, die sicherstellen sollen, dass unser Tun zu unseren langfristigen Zielen passt – automatische Überweisungen auf das Sparkonto beispielsweise oder kleinere Teller und Schüsseln, um die Menge, die wir zu uns nehmen, zu reduzieren.[27]

Wir profitieren sehr von dieser mühsam errungenen Automatisierung. Wir haben keine Zeit, uns über jede Entscheidung den Kopf zu zerbrechen, der wir im Alltag begegnen. Ich denke jedoch immer häufiger darüber nach, was dabei verloren gehen könnte. Ist eine algorithmische Reaktion im Sinne eines »wenn dies, dann jenes« der beste Weg, um Glück oder Liebe zu finden? Ist es immer ein Fehler, wenn es einem nicht gelingt, die guten Gewohnheiten durchzuhalten, oder ist das Erlebnis, ein dekadentes Dessert zu genießen, schlicht eine andere Form des Erfolgs? So sinnvoll Gewohnheiten zur Optimierung bestimmter Aspekte unseres Lebens sind, haben sie inhärente Grenzen, die uns fest im mechanistischen Reich der Reize, Routinen und Belohnungen verankern. Wie Tom Ellison es auf McSweeney’s in seiner Wellnesssatire formuliert: »Ich habe meine Gesundheit derart optimiert, dass mein Leben so lang und unangenehm wie möglich ist.«[28] Unsere Fixierung auf optimale Effizienz hält uns davon ab zu sehen, wie die idiosynkratischen Verhaltensweisen, die so viele Rituale kennzeichnen, ein wichtiger Bestandteil dessen sein können, was das Leben lebenswert macht. Es gleicht dem Wechsel von Schwarz-Weiß zu Technicolor. Gute Gewohnheiten automatisieren unsere Abläufe, helfen uns, Dinge zu erledigen. Rituale beseelen uns, bereichern und verzaubern unser Leben durch ein gewisses Extra.

Rituale als Emotionserzeuger

Die emotionale Natur von Ritualen verleiht ihnen eine beseelende Macht. Laut den Psychologen Ethan Kross und Aaron Weidman sind Emotionen Werkzeuge, die wir für gewisse Bedürfnisse und Aufgaben nutzen: Sind wir traurig, schauen wir vielleicht eine alte Folge unserer Lieblingssitcom, um wieder froh zu werden.[29] Fühlen wir uns einsam, holen wir uns vielleicht eine Umarmung, um Verbindung zu erzeugen. Doch unsere Möglichkeiten, Emotionen als Mittel zum Zweck zu nutzen, sind begrenzt: Wir können sie nicht immer nach Belieben heraufbeschwören. Sind wir traurig oder deprimiert, können wir uns nicht einfach befehlen, froh zu sein. Sind wir gestresst, funktioniert es selten, wenn wir uns ermahnen, uns zu beruhigen. Oft müssen wir aktiv werden, etwas tun (uns einen Film ansehen, einen Spaziergang machen oder unsere Lieblingsmusik auflegen), um zu verändern oder verstärken, was wir empfinden. An diesem Punkt kommen Rituale ins Spiel. Sie können sie sich als »Emotionserzeuger« vorstellen. Verbinden wir einmal eine spezifische Abfolge von Handlungen mit einem bestimmten emotionalen Zustand, können wir nun auf diese Handlungsabfolge, dieses Ritual, zurückgreifen, um die jeweilige Emotion hervorzurufen – vergleichbar einem Katalysator in der Küche wie etwa einem Starter für Sauerteigbrot.

Ein Tag voller guter Gewohnheiten kann uns ein Gefühl von Produktivität und Stolz geben. Gewohnheiten sind jedoch reduziert in ihren Möglichkeiten, die ganze Palette von Emotionen auszulösen. Diese Palette ist wichtig – wichtiger, als ich früher gedacht hätte. In von meiner Kollegin Jordi Quoidbach geleiteten Studien konnten wir zeigen, dass die Bandbreite unserer emotionalen Erfahrungen – unsere Emodiversität – mit messbaren Vorteilen für unser Wohlbefinden assoziiert ist. Emodiversität ähnelt der Biodiversität dahingehend, dass die Gesundheit eines physischen Ökosystems von der relativen Vielfalt und dem Variantenreichtum der in ihm enthaltenen Arten abhängt. Ein Ökosystem beispielsweise, in dem es zu viele Jäger und zu wenig Beute gibt, ist nicht zukunftsfähig, weil es sein Gleichgewicht nicht dynamisch gestalten kann.[30]

