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Macht, Mord und Gartenzwerge

Als Buch hier erhältlich:

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Rapperswil-Jona steht kopf

Ein zuckendes Bein am Rumpf eines erstarrten Mannes, ein Unfall, der keiner ist, die Stadtplanerin, einbetoniert im Schrebergarten. Dies ist erst der Anfang einer Reihe von mysteriösen Vorkommnissen, die die Stadt Rapperswil erschüttern.

Bald stecken Kriminalpolizist Andy Lutz und sein übereifriger Kollege Ruben Schmidt knietief in einem Sumpf aus Verführung, Intrigen und Erpressung. Und mittendrin lauert Horst, der Zwerg mit der Axt – bereit, seine Opfer in den Wahnsinn zu treiben.

Mit Humor und einem Augenzwinkern zeichnet Rahel Urech das Bild einer idyllischen Kleinstadt, in der nichts ist, wie es zu sein scheint.


  • Erscheinungstag: 19.11.2024
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365007693

Leseprobe

Für meinen Mann und meine Söhne

Personen

Kriminalpolizei Sankt Gallen:

Andy Lutz, Ermittler

Ruben Schmidt, Ermittler

Aiva Semjonova, Ermittlerin

Christine Imhof, Leiterin Kriminalpolizei

Staatsanwaltschaft Kanton Sankt Gallen:

Magnus Obrecht, Staatsanwalt

Kantonspolizei Sankt Gallen – Station Rapperswil:

Carlo Bannwart, Leiter der Polizeistation

Malin Frischknecht, Kantonspolizistin

Barbara Schlumpf, Kantonspolizistin

Sebastian Hirt, Kantonspolizist

Salomon Dubois, Stadtpolizist

Übrige:

Fiona Bär, Stadtplanerin

Theo Szalai, Ehemann von Fiona Bär

Leon Bär, Neffe von Fiona Bär / arbeitslos

Bianca von Arx, Nichte von Fiona Bär / Apothekerin

Dario Hauenstein, Kaminfeger

Emily Hauenstein, Ehefrau von Dario Hauenstein

Max Vogt, Nachbar von Fiona Bär / Transportunternehmer

Elias Zuppiger, Stadtrat

Jael Ammann, Direktorin Rapperswil Zürichsee Tourismus

Janine Widmer, pensionierte Lehrerin

Sofia Keller, Wirtin im Al Porto

Tanja Rüegg, Kellnerin im Al Porto

Cédric, Sohn von Tanja Rüegg

Charlotte Helbling, ehemalige Besitzerin Hotel Schwanen

Thomas Haab, Arzt im Spital Linth

Francesco Zaugg, Coiffeur

Renzo Marty, Gartenbauer

Anastazja Michalski, polnische Botschafterin

Luca Kappeler, Junkie

Hanna, Lutz’ Partnerin

Alice, Hannas Freundin

Georgios, der nichtsnutzige Freund von Alice

Horst, Gartenzwerg

1

Leon Bär

Dienstag, 2. August

Es war schon eine Weile hell und heiß draußen, als Leon Bär vom Sofa rutschte, mit dem Kopf auf den Glastisch knallte und in einer Lache undefinierbarer Flüssigkeit zusammensackte. Der Aufschlag hallte dröhnend in seinem Kopf wider, Schmerz wummerte durch seine Nervenbahnen, und ihm wurde übel. Die Augen zusammengekniffen, die Mundwinkel verzerrt richtete Leon sich auf, fasste an seine Schläfe und fühlte Nässe. Ohne wahrzunehmen, was er tat, wischte er das Blut an seiner Jeans ab, lehnte sich gegen die Sitzfläche des Sofas und atmete schwer aus. Sein Gesichtsfeld war ein bierdeckelgroßes Loch, das wankte, sich verzerrte, als säße er in einem Schiff auf schwerer See. Trüb hob er den Blick – und fuhr erschrocken zusammen. Sein linkes Knie prallte gegen die Kante des Glastischs, Blitze von Schmerz und Schock zuckten durch das Rückenmark, schossen ins Gehirn und ließen sein Blut gefrieren.

Der kleine Mann war wieder da. Er saß auf der Bank des Küchenfensters und starrte ihn an. Mit der roten Zipfelmütze, dem weißen Bart und der altmodischen Weste über der beleibten Mitte wirkte er behäbig und harmlos, doch der Eindruck täuschte. Seine blauen Knopfaugen fixierten Leon, brannten sich hypnotisch in die seinen und übermittelten ihm stumm eine Botschaft.

»Du gehörst mir«, sagte der Zwerg. »Du existierst, um mir zu gehorchen.«

Ein kalter Schauer lief Leon den Rücken hinunter, sein Herz schlug hart gegen die Rippen, und er begann zu zittern. Wie lange stand der Zwerg schon da? Hatte er ihn beobachtet, wie er auf dem Sofa schlief, in den Kleidern von gestern, umgeben von Pizzakartons, Chipstüten und leeren Dosen? Hatte er mitbekommen, wie seine Beine im Schlaf unruhig zuckten, bis er von einem quälenden Albtraum geweckt von der Couch rollte und in die nicht weniger albtraumhafte Realität zurückfiel?

Leon spürte, wie Schweißtropfen von seiner Stirn perlten, sich mit dem Blut seiner Kopfwunde vermischten und den Hals hinunter in sein T-Shirt rannen, das fleckig war von Fett und lose um seinen dürren Körper schlotterte. Plötzlich schämte er sich. Schämte sich vor dem Zwerg, der wusste, dass nicht nur sein T-Shirt, sondern auch das Leben einige Nummern zu groß war für ihn und er ihn deshalb brauchte.

Es war Bianca, die ihn in die Arme des Zwergs getrieben hatte. Sie trug die Schuld daran, dass er auf den fatalen Handel eingestiegen war und die Apotheke preisgegeben hatte – das Vermächtnis der Familie. Beim Gedanken daran zog Leon die Schultern zusammen und begann unkontrolliert zu schlottern.

