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Mythos Nationalgericht. Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche

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Warum Parmesan politisch ist – das Skandalbuch aus Italien

Weltweit gilt die italienische Küche als Inbegriff von Genuss und kulinarischer Perfektion. Und nichts ist in Italien so heilig wie die prodotti tipici, die regionalen Spezialitäten, die anerkannte Siegel wie DOC oder DOP tragen. Exportschlager wie Parmigiano Reggiano, Prosciutto di San Daniele oder Dolcetto d'Alba werden als nationales Kulturgut gehandelt.

Kaum ein anderes Buch erhitzte die italienischen Gemüter daher so sehr wie die Erkenntnisse des in Parma lehrenden Wirtschaftshistorikers Alberto Grandi: Die viel gehypte Authentizität italienischer Produkte sei vor allem auf geschickte Marketingstrategien der Lebensmitteindustrie in den Siebzigerjahren zurückzuführen, deren angeblich uralte Herkunft schlicht erfunden. Parmesan, wie er früher einmal war, bekommt man mittlerweile nur noch in Wisconsin.

Alberto Grandi brachte damit das nationale Selbstverständnis seines Landes ins Wanken, die Empörung reichte bis in die Regierungskreise und über die Landesgrenzen hinaus. Warum Nationalismus manchmal auch auf dem Teller beginnt. Mit Wissen und Humor zerlegt Grandi ihn genüsslich.


  • Erscheinungstag: 21.05.2024
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906963
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Sofia

Einführung

Eine Tradition wird erfunden

Wo ist eigentlich die italienische Küche entstanden? »Natürlich in Italien!«, würden junge Leserinnen und Leser antworten. Nein, Kinder, da täuscht ihr euch … Erstens war Italien bis vor nicht allzu langer Zeit gar kein Staat, sondern nur eine geografische Bezeichnung. Zweitens haben zwar die Bewohner des Landes, das wir heute Italien nennen, ganz bestimmt schon lange vor dem 17. März 1861 irgendetwas gegessen – doch das, was viele heute mit aller gebotenen Vorsicht als »italienische Küche« bezeichnen, ist unbestreitbar erst ein Jahrhundert nach der schicksalhaften Gründung des italienischen Nationalstaats entstanden.

Nun kann man einwenden, dass es sich bei der italienischen Küche doch immerhin um ein soziales, kulturelles und vielleicht auch ökonomisches Phänomen handelt, das sich innerhalb Italiens entwickelte, selbst wenn es erst etwa hundert Jahre nach der politischen Einigung in Erscheinung trat. »Italien ist gemacht; was zu machen bleibt, sind die Italiener«, hatte 1861 der bekannte Dichter Massimo d’Azeglio vorausgesehen. Es galt allein schon als schwieriges Unterfangen, allen die gleiche Sprache beizubringen und alle den gleichen Gesetzen zu unterstellen; da konnte man sich leicht ausmalen, wie schwierig es erst würde, sie von den gleichen Speisen zu überzeugen, selbst in den jeweiligen regionalen Varianten. Aber dazu ist es nicht gekommen, vielmehr ist das Gegenteil eingetreten: Während die Italiener widerstrebend und ganz allmählich lernten, eine gemeinsame Sprache zu sprechen (über die Gesetze breiten wir besser den Mantel des Schweigens …), haben sie sich beim Essen nach und nach immer weiter voneinander entfernt.

Sehr lange Zeit teilten sie sich nämlich in terroni (»Erdfresser«, eine abschätzige Bezeichnung für die Menschen Süditaliens) und polentoni (»Maisfresser«, die Norditaliener) auf. Arme Bauern allesamt, waren die polentoni, um notdürftig satt zu werden, stärker auf den Mais angewiesen, mit allen daraus folgenden Problemen. Will man also eine Geschichte der italienischen Regionalküche schreiben, ist man bedauerlicherweise gezwungen einzuräumen, dass zumindest vom Beginn des 18. bis zu den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nur zwei Küchen existierten: die mit Mais als Grundnahrungsmittel und die ohne Mais – so wie Clint Eastwood laut Sergio Leone nur zwei Gesichtsausdrücke besitzt: einen mit Hut und einen ohne.

Knapp zusammengefasst lautet also die These dieses Buchs: Der Mythos der italienischen Küche ist in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts entstanden und damit vor rund fünfzig Jahren. Als das seit Mitte der Fünfzigerjahre rasante wirtschaftliche Wachstum nach und nach stagnierte, begann Italien die Großindustrie als Entwicklungsmodell infrage zu stellen und schlug, verglichen mit anderen Industriestaaten, einen ganz eigenen Weg ein. Er bestand darin, kleine Firmen und Industriedistrikte (heute oft als Cluster bezeichnet) sowie das »Made in Italy« und damit auch die angeblichen Spitzenleistungen im Bereich der Gastronomie und des Weinbaus als zentrale Wachstumsfaktoren aufzuwerten – und verzichtete umgekehrt auf eine Industriepolitik, die auf Forschung und Investitionen, auf Prozessoptimierung, neue Energiequellen und Ähnliches setzte.

