×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Geysirnebel«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Geysirnebel« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Geysirnebel

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Zwei große Liebesgeschichten, verbunden durch ein Tagebuch und das Schicksal der ersten Rentiere Islands

2024: Für die Liebe verlässt Lia ihre Heimat Hamburg und wagt einen Neuanfang auf Island. Sie muss für ihren neuen Job im Museum auf die Rentierfarm von Pers Familie ziehen. Das Landleben in dem kleinen Künstlerort Seyðisfjörður bringt seine Schwierigkeiten mit sich, und Per verhält sich zudem sonderbar. Als ein Vulkanausbruch die Existenz des Dorfes und der Rentierfarm bedroht und Per plötzlich verschwunden ist, setzt Lia alles daran, ihre Liebe zu retten, und gerät in einen Strudel, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart begegnen.

1771: Die junge Alva lebt mit ihrer Familie auf einer Farm im Süden Islands. Als die dänische Krone einen Rentiertransport auf die Insel schickt, um die hungernden Isländer zu unterstützen, begegnet Alva dem samischen Rentierhirten Máhttu, und eine verbotene Liebe entbrennt zwischen ihnen. Doch nichts kommt, wie es kommen soll und es scheint, als wäre Alva meilenweit von ihrem Happy End entfernt …


  • Erscheinungstag: 22.10.2024
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365008232

Leseprobe

Dein Herz wird dir verraten,
was für dich bestimmt ist.
Und es wird dir keine Ruhe lassen,
ehe du es findest.

Prolog

Südisland

September 2025

Das unheilvolle Grollen drang aus der Ferne über die Täler des Hochlands und erschütterte die Erde. Nur noch wenige Augenblicke. Lia konnte nicht glauben, dass es wirklich geschah. Hastig wandte sie den Kopf und sah zurück. Am Horizont hob sich drohend der Gipfel des Bárðarbunga in den Himmel. Die schneebedeckte Spitze war schon vor Tagen geschmolzen. Statt der glitzernden Eiskristalle stob der scharfe Westwind die ersten Wolken auf, die den Rissen im Gestein des Vulkans entwichen.

Ihr Herzschlag stolperte. Angst brannte in ihren Adern und breitete sich bis in den letzten Winkel ihres Körpers aus. Per. Sie musste ihn finden. Er konnte überall sein. Verletzt auf Hilfe warten, während der Ausbruch immer näher rückte. Schon bald würde sich die glühende Lava den Hang hinabwälzen und alles unter sich begraben. Ihr blieb kaum noch Zeit.

Eine Böe erfasste sie und blies ihr die staubgeschwängerte Luft der Ebene ins Gesicht. Neben ihr tänzelte Eldur, der fuchsrote Hengst, nervös auf der Stelle. Er riss den Kopf hoch und starrte mit geweiteten Nüstern in die Ferne, aus der wieder ein Grollen zu ihnen herüberdrang. Lia schloss die Finger fester um die Zügel.

Sie hatte keine Wahl. Wenn sie Per finden wollte, bevor der Vulkan Feuer spie, musste sie sich auf Eldurs Rücken schwingen. Ohne den Hengst hätte es Tage gedauert, bis sie die Ebene am Fuße des Bárðarbunga durchkämmt hätte. Und bis ihr die anderen zu Hilfe eilten, wäre es womöglich zu spät.

»Ruhig, mein Kleiner«, sagte sie so zuversichtlich und gefasst, wie ihr pochender Puls es erlaubte. Dann atmete sie tief durch und stellte den linken Fuß in den Steigbügel. Eldur spannte sich an und schnaubte unwillig. »Schon gut«, brummte Lia mit tiefer Stimme. »Wir müssen Per finden. Also sind wir jetzt ein Team, du und ich, hörst du?«

Der Hengst schnaubte und machte einen Satz zur Seite, sodass sie beinahe umgefallen wäre, während sie auf einem Bein dem Steigbügel hinterherhüpfen musste. Sie stellte den Fuß noch einmal auf den Boden und strich Eldur beruhigend über den Hals. »Komm schon, mach es mir nicht so schwer. Für Per.«

Der Fuchs hielt für einen Moment still, und Lia nutzte die Chance, um sich zügig in den Sattel zu schwingen. Sobald Eldur ihr Gewicht auf seinem Rücken spürte, ging ein Ruck durch seinen Körper, und er schoss nach vorn. Unbeeindruckt von Lias Hilfen stemmte der Hengst den Kopf gegen die Zügel, während er über die lavaschwarze Hochebene preschte. Nach ein paar Metern spürte Lia, wie die Anspannung aus Eldur wich. Sein Galopp wurde ruhiger, und es gelang ihr endlich, ihn durchzuparieren. »Na siehst du, so ist es doch viel besser«, raunte sie und tätschelte seinen Hals.

Der Hengst schnaubte und setzte nun einen Schritt nach dem anderen. Immer noch etwas zuckelig, aber immerhin hörte er ihr nun zu.

Sie hob den Blick und ließ ihn über die Ebene schweifen. Vor ihr ragten die kahlen Felsflächen auf, die die erkaltete Lava vor zehn Jahren zurückgelassen hatte. Ein untrügliches Zeugnis dafür, wie weit der vernichtende Strom schon einmal vorgedrungen war.

Lia erschauderte. Doch wohin sie auch sah – nirgends entdeckte sie ein Zeichen von Per.

Sie setzte sich im Sattel auf und umschloss den Mund mit einer Hand. »Per!«, rief sie in das Tosen des Sturms, das sich mit dem Grollen des Bárðarbunga vermischte.

Doch außer der tobenden Natur antwortete ihr niemand.

»Per!« Kein Lebenszeichen.

Sie wollte schreien, wollte dem Himmel drohen, doch all das würde nicht helfen. Die Verzweiflung in ihr legte sich wie ein schwerer Schleier über sie und ließ sie ruhig werden. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren, wenn sie Per retten wollte. Es lag nun in ihrer Hand.

Sie schaute zum Himmel, an dem langsam der frühe Mond der Winternächte erschien, und straffte die Schultern.

Entschlossen trieb sie den feuerroten Hengst vorwärts. Der Lavastaub tanzte wie eine schwarze Wolke um sie herum, während sie in zügigem Tempo auf den Vulkan zuritt. Unter sich spürte sie Eldurs kraftvolle Bewegungen, und sie gaben ihr Mut.

Sie würde ihn finden. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Er war ihr Schicksal. Und sie seines.

Kapitel 1

Hamburg-Hoheluft

Juli 2024

»Wir hören uns morgen, Lia.« Die Abenddämmerung tauchte sein Gesicht in goldenes Licht. Seine Augen leuchteten in einem strahlenden Blau, das beinahe unnatürlich wirkte.

Lia rückte dichter an den Bildschirm ihres Laptops heran, um ihn zu betrachten. Die markanten Züge seiner Miene, die kräftigen Kieferknochen unter seinem rotblonden Dreitagebart, die verrieten, wie stur und unnachgiebig er sein konnte. Und die festen, schmalen Lippen, die er nun zu einem frechen Grinsen verzog.

»Schmachtest du?« Er hob eine Augenbraue und sah dabei noch unwiderstehlicher aus.

Sie grinste zurück. »Das wirst du nie erfahren.«

Ein weicher Ausdruck trat auf sein Gesicht, und er hob zwei Finger an die Lippen, um ihr einen Kuss zu schicken. »Bis morgen.«

»Bis morgen.« Sie lächelte ihm ein letztes Mal zu, bevor er auflegte und sein Bild von ihrem Laptop verschwand.

Einen Moment lang starrte sie in die Leere ihrer Wohnung. Die Abendsonne brach gerade durch die Hamburger Regenwolken und fiel auf das ausgetretene Dielenparkett. Aber der Anblick, der sie normalerweise warm berührte, wirkte in letzter Zeit dumpf auf sie. Ihr Blick blieb an der tiefen Kerbe unter dem Kronleuchter hängen. Bilder von dem feuchtfröhlichen Abend vor einem Jahr tauchten in ihrer Erinnerung auf. Sie hatte ihre Tanzgruppe eingeladen. Und der Raum hatte vibriert unter den kubanischen Salsaklängen und den ausgelassen herumwirbelnden Paaren. Es hatte eine Ewigkeit gebraucht, bis Anna sich aufs Tanzparkett getraut hatte. Und gerade, als ihre beste Freundin endlich Mut gefasst und eine schnelle Exhibela vollführt hatte, war hinter ihr der Kronleuchter von der Decke gestürzt. Wahrscheinlich hatte das Gepolter der Füße die Aufhängung aus dem betagten Balken befördert. Das gute Stück hatte eh mehr schlecht als recht in der morschen Altbaudecke gehangen. Aber es war natürlich ein ordentlicher Schreck gewesen. Und Anna hatte möglicherweise ein Kronleuchtertrauma davongetragen.

Lia schmunzelte. Wie gut, dass Arons Farm eine kronleuchterfreie Zone war. Dort waren die Decken niedrig und die Räume dunkel, aber gemütlich.