Seine große Schwester war wie der Krake, den er als Junge im SeaLife in Konstanz beobachtet hatte. Das Tier war ohne Arme so groß wie ein Fußball, bis es sich zusammenzog, lang und schmal wurde und es schaffte, sich durch eine winzige Öffnung in eine Flasche zu quetschen. Die Anpassungsfähigkeit des Kraken hatte Leon verblüfft und erschreckt, wie es auch seine Schwester immer aufs Neue tat. Ihr wandelbarer Charakter und das dehnbare Gewissen erlaubten es ihr, in jede Rolle zu schlüpfen, die angesagt war, und sich ihrer Umgebung perfekt anzupassen. Mit mehr Armen, als es möglich schien, streckte sie sich nach allem aus, was sie zu fassen kriegte, um es mit ihren Saugnäpfen an sich zu binden und aufzufressen. Weil sie es für selbstverständlich hielt, dass ihr zustand, was sie sich nahm, taten es auch alle anderen. Sie beanspruchte das große Kinderzimmer mit dem Balkon für sich, von dem Leon und der Nachbarsbub sich per Seilbahn hatten Botschaften schicken wollen – und sie bekam es. Sie kaperte die Aufmerksamkeit seiner Sandkastenliebe, der blonden Sina, und dies allein deshalb, weil sie ihn ärgern wollte. Sie stahl ihm die Achtung seiner Tante Fiona und die Zuneigung ihrer Eltern. Und schließlich verleibte sie sich die Apotheke am Rapperswiler Hauptplatz ein. Sie kriegte, was sie wollte. Immer. Und die Apotheke gehörte jetzt ihr. Er hatte alle Ansprüche darauf aufgeben müssen. Ein Gefühl, das bitter und sauer zugleich war, stieg in Leon auf, und würgende Schuldgefühle mischten sich in das Bedauern, die einzig fassbare Erinnerung an die Familie verloren zu haben.

Wie der Handel zustande gekommen war, dessen konnte er sich nur noch vage entsinnen. Der Moment, in dem er seine Unterschrift unter die Übertragungsurkunde setzte, hatte sich in Nebel aufgelöst und war so unwiederbringlich verloren wie die Apotheke selbst. Sicher war nur, dass Bianca bei der Unterzeichnung nicht anwesend war und dass dies mit seiner Scham dem Zwerg gegenüber zu tun hatte. Er hätte es nicht ertragen. Deshalb wusste seine Schwester auch nichts von der Vereinbarung, die er eingegangen war. Zumindest gab sie das vor. Sich abzuwenden und die Augen zu schließen, damit hatte sie kein Problem. Wer kein Gewissen hat, kann es nicht wiederfinden.

Als die Apotheke an Bianca überging, trat der Zwerg in Leons Leben. Seither stand er jede Woche auf seiner Fensterbank, schwang drohend die Axt und forderte Einlass.

Leon schlug die Hände vors Gesicht. Eine eiserne Faust bohrte sich in seinen Magen, Grauen ätzte sich seine Kehle hoch wie Säure und schnürte ihm die Luft ab. Der Zwerg würde ihn langsam, aber sicher in den Wahnsinn treiben. Zwischen den Fingern hindurch sah er, wie die kalten blauen Augen in seinem feisten Gesicht triumphierend funkelten, wie der Mund zuckte und sich seine Miene zu einem hämischen Grinsen verzog. Der Zwerg wusste, dass es ihm gelingen würde. Als Leon die Hände vom Gesicht löste, sah er ihn mit der Axt wippen. Spurte Leon nicht, spaltete er ihm damit den Schädel.

Er hatte den Verführungskünsten des Zwergs nichts entgegenzusetzen. Der letzte Funke Widerstand, der in ihm glühte und den Lebenswillen am Brennen hielt, war erloschen, als kurz nach seinem Vater auch seine Mutter gestorben war und Bianca keinen Grund mehr hatte, sich weiterhin mit ihm abzugeben. Sein Inneres war leer – wozu also kämpfen?

»Glück und Verderben«, flüsterte er zu sich selbst. »Glück und Verderben.«

Über eine umgekippte Bierflasche stolpernd, wankte er Richtung Küchenfenster, zielte nach dem Griff, bekam ihn im zweiten Anlauf zu fassen und riss das Fenster auf. Er war hungrig, durstig, besessen. Die Gier hatte die Angst und die Scham vor dem Zwerg verdrängt und dieses Ziehen hinterlassen, das ihm sagte, dass alles gut würde, bekäme er nur, was er brauchte. Als er nach dem Zwerg griff, sah er, dass dessen Augen nicht länger starrten, der Mund nicht länger zuckte und das Grinsen erloschen war. Zurückgeblieben war eine rot bemützte Scheußlichkeit aus Ton. Mit fahrigen Händen drehte Leon die Figur um und öffnete den Korken an der unbemalten Unterseite.

»Scheiß auf Verderben«, murmelte er und fischte mit dem Zeigefinger nach dem Inhalt.

2

Dario Hauenstein

Dienstag, 2. August

Die Stirn grimmig gefurcht, pflückte Dario Hauenstein Stangenbohnen von den verschlungen in die Höhe wachsenden Ranken und warf sie in die Schüssel zu seinen Füßen. Das helle Plopp, mit dem sie auftrafen, klang in der mittäglichen Stille des ausgestorbenen Familiengartens unnatürlich laut. Fahrig wischte sich Dario Hauenstein die Haare aus der Stirn, die nass waren vor Schweiß und schwarz wie die Kohle, die er aus den örtlichen Kaminen holte. Die Stadt Rapperswil ächzte unter ungewohnt heißen Augusttemperaturen, und selbst vom See her kam kaum Kühlung.

Er saß in der Klemme und dies aus eigenem Verschulden. Er hatte darauf vertraut, dass seine Kunden einem amtlich gewählten Kaminfeger glaubten. Dass sie sich einschüchtern ließen. Und es hatte ja auch funktioniert. Bis Fiona Bär kam.

»Verfluchte Hexe«, murmelte Dario Hauenstein, knipste, Zeigefinger und Daumen zusammenkneifend, weitere Stangenbohnen ab und warf sie ins Gefäß.

Das war der Anfang von dieser ganzen verdammten Abhängigkeit gewesen, in der er sich jetzt befand und nicht mehr rauskam, weil seine Gegner waren, wer sie waren – überall und immer präsent. Aber nun, da bald sein Sohn zur Welt kam, musste sich das ändern. Unbedingt. Er brauchte das Geld, um die Treppe und den Balkon seines Hauses instand zu setzen – nicht auszudenken, wenn der Kleine hinunterstürzen würde. Auch der Boden musste gemacht werden, das Holz warf schon Splitter, nicht zu vergessen die Schulden, die er bei Raffi noch hatte. Unwirsch schnaubend stellte sich Dario Hauenstein auf die Fußballen und riss eine Ranke herunter, um an das Büschel der dahinter versteckten Stangenbohnen zu gelangen. Blätter regneten auf ihn herab und blieben an seinem Gesicht und den dunkel behaarten Armen kleben.