Was insbesondere die regionalen Spezialitäten betrifft, herrscht in Italien mehr als in anderen Ländern der absurde Anspruch, Traditionen per Dekret zu kodifizieren, ohne zu hinterfragen, ob der verbissene Versuch der Zertifizierung für die jeweiligen Gebiete überhaupt Vorteile hat. Label wie DOC, DOCG, DOP, IGP, IGT und PAT STG sind die neuen Wappen, mit denen man ihnen eine regionale Identität verpassen will.

Vor einiger Zeit hat sich die Senatorin auf Lebenszeit Elena Cattaneo, eine Pharmakologin und Biologin von Weltruhm, in einem Interview darüber beklagt, dass Italien nicht mehr an die Wissenschaft glaube. So wie ich es sehe, glaubt Italien schon längst nicht mehr an die Zukunft – aus diesem Grund arbeiten die Italiener unermüdlich daran, sich eine Vergangenheit der Pracht und Opulenz zu erfinden, die sich ganz entscheidend von der echten unterscheidet, in der sie – das sollte man nie vergessen – schlicht und einfach Hunger litten. Von wegen gastronomische und önologische Kompetenz! Hier sind wir bei einem Dreh- und Angelpunkt meines Buches: Ich möchte zeigen, dass man Traditionen erfinden und die Vergangenheit im Dienste der Gegenwart manipulieren kann. Es handelt sich hierbei nicht um einen neuen Gedanken, das sei klar gesagt: Der große englische Historiker Eric Hobsbawm hat schon vor mehr als dreißig Jahren, gemeinsam mit anderen Autoren, ein Buch mit dem Titel The Invention of Tradition (Erfundene Tradition) verfasst. Der Sammelband enthält eine ganze Reihe von Beispielen erfundener Traditionen, darunter die wahrscheinlich berühmteste, den schottischen Kilt, der sich definitiv erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierte, was Mel Gibson und seinen mittelalterlichen Helden Braveheart nicht anfocht.

Im Einführungskapitel seines Buchs liefert Hobsbawm Erklärungen dafür, warum und wie sich eine Gesellschaft zu bestimmten Zeitpunkten Traditionen erfindet. Wie, werde ich später erklären, doch zum Warum scheint mir folgendes Zitat sehr aussagekräftig: »Es ist davon auszugehen, dass dieses Phänomen besonders häufig dann auftritt, wenn eine rasche Transformation der Gesellschaft die sozialen Muster schwächt oder zerstört, für die die ›alten‹ Traditionen geschaffen wurden, und neue Muster entstehen, auf die diese Traditionen nicht mehr anwendbar sind.« Meiner Ansicht nach riss der tiefgreifende Wandel, dem die italienische Gesellschaft von Mitte der 1950er- bis Mitte der 1960er-Jahre unterworfen war, die alten sozialen Modelle und Identitäten mit sich fort. Und ich bin überzeugt, dass eine so umfassende Veränderung in so kurzer Zeit bei der Bevölkerung zu einem schmerzhaften und traumatischen Verlust von Identität und kulturellen Orientierungspunkten führte. Der Übergang von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft, der in anderen Ländern ein Jahrhundert und länger dauerte, vollzog sich in Italien innerhalb von nur zwei Jahrzehnten.

Zum Leidwesen Italiens fiel diese zum Teil chaotische Umwälzung mit einer der weltweit größten Wirtschaftskrisen seit Beginn der industriellen Revolution zusammen. Im Lauf der 1970er-Jahre kamen den westlichen Gesellschaften und Ökonomien all die Sicherheiten und das Vertrauen in den Fortschritt abhanden, von denen sie sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs hatten leiten lassen. Als Erstes brach die Gewissheit eines unendlichen ökonomischen Wachstums in sich zusammen, was das Land in einen veritablen Schockzustand versetzte. Denn der Identitätsverlust der vorausgehenden zwanzig Jahre war nur deshalb halbwegs zu verdauen gewesen, weil damit ein außerordentlicher Zuwachs an Wohlstand und Konsum einhergegangen war. Mit der Stagnation spürte man plötzlich all die ungelösten Probleme und Widersprüche, die man unter Verweis auf Fortschritt und Entwicklung ignoriert hatte, nur allzu deutlich. Der Zukunft, die bis dahin Faszination und Begeisterung hervorgerufen hatte, sah man nun etwas ängstlich entgegen. Von da nahm die Erfindung der Vergangenheit und Tradition ihren Ausgang, als Zufluchtsort und Rettungsanker in einer Welt, die zu kompetitiv und feindlich geworden war, um ihr mit Offenheit zu begegnen. Mochte der Wettbewerb im Bereich Innovation viel zu hart geworden sein, mit seiner Geschichte war Italien nur schwer zu toppen. Und ein Bestandteil dieser wiederbelebten Geschichte war die gute Küche, auch wenn die italienische Bevölkerung über Jahrhunderte hinweg aus Mangelernährten und Hungernden bestanden hatte.