Was Anna wohl gerade tat? Vielleicht jagte sie einem widerspenstigen Schaf hinterher. Oder sie versuchte sich daran, Fiskisúpa zu kochen. Bei dem Gedanken an die fischige Suppe verzog Lia das Gesicht. Wie hatten die Isländer so eine stinkende Brühe nur zu ihrem Leibgericht erklären können?

Bei ihrem letzten Besuch auf der Insel hatte sie allerdings noch viel schlimmere Auswüchse der nordischen Küche probieren müssen. Man denke da nur einmal an die Heringe zum Frühstück. Sie schüttelte sich. Aber was Island kulinarisch in ihren Augen verbrach, machte es durch seine atemberaubende Natur allemal wett. Und den attraktivsten Mann, der ihr je begegnet war.

Ihr Handy brummte, und im Chat mit Per erschien ein Foto. Sie tippte es an und ließ die Schultern sinken. Die Sonne, die im Juli auf Island nie unterging, tauchte den See in schimmerndes Licht. Schneebedeckte Berge erhoben sich am gegenüberliegenden Ufer. Und am unteren Rand ragten Pers Füße ins Bild, und die Angel, die er in den Händen hielt. Natürlich liebte er Fisch.

Sie seufzte. Die letzten Monate ohne Per und Anna hinterließen ihre Spuren. Sie vermisste die beiden unheimlich. Und es kam ihr vor, als hätte die Reise auf die Feuerinsel, die sie im letzten Jahr zusammen mit ihrer besten Freundin unternommen hatte, ihr Leben beinahe ebenso grundlegend verändert wie Annas. Doch während Anna ihre wahren Wurzeln gefunden hatte und nun mit dem Mann ihres Lebens auf einer idyllischen isländischen Farm wohnte, hatte Lia nicht nur ihre beste Freundin auf Island zurücklassen müssen, sondern auch Per. Seitdem war sie zwar für einige Kurzurlaube nach Island geflogen, aber ihre Agentur entließ sie nie länger als eine Woche in den Urlaub.

Aus dem Flur erklang lautes Gerumpel. Dann ein Scheppern. Eine Minute später wurde die Wohnzimmertür aufgerissen, und eine prustende Gestalt in einem quietschgelben Regenmantel schob einen durchweichten Karton ins Zimmer, ehe sie sich umdrehte und einen zweiten hinter sich herzerrte und unter dem Kronleuchter platzierte.

Eine Papplasche klappte zurück, und Lia erkannte eine rumpelige Ansammlung von mitgenommen wirkenden Antiquitäten. Schrott traf es vielleicht eher.

»Was soll das denn sein?«, fragte sie und befürchtete das Schlimmste. Nach einem Jahr WG-Leben mit Maite hatte sie das Gefühl, schon alles gesehen zu haben, was einem im Zusammenleben mit einer fremden Person so begegnen konnte … und dennoch schaffte ihre neue Mitbewohnerin es immer wieder, sie zu überraschen.

Maite schob sich die tropfende Kapuze vom Kopf und tätschelte eine angelaufene Messingkanne, die aus dem Karton ragte. »Mein neues Projekt. Das Do-it-yourself-Orchester.«

»Das was?« Lia brachte vorsichtshalber ihren Laptop in sichere Gefilde, als ihre Mitbewohnerin schwungvoll die erste Ladung Schrott auf dem Couchtisch verteilte.

»Die Schätze hier werden meine musikalische Grundausstattung. Hier, die Kanne – die wird mal eine Trompete. Und wenn man mit dem Holzlöffel über die alte Käsereibe fährt, klingt das doch fast wie ein Guiro. Genial, oder?« Sie grinste stolz. »Lucas, Jonte und Lana kommen nachher vorbei, da kannst du dich auf ein Probekonzert freuen.«

Lia war fassungslos. Und das passierte ihr wirklich selten. Ergeben riss sie die Hände in die Luft und sprang auf. »Schon gut, ich verzichte. Muss eh gleich los. Wir sehen uns morgen.« Die Erfahrung hatte sie bereits gelehrt, dass Flucht das einzig wirksame Mittel gegen Maites Vorliebe für schräge Unternehmungen war. Denn sonst kam sie womöglich noch auf die Idee, Lia den Sperrmüll in die Hand zu drücken.

»Okay, schade, du verpasst was …«, murmelte ihre Mitbewohnerin nur, während sie andächtig über eine zerbeulte Pfanne strich.

Hastig klemmte sich Lia den Laptop unter den Arm und flüchtete in ihr Zimmer, während Maite schon wieder geräuschvoll in ihren Errungenschaften wühlte. Sie schloss die Tür hinter sich und atmete aus. Mit Anna hatte es das nie gegeben – geschlossene Türen … Ihre WG hatte sich immer wie ein richtiges Zuhause angefühlt, mehr noch als das Haus ihrer Eltern.

Seufzend warf sie den Laptop aufs Bett und ließ sich in die Federdecke sinken. Morgen früh traf sich die Familie zum alljährlichen Brunch in der Villa ihres Onkels. Und ihr wurde jetzt schon schummerig, wenn sie an die anstrengenden Gespräche dachte, die sich da anbahnten. Üblicherweise befiel sie kurz vor diesem Treffen das dringende Bedürfnis, ihren Lebenslauf aufzupolieren. Halb Blankenese wäre morgen versammelt, hatte sie immer mit Anna gewitzelt. Dabei war es nicht einmal übertrieben.

Auf der anderen Seite des Raums funkelte das goldene Paillettenkleid in der Abendsonne, das sie schon heute früh herausgesucht und dort aufgehängt hatte. Ihre Flucht für diese Nacht.

Wieder wanderten ihre Gedanken nach Reykjavík. Zu dem Abend, an dem sie Per das erste Mal begegnet war, in dem Club auf dem Laugavegur, der berühmten Feiermeile der isländischen Hauptstadt. Die Lichter hatten sich glitzernd auf ihrem Kleid gespiegelt. Und um sie herum hatten das Leben, die Liebe vibriert, die Menschen ausgelassen getanzt, sich zum ersten Mal geküsst oder miteinander gelacht. Sie wollte einen Drink an der Bar holen, hatte neugierig die Atmosphäre in sich aufgesogen – sie liebte diese Momente, in denen ihr ein fremdes Land besonders nah erschien, in denen sie meinte, zu erkennen, wie sich das Leben hier anfühlte.

Und dann hatte sie ihn entdeckt. Mit beiden Armen stützte er sich lässig auf die Bartheke, in der Hand ein Bier. Er war groß, überragte die Gruppe um ihn herum um einen halben Kopf. Und seine blonden Haare und sein damals noch wuscheliger rotblonder Vollbart tanzten irgendwie witzig, während er über etwas lachte, das seine Begleitung erzählte. In dem Moment hatte er aufgeschaut, genau in ihre Augen, als hätte er ihren Blick gespürt. Tiefes Blau, so tief wie das Meer. Selbst in der dämmerigen Clubbeleuchtung hatte sie es erkannt. Und seine Mundwinkel wanderten amüsiert nach oben, während er ihren Blick hielt.

Dann hatte der Barkeeper ihr den Drink zugeschoben und sie abgelenkt. Als sie sich wieder nach ihm umsah, konnte sie ihn nicht mehr finden. Aber so schnell war sie nicht bereit, aufzugeben. Sie hatte etwas entdeckt, das ihr gefiel … und sie hatte nicht vor, die Sache dem Zufall zu überlassen.

Ihre Freundinnen unterhielten sich angeregt, Freyja, ihre isländische Kommilitonin, die Anna und sie bei einem Auslandssemester in Exeter kennengelernt hatten und die sie an diesem Abend hierhergebracht hatte, schob Anna gerade ermutigend einen Shot zu. Also schnappte sich Lia ihren Drink und ging auf Beutezug. Suchend schlängelte sie sich durch die Grüppchen, die sich um die Tanzfläche gebildet hatten, doch nirgendwo entdeckte sie ihn. Frustriert lehnte sie sich an eine der breiten Säulen, stürzte zwei große Schlucke Caipirinha herunter. Als sie sich umwandte, um noch eine Runde zu drehen, wäre sie beinahe frontal in eine breite Brust hineingerannt. Sie starrte auf ein weihnachtliches Strickmuster – waren das Rentiere?

Sie hob den Kopf und schaute in das tiefe Blau, nach dem sie gesucht hatte. Seine Augen funkelten so amüsiert wie kurz zuvor an der Bar, und verschmitzte Grübchen legten sich auf seine Wangen. Aber er sagte kein Wort. Stand einfach nur da, riesig und unverrückbar in dem Gedränge der Clubbesucher. Wie ein Wikinger, dachte sie und musste grinsen. Sie hegte schon lange ein heimliches Faible für nordische Krieger … Aber die waren bisher immer fiktiv gewesen. Und trugen keine Rentierpullover.

»Falsche Jahreszeit, oder trägt man das auf Island auch im Juli?«, fragte sie auf Englisch und deutete auf seine Brust.