Auf dem Parkplatz des Familiengartens Holzwies-Ost lehnte zur gleichen Zeit ein von der Sonne verbrannter Mann an seinem Wagen und beobachtete scheinbar beiläufig die Umgebung. Nach einer Weile verzog er zufrieden den Mund, löste sich vom Auto und marschierte zum Heck. Er hatte gesehen, was er sehen wollte. Dario Hauenstein und er waren die Einzigen, die sich an diesem Dienstagnachmittag im Familiengarten Holzwies-Ost aufhielten. Auch in Holzwies-West auf der gegenüberliegenden Straßenseite war niemand am Werkeln. Bei der Hitze machten selbst die Portugiesen und Spanier ihre Siesta lieber zu Hause. Der Mann klappte den Kofferraumdeckel auf und griff nach der Kettensäge, die dort verstaut lag. So mühelos, als handelte es sich um eine Trimmschere, hob er die sechs Komma sechs Kilogramm schwere Husqvarna 572 XP an, schwang sie sich über die Schulter und betrat den Kiesweg, der an den Familiengärten von Holzwies-Ost entlangführte.

Die Husqvarna war ein wahres Prachtstück, handlich, intelligent und so zuverlässig wie an dem Tag vor drei Jahren, als er sie sich angeschafft hatte. Er liebte das knatternde Geräusch, den Geruch nach frisch verbranntem Diesel und die Befriedigung, die schwere Maschine spielend kontrollieren zu können. Mit ihren vier Komma drei Kilowatt Leistung fräste die Husqvarna durch Baumstämme wie durch Butter, und dank der niedrigen Vibrationswerte konnte er stundenlang sägen, ohne müde zu werden.

Beim Spezialauftrag heute würde sie ihr kraftvolles Potenzial allerdings nicht entfalten müssen. Die Husqvarna diente lediglich der Einschüchterung – dazu, dem Kaminfeger den Ernst der Lage zu verdeutlichen.

Zügig schritt der Mann bis zu den Parzellen im hinteren Teil von Holzwies-Ost, bog beim Schild mit der Aufschrift »Biergarten« ab und stoppte vor dem kunstvoll renovierten Gartenhäuschen von Dario Hauenstein. Die Blumen aus Holz, die sich am Dach entlangrankten, hatte der Hauenstein selbst geschnitzt. Vom Wald her hatte der Mann beobachtet, wie der Kaminfeger mit einem Messer stundenlang winzige Ornamente in die Balken kerbte. Die Rosen und Enziane sahen aus, als wären sie echt.

Vor dem Gartenhaus stand eine Sitzbank, über der ein altes Wagenrad befestigt war, an der Wand daneben lehnten Trimmer, Harke und Schaufel, und um die Ecke, neben dem Regenfass, hing ordentlich aufgerollt ein Gartenschlauch. Abgesehen vom Keramiktrog mit dem wasserspeienden Frosch und einer unverhältnismäßig hohen Zahl roter Solarlampen aus Kunststoff bestand der Garten aus schnurgeraden gepflegten Beeten. Kopfsalate, Mangold und Rucola standen aufgereiht wie eine Kompanie gut gedrillter Soldaten, bereit, von ihrem Befehlshaber in den Tod geschickt zu werden, wann immer er dies forderte. Die Salate wie auch die Himbeeren, Erdbeeren, die Kürbisse und Zucchetti, die Sträucher mit Rosmarin, Thymian, Lavendel und Zitronenmelisse sahen aus, als stammten sie aus dem Katalog.

Dario Hauenstein besaß zweifelsohne einen grünen Daumen, dachte der Mann nicht ohne Anerkennung. Dann warf er die Kettensäge an. Die Armmuskeln angespannt, ließ er die Husqvarna mit voller Leistung aufheulen. Hundertachtzehn Dezibel – ein Vielfaches mehr als der Lärmgrenzwert eines Hundertfünfundsiebzig-Kubikzentimeter-Motorrads – kreischten durch die vor Hitze flirrende Luft.

Zu Tode erschrocken ließ Dario Hauenstein die Stangenbohnen fallen und warf sich herum. Als er den Mann mit der Kettensäge auf sich zukommen sah, ballte er die Fäuste und begann zu brüllen, doch was er schrie, ging im Knattern der Säge unter.

Der Mann mit der Husqvarna schritt an Dario Hauenstein vorbei, als würde er nicht existieren, ließ die Kettensäge laut aufkreischen und begann dann, eine rote Solarlampe nach der anderen niederzumähen. Vor dem fetten Frosch blieb er stehen, fräste von der goldenen Krone auf dem Haupt quer durch den massigen grünen Körper und spaltete den Keramiktrog gleich mit. Anschließend marschierte er zurück Richtung Gartenhaus, zerteilte den Gartenschlauch in kleine Stücke, sägte ein Loch in die blaue Regentonne, die sofort zu lecken begann, fuhr durch die Stiele von Schaufel, Harke und Trimmer und machte sich mit offensichtlicher Genugtuung daran, das Wagenrad zu zerstückeln.

»Aufhören!«, rief Dario Hauenstein mit sich überschlagender Stimme, packte den um einiges größeren Mann am Kragen seines T-Shirts und versuchte, ihn trotz ratternder Kettensäge von der Gartensitzbank wegzuzerren, vor welcher dieser sich jetzt aufbaute. Doch der Mann ließ sich nicht beirren. Breit grinsend fuhr er durch die Holzbeine der Sitzbank, hin und zurück, hin und zurück, bis sie selbst für ein Kind zu niedrig zum Sitzen war.

Als die Kettensäge endlich verstummte, glühte Dario Hauensteins Gesicht vor Zorn. »Was soll das?«, krächzte er heiser.

Der Mann stützte die Hände auf das Schwert der Kettensäge, als wollte er einen gutnachbarlichen Plausch abhalten, und bleckte die Zähne zu einem freudlosen Lächeln. »Du bist im Rückstand mit den Zahlungen«, sagte er. »Und dies nicht zum ersten Mal.«

»Das gibt dir nicht das Recht, mein Garteninventar zu zerstören!«, brüllte Dario Hauenstein, und die Ader an seiner Schläfe begann wütend zu pochen.

»Oh, beim Mobiliar muss es nicht bleiben«, entgegnete der Mann und ließ seinen Blick vielsagend über die Salatbeete gleiten.

»Vier Jahre lang kriegt ihr jetzt schon Geld von mir! Irgendwann muss Schluss sein! Ich brauch das Geld jetzt selbst, du weißt genau, dass Emily schwanger ist!«

Der Mann beobachtete interessiert, wie Dario Hauensteins Ader in schneller Folge an- und abschwoll, dann sah er den Kaminfeger aus zusammengekniffenen Augen abschätzend an. »Deine privaten Geldsorgen kümmern uns einen Dreck. Was uns Kummer bereitet, ist, dass deine Dankbarkeit nachlässt. Dies ist unsere letzte Warnung: Wir werden keine weitere Verspätung mehr dulden.«

»Ich könnte euch auffliegen lassen!«

Der Mann zog die Augenbrauen hoch und lachte spöttisch. »Könntest du. Wirst du aber nicht.« Er packte seine Husqvarna am Griff, brachte sie in Stellung, und diesmal waren die Schnitzereien am Dach von Dario Hauensteins Gartenhaus an der Reihe.