Bei manchen mag nun der Eindruck entstehen, ich würde ein wenig übertreiben. Weder litten alle Italiener Hunger noch waren sie alle Bauern – ein großer Teil sicher, aber nicht alle. Viele lebten in Städten, wo es, wie wir sehen werden, ganz anders zuging.

Kann man außerdem etwa die berühmten Kochbücher von Cristoforo di Messisbugo, Bartolomeo Scappi und Bartolomeo Stefani völlig ignorieren? Oder gar die bahnbrechenden Neuerungen eines Pellegrino Artusi? Keineswegs, auf Artusi komme ich noch zu sprechen, doch wenden wir uns kurz den drei Erstgenannten zu, große Köche an den Adelshöfen der Renaissance, die mit ihren raffinierten und durchkomponierten Gerichten Päpste und Kaiser in Erstaunen versetzten. Aber genau das ist der springende Punkt: Es handelte sich um Speisen für Päpste und Kaiser, von deren Existenz der allergrößte Teil der Bevölkerung Italiens nicht einmal etwas ahnte, obwohl diese Küche, die man als geradezu theatralisch bezeichnen könnte, auch öffentlich zur Schau gestellt wurde. So geschehen im Jahr 1487 in Bologna anlässlich der Hochzeit von Annibale Bentivoglio und Lucrezia d’Este: Die einzelnen Gänge des Banketts wurden, bevor man sie den hochwohlgeborenen Gästen servierte, über den Stadtplatz getragen, damit auch das Volk die ganze Pracht zu Gesicht bekam.

Unter den Schaulustigen in Bologna, die der Parade der prunkvollen Gerichte bewohnten, befand sich wahrscheinlich auch irgendein Nachkomme der berühmten Figur Bertoldo, von dessen Heldentaten der Bologneser Giulio Cesare Croce zu Beginn des 17. Jahrhunderts berichtet. Der schlaue Rüpel starb bekanntermaßen »unter starken Schmerzen«, weil er am Hof des Langobardenkönigs Alboin keine »Rüben und Bohnen« zu essen bekam. Croce lässt keinen Zweifel daran, dass die verfeinerte Küche eine fatale Wirkung auf alle hat, die sich normalerweise ganz anders ernähren: »Wer Rüben gewohnt ist, soll keine Pasteten essen.«

Was also hat die sogenannte italienische Küche, wie sie heute in aller Welt berühmt ist, mit den Pasteten von Messisbugo, Scappi und Kollegen zu tun? Wirft man einen Blick in deren Rezeptsammlungen, kann die Antwort eigentlich nur lauten: Nichts! Mit aller Zurückhaltung ließe sich noch eher ein Bezug zu der von Gastroführern und Kritik gefeierten Hochküche herstellen, bei der die Idee, die Präsentation und manchmal auch die Provokation wichtiger sind als die Funktion.

Woher kommt dann plötzlich der Ruhm all der köstlichen Nudeln und Saucen, der Scaloppine, Wurst- und Käsesorten, der Torten, Tortelli und Tortellini, der alten Weine und Öle? Und vor allem, woher stammen die 790 Rezepte, die Pellegrino Artusi dank unermüdlicher Recherchen und Experimentierfreude in seinem noch heute weltberühmten Kochbuch La scienza in cucina e l’arte di mangiar bene (Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens, letzte Fassung 1911) veröffentlichte? Damit sind wir zugleich an einem Ausgangs- wie an einem Endpunkt angelangt. Ich möchte nicht gleich alles verraten, aber die Phase, in der Artusi seine Rezepte sammelte, in etwa die zwanzig Jahre des Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert, waren in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht keine unbedeutende Epoche der italienischen Geschichte. Der entscheidende, in sozioökonomischer Hinsicht durchaus brisante Einschnitt der Ära Giolitti (1892 bis 1921, als Giovanni Giolitti mehrfach Premierminister war) war wohl weniger der Beginn des industriellen Aufbruchs im Dreieck Mailand-Turin-Genua, der nur einen kleinen Teil des Staatsgebiets tangierte, sondern vielmehr der Exodus von fünfzehn Millionen Italienern in alle Welt.

In dieser Epoche änderten sich die Essgewohnheiten der Bevölkerung allmählich, und auf den Tischen landeten Nahrungsmittel, die den meisten bis dahin unbekannt gewesen waren. Vor allem diese Zeit war die Keimzelle der »italienischen Hausmannskost«, die Pellegrino Artusi in seinen immer wieder überarbeiteten Rezepten und seiner umfangreichen Korrespondenz mit Hunderten italienischen Hausfrauen dokumentierte. Dies war die Quelle, die man Jahrzehnte später anzapfte, um den Mythos der italienischen Küche und die mythischen Narrative zu vielen regionalen Spezialitäten zu schaffen.