Er sah erst an sich herunter, musterte dann ihr Outfit und hob eine Augenbraue. »Ich hab ’ne Wette verloren. Aber was ist deine Entschuldigung?«

Empört schnappte sie nach Luft. Was bildete er sich ein? Das Kleid war der Wahnsinn. Kein Wunder, dass der Wollpulloverkrieger das nicht erkannte. Gut aussehend und mit Geschmack gesegnet – das wäre ja auch zu viel verlangt. »Stil erkennt nicht jeder«, schoss sie zurück und funkelte ihn herausfordernd an.

Aber der Wikinger ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Unbeeindruckt nahm er einen Schluck Bier und schob die Hand in die Tasche seiner Jeans. »Meine Worte, Discokugel.«

»Wie bitte?« Sie konnte es nicht fassen.

Er betrachtete sie nüchtern und regte sich nicht.

Typisch. Er wollte sie also verunsichern. Aber wenn sie sich ihn so ansah, ahnte sie, was der Wikinger vertragen konnte. Ungefragt zog sie ihm die Bierflasche aus der Hand, stellte sie zusammen mit ihrem Caipirinha auf einem Stehtisch ab und schob ihre Hand in seine. »Mitkommen.«

Ein leises Triumphgefühl kribbelte in ihrem Magen, als sie seinen überraschten Blick sah, während sie ihn mit sich durch die Menge zog. Doch sie spürte, wie er die Finger fest um ihre legte. Er hatte wundervolle Hände. Groß und kräftig, sodass seine Finger ihre vollkommen umschlossen, obwohl sie selbst nicht gerade klein war. Aber neben ihm kam sie sich immer wie eine Elfe vor.

Als sie die Mitte der Tanzfläche erreichten, drehte sie sich zu ihm um. Ein träges Lächeln umspielte seine Lippen, und er stand wieder vor ihr wie ein Fels, ohne sich auch nur einen Zentimeter zu rühren. Der DJ spielte einen Remix von Ed Sheerans »Bad Habits«, das Licht flackerte pink um sie herum, und die Leute tanzten wild. Sie trat auf ihn zu, legte die Hand auf seine Brust und ließ sich von der Musik davontragen. Es brauchte zwei Takte, und er schloss die Arme um sie. Er bewegte sich unverschämt selbstbewusst auf der Tanzfläche, und nicht einmal ihre spontane Aktion brachte ihn in Verlegenheit.

»Wie heißt du?« Seine Lippen streiften ihr Ohr.

»Lia«, raunte sie zurück.

Er lächelte und hob ihre Hand in seinen Nacken. »Stark wie eine Löwin.«

»Was?«

»Das bedeutet dein Name – sehr passend, wie ich finde.«

Sie grinste. »Und dein Name?«

»Per.«

Hätte sie dem Wikinger einen Namen geben müssen, hätte er nicht besser passen können. Per klang nach einem nordischen Krieger, der selbstbewusst genug für Rentierpullover war. »Und was bedeutet er?«

Er grinste frech. »Musst du selbst herausfinden.«

Es hatte noch drei Lieder gedauert, bis er sie küsste und sie alles um sich herum vergessen ließ. Sie hatte von Anfang an gewusst, dass ihnen nur wenige gemeinsame Stunden bleiben würden. Ehrlich gesagt hatte sie damit gerechnet, dass die Flamme zwischen ihnen schon nach der ersten Nacht erlöschen würde. Denn alles mit ihm fühlte sich so viel intensiver an, als sie es vorher erlebt hatte. Und das konnte nur bedeuten, dass es ebenso schnell vorübergehen würde, die sprühenden Funken wieder verglühten. Aber als sie sich am letzten Abend in Reykjavík verabschiedeten, ehe Lia und Anna zu ihrer Tour über die Insel aufbrachen, lag ein Versprechen in seinem Blick. Und sie meinte, zu wissen, dass er ebenso überrascht wie sie darüber war, auf welche Weise die Dinge sich zwischen ihnen entwickelt hatten. Ehe sie nach Hamburg zurückgeflogen war, hatte sie ihn noch einmal für zwei Tage in der isländischen Hauptstadt besucht. Seitdem stand fest, dass sie mehr verband als eine flüchtige Verliebtheit.

Sie seufzte und zog wieder ihr Handy hervor. All das sah ihr so gar nicht ähnlich. Normalerweise behielt sie die Dinge unter Kontrolle – doch Per war einfach unerwartet in ihr Leben marschiert und hatte alle ihre Vorsätze niedergerannt. Es war gar keine Frage gewesen, ob sie ihn wiedersehen wollte. Seit ihrem Kuss in dem Club gab es nur noch ihn.

Automatisch öffneten ihre Finger die Navigations-App und tippten den See ein, an dem er gerade saß und angelte. Þingvallavatn, ein wunderschönes Fleckchen Erde, wie sie den Fotos entnahm. Am Ufer des tiefblauen Gewässers erhoben sich grüne Hügel, dazwischen ragten Felsen hervor, die sie an die südschwedischen Fjorde erinnerten. Und offenbar grenzten auch heiße Quellen und ein Wasserfall an den See. Sie tippte auf den Routenplaner. Zweitausendeinhundert Kilometer trennten sie voneinander. Und nicht zum ersten Mal in dieser Woche wünschte sie sich, sie könnte einfach ins Flugzeug steigen und nach Island fliegen.

Die Entfernung nagte an ihrer Liebe. Auch wenn Per sich Mühe gab, es vor ihr zu verbergen, spürte sie, dass auch ihn die Distanz belastete. Sie hatten keine gemeinsame Zukunft, auf die sie sich freuen konnten. Sie mussten in den kleinen Momenten leben, die ihnen zusammen blieben.

Laute Stimmen drangen aus dem Flur, und sie ahnte, dass das musikalische Quartett nun vollständig war. Schnell rappelte sie sich auf, schlüpfte in ihr Kleid und steckte ihre braunen Locken zu einem lockeren Kranz hoch. Nach Make-up war ihr heute nicht – sie wollte einfach tanzen und den experimentellen Klängen des Schrottorchesters entfliehen. Sie schnappte sich ihre Zahnbürste aus dem Bad, stopfte sie zu ihrem Smartphone in die kleine Handtasche und schlüpfte im Gehen in ihre High Heels. Mit dem ersten Topfscheppern hechtete sie aus der Wohnung und zog die Eingangstür der hanseatischen Villa schwungvoll hinter sich zu.

Zum Glück hatte der Regen sich endgültig verzogen. Der Abendrothsweg war bevölkert von Partygängern, die in eine der umliegenden Bars von Hoheluft strebten oder wie Lia zu der nahegelegenen U-Bahn-Station schlenderten. Bis zu den Landungsbrücken waren es nur wenige Minuten Fahrt, und als sie ausstieg, begrüßte sie das bunte Getümmel der Feiernden an den Elbtreppen.

Ihr Weg führte sie an den Docks entlang, zwischen Restaurants und Sternehotels hindurch, eine steile Treppe hinauf, bis zu einem der Hochhäuser, von denen aus man einen Ausblick auf den ganzen Hafen hatte. Schon im Foyer begegnete sie einigen anderen Tänzern, die offenbar dieselbe Party besuchten. Sie fuhren im Fahrstuhl hinauf und wurden im Penthouse von karibischen Salsaklängen begrüßt. Pedro, der Gastgeber, hieß sie überschwänglich willkommen und bat sie, sich wie zu Hause zu fühlen. Seine Partys waren legendär in der Szene. In dem weitläufigen Wohnbereich tanzten die ersten Paare vor der Panoramafront des Hamburger Hafenbeckens zu den Songs des DJs. Die Glastüren zur Dachterrasse standen weit offen, und draußen entdeckte sie ihre Leute. Karla und José legten schon eine heiße Sohle aufs Parkett, die anderen saßen mit Getränken beisammen und plauderten. Sie lief zu ihnen hinüber, küsste die anderen zur Begrüßung auf die Wangen und ließ sich gleich von Leon auf die Tanzfläche führen. Heute wollte sie sich nur in der Musik verlieren.

Als ein langsamer Bachatasong einsetzte, schaute sie hinauf zu der Mondsichel, die über ihnen am sternenbehangenen Himmel stand, und ihre Gedanken wanderten zu Per. Ob er gerade wohl auch zum Mond hinaufblickte? In Reykjavík wäre er nur schwach zu sehen, denn dort schien die Mitternachtssonne jetzt im Spätsommer und vertrieb die Dunkelheit der Nächte. Doch wenn man danach suchte, konnte man ihn auch dann erkennen. Der Mond war ihre Verabredung, ihre Verbindung, seit dem Abend im Mai, an dem sie auf der Bank unter dem Leuchtturm am äußersten Zipfel von Reykjavík gesessen und dem Ruf der Schnee-Eule gelauscht hatten, der durch die isländische Nacht schallte.