Ohnmächtig vor Hilflosigkeit und Zorn musste der Kaminfeger zusehen, wie die sorgfältig ins Lärchenholz gekerbten Blätter und Zweige, Alpenrosen, Enziane und Edelweiße, kleine Käfer, Bienen und hübschen Schneckenhäuser vor ihm zu Boden fielen. Von seiner Stirn lief der Schweiß in dicken Bahnen halsabwärts, Tränen der Wut rannen aus seinen Augen.

»Ich werde bezahlen«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und wandte sich ab.

3

Fiona Bär

Dienstag, 2. August

Es ging wieder los, das Gefiedel. Wolfgang Amadeus in Ehren, aber Fiona Bär hatte die Kleine Nachtmusik gründlich satt. Wie jeden Abend hatte ihr Nachbar Max Vogt seine stinkende Karre in die Garage gefahren, mit klapperndem Schlüsselbund die Tür zu seinem Einfamilienhaus geöffnet, das Wohnzimmerfenster aufgerissen und zur Geige gegriffen.

Bereits das Allegro deprimierte sie. Mehr stotternd als streichend brachte Max Vogt die Mannheimer Rakete hinter sich, quälte sich bis zu Takt fünfundsiebzig, nur um die Reprise mit einem krächzenden Ausrutscher zu vergeigen.

Bei den Divertimenti hundertsechsunddreißig bis hundertachtunddreißig, die unweigerlich auf die Kleine Nachtmusik folgten, schloss Fiona Bär üblicherweise genervt die Fenster.

Seit knapp zwei Wochen jedoch kam Max Vogt nicht weiter als bis zum dritten Thema der Romanze. Dann war Schluss mit der Kleinen Nachtmusik. Kaum wechselte er ins schicksalshaft-traurige c-Moll im zweiten Satz, reckten Finn, Björn und Lars im Zwinger draußen ihre Schnauzen gen Himmel und brachen in ein langes, auf- und abschwellendes Heulen aus. Die drei jungen Huskys waren vorletzten Samstag bei Fiona Bär und ihrem Mann Theo eingezogen. Wenn sie schon keine Kinder haben konnten, die im Garten draußen herumtobten, dann wenigstens Hunde.

Das Bellen von Finn, Björn und Lars stieß auf großes Echo: Sämtliche Hunde der Nachbarschaft – der Beagle unten an der Paradiesstraße, der Dalmatiner von den Meierhofers in ihrem komischen Betonbunker, der Dackel des Ehepaars Zumsteg und der Golden Retriever im Lenggisrain –, alle stimmten sie ins Konzert ein, so laut es ihre Stimmorgane zuließen.

Derart in ihrem Tun bestärkt, ließen Finn, Lars und Björn ihre Rufe seither regelmäßig im Quartier hören. Oft gegen Mittag, manchmal am späten Nachmittag, sicher dann, wenn Max Vogt c-Moll geigte und immer häufiger auch in der Nacht. Fiona Bär, die einen gesunden Schlaf hatte, freute sich, dass die Hunde sich gut einlebten, und ihren Mann Theo kümmerte es nicht: Er nahm ohnehin jeden Abend eine Schlaftablette.

Den Vogt jedoch schien das Gejaule rasend zu machen, egal, ob es nun Nacht war oder Tag.

»Gopfertammi, haltet den Latz«, brüllte er jeweils in Richtung des Zwingers und knallte das Fenster zu, mit dem Effekt, dass Finn, Lars und Björn dem Ruf der Natur umso energischer folgten.

Auf ihrer Gassirunde heute Mittag hatte Fiona Bär von Hedi Stoll vernommen, dass der Vogt beim Kassierer vom Volg Lenggis über ihre Hunde schimpfte. Sauviecher seien das, untragbar in einem Quartier, und überhaupt gehörten Wölfe wie diese Huskys in die Wildnis, nicht in die Zivilisation, hatte Hedi Stoll die Tirade vom Vogt genüsslich wiedergegeben.

Fiona Bär hatte sich keine Reaktion entlocken lassen. Hedi Stoll, die alte Klatschtante, bauschte die Äußerung vom Vogt sonst noch mehr auf, als sie es ohnehin schon tat. Innerlich aber ärgerte sie sich. An allem hatte ihr fürchterlicher Nachbar etwas auszusetzen, überall mischte er sich ein. Er war einer, der die Wahrheit für sich gepachtet und immer recht hatte. Ein Ekel. Aber das war nichts Neues.

Es war an einem Junitag vor etwa dreizehn Jahren gewesen, als Fiona Bär und Max Vogt sich das erste Mal über den Weg gelaufen waren. An diesem Tag bezogen sie und Theo das alte Holzhaus ihrer verstorbenen Tante Klara, das sich an der Paradiesstraße im Lenggis-Quartier, gleich neben dem protzigen weißen Palast von Max Vogt, befand.

Der Umzugswagen stand noch in der Auffahrt, da marschierte der Vogt bereits seine mit Buchsbäumchen gesäumte Auffahrt hinunter. Die Länge und Energie seiner Schritte hatten etwas Herausforderndes, doch sein Gesicht zeigte keinerlei Mimik, als wappnete er sich für eine Konfrontation mit vorhersehbarem Ausgang.

Nach einem angewiderten Blick auf den verwilderten Garten baute Max Vogt sich vor Fiona und Theo auf. Ein massiger Mann mit grauem Haar und rosa Teint. Fiona hätte sich ihn als Bauer auf einem Thurgauer Hof vorstellen können, wären da nicht das fein karierte Hemd und die dunkelgrüne Cordhose gewesen – charakteristische Kleidung eines älteren Bewohners der Zürcher Goldküste. Er nannte seinen Namen, ließ sich jedoch nicht dazu herab, sich nach jenen seiner neuen Nachbarn zu erkundigen.

Die große Weide an der Grenze müsse gestutzt werden, denn sie verdecke ihm bei der Ausfahrt aus der Garage die Sicht, verlangte er in dröhnendem Bass. Außerdem wolle er hier und jetzt klären, wer sich in welchen Abständen um den gepflasterten Vorplatz kümmere.

»Was meinen Sie mit kümmern?«, erkundigte sich Fiona irritiert und blickte auf den Platz zwischen den beiden Grundstücken, der mit quadratischen Luserna-Steinen besetzt war. Steine waren ein Naturprodukt, die brauchten keine Pflege.

Ihr neuer Nachbar legte herablassend den Kopf schief, verzog den Mund und blickte sie strafend an. »Kümmern heißt, dass der Platz alle zwei Monate mit dem Hochdruckreiniger sauber gemacht werden muss, gute Frau.«

Der Nachsatz »gute Frau«, der mitleidige Tonfall und der verächtliche Blick sagten Fiona Bär mehr als genug: Vor ihr stand die Spezies unbelehrbarer Patriarch, die sie in ihrem Optimismus immer wieder für ausgestorben hielt, um dann voller Enttäuschung doch noch ein Exemplar zu entdecken.