Mit diesem Buch möchte ich die Geschichten solcher Spezialitäten rekonstruieren, die heute wichtiger Bestandteil der Agrar- und Lebensmittelindustrie meines Landes sind. Sie werden fast immer als Produkte alter (teils antiker) Traditionen dargestellt, die seit Jahrhunderten in der Geschichte, Kultur und Tradition bestimmter Orte fest verwurzelt seien. Die regionalen Spezialitäten Italiens, so lautet meine These, sind aber zum großen Teil das Resultat relativ kurz zurückliegender Veränderungen und wurden im Großen und Ganzen zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren erfunden.

Ungeachtet dessen soll diese Tatsache, der in einigen Fällen mit oberflächlichen Argumenten (und Aggressivität) widersprochen wird, die Qualität der Produkte gar nicht abwerten, und sie stellt auch ihren Erfolg auf dem italienischen und internationalen Markt nicht infrage, sondern würdigt vielmehr die Auswahlprozesse und das Marketing, auf deren Grundlage solche Erfolge überhaupt möglich wurden. Und ich möchte hinzufügen, dass die wahren Feinde dieser Spezialitäten jene sind, die einerseits deren Exzellenz loben und andererseits Freihandelsabkommen wie CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement, zwischen EU und Kanada) und TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership, zwischen EU und USA) bekämpfen. Denn wenn Italien über so herausragende Produkte verfügt, warum sollte es dann den freien Markt fürchten? Meines Erachtens steckt hinter dieser Angst vor der Konkurrenz und der Betonung der italienischen Herkunft eine grundlegende Heuchelei. Die Konsumentinnen und Konsumenten sollte doch weniger die Herkunft eines Nahrungsmittels interessieren als vielmehr seine Sicherheit und Qualität. In fortschrittlichen Ländern kümmern sich die Gesundheitsbehörden um Lebensmittel, in Italien das Agrarministerium – was die protektionistische Absicht hinter der Rhetorik von der überragenden Qualität italienischer Produkte nur allzu deutlich macht.

Eine bestimmte Käuferschicht begnügt sich heute nicht mehr damit, ein gutes Nahrungsmittel zu konsumieren, sondern erwartet davon eine umfassendere Erfahrung, die sowohl den Gaumen als auch den Geist anspricht – diesen Anspruch erfüllen die regionalen Spezialitäten, weswegen man, will man ihre Geschichte schreiben, unausweichlich die Geschichte und den Mythos der italienischen Küche insgesamt mitreflektieren muss.

Geht man davon aus, dass »die italienische Küche« existiert, wäre sie das ökonomische und kulturelle Produkt eines zu großen Teilen künstlichen Prozesses seit Ende des Zweiten Weltkriegs, auch wenn er wie gesagt bereits am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert, in der Regierungszeit Giovanni Giolittis, seinen Anfang nahm. Ich habe bereits angedeutet, dass in dieser Entwicklung auch die Millionen Menschen eine Rolle spielten, die in der Hoffnung auf Glück, aber mehr noch auf Brot, von Italien ins Ausland strömten. Ich werde zu zeigen versuchen, dass grundlegende Charakteristika diverser italienischer Regionalküchen in Amerika und nicht in Italien entstanden sind.

Genauer gesagt war die italienische Küche in Amerika anfangs die Küche der Ausgegrenzten und (warum drum herumreden?) der Delinquenten, die in den Zielländern nicht unbedingt auf Wohlwollen stießen. In den Vereinigten Staaten begegnete man dem, was die Italiener aßen, bis zum Ersten Weltkrieg sogar mit großer Skepsis. Amerikanische Ärzte betrachteten Olivenöl, Nudeln und Pizza lange Zeit als schwer verdaulich und somit für eine gesunde Ernährung absolut nicht zu empfehlen. Selbstverständlich resultierte dieses Vorurteil über das Essen aus den Urteilen über diejenigen, die es zu sich nahmen. Und somit ist es kein Wunder, dass sich die amerikanische Meinung über die italienische Küche und italienische Restaurants just im Ersten Weltkrieg änderte, als Italien, das Land der Habenichtse und Diebe, sich als heroischer Bündnispartner entpuppte.

In diesen Kontext, in dem das zugehörige Narrativ zum untrennbaren Bestandteil von Nahrungsmitteln wird, gehört beispielhaft eine weitere erstaunliche Erfindung: die sogenannte mediterrane Ernährung oder Mittelmeerdiät, die, wie es der Zufall will, auf dem Mist des amerikanischen Physiologen Ancel Keys gewachsen ist. Der Erfinder der berühmten K-ration, der Tagesration US-amerikanischer Soldaten im Zweiten Weltkrieg, machte in den 1950er-Jahren eine weitere sensationelle Entdeckung: Unterernährte haben keine Cholesterinprobleme … Schon gut, ein billiger Witz, aber abgesehen davon bleibt festzuhalten, dass die Erfindung der »Mittelmeerdiät« und ihre geschickte Vermarktung (ebenfalls bereits durch besagten Keys) in der ganzen Welt die Vorstellung von einem gesunden, schönen, alle Sinne befriedigenden Leben verbreitete, die sich zu einem Qualitätssiegel für praktisch alles entwickelte, was sich irgendwie unter dem Label »Made in Italy« zusammenfassen ließ.