Kapitel 2

Die Pforte der Schrebergartenanlage schloss mit einem Quietschen, und wenige Minuten später stand Lia wieder inmitten des Samstagmorgentrubels von Othmarschen. Hektisch sah sie sich nach der nächsten Bushaltestelle um und stöhnte auf, als ein Stechen durch ihren Kopf jagte. Mist. Sie hatte nicht viel trinken wollen, aber dann waren sie nach der Party weitergezogen und schließlich in Leons Schrebergartenhütte gelandet, wo sie die Nächte für gewöhnlich mit einem guten Whisky ausklingen ließen. Aus irgendeinem Grund hatte ihr Handyalarm nicht geklingelt – stattdessen war sie von Leons geretteter Legehenne Sarafina geweckt worden, die hingebungsvoll an ihrem Goldpaillettenkleid gezupft hatte.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. 10:18 Uhr. In vierzig Minuten musste sie in Blankenese sein. Also sollte sie zügigst den nächsten Bus bekommen. Die ersten Panikschübe stiegen in ihr auf. Der Brunch war das familiäre Großereignis, heiliger noch als das Weihnachtsfest. Und nun würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als in einem funkelnden Goldpaillettenkleid, das dezent nach Hühnerstall roch, in der Villa ihres Onkels aufzukreuzen.

Gequält musterte sie ihr Spiegelbild in einem Ladenfenster. Da gab es nichts zu beschönigen. Ihr Haar hatte am Morgen ausgesehen, als hätte das Huhn darin genächtigt, und während die anderen noch schliefen, war sie in Leons provisorisches Outdoor-Bad gestürmt, um sich mit dem eiskalten Wasser aus der Zisterne behelfsmäßig zu erfrischen. Immerhin hatte sie ihre Zahnbürste dabeigehabt. Und es war ihr gelungen, ihre langen dunklen Locken mit den Fingern zu entwirren.

Sie seufzte und trottete los, passierte im Laufschritt auf ihren High Heels eine Bäckerei und einige Mehrfamilienhäuser.

Erst als sie im Bus saß und Kurs auf Blankenese nahm, atmete sie durch. So weit, so gut. Sie zog ihr Handy hervor – 10:25 Uhr. Sie würde sich ein paar Minuten verspäten, normalerweise eine Todsünde, aber ihr eigenwilliges Outfit wäre der noch größere Fauxpas. Seufzend tippte sie sich durch die eingegangenen Nachrichten. Ihre Mutter hatte mehrmals angefragt, ob sie an den Brunch gedacht habe. Welch Ironie.

Ihr Herz vollführte einen kleinen Sprung, als sie eine Nachricht von Per entdeckte. Ein Selfie auf seiner Exkursion, dazu wünschte er ihr mit ein paar süßen Zeilen einen guten Morgen. Er stand am Rand eines Vulkankraters, hinter ihm erstreckte sich die karge schwarze Lava, die Lia immer an eine Mondlandschaft erinnerte. Im Gegensatz zu ihr wirkte er ziemlich munter – bereit für ein Abenteuer … Als Vulkanologe unternahm er regelmäßig Forschungsexpeditionen, deren Daten er anschließend in seinem Büro in Reykjavík analysierte.

Ein Stich meldete sich in ihrem Herzen. Per in Hamburg – das wäre ein illusorisches Szenario. Er gehörte auf die raue Vulkaninsel, auf der eine seismische Aktivität die nächste jagte. Deren Erde und Krater, Risse und Spalten die bewegte Geschichte ihrer Entstehung erzählten und ständig weiterformten. In Hamburg bliebe ihm nur der Vesuv im Miniaturwunderland.

Sie verzog die Lippen und wandte den Blick zum Fenster. Draußen flogen die grünen Straßenzüge von Othmarschen vorbei. Stadttrubel, Szenecafés und hübsche hanseatische Villen. Ein Pärchen lief Arm in Arm die Straße entlang, und in ihr stiegen automatisch die Erinnerungen an das Wochenende vor einem Monat auf, an dem Per sie besucht hatte. Sie kannten einander nun seit einem Jahr, und es war seine erste Reise zu ihr nach Hamburg gewesen. Ihm blieb nur wenig freie Zeit. Wenn er nicht arbeitete, nutzte er seine Urlaubstage, um auf der Farm seiner Eltern zu helfen. Und was für eine Farm das war …

Der Pullover hätte mir ein Warnzeichen sein müssen, dachte sie schmunzelnd. Pers Familie betrieb eine Schafzucht und Rentier-Lodge und bot geführte Safari-Touren zu den wildlebenden Rentieren im Hochland an. Die waren in Island relativ selten, man fand sie nur im Osten des Landes. Bisher hatte sie weder den Hof noch seine Eltern kennengelernt – was offizielle Familienvorstellungen betraf, waren sie beide zurückhaltend. Aber sie wusste, dass er seine Eltern stark entlastete, wenn er aufs Land fuhr, um die Tiere zu versorgen oder die Arbeiten am Hof zu übernehmen. Auch wenn das bedeutete, dass es für sie noch schwieriger wurde, einander zu sehen.

Doch vor einem Monat hatte er sein Versprechen wahrgemacht, und sie hatten ein perfektes Wochenende in Hamburg verbracht. Beinahe schon zu perfekt. Mit ihm fühlte sich alles so leicht an. Während sie an der Elbe Richtung Övelgönne entlangspaziert waren, hatte er sie einfach auf seine Arme gehoben und sie durchs Wasser getragen. Und so komisch ihr das normalerweise vorgekommen wäre – sie hatte es geliebt. Seine kleinen Neckereien, mit denen er sie immer wieder aus der Reserve lockte. Obwohl sie geschworen hätte, dass das keinem Mann jemals gelingen würde. Aber der Wikinger hatte es geschafft.

Traurig sah sie auf seine Nachricht. Nein, eine Zukunft mit ihm würde es in Hamburg niemals geben können. Sie kannte die Bedingungen, die ihre Liebe auf Distanz stellte. Und wenn sie realistisch war, wusste sie längst, dass es nur zwei Möglichkeiten gab, wenn sie daran nicht zerbrechen wollte: ein Leben mit Per auf Island oder ein Leben ohne Per.

***

Die beiden Bronzelöwen, die auf den Pfeilern der Einfahrt thronten, strahlten Lia schon von Weitem entgegen. Inzwischen brannte die Sonne unerbittlich vom Himmel herab, während sie außer Atem versuchte, den Blankeneser Süllberg auf ihren High Heels zu bezwingen. Als sie das Tor zu Onkel Donatus’ Einfahrt erreichte, drang leise Jazzmusik zwischen den Bäumen hindurch, die das Grundstück abschirmten. Offenbar war der Sektempfang bereits in vollem Gange, was bedeutete, sie hatte die Ansprache verpasst.

Hastig stöckelte sie die steile Auffahrt entlang und musste ein paarmal in die Hecke ausweichen, als ihr Fahrer entgegenkamen, die Gäste am Haus abgeliefert hatten. Ehe sie um die Ecke und in Sichtweite der Villa trat, zupfte sie noch einmal an ihrem Kleid, in der Hoffnung, zu richten, was es da zu richten gab. Dann atmete sie tief durch, straffte die Schultern und marschierte los.

Die Flügel der Eingangstür standen offen, und ein Garçon empfing sie mit Champagner. Zügig stürzte sie zwei Schlucke hinunter, dann umklammerte sie das Glas und trat durchs Entree hinaus in den angrenzenden Patio. Vor ihr erstreckte sich ein Meer aus pastellfarbener Eleganz. Fließende Stoffe der Sommerkollektionen, helle Leinenstücke. Tante Anneliese trug sogar ihren Rennbahnhut.

»Mutig, PR-Lia, mutig.«

Sie wandte überrascht den Kopf und hätte den Schluck Champagner beinahe ausgeprustet. Ihre Cousine stand neben ihr, in Engelbert-Strauss-Schuhen und Karohemd.

»Gleichfalls, Abenteurer-Sina. Kommst du gerade von deiner Grönlandexpedition?«

Sina grinste und zuckte mit den Schultern. »Vor zwei Stunden angelegt. Wollte mich erst umziehen, aber dann hab ich mir gedacht, ich mach’s aus Prinzip nicht. Einer muss den Laden ja ein bisschen aufmischen. Und ich glaube, auf Jura-Justus und BWL-Marie können wir nicht setzen.«

Lia folgte Sinas Blick und entdeckte ihren Cousin und dessen Schwester inmitten der Gesellschaft, wo sie angeregt mit zwei entfernt verwandten Tantchen plauderten und sich so perfekt ins Bild einfügten, als wären sie Teil einer Hochglanzcollage über Hamburgs obere Eintausend. Die liebevollen Spitznamen hatten sie einander beim Brunch vor fünf Jahren gegeben – als sie alle langsam ins Berufsleben einstiegen und jede Familienzusammenkunft darauf hinauslief, dass die ältere Verwandtschaft detaillierte Berichterstattungen der erreichten Karrierestufen verlangte. Zu Sinas und ihrer Belustigung hatten Justus und Marie ihren Namen alle Ehre bereitet und sich ihrem unausweichlichen Schicksal bei der Berufswahl gefügt. Oder der anstehenden Übernahme des Familienunternehmens.

»Und du riechst ein bisschen nach Huhn«, flüsterte Sina und gluckste leise. »Ehe es dir jemand anderes sagt. Neue Kampagne?«

Lia lachte und verdrehte die Augen. »Eher ein langer Abend mit gefiedertem Weckdienst.«

»Verstehe. Liegt ja in der Familie, der Hang zur Exzentrik.« Wie verabredet sahen sie zu Aktien-Anton, der gerade seinen afghanischen Windhund mit Trüffelkäse fütterte, und grinsten.