Es war dieser Moment, in dem Fiona Bär beschloss, den wild wuchernden Büschen und Bäumen im Garten ihren natürlichen Lauf zu lassen, die Brombeerhecke am Zaun nicht zu stutzen, den Rasen in eine Naturwiese zu verwandeln, den Trimmer zu entsorgen und vor allem niemals, niemals einen Hochdruckreiniger in die Hand zu nehmen, sondern die Steine mit Moos zuwachsen zu lassen.

Heute zeichneten sich die nachbarschaftlichen Differenzen als scharfe Linie auf dem Vorplatz ab: Die Pflastersteine, die zum weiß getünchten Haus mit den verspielten Erkern gehörten, wiesen Grautöne verschiedener Schattierungen, dazwischen Rottöne auf. Jene, die sich vor dem Holzhaus mit dem verwunschenen, um nicht zu sagen verwilderten Garten erstreckten, waren mit einer grünen Schicht überzogen.

Die in den Jahren darauf folgenden Auseinandersetzungen um die Wartung von Grundstücken im Allgemeinen und den Vorplatz im Besonderen erhielten durch politische Differenzen zusätzlich Zündstoff. Doch irgendwann mündeten sie in eine Art aggressiven Waffenstillstand. Bis Max Vogt das lange vernachlässigte Geigenspiel wieder aufnahm. Und Fiona Bär sich drei junge Huskys zulegte.

Fiona Bär betrat den Zwinger, in dem ihre Huskys gegen die Kleine Nachtmusik ansangen. In einem Internetforum über die Gesundheit von Hunden hatte sie gelesen, dass das Chorheulen der Huskys unter anderem dazu diente, mit dem Rudel zu kommunizieren und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen. »Hundehaltern wird empfohlen, auch mal in das Heulen der Hunde einzustimmen. Dies kann die Bindung stärken«, hatte der Autor geschrieben.

Deshalb reckte Fiona Bär jetzt ihrem Rudel gleich das Kinn gegen den Himmel, spitzte den Mund und ließ ihre Stimme eins werden mit dem urtümlichen Rufen ihrer hündischen Gefährten.

4

Dienstag, 2. August

Eine angenehme Kühle wälzte sich vom See her über den Hügel in Richtung Schlatt. Der Ortsteil von Hombrechtikon befand sich ein gutes Stück unterhalb des eigentlichen Dorfes und bestand aus einer kleinen Siedlung und Bauernhäusern, die lose in der Landschaft verteilt waren. Das Niemandsland zwischen Hombrechtikon und Rapperswil-Jona war nur insofern von Bedeutung, als dass es die Kantonsgrenze zwischen Zürich und Sankt Gallen markierte. Kurz nach dem Restaurant Sageli machten das Reinigungsfahrzeug und der Güselwagen der Einheitsgemeinde kehrt und überließen die Pflege der Verbindungsstraße den Zürchern.

Um diese nachtschlafende Zeit erhellten nur wenige Laternen die schmale, vielfach geflickte Straße. Das Schwarz der Felder und des Nachthimmels gingen beinahe nahtlos ineinander über, die Landschaft schluckte das Licht aus der Umgebung und hinterließ eine dunkle Masse mit unbekannter Konsistenz. Raum und Zeit verwischten.

Der Autofahrer, der jetzt von Hombrechtikon hinunterkommend nach Schlatt einbog und seinen Tacho schon vor der Tafel über die achtzig erlaubten Kilometer pro Stunde hochjagte, hatte keine Augen für die Umgebung. Aufgewühlt von den furchtbaren Geschehnissen des Tages fuhr er sinnlos in der Gegend herum, hoffend, die Katastrophe, die ihn zugrunde richten, seine ganze Existenz zerstören konnte, irgendwie zu verarbeiten. Er hatte so vieles aufgegeben dafür, auf so vieles verzichtet. Was würde ihm bleiben?

Unterhalb des Restaurants Sageli drückte er das Pedal durch, raste um die enge Kurve den Hügel hoch und war kurz davor, die Tennisplätze zu passieren, als vom Höcklistein her plötzlich dunkle Umrisse auftauchten – Schemen, die auf die Fahrbahn huschten. Keine Sekunde zu früh trat der Fahrer auf die Bremse und brachte den Wagen schlingernd und mit quietschenden Reifen zum Stehen. Zischend stieß er die Luft aus, als sich eine Gestalt aus dem Dunkel schälte und auf ihn zukam. Eine Frau. Ihr langes graues Haar fiel zu einem losen Knoten gebunden über ihre Schultern. Um ihre schlanke Figur schlackerte die Art Rock aus mehreren Tuchschichten, die für ihn Merkmal einer ganz bestimmten Sorte aufsässiger und rechthaberischer Frauen war. Und in diesem spezifischen Fall wusste er, dass er damit richtiglag.

Prüfend spähte die Frau ins Wageninnere, um herauszufinden, wer der Raser war, der sie und ihre Hunde beinahe überfahren hatte. Als sie ihre Vermutung bestätigt sah, wanderten ihre Mundwinkel abwärts und verzogen sich zu einem spöttischen Lachen. Provozierend klopfte sie mit den Knöcheln auf die Kühlerhaube des Autos, während die Hunde in ihrem Rücken zu bellen begannen.

Diese Person kannte tausend und eine Methode, ihm ihre Verachtung zu zeigen. Mit jeder Geste, jedem Blick, mit Kopfschütteln, Seufzen und befremdetem Schulterzucken brachte sie es fertig, dass er sich selbst infrage stellte. Er hatte sich nie aus der Ruhe bringen lassen, sich immer zurückgehalten, Würde und Haltung bewahrt, die so wichtig waren für sein Ansehen. Ein Ansehen, das er heute verloren hatte.

Der Frust und die Verzweiflung, die in seinem Inneren tobten, wurden überflutet von einem unbändigen Zorn, der in ihm aufstieg wie Säure in einer heißen Schwefelquelle. Die Wut packte ihn, schüttelte ihn, ließ ihn rasen. Er brüllte die Frau durch die geschlossenen Autofenster hindurch an und schlug mit der Faust gegen die Windschutzscheibe, bis die Knöchel aufrissen. Dieses Weib, das schon so lange in seinen Wunden bohrte, ihn bis aufs Blut reizte und quälte, war eine der Ersten, die sich an seinem Unglück weiden und ihm sein Versagen öffentlich vorwerfen würden. Sie war bösartig, eine Hexe, behandelte ihn wie Dreck und fügte ihm Stiche zu wie ein menschgewordenes Folterinstrument. Und jetzt stand sie vor ihm auf der Straße. Wich nicht von der Stelle. Verhöhnte ihn. Und das an diesem katastrophalen Tag, an dem es ihn fast zerriss, weil alles, sein ganzes Dasein plötzlich infrage gestellt war!