Somit wären wir bei den regionalen Spezialitäten, die das Erbe all dieser Geschichten in sich tragen und ausstrahlen. Doch damit sprechen wir von den 1970er-Jahren, dem Ende der Expansion der Großindustrie, und von einer italienischen Gesellschaft, die, wie Pier Paolo Pasolini sofort auffiel, ihre kulturellen Wurzeln zum großen Teil verloren hatte. Sie hatte sie eingetauscht gegen einen Wohlstand, der zwanzig Jahre früher undenkbar gewesen war. Unter diesen Umständen waren es die kulinarischen Spezialitäten, die den Regionen ein wenig von ihrer Identität zurückgaben und zugleich die Vorteile jenes Klischees von gesunder Rückständigkeit und unerschütterlichen traditionellen Werten nutzbar machten, die Italien als etwas Bukolisches, eine Art Arkadien erscheinen ließen.

Aus diesem Grund lautet die zweite Grundthese des Buches, dass das Typische weniger von der Region her gedacht werden muss, aus der ein Lebensmittel stammt, als vielmehr von der Zielgruppe, die es konsumiert. Es ist nun einmal leichter, Herstellungstraditionen zu erfinden, als Konsumgewohnheiten vom grünen Tisch aus zu konstruieren.

Wie flüchtig man auch auf die aktuelle italienische Verlagsproduktion blickt und egal zu welcher Tageszeit man sich durch beliebige Fernsehprogramme zappt: Unweigerlich wird man auf Bücher und Sendungen stoßen, die sich der Küche, der Kulinarik, lokalen Spezialitäten und Ähnlichem widmen. Auch Werke mit einem gewissen Anspruch – beispielsweise das vor einigen Jahren erschienene Felicità d’Italia von Piero Bevilacqua – widmen gastronomischen Themen definitiv eine große Aufmerksamkeit. Selbstverständlich überwiegt die sozusagen hagiografische Berichterstattung über die italienische Küche, mit einer starken Neigung, ihre antiken Wurzeln zu betonen (Bevilacqua beginnt sogar noch vor den Römern, und wenn man ihn nicht gebremst hätte, hätte er sicher auch Ötzi noch erwähnt, den ersten Sternekoch Italiens, denn schließlich hatte der kurz vor seinem Tod noch Hirsch und Steinbock zubereitet und gegessen).

Dieses Buch versucht an eine Geschichte anzuknüpfen, die allzu häufig nicht mit der Absicht erzählt wird, »die Vergangenheit in Abhängigkeit von der Gegenwart und die Gegenwart in Abhängigkeit von der Vergangenheit zu analysieren«, wie es der berühmte Historiker Marc Bloch formulierte, sondern aus der Notwendigkeit heraus, die Vergangenheit für die Gegenwart »nutzbar« zu machen. Ich möchte eine entzaubernde, teilweise entweihende, aber nichtsdestoweniger notwendige Sichtweise einführen. In der Tat sind bereits ein paar Risse entstanden, haben sich bei Forschenden und Gelehrten leichte Zweifel an einer Erzählung und Selbstglorifizierung eingeschlichen, die all jene misstrauisch machen muss, die von Berufs wegen die Auswertung und Kritik von Quellen zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Arbeit machen sollten.

Die Macht des (Regional-)Typischen

In Lebensmittelgeschäften oder Supermärkten werden wir zur Beeinflussung unserer Kaufentscheidung häufig mit Angeboten und Bildern bombardiert. Zuerst überlegen wir, ob wir ein Markenprodukt oder eine regionale Spezialität kaufen wollen, wobei ich unter Markenprodukt ein industriell hergestelltes Erzeugnis verstehe, das zugleich auch eine regionale Spezialität sein kann. Wenn diese erste Entscheidung getroffen ist und man sich in Italien beispielsweise in einem Geschäft wie einer Salumeria befindet, wo man persönlich bedient wird, bekommt man unweigerlich etwas Besonderes angeboten. Um es zu präzisieren: Will man Salami oder Käse kaufen, wird die Person hinter der Theke pflichtbewusst sämtliche Spezialitäten aufzählen: »Schinken aus Carpegna«, »Salami aus Felino«, »Pecorino aus Pienza« und so weiter … das jeweilige Herkunftsattribut ist unverzichtbar. Natürlich bekommen wir diese Spezialitäten auch im Supermarkt, auch wenn sie dort von niemandem angepriesen, sondern im Regal präsentiert werden: Auf den Etiketten befinden sich die entsprechenden Label wie DOP, IGP, DOC etc., die uns lenken sollen, indem sie uns die Sicherheit vermitteln, dass es sich dabei um ein besonderes, mit handwerklicher Sorgfalt hergestelltes Lebensmittel handelt. Letztendlich hängt unser Einkauf von vielerlei Faktoren ab, unserer ökonomischen Situation, der verfügbaren Zeit, der Überzeugungskraft eines Verkäufers oder Etiketts. Für den Erwerb einer regionalen Spezialität gibt es aber offenbar noch eine andere Logik, die ich auf den folgenden Seiten zu analysieren versuche.