Dann stupste Sina sie an und schaute nach links. »Viel Glück, wir sehen uns später.«

Lia wandte den Kopf und blickte direkt in Tante Katharinas erwartungsvolles Lächeln. Sie hatte sich bei Onkel Donatus untergehakt, und beide schritten zielsicher auf sie zu.

»Cecilia Leonore, schön, dass du es noch geschafft hast.«

Schnell nahm Lia einen weiteren Schluck Champagner. Und die Spiele begannen.

Eine Stunde später lehnte sie sich an die sonnengewärmte Hauswand des Ostflügels und atmete durch. Ihr brummte der Kopf – von der Salsanacht und den vielen Gesprächen. Und der Zurechtweisung, die ihre Mutter ihr verpasst hatte. Nicht wörtlich, verstand sich, denn das wäre der größte Fauxpas, den man sich öffentlich leisten konnte. Aber ihr strafender Blick hatte sie ahnen lassen, dass der unangemessene Auftritt im Glitzerkleid ein ernstes Gespräch nach sich ziehen würde.

Sie sah zum Horizont, an dem die Elbe funkelnd Richtung Nordsee strebte und weiße Segel neben imposanten Containerschiffen in der Sonne leuchteten. Und ihre Gedanken wanderten mit ihnen. Glitten über den Fluss ins Meer, weiter Richtung Norden über den Atlantik, bis sie die vulkanische Küste ihrer Lieblingsinsel erreichten.

Das Leben auf Island war eine vollkommen andere Welt. Die Natur bestimmte alles. Und vielleicht war es diese Abhängigkeit von den Elementen, die die Menschen so viel bodenständiger machte. Ihr gab das Leben dort zumindest eine Ruhe, die sie in Hamburg nie verspürte. Hier war sie immer unterwegs, hetzte in der Agentur von einem Termin zum nächsten, jeder Erfolg gab ihr Auftrieb. Selbst den Feierabend konnte sie selten entspannt verbringen – stattdessen hatte sie den Drang, unterwegs zu sein, sich in die Tanzszene zu stürzen, bloß nicht stillzustehen.

Aber in Momenten wie diesem, wenn sie spürte, dass sie eigentlich müde war und sich nach Island sehnte, auf Pers Sofa, in seinen Arm, mit einem Glas Wein und der Aussicht auf den isländischen Himmel und – nichts weiter, einfach nur Ruhe … dann fragte sie sich, ob sie nicht eine Menge verdrängte, im Trubel ihres Hamburger Stadtlebens.

Wie es wohl wäre, wenn er sie heute begleitet hätte … Ein leises Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, als sie sich vorstellte, wie er seelenruhig den ausufernden Erzählungen von Onkel Lorenz lauschte. Unverrückbar hätte er im Getümmel ihrer extrovertierten Verwandtschaft gestanden. Wie damals im Club. Und sie hätte sich gern an ihn gelehnt. Nur ganz leicht, aber so, dass sie die Verbindung zu ihm spürte. Denn aus irgendeinem Grund verlangten Treffen mit ihrer Familie ihr alle Selbstsicherheit ab, von der sie normalerweise eine Menge besaß. Und Per war der erste Mann, der es auf wundersame Weise allein durch seine Nähe schaffte, dass sie sich immer zuversichtlich fühlte.

Sehnsucht versetzte ihrem Herzen einen Stich, und sie zog ihr Handy hervor. Doch er hatte ihre Antwort offenbar noch nicht gelesen. Was nicht sonderlich überraschend war. Wahrscheinlich kämpfte er sich mit seinem Team gerade an einer steilen Vulkanwand hinunter.

Ehe sie noch traurig wurde, steckte sie das Handy schnell wieder ein. Dann trank sie den letzten Schluck Champagner und machte sich auf die Suche nach Sina. Draußen war sie nirgends zu entdecken, also betrat sie die Villa und schlängelte sich durch die Grüppchen, die sich aus der Mittagshitze ins Innere geflüchtet hatten.

Gerade, als sie in den Salon einbiegen wollte, ertönte ein Riff, und James Brown rief: »Whoa, I feel good!« Erschrocken griff sie in ihre Tasche und stellte das Handy leise, ehe James weitersingen konnte, während sie ein paar verwunderte Blicke kassierte. Ein Videoanruf von Anna. Den Klingelton hatte sie seit ihrem Auslandssemester eingestellt – ihr gemeinsamer Freundschaftsdauerbrenner. Schnell flüchtete sie sich in den Seitengang, schlüpfte in das angrenzende Zimmer und nahm das Gespräch an.

»Halló elskan mín!« Anna strahlte ihr entgegen. Ihre blonden Locken tanzten fröhlich im Wind, während sie sich das Mikro ihrer Kopfhörer vor die Lippen hielt. »Hvað segirðu gott?«

Ihre beste Freundin zu sehen, hob ihre Laune sofort an. »Ist ja gut, du hast Level vier im Isländischkurs erreicht, kein Grund, anzugeben.« Sie schnitt eine Grimasse und streckte Anna die Zunge raus.

Die wackelte mit den Augenbrauen. »Ein bisschen Motivation täte dir gut, dachte ich –« Sie brach mitten im Satz ab und riss die Augen auf. »Ähm … Lia, da steht ein Wildschwein hinter dir …«

Sie warf einen Blick über die Schulter und legte den Kopf schräg. »Onkel Donatus’ Jagdzimmer … hab hier auch noch Gesellschaft von ’nem Hirsch, ’nem Fuchs und jeder Menge Schneehasen …«

Annas schockierte Miene sprach Bände. »Um Gottes willen … dieses Bedürfnis, sich süße flauschige Tiere ausgestopft in die Wohnung – pardon, ins Anwesen – zu stellen, werde ich nie verstehen. Moment, ist heute etwa der Familienbrunch?«

Lia nickte. »Jepp. Und ich möchte behaupten, ich schlage mich tapfer, dafür, dass ich fast nicht hergefahren wäre. Aber erzähl mir lieber, wie es euch geht, ich kann etwas Ablenkung gebrauchen.«

»Hm …« Ein verträumter Ausdruck trat auf Annas Gesicht. »Ziemlich gut. Aron führt gerade eine Reittour durchs Hochland. Aber am Mittwoch ist er wieder zurück, und wir wollen uns eine Auszeit gönnen. Wir haben eine Hütte in Haukadalur gebucht. Frühstück mit Blick auf die Geysire, abends ein Sundowner im beheizten Außenpool. Nur wir beide. Das wird unser Sommerurlaub. Bevor der ewige Winter wiederkommt, müssen wir die Temperaturen und das Sonnenlicht ja noch auskosten. Und mal ein paar Tage ohne die Hofarbeit werden auch erholsam sein. Solange er unterwegs ist, halte ich hier die Stellung bei den Schafen.«

Wie auf Kommando schob sich eine weiße Wollnase vor die Kamera, und es dauerte eine Weile, bis Anna das störrische Tier aus dem Bild verbannt und sich wieder sortiert hatte.

Lachend reckte Lia den Daumen. »Ich sehe, du hast die Sache im Griff.«

»Sehr anhänglich und eigensinnig, die Dicken.« Anna grinste zurück. »Und vielleicht vermissen sie dich ja auch – was mich zu meiner Frage bringt …«

Lia hob gespannt die Augenbrauen.

»Wann kommst du wieder her? Hast du schon was mit Per ausgemacht? Doch bestimmt noch vor dem Winter? Du weißt ja, dann wird es erst mal schwierig wegen des Wetters. Man weiß nie, ob man es von uns bis nach Reykjavík schafft oder vorher eingeschneit wird. Und überhaupt, es wäre wichtig, dass du vor dem Winter noch mal herkommst. Per stimmt mir sicherlich zu.«

»Also, der Redeschwall ist eigentlich mein Spezialgebiet.« Sie zwinkerte Anna zu und sah, wie die errötete. Das für sie so typische Glühen. Aber ungewöhnlich erschien ihr das Verhalten ihrer Freundin allemal.

»Oh … ja, sorry, ich wollte dich nicht überfallen. Ich muss nur ein wenig planen.« Anna räusperte sich und strich sich hastig eine Locke hinters Ohr, die gegen den Küstenwind kämpfte.

»Ehrlich gesagt, kann ich es gerade noch nicht sicher sagen. In der Agentur herrscht zurzeit Land unter. Und ich habe fast alle Urlaubstage für die letzten Islandreisen aufgebraucht. Wahrscheinlich würde Hajo mich köpfen, wenn ich jetzt nach Urlaub frage. Und ich meine das durchaus wörtlich.«

Kurz herrschte Stille, dann nickte Anna. »Oh nein, bitte schau nicht so traurig. Du klingst schon wie ich damals.«

Überrascht runzelte Lia die Stirn. »So schlimm?«

Anna lachte. »Herzlichen Dank. Aber ja … so schlimm.«

Sie stutzte. Vor einem Jahr war sie diejenige gewesen, die Anna dazu gedrängt hatte, endlich ihren Traum zu verwirklichen und nach Island zu reisen. Trotz ihrer Arbeitswut. Was offensichtlich ein ziemlich erfolgreiches Unterfangen mit einer lebensverändernden Bilanz war.