Da tat er es. Er trat aufs Gas. Um ihr das abschätzige Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, das herausfordernde Funkeln in ihren Augen zu löschen, sie für immer zum Schweigen zu bringen. Der Motor heulte auf, das Auto schoss vorwärts. Erfasste ihren Körper, der nach vorne geschleudert wurde und mit einem dumpfen Laut unter dem Auto verschwand. Durch den Wagen ging ein Ruck, etwas knallte, schabte am Chassis. Es folgten mehrere Aufschläge und ein knirschendes Geräusch, das ihn sein Leben lang nicht mehr loslassen sollte. Es rumpelte, die Räder bockten, katapultierten ihn in seinem Sitz in die Höhe, sodass sein Fuß von der Kupplung rutschte. Der Motor stotterte, erstarb, und der Wagen stand still.

Die plötzliche Ruhe war entsetzlich laut. Sie ließ sein Herz vibrieren und den Kopf dröhnen. Eisige Schauer jagten über seinen Rücken, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Zitternd löste er den Sicherheitsgurt und wankte, sich mit einem Arm abstützend, rund um den Wagen. Da lag sie. Wie hypnotisiert starrte er auf das Blut, das langsam aus ihrem Mund sickerte. Ein leiser, eigentümlich sanfter Atemzug entrang sich ihrer Brust, und während er sie keuchend und mit vor Schreck geweiteten Augen ansah, wich das Leben aus ihr.

Jemand stöhnte. Er nahm nicht wahr, dass das Geräusch aus seiner eigenen Kehle kam. Was hatte er getan? Weich in den Knien sank er neben der Frau nieder, streckte die Hand aus und tastete nach ihrem Hals. Doch da war kein Puls mehr fühlbar. Kein Leben. Sie war tot.

Bleiern drückte die Schwerkraft seinen Körper auf den Asphalt. Bewegungslos und mit taubem Schädel kauerte er neben der Leiche. Die Hunde der Frau waren verschwunden, kein Autoscheinwerfer erhellte die dunkle Straße, die Häuser oberhalb der Tennisplätze blieben stumm. Die Welt, wie er sie kannte, war zum Stillstand gekommen.

Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen war, als er sich schließlich zum Aufstehen zwang. Die Folgen. Er musste an die Folgen denken. Er durfte nicht zulassen, dass das Ende dieser Frau auch das Seinige wurde.

Zögernd, als würde eine fremde Macht seine Bewegungen verlangsamen, tastete er nach seiner Hosentasche, griff nach dem Handy, zog es hervor. Seine Finger stolperten über die Tasten, wählten eine Nummer. Eine Ewigkeit lang verhallte der Rufton ungehört, bis endlich jemand abnahm. Mit einer Stimme, die in seinen eigenen Ohren fremd klang, presste er sein Anliegen hervor.

»Du bist dir im Klaren darüber, was das bedeutet«, erwiderte die Stimme am anderen Ende emotionslos.

»Das bin ich.«

Exakt siebzehn Minuten nach dem Anruf waren keinerlei Spuren mehr vorhanden, die davon zeugten, was geschehen war. Selbst die Blutflecken waren von der Straße verschwunden. Ausradiert, gelöscht. Doch was geschehen war, blieb nicht unbemerkt. Denn nun lösten sich aus dem Dunkel des Spielplatzes beim Äfenrain zwei Schatten, einer groß, einer klein. Das Licht der Laternen meidend strebten sie hangabwärts, um in den labyrinthartigen Quartierstraßen von Jona unterzutauchen.

5

Donnerstag, 11. August

Andy Lutz war bereits wach, als um acht Uhr sein Wecker klingelte. Behänder als sonst an einem Wochentag setzte er sich in seinem Bett auf und drückte den Ausschaltknopf. Um elf Uhr fünfzehn ging sein Flug nach Zypern, wo er nach einer Flugdauer von drei Stunden und fünfunddreißig Minuten landen sollte. Hanna würde ihn am Flughafen abholen. So hatten sie es gestern am Telefon vereinbart.

Leise ächzend stellte Lutz sich auf die Beine und begann mit den morgendlichen Übungen, die seine Physiotherapeutin ihm verordnet hatte. Arme auf Schulterhöhe ausstrecken, langsam heben und senken, heben und senken. Nach einer halben Minute spürte er ein Ziehen in den Oberarmen und biss die Zähne zusammen, während er überlegte, ob er Hanna etwas mitbringen sollte. Die Cassis-Pastillen, die sie so mochte? Die runden Schokolade-Kugeln vom Zürichsee? Widerstreitende Gefühle tobten in seinem Innern, wenn er an ihr Wiedersehen dachte. Er freute sich auf sie, denn in der gemeinsamen neuen Wohnung allein zu sein, frustrierte ihn. Gleichzeitig war er beunruhigt, besorgt und ja – auch etwas verärgert.

Das Ziehen in seinen Oberarmmuskeln ging in Schmerz über, und Lutz ließ die Arme sinken. Gedankenverloren starrte er auf das abstrakte Bild einer italienischen Stadt mit engen Häuserzeilen und langen Treppen, das über dem Schreibtisch hing. Hanna hatte es gemalt. Es gefiel ihm, denn es war kraftvoll, bunt und verströmte die Lebendigkeit, für die er sie liebte.

Lutz seufzte, beugte sich vornüber und versuchte, mit den Fingerspitzen seine Zehen zu berühren – ein hoffnungsloses Unterfangen.

Er war vor allem deshalb verärgert, weil er sich gekränkt fühlte, gestand er sich ein. Hanna und er hatten die Altstadtwohnung in Rapperswil keine zwei Wochen bewohnt, da war sie auch schon wieder abgereist. Nach Zypern, um ihrer Freundin beizustehen, die in einer Beziehungskrise steckte – wieder einmal. Das war jetzt vierzehn Tage her.

Georgios, der Zypriote, dem Astrid verfallen war, hatte bis vor wenigen Monaten in Zürich ein griechisches Restaurant geführt, war dann aber – Lutz vermutete Geldprobleme – zurück auf seine Insel gezogen, und Astrid war ihm gefolgt. Kurz danach fingen die Schwierigkeiten an; Georgios verbrachte die meisten Nächte auswärts, ließ sich auch tagsüber kaum blicken, und Astrid war verzweifelt.

Dabei ist der Mann keine Träne wert, dachte Lutz, während er leicht in die Knie ging, um seine Finger wenigstens in die Nähe seiner Zehenspitzen zu bringen.