Dinge zu kaufen heißt Entscheidungen zu treffen, denn in unserer heutigen Gesellschaft ist es für die Konsumierenden praktisch unmöglich, keine Wahl zu haben: Wer ein bestimmtes Produkt oder eine Dienstleistung wünscht oder benötigt, bekommt immer eine gewisse Bandbreite an unterschiedlichen Angeboten präsentiert, die jedoch alle in der Lage sind, den Wunsch oder das Bedürfnis zu befriedigen. Schlagen wir uns also einen unsinnigen Gedanken sofort aus dem Kopf: Keine unserer Entscheidungen wird uns allein von der Ratio diktiert. Und wenn ich »keine« sage, dann meine ich das so – egal, ob es sich um einen Anzug handelt oder den Anlagefonds für unsere Ersparnisse. Für unsere Entscheidung zwischen diversen Alternativen interpretieren wir nicht nur die uns zur Verfügung stehenden Informationen, auch unsere damit verbundenen Emotionen spielen eine Rolle: Der Wunsch, die Bewertung von Risiken, die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass unser Wunsch oder Bedürfnis erfüllt wird – das alles hat wenig mit rationalen Überlegungen zu tun. Und dann gibt es da auch noch das kleine Problem mit dem lieben Geld, das knapp sein könnte.

Wären wir in der Lage, uns jederzeit sämtliche Bedürfnisse zu erfüllen, gäbe es gar keine Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen. Das Ganze hängt nicht nur mit dem Geld zusammen (das einem Großteil der Menschheit nicht unbegrenzt zur Verfügung steht), sondern auch mit Platz, Zeit, Energie und anderem.

Die Wirtschaftswissenschaft hat zu erklären versucht, welche Mechanismen solchen Entscheidungen zugrunde liegen, und dazu das mehr oder weniger brauchbare Konzept des »Nutzens« eingeführt. Zur Verdeutlichung ein klassisches Beispiel: Habe ich Durst, nimmt der Nutzen von einem Glas Wasser so lange zu, bis ich es getrunken habe, während der Nutzen möglicher folgender Gläser immer geringer wird (das zweite hat weniger Nutzen als das erste, das dritte weniger als das zweite und so weiter). Je mehr mein Bedürfnis erfüllt ist, desto weniger Nutzen hat das Produkt für mich, das ich zur Erfüllung brauche. Insofern stellt der Begriff des Nutzens die Grundlage für die Gesetze des Marktes dar, nach denen der Preis steigt, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt, und sinkt, wenn das Angebot größer ist als die Nachfrage.

Ist damit alles gesagt? Können wir behaupten, dass die Ökonomie endgültig geklärt hat, warum wir uns tagtäglich für dieses und gegen jenes Produkt entscheiden? Nein, nicht im Geringsten. Die Ökonomie beschäftigt sich mit dem Ergebnis solcher Entscheidungen, nicht mit den mentalen Prozessen, die sie herbeiführen. Ich dagegen frage (was die Zwischenüberschrift andeutet) nicht nach dem Was, sondern dem Warum. Ja, es gibt auch eine Disziplin namens Verhaltensökonomie, die zur Erklärung von Marktmechanismen bestimmte psychologische Aspekte heranzieht. Denn wir müssen uns darüber im Klaren sein: Nur mit dem Konzept des Nutzens geht die Rechnung im seltensten Fall auf. Der Markt funktioniert offenbar sehr viel häufiger nach emotionalen als nach rationalen Mustern.

Wenn also der Markt generell auch von Gefühlen beeinflusst wird, wie sieht es dann erst bei individuellen Entscheidungen aus, sei es im eher ökonomischen Bereich, sei es bei den Dingen, die wir essen und trinken. Natürlich spielt dabei eine schwer zu quantifizierende Bedürfnisbefriedigung eine noch größere Rolle. Der Psychologe Paul Bloom, der in Yale unterrichtet (und insofern unbedingt vertrauenswürdig ist), sagt ganz eindeutig: Ein so schlichter Genuss wie das Essen hängt nicht nur vom Geschmack der Dinge ab, die wir uns in den Mund schieben, sondern auch davon, was wir darüber wissen und denken. Ein Nahrungsmittel schmeckt uns oder schmeckt uns nicht aufgrund dessen, was es für uns darstellt. Die Akzeptanz, so Bloom, beeinflussen verschiedene soziale und kulturelle Faktoren: Wem schmeckt dieses Nahrungsmittel? Wo können wir es probieren? Was wissen wir über seinen Herstellungsprozess? Die persönlichen Einstellungen ergänzen den rein sensorischen Eindruck.