»Also«, ihre Freundin lächelte aufmunternd, »falls es irgendwie geht, wäre es wundervoll, wenn du es her schaffst.«

Lia nickte schwach. »Gebe mein Bestes.«

»Ich drücke die Daumen. Und jetzt halte ich dich nicht länger davon ab, Onkel Donatus’ illustrer Gesellschaft beizuwohnen. Oder wie man das in euren Kreisen auch immer sagt.«

»Zu rücksichtsvoll von dir, vielen Dank.« Sie grinste und verdrehte die Augen. »Grüße von mir und den Schneehasen.«

Anna zog die Nase kraus, lachte dann und winkte zum Abschied. Ehe sie auflegte, erhaschte Lia noch einen Blick auf die weite Ebene und die Lupinenfelder, die sich hinter ihrer Freundin erstreckten. Arons Farm lag nahe Hellissandur auf der Halbinsel Snæfellsnes im Westen des Landes. Ein traumhaftes Fleckchen Erde, umgeben von sanftem Grün, magischen Wasserfällen und dem goldenen Strand von Skarðsvík. Aber so idyllisch die Natur dort war, bis nach Reykjavík – oder wie sie es gern nannte, in die Zivilisation – fuhr man fast drei Stunden. Und das war für ihren Geschmack doch etwas zu idyllisch. Da lobte sie es sich, dass sie von Pers Wohnung in der Hauptstadt nur wenige Minuten bis zur besten Bäckerei der Insel benötigte. Und anschließend durch die Läden und Galerien auf dem Laugavegur schlendern konnte.

Seufzend steckte sie ihr Handy ein. Jetzt waren ihre Gedanken schon wieder bei ihrem Wikinger gelandet. Und dass Anna sie für ihre Verhältnisse förmlich drängte, den nächsten Flug zu buchen, machte die Situation nicht leichter. Sie sollte sich wirklich ablenken.

Draußen erspähte sie endlich Sina, die allein unter dem weißen Panorama-Pavillon saß und auf die Elbe blickte. Lia schnappte sich eine italienische Orangenlimonade und bahnte sich ihren Weg durch die Gartenparty. Als sie den Pavillon erreichte, zog ihre Cousine gerade an einer Zigarre und streckte die Füße aus.

»Dein Ernst?« Lia hob eine Augenbraue, konnte sich das Grinsen aber nicht verkneifen.

Sina blies genüsslich den Rauch in die Luft und lächelte ihr zu. »Was denn, soll ich den Jungs das gute Zeug überlassen? Das sind kubanische. Ich hab sie sogar selbst gedreht. Vor Grönland waren wir in Havanna.«

Lia schüttelte den Kopf und ließ sich neben ihr auf die Bank gleiten. Die Limonade sprudelte angenehm auf ihrer Zunge und vertrieb die Kopfschmerzen. Mehr als die Standardfrage brachte sie dennoch nicht über die Lippen. »Und, was macht das Leben so?«

Sina zuckte mit den Schultern und deutete auf einen Viermaster, der gerade den Blankeneser Leuchtturm passierte und Richtung offene See steuerte. »Ich bin jetzt eine Woche lang hier, dann geht es wieder los, diesmal nach Französisch-Guyana, und zwar für ein Jahr.«

»Wow. Und … fehlt dir dein Zuhause nicht manchmal? Ist es nicht manchmal traurig, alles zurückzulassen?« Gedankenverloren sog sie an ihrem Strohhalm und folgte dem Segler mit dem Blick die Elbe entlang.

»Hm …« Sina paffte und ließ sich Zeit mit der Antwort. »Nein, komischerweise nicht. Mein Zuhause ist die Reise. Hamburg begleitet mich wie eine schöne Erinnerung. Und ich weiß, ich könnte ja jederzeit zurückkehren, wenn ich das will. Aber der Kitzel des Unbekannten hat etwas für sich. Dadurch fühle ich mich erst lebendig.«

Lia nickte langsam, während ihre Gedanken allmählich wieder gen Norden schippern wollten. »Verstehe.«

»Und du? Habe gehört, da gibt es einen Isländer?«

»Oh, also …« Ihre Wangen fühlten sich heiß an, und es musste so ziemlich das erste Mal sein, dass ihr das passierte. »Ja, tatsächlich. Aber wie du dir vorstellen kannst, ist es kompliziert. Er ist Vulkanologe, und es ist quasi ausgeschlossen, dass er herzieht. Hier würde er niemals glücklich werden.«

»Und hast du darüber nachgedacht, zu ihm nach Island zu ziehen?«

Jeden Tag dachte sie daran. Malte sich insgeheim aus, wie es wäre, mit ihm in Reykjavík zu leben. So viel Nähe hatte sie noch nie in einer Beziehung zugelassen. Aber mit Per war schließlich auch nichts wie zuvor. Trotzdem jagte ihr der Gedanke, alles zurückzulassen, Angst ein. Und da war diese nagende Stimme der Emanzipation, die vehement verlangte, dass sie unmöglich diejenige sein könnte, die ihre Karriere und ihr gesamtes Leben für einen Mann umkrempelte.

Andererseits – sollte Emanzipation nicht bedeuten, frei zu sein? So wie Sina glücklich den eigenen Weg zu gehen? Und wenn dieser Weg sie zu einem Mann nach Island führen würde – wäre sie dann nicht so emanzipiert und frei, wie sie überhaupt nur sein konnte?

Sie seufzte. »Natürlich. Aber das ist nicht so leicht. Ich würde eine Menge aufgeben. Und eine Garantie, dass es mit uns klappt, gibt es ja auch nicht.«

»Hm.« Sina nickte. »Schon richtig, die Liebe ist immer ein Risiko. Aber weißt du – manchmal lohnt es sich, was zu riskieren. Sonst wirst du nie erfahren, ob es dein Weg sein sollte.«

Stumm seufzte Lia und starrte weiter vor sich hin.

Neben ihr drückte Sina den Zigarrenstummel aus und streckte sich. »Ich schaue mal zu den Tanten. Mir wurde noch eine dringende Befragung angedroht.« Sie küsste Lia auf die Wange und erhob sich. »Nicht so viel nachdenken, Cousinchen. Das kenn ich gar nicht von dir. Machen!« Und damit verschwand sie hinter den Rhododendronhecken in Richtung Party.

Eine Weile blieb Lia reglos sitzen und sah aufs Wasser. Gerade als sie sich aufraffen und zu den anderen gehen wollte, vibrierte ihr Handy. Automatisch vollführte ihr Herz einen Satz. Auch so eine Sache, die sie vor Per nicht gekannt hatte. Aber seit er in ihr Leben marschiert war, geriet ihr Puls bei jeder eintreffenden Nachricht ins Hüpfen – ihr Körper rechnete intuitiv damit, dass diese vom Wikinger stammte. Dabei hätte sie ihrem Verstand durchaus mehr Zurechnungsfähigkeit zugetraut.

Sie zog das Smartphone aus der Tasche. Tatsächlich, ein Foto von Per. Lächelnd tippte sie es an. Verschmitzt grinsend strahlte er ihr entgegen. Und neben ihm Sólveig, sein Lieblingsrentier, das auf einer Karotte kaute. Grüße vom Land. Sie würde dich gern mal kennenlernen, hatte er dazugeschrieben.

Und obwohl sie schon eine Menge ähnlicher Bilder von ihm erhalten hatte, löste das Foto in diesem Moment etwas Besonderes in ihr aus. Sie vermisste ihn. Und sie wollte nicht, dass alles, was sie jetzt und in Zukunft verband, virtuelle Zeilen und Selfies sein würden. Sie wollte das echte Leben. Mit ihm. Und wenn sie das Funkeln in seinen Augen sah, wusste sie, dass ihr Zuhause nicht die Altbau-WG, nicht der Agenturjob, nicht Hamburg war. Wirklich zu Hause fühlte sie sich in Pers Nähe. Und vielleicht hatte Sina recht. Vielleicht musste sie es einfach riskieren.

Kapitel 3

Südisland

Anfang September 1771

Der Wind erfasste Alvas Träne und trug sie hinaus auf den Ozean, tauchte sie in die Wellen, wo sie eins wurde mit den tosenden Wogen. Sie kniff die Augen zusammen, starrte in den Nebel, der sich wie eine undurchdringbare Wand vor ihr erstreckte. Wie gern wäre sie darin verschwunden. Eingetaucht in dem Schleier, der die schwarze Küste umschlang. Nicht einmal die scharfen Klippen der Vestmannaeyjar waren zu erkennen. Der Ozean verbarg die Inseln wie ein gutgehütetes Geheimnis.

Sollte sie das Boot nehmen? Alva sah zur anderen Seite der Bucht. Der Kahn, mit dem Péturs Männer zum Fischen rausfuhren, lag verlassen an der Küste vertäut. Doch es wäre aussichtslos – sie würde es niemals durch die unwegbaren Fluten schaffen. Selbst bei sanften Wettern war die Überfahrt ein Wagnis. Und lange könnte sie sich auch auf den Inseln nicht verbergen. Ihr Vater würde einen Trupp losschicken, der sie früher oder später aufspüren würde.