Vor seinem geistigen Auge tauchten Georgios’ weiße Lackschuhe auf, die Socken mit dem Burberry-Muster und der vor Öl glänzende, bis zu den Ohren gezwirbelte Schnurrbart. Zu so viel Eitelkeit fehlten ihm die Worte.

Ist ein so selbstbezogener Mensch überhaupt fähig, eine wechselseitig zufriedenstellende und dauerhafte Beziehung zu führen?, überlegte Lutz und richtete sich schwer atmend auf.

Er hätte nicht gedacht, dass Astrids hormoninduzierte Verblendung so lange anhalten würde. Inzwischen musste ihr – und Hanna sowieso – doch klar sein, dass eine Beziehung mit Georgios zum Scheitern verurteilt war.

Weshalb, zum Teufel, war Hanna dann noch dort?

Das unausgesprochene Fragezeichen und sein stiller Vorwurf lasteten auf ihren Telefongesprächen, die etwas Gezwungenes bekamen, und Lutz fragte sich beunruhigt, ob Hanna wirklich nur die gemeinsame Wohnung verlassen hatte.

Prompt tauchten unangenehme Erinnerungen an Brigitte auf, und er hatte das dringende Gefühl, etwas unternehmen zu müssen. Er wollte es nicht vergeigen. Diesmal nicht.

Vor einigen Tagen hatte er deshalb einen Flug nach Zypern gebucht. Wenn wir am Flughafen aufeinandertreffen, werde ich wissen, wie es um unsere Beziehung steht, hoffte Lutz. Sein alter Lederkoffer stand bereits gepackt bereit.

Er ließ sich auf die Knie nieder, um Liegestütze zu machen, die letzte seiner Übungen. Gerade stemmte er sich keuchend von Nummer fünf in die Höhe, da vibrierte das Handy auf dem Nachttisch. Hanna vermutlich, die wissen wollte, ob er rechtzeitig aufgestanden war. Erleichtert über die Unterbrechung – die sechste Liegestütze war immer ein Kampf – griff er nach dem Mobiltelefon. Stirnrunzelnd starrte er die Nachricht an. Sie stammte nicht von Hanna, sondern von Ruben Schmidt. Sein Arbeitskollege schickte ihm einen blutüberströmten Smiley, in dessen Schädel ein Messer steckte. Bing. Eine weitere Nachricht. Diesmal ein Kackhaufen mit betrübtem Gesicht.

Lutz blickte konsterniert auf das Display. Was zum Teufel wollte der Junge ihm damit sagen? Dass er es scheiße fand, dass er in Urlaub fuhr? Und was bedeutete der Schädel mit dem Messer; war das die moderne Version davon, jemandem Hals- und Beinbruch zu wünschen?

»Sitten hat der Junge«, schnaubte Lutz, legte das Mobiltelefon zur Seite und marschierte ins Badezimmer. Mit Emojis zu kommunizieren war wirklich der Gipfel an Faulheit. Gereizt drehte er an den altmodischen Wasserhähnen, bei denen er höllisch aufpassen musste, dass er sich nicht verbrühte. Man stelle sich vor, er hätte Schmidts Nachricht falsch verstanden. Dann müsste er wohl annehmen, dass dieser ihm eben eine Morddrohung geschickt hatte.

Eingehüllt in Wasser und Dampf verpasste Lutz, dass sein Telefon klingelte und die nächste Viertelstunde nicht damit aufhörte.

Als er, gefolgt von einer Dampfwolke, im Bademantel aus dem Badezimmer trat, da läutete es erneut – diesmal jedoch an der Haustür. Mit dem Handtuch die Haare trocknend ging Lutz zum Eingang, öffnete – und hätte die Tür am liebsten wieder zugeschlagen. Was, zum Henker, suchte Schmidt hier, vor seiner Wohnung? Er hatte Urlaub! Typisch für ihn, dass er immer dann störte, wenn man ihn am wenigsten brauchen konnte.

»Was willst du?«, knurrte Lutz.

Statt einer Antwort hielt ihm der Junge sein Mobiltelefon mit dem erstochenen Emoji unter die Nase und blickte ihn vorwurfsvoll an. »Hast du nicht gesehen, was ich dir geschickt habe?«

»Ich interessiere mich nicht für den Kinderkram, den du in der Gegend rumschickst«, entgegnete Lutz unwirsch, machte kehrt und ging in die Küche, um Kaffee aufzusetzen.

Schmidt ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und folgte ihm. »Für mich auch gerne«, sagte er und setzte sich unaufgefordert auf einen der Barhocker. »Milch und Zucker, bitte.«

Lutz brummte etwas Unverständliches. Kaum zu glauben, dass er diese Nervensäge wieder an der Backe hatte. Vor etwa einem Jahr, als sie beide noch bei der Kantonspolizei Zürich angestellt gewesen waren, hatten sie zusammen einen Fall bearbeitet. Zwei Frauen waren vermisst worden und eine ganze Kette von Eiscafés war in Flammen aufgegangen. Am Ende war Schmidt überzeugt gewesen, dass sie den Fall gelöst und den Schuldigen gefunden hatten. Lutz hatte keinen Grund gesehen, Schmidt diesen Glauben zu nehmen, und ihn die Lorbeeren einheimsen lassen. Die wahren Brandstifter waren mit seinem stillschweigenden Segen davongekommen und hatten dankbar ihre zweite Chance ergriffen. Insofern konnte man also sagen, dass die Zusammenarbeit zwischen Schmidt und ihm ganz gut funktioniert hatte.

Doch der Junge hatte Lutz, der ohnehin zweifelte, ob immer gerecht war, was Recht war, vor Augen geführt, wie wenig objektiv die Entscheide der Obrigkeit und ihm selbst oft ausfielen, und dass er nicht immer das beste Vorbild war. Deshalb war Lutz froh gewesen, sich vorzeitig in die Pension verabschieden zu können und – als schönen Nebeneffekt – Schmidt, seinen Übereifer und seine totale Absenz von Menschenkenntnis hinter sich zu lassen.

Aus verschiedenen Gründen hatte sich die Frühpension dann allerdings als Fehlentscheid herausgestellt. Einer davon war, dass Lutz weder das Talent noch die Geduld zum Angeln besaß, ein anderer, dass die alten Säcke auf dem Lindenhof ihm beim Schach andauernd auf die Kappe gaben. Und so kehrte Lutz nach drei Monaten wieder in den Polizeidienst zurück. Zunächst arbeitete er wieder in Zürich, dann, als sich abzeichnete, dass er mit Hanna nach Rapperswil ziehen würde, meldete er sich bei der Kriminalpolizei in Sankt Gallen, die ihn augenblicklich einstellte. Personalmangel auf allen Ebenen. Die Kantonspolizei hatte Mitte Juli sogar vier ihrer Polizeistationen vorübergehend schließen müssen, so verzweifelt war die Lage.