Hier sind wir meiner Ansicht nach beim eigentlichen Punkt angekommen: Warum kauft man eine regionale Spezialität? Vor dem Hintergrund des eben Gesagten könnte man die Frage ganz banal damit beantworten, dass eine regionale Spezialität zusätzlich zur Geschmacksempfindung kulturelle und soziale Elemente mitliefert. Genauer gehe ich darauf in den folgenden Kapiteln ein, aber schon jetzt lässt sich feststellen, dass Kauf und Verzehr eines regionaltypischen Produkts uns eine besonders befriedigende Erfahrung ermöglicht, weil wir überzeugt sind, dass dieses Produkt Ergebnis einer langen Geschichte und eines harmonischen Verhältnisses zu seiner Umwelt und damit letztlich gesünder und unverfälschter ist. Darüber hinaus fühlen wir uns auch besser, weil wir glauben, dass diese Spezialität aus handwerklichen Fähigkeiten hervorgegangen ist, die verloren gehen könnten, wären nicht aufgeschlossene Leute wie wir bereit, ein wenig mehr dafür zu bezahlen, um sie zu bewahren. Ein Beispiel sind die Slow-Food-Förderkreise (ital. presidio), deren vorrangiges Ziel es zu sein scheint, vom Aussterben bedrohte Produktionsformen und -traditionen zu retten – so als steckte hinter dem Kauf bestimmter Produkte eine soziale Mission. Unnötig darauf hinzuweisen, dass es für einen großen Teil dieser Überzeugungen keine Rechtfertigung gibt, was ich ebenfalls in den folgenden Kapitel darlegen werde.

Allerdings ist hier weniger relevant, ob die Geschichten der Spezialitäten wahr oder falsch sind oder wie nachhaltig sie sind, hier geht es darum, was Konsumentinnen und Konsumenten wahrnehmen (wollen). In der Erzählung Die Brille von Edgar Allan Poe verliebt sich der junge, extrem kurzsichtige Protagonist sehr heftig in eine Frau, die ihm wunderschön erscheint. Als er schließlich eine Brille aufsetzt, stellt er fest, dass es sich um eine zahnlose Alte handelt. Die verfluchte Brille hat doch tatsächlich eine romantische Liebesgeschichte ruiniert. Entsprechend kommt es eigentlich weniger darauf an, wie viel Wahrheit und wie viel Fantasie in dem steckt, was uns über unsere Nahrung erzählt wird, sondern vielmehr darauf, welche Befriedigung wir daraus ziehen. Die Neigung, um des Genusses willen von den Tatsachen auch einmal abzusehen, schadet nach meinem Dafürhalten nicht.

Doch auch das hat seine Grenzen. 2014 wurde der Weinsammler und -experte Rudy Kurniawan zu zehn Jahren Gefängnis und Schadensersatz in Millionenhöhe verurteilt, weil er jahrelang Sammlern und reichen (vor allem amerikanischen) Halbweltgrößen mittelmäßigen Wein als edle Tropfen der besten französischen Winzer verkauft hatte. Mithilfe authentischer Flaschen, die er sich leer aus Restaurants beschaffte, und oft selbst gedruckten Etiketten fälschte er perfekt besonders geschätzte Jahrgänge und Kellereien. Lustigerweise wurde der Millionenschwindel nicht deshalb aufgedeckt, weil einer der Weintrinker bei der Verkostung auf den Gedanken kam, es könne sich statt um einen 56er Château Latour um Wein aus dem Karton handeln. Es war stattdessen wie üblich irgendeinem Pedanten aufgefallen, dass ein bestimmter von Kurniawan verkaufter Wein in dem auf dem Etikett angegebenen Jahrgang überhaupt nicht produziert worden war. Logisch, dass Leute, die mehrere Zehntausend Dollar für eine Flasche Wein ausgegeben haben, sich ein wenig sträuben zuzugeben, dass man sie über den Tisch gezogen hat. Aber ebenso logisch ist es, dass der Geschmack des Weins vom Flaschenetikett beeinflusst wird.

Das Interesse an der Tradition und Geschichte von Lebensmitteln ist heute mit Sicherheit stärker ausgeprägt als früher. Das trifft nicht nur auf Italien zu, wie der Fall Kurniawan zeigt, gerade dort aber scheint dieses Interesse auf einem besonders hohen Level zu sein. Während in anderen Industrieländern die Bedeutung der kulinarischen Tradition aus dem erreichten Wohlstand hervorgegangen zu sein scheint, der dazu führte, Nahrungsmittel nicht mehr nur als Mittel zur Stillung von Hunger zu betrachten, ist in Italien, wo man mit Veränderungen offenbar schwerer fertigwird, eine ausgeprägte Sehnsucht nach der Vergangenheit festzustellen, sei sie nun authentisch oder erfunden.