Verzweifelt ließ sie ihre Stute durch die Brandung stürmen. Das Krachen der Wellen donnerte neben ihnen an den Strand, der Schaum der Ausläufer stob von Fjellas Hufen, hinterließ weiße Spuren auf dem schwarzen Lavasand. Alles um sie herum verschwamm im Rausch der Geschwindigkeit, im Rauschen des Meeres. Alva schob die Finger in Fjellas helle Mähne und schloss die Augen. Doch dann drang ein entferntes Wiehern an ihr Ohr, und Fjella schlug so abrupt einen Bogen, dass Alva beinahe in den Wellen gelandet wäre.

Erschrocken klammerte sie sich an den Hals ihrer Stute, die schnaubend zu der grünen Ebene des Festlands starrte, von der sich ein zweiter Reiter näherte. Die blonden langen Haare wehten wild unter der schwarzen Haube, und die schweren Röcke flatterten, während die Gestalt nun hektisch zu ihr herüberwinkte. »Alva!«

Sollte sie innehalten?

Die Panik ergriff Alva, und sie setzte an, ihre Stute wieder in die Brandung zu treiben. Zu fliehen, irgendwo würde man sie schon verstecken. Irgendjemand musste ihr helfen. Doch Fjella stemmte die Hufe in den Sand und rührte sich keinen Zentimeter.

Inzwischen war die Reiterin so nah, dass sie die geröteten Wangen und den besorgten Blick ihrer Schwester erkennen konnte. Alva ließ die Schultern sinken, wartete ergeben, bis Margrét sie erreichte. Die sprang ohne ein Wort von ihrem Rappen, ergriff Fjellas Zügel und baute sich wie eine Furie vor ihr auf.

»He, was soll das? Lass sie sofort los!«, protestierte Alva und versuchte, Margréts Finger wegzuschlagen.

»Nicht, solange du womöglich gleich wieder davonpreschst!«, fauchte ihre Schwester und wich ihr geschickt aus. »Und wenn du noch einen Funken Verstand besitzt, kehrst du sofort mit mir zurück. Vater wird außer sich sein. Bis wir den Hof erreichen, bricht die Nacht herein. Was hast du dir nur gedacht?«

Der Gedanke an das elterliche Gehöft ließ sie aufschluchzen. Dort würde die Familie bald zur Abendmesse beisammensitzen. Niemand außer Margrét hatte bemerkt, wie sie sich davonstahl. Doch sie könnte unmöglich zurückkehren. Ihr Vater hatte ihr verkündet, was man von ihr erwartete. Ólafur sei ein anständiger Mann. Sein Besitz maß das Doppelte der hiesigen Höfe und werde ihr eine Zukunft verheißen, die ihr angemessen sei. Ólafurs Wohlstand würde auch den ihrer eigenen Familie sichern.

»Was hast du erwartet?« Margrét musste die Tränen gesehen haben, die unaufhaltsam ihre Wange hinabrannen, denn sie tätschelte nun beinahe milde ihr Bein. »Deine Zeit ist längst gekommen. Es hätte dich deutlich schlimmer treffen können als mit Ólafur.«

»Schlimmer?«, brachte sie erschüttert hervor. »Ich habe ihn erst ein Mal gesehen, Margrét.«

Ihre Schwester zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Denk nur an Sigrún. Die musste den alten Hákon nehmen, weil ihr Vater die Familie nicht mehr durchbringen konnte. Uns geht es gut, Alva. Vergiss das nicht. Danke Gott, dass du mit einem ansehnlichen Ehemann gesegnet sein wirst, der unserer Familie Ehre bereiten wird.«

Sie schluckte. Nichts an der Vorstellung, ihr Leben an Ólafurs Seite zu verbringen, erschien ihr tröstlich. Wenn auch die meisten ihrer Freundinnen ihn als gut aussehenden Mann bezeichnen würden, konnte sie ihm dennoch wenig abgewinnen. Ihre erste Begegnung hatte sie vollkommen unberührt gelassen. Sie erinnerte sich schon kaum mehr an sein Antlitz, dabei lag ihr Treffen erst wenige Wochen zurück. Er war einer dieser blassen Menschen, von denen ihre Großmutter stets gesprochen hatte. Jemand, der nicht dazu bestimmt war, einen Raum in ihrem Leben einzunehmen. Deshalb hatte sie ihn schneller vergessen, als es ihre Art war.

»Komm jetzt.« Margrét zerrte ungeduldig an Fjellas Zügeln.

»Lass sie los!« Alva erwachte aus ihrer Starre und holte nach Margrét aus, die wich wieder geschickt zurück, blieb dann aber stehen und drehte sich um.

»Nur, wenn du versprichst, mir zu folgen.«

Alva schnaubte stur. Doch ihre Schultern sanken hinab. Sie wusste, dass ihr keine Wahl blieb. Die Dämmerung legte sich allmählich über das Land, und schon bald würde sie kaum mehr die Hand vor Augen erkennen können. Sie hatte weder Proviant noch Decken oder Kleidung für die Reise dabei, ihr Aufbruch war ungeplant – die letzte Flucht, die ihr geblieben war.

Sie nickte stumm, sah zu, wie Margrét zufrieden Fjellas Hals tätschelte, ehe sie sich auf den Rücken ihres Rappen schwang.

Schweigend ritten sie Seite an Seite über die Ebene am Flussufer entlang. In der Ferne ragten die dunklen Felsen des Hochlands hinter dem grünen Flachland empor. Früher waren sie oft zu den Wasserfällen hinausgaloppiert und hatten sich die alten Sagas erzählt, bis es eine von ihnen so sehr schauderte, dass sie kreischend zurück zu den Pferden rannte. Doch seit ihr Vater gestreng auf ihre schulische und moralische Bildung achtete, hatte »unzivilisiertes Gestreune«, wie er ihre Ausflüge bezeichnete, fortan das Nachsehen.

Alva vermisste die ungezwungenen Abenteuer mit ihrer Schwester. Doch sie waren ihrer Kindheit entwachsen, und als Älteste gebührte es ihr, den anderen Geschwistern ein gutes Vorbild zu sein.

Schuldbewusst sah sie zu Margrét. Obwohl sie zwei Jahre jünger war, kannte ihre Schwester längst ihre Pflichten, ihren Platz und war sich nie zu schade, Alva an den ihren zu erinnern.

Sie passierten die Talsenke, wechselten einen Blick und trieben die Pferde in einen raschen Galopp. Mit angehaltenem Atem jagten sie an Ragnars Weiden vorbei, auf denen sich hohe Stichflammen in den Himmel bohrten. Aber Alva konnte nicht verhindern, dass der penetrante Gestank nach Rauch und Verwesung sie einholte. Zehn Schafe hatte der alte Bauer diese Woche verloren. Wie so viele waren sie verendet, an der Seuche, die seit Langem grassierte. Die Herden, die man aus England importierte, hatten sie mitgebracht. Überall brannten die Feuer, mit denen sie notdürftig versuchten, die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Doch nichts schien sie aufhalten zu können. Die Leute verloren ihre Herden, ihre Lebensgrundlage. Der Hunger zog durchs Land. Wenn nicht bald etwas geschehen würde, wäre es für viele zu spät.

Wie eine Mahnung erhoben sich die Rauchfahnen vor ihr. Margrét hatte recht. Sie war gesegnet. Wenn sie nach Hause zurückkehrten, würde ein gedeckter Tisch mit warmen Speisen auf sie warten. Ragnar könnte seine zehn hungernden Kinder längst nicht mehr versorgen, wenn sie ihm nicht ihre Magd mit einem Korb an Vorräten vorbeischicken würden.

Als sie den Zuweg des Gehöfts erreichten, wiesen ihnen nur der Mond und der Schein der Kerzen in den Fenstern des Wohnhauses den Weg, doch die Pferde hätten selbst in dunkelster Nacht zu ihren Ställen zurückgefunden. Kaum erklang das Hufgetrappel auf dem Hof, schwang die Tür zu den Stallungen auf, und Skjöldur stolperte heraus. Der Viehbursche schluckte den letzten Bissen seines Abendessens herunter und fuhr sich mit dem Ärmel unwirsch über den Mund.

»Euer Vater war schon in Sorge.« Er nickte knapp und nahm ihnen die Pferde ab.

Alva und Margrét hakten sich beieinander unter und liefen Seite an Seite zum Wohnhaus, dessen Torfdach wie ein grasbewachsener Gipfel in den Nachthimmel ragte. Sobald sie sich in den schmalen Flur drängten, schlugen ihnen die abgestandene Luft und hitzige Gesprächsfetzen entgegen. Margrét zog sie ungeduldig zur Stube, in der sich nach dem Essen alle versammelt hatten.