Am ersten August, dem Nationalfeiertag, hatte Lutz seine neue Stelle in Sankt Gallen angetreten, und über wen stolperte er im Klosterhof zwölf auf dem Weg zu seinem Antrittsgespräch? Ruben Schmidt, groß, blond, schlaksig und blauäugig in jedem Sinn des Wortes. Lutz schüttelte im Stillen den Kopf, als der Junge ihn im Flur zackig und in astreinem Hochdeutsch begrüßte. Hatte er diese lästige Marotte noch immer nicht abgelegt? Obwohl an Schmidt nur sein Name (und die Großmutter) deutsch war, wechselte er ins Hochdeutsche, wann immer er etwas als wichtig einstufte, mit der Folge, dass das Schweizerdeutsch öfter auf der Strecke blieb. Lutz war noch nicht dahintergekommen, was er mit dem Sprachenwechsel bezweckte. Vermutlich wollte er seriöser oder glaubwürdiger erscheinen – in jedem Fall verlorene Liebesmüh, fand er.

Wenig später saß Lutz für sein Antrittsgespräch im Büro von Christine Imhof, der Leiterin der Kriminalpolizei und seine neue Vorgesetzte. »Meine Zürcher Kollegin Moser hat mich gewarnt«, sagte sie am Ende des Gesprächs. »Deine Stärke sei es, kreativ zu denken, deine Schwäche, manchmal allzu kreativ zu ermitteln.« Sie bedachte ihn mit einem eindringlichen Blick. »Ich stelle dir deshalb unseren jungen, neu eingestellten Kriminalpolizisten Ruben Schmidt zur Seite, der mir als überaus korrekt beschrieben wurde. Wie du ja weißt, stammt er ebenfalls aus Rapperswil. Er wird dich an die Vorschriften erinnern, während du ihn erneut unter die Fittiche nimmst. Sorg dafür, dass er keine Dummheiten macht und ein ordentlicher Polizist aus ihm wird.« 

Lutz stöhnte innerlich auf. Er hatte nicht die geringste Lust, für Schmidt die Vogelmutter zu machen. Dennoch willigte er ein. Er konnte seiner sympathischen Chefin nicht schon am ersten Tag einen Wunsch abschlagen.

Der junge Polizist grinste breit, als die Imhof ihn ins Büro holte, um das Arrangement zu besiegeln. »Ich freue mich, dass wir wieder zusammenarbeiten!«, sagte er begeistert und hörte nicht auf, Lutz’ Hand zu schütteln.

Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte Lutz und seufzte verdrossen. »Tammisiech, Schmidt, hätte ich das geahnt …«

Und jetzt hockte der Junge in seiner Küche und erwartete wie selbstverständlich, dass Lutz ihm einen Kaffee servierte.

»Das ist meine erste richtige Mordermittlung«, sagte Schmidt ehrfürchtig und rührte gleich drei Löffel Zucker in die Tasse, die Lutz ihm hinstellte. »Und dann ist die Frau auch noch so komisch gestorben. Einbetoniert, stell dir das mal vor.«

»Das Einzige, was ich mir vorstelle, ist, dass du so bald wie möglich abdampfst«, gab Lutz zurück. »In zwanzig Minuten steige ich ins Taxi und fahre zum Flughafen, also sieh zu, dass du mir nicht im Weg rumstehst.«

Schmidt riss die Augen auf. »Ja, aber deswegen habe ich dir doch dieses Emoji geschickt. Den Kackhaufen«, ergänzte er, als Lutz die Stirn runzelte. »Die Imhof sagt, dass du deinen Kurzurlaub verschieben musst.«

»Und weshalb sollte ich das tun?«, fragte Lutz verärgert.

»Na, wegen der Toten, die wir gefunden haben.«

»Eine Tote.«

»Ja, sie liegt in den Familiengärten an der Holzwiesstraße. Und da unsere Abteilung unterbesetzt ist und die Kollegen aus Rapperswil mit einem Drogentoten beschäftigt sind, brauchen wir jeden Ermittler, ob in Urlaub oder nicht, sagt die Imhof, vor allem, wenn einer so viel Erfahrung hat wie du und auch noch vor Ort wohnt. Kurz und gut: Wir beide sollen uns um die Tote kümmern.«

Deshalb also das Emoji mit dem Messer im Kopf, ging Lutz auf. »Und weshalb kommunizierst du den Mord nicht auf eine Weise, die jeder versteht?«, sagte er mürrisch. »Mit Worten zum Beispiel?«

Schmidt machte große Augen. »Hast du die Nachricht etwa nicht gecheckt?«

Der Junge ging ihm jetzt schon auf den Wecker.

Seine Gedanken wanderten zu Hanna, die wahrscheinlich gerade aufstand und sich bereit machte, um ihn am Flughafen in Larnaka abzuholen, und mit einem Mal war aller Ärger über ihr langes Wegbleiben, aller Frust über die unbefriedigenden Telefongespräche verflogen und machte einem Gefühl der Enttäuschung Platz. Ihm ging auf, wie sehr er sich gefreut hatte, Hanna in den Arm zu nehmen, bei Sonnenuntergang am Strand ein Glas Rotwein zu trinken und sich endlich wieder ausführlich mit ihr zu unterhalten. Stattdessen winkte Drecksarbeit im Schrebergarten. Mit Schmidt. Und eine Tote, die im Beton steckte. Verdammt.

Ein kurzes Telefonat mit Taxichauffeur und Fluggesellschaft und ein entmutigend knappes Gespräch mit Hanna später brachen Lutz und Schmidt zu den Familiengärten auf.

6

Donnerstag, 11. August

Das rote Heft, 1992

S hat mit dem Fußball eine Scheibe eingeworfen. Die Lehrerin hat gefragt, wer es war. Ich habe ihn nicht verpetzt. Dafür trägt er jetzt eine Woche lang meine Schulsachen.

Am Rand von Jona, dort, wo das Dorf eigentlich aufhörte und der Fluss vor dem See die letzte große Schleife zog, breitete sich zwischen den Waldstücken eine größere Ebene aus. Eine Straße zerteilte sie in der Mitte, links und rechts davon befanden sich Kiesparkplätze, Schuppen, Zäune, Gehwege, Regenfässer, ein Klo. An diesem Ort suchten die Menschen aus Jona und Rapperswil – seit 2007 waren die beiden Ortschaften eine Einheitsgemeinde – die Natur auf, um sich von ihrem Alltag zu erholen. In den Familiengärten Holzwies-Ost und Holzwies-West atmeten sie Waldluft ein, hörten die Jona plätschern und lebten ihre grüne Ader aus, indem sie Radieschen pflanzten, Salate zogen und Erdbeeren pflückten.

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