Stellen Sie sich vor, ich würde Sie bitten, alle Gefühle aufzulisten, die Sie an einem Tag durchleben, positive (zum Beispiel Freude oder Stolz) genau wie negative (wie Ärger oder Ekel), und mir außerdem mitzuteilen, wie glücklich Sie insgesamt an diesem Tag waren. Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass die Vielfalt unserer Emotionen – Zufriedenheit, Heiterkeit, Euphorie, Ehrfurcht und Dankbarkeit, aber auch Traurigkeit, Angst und Nervosität – zu einem reicheren Gefühlsleben führt und mit unserem Gesamtwohlbefinden verknüpft ist. Es erscheint logisch, dass drei Momente der Freude an einem Tag besser sind als zwei Momente der Freude und einer der Nervosität. Und es stimmt, dass positive Emotionen wie Freude und Zufriedenheit Indikatoren eines guten Lebens sind. Eine Reihe von Studien mit über siebenunddreißigtausend Teilnehmenden hat uns jedoch zu weniger offensichtlichen Ergebnissen geführt. Auf der Basis derselben Forschungsmethoden, die zur Erfassung der Biodiversität von Ökosystemen genutzt werden, haben wir gezeigt, dass der Variantenreichtum und die relative Vielfalt von Emotionen, die wir erleben – nicht bloß das Vorherrschen positiver Emotionen –, Indikatoren für unser Wohlbefinden sind.

Unsere Ergebnisse zu den Vorteilen eines breiten emotionalen Spektrums stehen in starkem Widerspruch zu zahlreichen Annahmen der Gegenwartskultur über die Rolle, die Gewohnheiten in der Organisation unseres Lebens spielen. Ja, wir können Gewohnheiten nutzen, um unseren gesetzten Zielen näher zu kommen – mehr Muskeln, kein spätabendliches Bingewatching mehr, weniger Plaque –, aber sie sind nicht unbedingt hilfreich, um verschiedene Gefühle zu kanalisieren. Unsere Forschung zum Thema Emodiversität zeigt, dass wir den vielen unterschiedlichen Aspekten – der Bandbreite – unseres emotionalen Repertoires möglicherweise nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Eine Analogie zur Malerei soll das verdeutlichen: Sie können großartige Kunst schaffen, indem Sie ausschließlich Primärfarben verwenden (Rot, Blau, Gelb) – Picasso beispielsweise hat bekanntlich viel mit Blau gearbeitet.[31] Menschen können jedoch darüber hinaus unzählige andere subtile Schattierungen auf dem gesamten Farbspektrum wahrnehmen. Gewohnheiten sind die Rot-, Gelb- und Blautöne; Rituale dagegen bescheren uns das kräftige Rotorange des Mohnrots oder das tiefdunkle Vanta-Schwarz, das nahezu 100 Prozent des sichtbaren Lichts absorbiert.[32]

Unter Emotionsforschenden hat sich nach und nach die Erkenntnis durchgesetzt, dass unsere emotionale Bandbreite mehr umfasst als die sieben grundlegenden Emotionen – Ärger, Überraschung, Ekel, Freude, Angst, Traurigkeit und, die neueste Entdeckung, Verachtung –, die Paul Ekman, ein führender Experte auf dem Feld, in den 1960er-Jahren identifiziert hat.[33] Es herrscht jedoch keine Einigkeit über eine Gesamtzahl. Heute gehen manche Forschenden von siebenundzwanzig oder achtundzwanzig Emotionen aus. Andere kommen auf ganze hundertfünfzig.[34]

Ob sie eine Einladung dazu sind, sich einmal richtig auszuweinen, eine Gelegenheit, seinen Ärger umzulenken, oder Ehrfurcht und Staunen zu erzeugen – ich betrachte Rituale als eines der wirksamsten Mittel der Menschheit, die größtmögliche Vielfalt unseres emotionalen Repertoires hervorzurufen. Rituale bieten die Möglichkeit gewöhnliche Aktivitäten wie die morgendliche Körperpflege, Hausarbeiten oder das tägliche Sportprogramm von einer automatisierten in eine beseelte Erfahrung zu verwandeln und Gefühle wie Freude, Staunen oder Frieden zu erleben.

Doch wäre es möglich, die Werkzeuge der Verhaltenswissenschaft zu nutzen, um herauszufinden, wie Rituale in unserem Alltag wirken? Im Kontext der Verhaltensökonomie und inspiriert vom Schaffensgeist des Media Lab beschloss ich, dass es an der Zeit sei, die Sache anzugehen. Ich entwickelte Methoden, um die Rolle von Ritualen überall in der Welt zu ermitteln und ihre Effekte zu dokumentieren – im Labor und außerhalb.

Der erste Schritt bestand darin zu überlegen, wie die Wirkung von Ritualen, der Einfluss eines Rituals auf unsere subjektive Lebenserfahrung, zu...

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