Hastig stolperten sie über die Türschwelle und platzten mitten in ein lautes Durcheinander. Einzig ihre Mutter saß still auf ihrem Sessel und konzentrierte sich auf die Stickarbeit in ihren Händen. Neben ihr knieten Ingibjörg und Guðrún, ihre jüngsten Schwestern, spielten unbekümmert mit den Holzpferden, die ihr Onkel Jarle geschnitzt hatte, und lachten ausgelassen. Auf der anderen Seite des kleinen Raums beugte sich ihr Vater über die Bücher auf seinem Schreibpult und diskutierte aufgebracht mit Jarle, der die Verwaltung des Hofs übernommen hatte, während Álfeiður, ihr kleiner Bruder, das Nesthäkchen, am Clavinet in die Tasten schlug.

Als ihr Vater sie im Türrahmen stehen sah, musterte er sie streng, während das Gekreische der Kleinen und die wilde Sonate immer weiter anschwollen.

»Ruhe!«, tönte seine donnernde Stimme durch den Raum, dass die fragilen Fensterscheiben in ihren Fassungen bebten. »Herrgott, ist es denn zu viel verlangt, dass sich hier einmal alle züchtig benehmen?«

Sofort kehrte Stille ein, nur Ingibjörg und Guðrún kicherten leise hinter ihren vorgehaltenen Händchen. Der tadelnde Blick ihres Vaters ruhte nun wieder auf Margrét und ihr. Doch unter der Härte erkannte sie Erschöpfung und Besorgnis. Tiefe Falten lagen um seine grünen Augen, und seine Züge wirkten verhärmter denn je. Sigurður führte die Familie mit strenger Hand, doch er ließ Milde walten mit seiner ungestümen Bande, wenn die Mutter und der Onkel nicht im Raum waren und die Magd das Haus verließ. Dann raufte er sich ergeben das lichte Haar und überließ es dem Herrgott, Anstand in seiner Meute zu suchen.

»Wo wart ihr? Es gebührt sich nicht für junge Frauen, in der Dunkelheit draußen zu sein. Ihr habt die Abendmesse verpasst.«

»Tut uns leid, Vater, wir wollten unbedingt noch Muscheln sammeln, für das große Essen morgen.« Margrét blinzelte unschuldig und strich ihren schweren schwarzen Wollrock glatt. Dann zog sie eine Handvoll glänzender Schneckenhäuser und Perlmuttmuscheln aus ihrer Rocktasche hervor, die sie immer bei sich trug.

Bevor ihre schuldbewusste Miene sie verraten konnte, senkte Alva den Blick auf ihren eigenen Rocksaum. Meerwasser tropfte von den aufwendigen Stickereien und hinterließ schimmernde Pfützen auf dem Dielenboden. Sie bemühte sich, ihre Schultern gerade und ruhig zu halten. Doch innerlich bebte sie. Das Essen wäre kein gewöhnliches Freundschaftsmahl.

»Íris!«, rief ihr Vater, und die Magd erschien eilig aus der Vorratskammer. »Geh, und leg den Mädchen die guten Kleider zurecht. Wir erwarten hohen Besuch morgen.« Dann schickte er sie auf ihre Schlafstube. Sie würden heute hungrig unter die klammen Decken ihres Bettes kriechen.

»Du stehst in meiner Schuld«, raunte Margrét ihr zu, als sie Íris den Flur entlang und die schmale Treppe hinauf zu ihrer Kammer folgten. Sie lag am Ende des Torfhauses unter dem Spitzdach.

Schweigend durchquerten sie die Baðstofa, in der die Betten der Bediensteten und Farmarbeiter standen, und traten in den gesonderten Schlafbereich ihrer Familie. Die Magd hielt ihnen die Tür auf und entzündete die Kerzen im Raum, dann trat sie an den sperrigen Holzschrank, in dem sie die Kleider der Mädchen aufbewahrten. Margrét und Alva ließen sich erschöpft auf ihr Bett sinken und beobachteten, wie Íris durch die Garderobe strich und schließlich das schwarze Kleid mit der gestickten Feuerblume hervorzog, die sich vom Saum fast bis zur Taille hinaufwand.

»Was hältst du davon? Ich denke, es wäre dem Anlass angemessen.« Strahlend klopfte Íris den Stoff zurecht und breitete den weiten Rock auf der Truhe vor ihrem Bett aus.

Die Panik kroch wieder in Alvas Adern, trieb ihren Puls in die Höhe und schnürte ihr die Kehle zu. Doch Margrét maß sie mit warnendem Blick, und es gelang ihr, gefasst zu nicken. »Danke, Íris, ich schätze, das ist eine gute Wahl.«

»Eine gute Wahl?« Das Mädchen wrang aufgeregt die Hände, während ihre runden Wangen apfelrot glühten. »Denk doch nur, morgen wirst du verlobt sein! Ólafur wird sein Glück kaum fassen können, wenn er dich in dem Kleid sieht! Was für ein schmucker Mann er ist. Und ein feiner Lehnsherr noch dazu. Meine Schwester lebt doch auf dem Hof einer seiner Bauern. Nur Gutes hat sie von ihm zu berichten. Er hat immer ein Auge auf seine Leute und hilft ihnen übers Jahr.«

Alva rang sich ein leises Lächeln ab und nickte matt. »Sicher, er muss ein feiner Mensch sein.«

»Das ist er, fürwahr! Es wird dir gefallen auf seinem Gehöft. Das Land im Osten hat die schönsten Sonnenaufgänge, direkt über den Fjorden. Und in seinem Haus soll es eine goldene Uhr geben, die jede Stunde eine Melodie spielt … könnt ihr euch das vorstellen?« Íris schien in ihrer Begeisterung kaum zu bremsen, schwungvoll wandte sie sich wieder dem Schrank zu und begab sich auf die Suche nach einem Kleid für Margrét. Sie zog einen schwarzen Rock mit einem filigranen Blütenmuster am Saum hervor. Margrét nickte zufrieden. Dann half Íris ihnen, sich für die Nacht umzukleiden, ehe sie sich verabschiedete.

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete Alva aus und ließ sich in die Kissen sinken. Über ihr tanzten die Schatten der flackernden Kerzen an der Giebeldecke. Sie kannte den Anblick, seit sie als Mädchen das Zimmer bezogen hatte.

Sie hörte Margréts Nachtgewand rascheln und spürte, wie ihre Schwester sich neben sie setzte. Ungeduldig zupfte sie an Alvas Ärmel. »Komm schon, ich bin müde.«

Seufzend richtete sie sich auf und drehte Margrét den Rücken zu. Mit geübtem Griff löste ihre Schwester die kunstvolle Flechtfrisur und strich mit dem Kamm durch Alvas langes blondes Haar, das nun in Wellen bis zur Taille hinabfiel.

»Du wirst sehen«, flüsterte ihre Schwester sanft, »in ein paar Jahren wirst du die Aufregung ganz vergessen haben.«

Alva blieb stumm. In ein paar Jahren wäre sie die Frau eines Fremden, würde auf einem Hof weit fort von ihrer Familie leben, sie hätte womöglich selbst schon Kinder – und die Umstände, die dazu führen würden, wollte sie sich erst recht nicht ausmalen …

Schnell vertrieb sie die quälenden Gedanken und harrte aus, bis Margrét den Kamm sinken ließ. Dann drehte sie sich um und arbeitete sich konzentriert durch die vom Wind zerzausten Strähnen ihrer Schwester. Ehe sie unter die Decken schlüpften, sprachen sie ihr Nachtgebet, so wie Vater und Mutter es sie gelehrt hatten.

Margrét löschte hastig ihre Kerze und vergrub sich in den Decken, doch Alva tastete unter ihrem Kissen nach dem kleinen Lederbuch, das ihr Vater von seinem letzten Besuch in Eyrarbakki mitgebracht hatte. Seit er als Sekretär für die dänische Krone arbeitete, reiste er viel, dokumentierte die Staatsgeschäfte und hiesigen Probleme, vor denen die Bevölkerung stand. Als er das Büchlein aus seinem Mantel hervorgezaubert hatte, hatte sie sofort gewusst, wofür sie es verwenden wollte. Ihre Freundin Lilja aus Bessastaðir hatte ihr einmal erzählt, dass sie ein Tagebuch führte, in dem sie ihre Befindlichkeiten notierte, wie die Grandes Dames es in Paris und Kopenhagen taten. Sie war die Tochter des Stiftamtmanns von Island, und ihr Vater wurde im Auftrag der dänischen Krone regelmäßig nach Kopenhagen beordert. Wenn es eine gab, die wusste, was in der Welt geschah, so war es Lilja.

Alva hatte schnell Gefallen an ihren abendlichen Notizen gefunden. Es lag etwas ungemein Tröstliches darin, die Seiten aufzuschlagen und mit der Feder über das raue Papier zu fahren. Ihre Erinnerungen in Tinte darauf festzuhalten.

Sie zog den Korken von dem Tintenglas, das auf dem Tischchen neben ihrem Bett bereitstand, und tauchte die Feder hinein. Dann verlor sie sich in den Zeilen und ihren Befürchtungen, was der nächste Tag bringen möge.

Kapitel 4

Die Strahlen der Morgensonne weckten Alva aus der unruhigen Nacht. Das kleine Fenster zeigte einen hellblauen Himmel, in den sich kaum eine Wolke verirrte. Neben ihr schlief Margrét wie ein Stein, doch aus den Betten der Geschwisterchen auf der anderen Kammerseite erklangen ei...

Autor