Die Vergangenheit hat etwas Beruhigendes. Oder besser gesagt, sie macht weniger Angst als die Zukunft. Das gilt allerdings nur eingeschränkt, denn diese Wahrnehmung betrifft nur die Zeit und die spezifischen Umstände, in denen sich Italien gerade befindet. Um es ganz deutlich zu sagen: Nur eine Generation vor uns war dieses Gefühl deutlich weniger ausgeprägt, von unseren Großeltern gar nicht zu reden, die all die Entbehrungen und Schwierigkeiten traditioneller Gesellschaften am eigenen Leib zu spüren bekommen hatten und sich in Bezug auf materielle Güter unter keinen Umständen nach den alten Zeiten gesehnt hätten. Sicher, auch unsere Großeltern schienen der guten alten Zeit hinterherzutrauern, in der das Leben einfacher und die menschlichen Beziehungen haltbarer gewesen waren, doch zugleich kannten sie auch die allgemeine Not, die beschränkten Möglichkeiten und die allgegenwärtige Unmöglichkeit, auch nur die Grundbedürfnisse zu befriedigen. (Abgesehen davon glorifiziert man irgendwann sogar den Militärdienst, und sei es nur, weil man damals noch zwanzig war.)

Das alles spiegelt sich nicht nur im großen und vielfältigen Markt der regionalen Spezialitäten wider, sondern wird auch von der Lebensmittelindustrie ausgeschlachtet, was überdeutlich das Marketing für Kekse, Nudeln, Bier oder diverse Saucen beweist, in denen immer häufiger statt auf die Forschung auf eine idyllische Vergangenheit, ein aus langer Erfahrung hervorgegangenes handwerkliches Können und nicht zuletzt eine Ursprünglichkeit verwiesen wird, die alles zu leugnen scheint, was die Wissenschaft für Nahrungsmittel leisten kann. Selbst eine Tüte Kartoffelchips rühmt sich inzwischen einer Geschichte, die sie schlechterdings nicht haben kann – und warum sollte sie auch? Chips aus der Packung sind ein prototypisches Produkt der Moderne, ein Kind des Wohlstands und ganz sicher nicht der Tradition. Doch offensichtlich sind die Marketingleute zu dem Schluss gekommen, dass Geschichte und Tradition selbst bei einem solchen Produkt eine Sicherheit vermitteln, die seine Attraktivität für die Konsumierenden erhöht.

Die Frage, warum man regionaltypische Erzeugnisse kauft, kann somit neu formuliert werden: Warum gibt es in Italien mehr solcher Spezialitäten als anderswo und außerdem ein zuweilen völlig unverständliches Bemühen darum, bestimmte Produkte aufzuspüren und zu zertifizieren, deren Herstellung keinen realen ökonomischen, sondern nur einen kulturellen Nutzen zu haben scheint? Zusammengefasst geht es nicht nur darum, die Gründe für den Kauf regionaler Produkte ausfindig zu machen – die sind mehr oder weniger verstanden –, sondern um die weiter gefasste und subtilere Frage: Was bringt Unternehmen, Politik und Verwaltung sowie die normale Bevölkerung dazu, nach ihnen zu forschen und sie bei Bedarf auch zu erfinden? Italien ist das Land, in dem zwei der reichsten Regionen weltweit, Veneto und Friaul-Julisch Venetien, sich streiten, wer das Tiramisu hervorgebracht hat, und in dem hochrangige Landespolitiker sich wie mittelalterliche Ritter befehden, um die Ehre einer Wurst- oder Käsesorte zu verteidigen. Es hat in der Tat etwas Mittelalterliches, wenn sich jede einzelne Gemeinde nach Kräften um die Anerkennung einer lokalen Spezialität bemüht, als wären diese Produkte »die heiligen Reliquien des 21. Jahrhunderts, in dem Brot aus geröstetem Weizen verehrt wird wie der Arm des Heiligen Antonius und eine Sauce aus Sardellen wie das Blut des Heiligen Januarius, in dem die Strade del vino einem Pilgerweg und der Kampf um das DOP-Label dem letzten Kreuzzug gleichen« (Marianna Mascioletti).

Auch in diesem neuen Mittelalter stemmt sich der Mythos der Wissenschaft entgegen. Oder um es mit den Worten Elena Cattaneos auszudrücken: »Der Mythos ist verlockend, die Wissenschaft komplex.« Mehr ist es letztlich nicht.

I.
Die italienische Küche ist noch keine fünfzig

Die Geschichte der italienischen Küche basiert seit jeher auf einer Reihe von Annahmen, die inzwischen zu unverrückbaren Wahrheiten geworden sind. Ich nenne im Folgenden die wichtigsten, und auf die würden die meisten Italiener wohl ihren Kopf verwetten:

  1. Die heutige italienische Esskultur hat ihre Wurzeln in althergebrachten Traditionen sowie in der Küche des Mittelalters und der Renaissance.

  2. Die italienische Küche ist die Summe vieler Regionalküchen.

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