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Der Mutter-Tochter-Mörder-Club

Als Buch hier erhältlich:

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Nichts schweißt eine Familie so schnell zusammen wie eine Mordermittlung ...

Die erfolgreiche Geschäftsfrau Lana Rubicon hat viel, worauf sie stolz sein kann: ihre ausgeprägte Intelligenz, ihren tadellosen Geschmack und das Immobilienimperium in L.A., das sie selbst aufgebaut hat. Doch als sie in einem verschlafenen Küstenstädtchen mit ihrer erwachsenen Tochter Beth und ihrer Teenagerenkelin Jack zur Rekonvaleszenz zusammenziehen muss, bleibt Lana nichts anderes übrig, als Otter statt Quadratmeter zu zählen und zu hoffen, dass die Langeweile sie nicht umbringt, bevor es der Krebs tut.

Dann stößt Jack beim Kajakfahren in der Nähe ihres Hauses auf eine Leiche. Jack wird schnell zur Verdächtigen in der Mordermittlung, und die Familie stürzt ins Chaos. Drei Generationen setzen alles daran, den wahren Schuldigen zu finden. Als die Amateurschnüfflerinnen in immer gefährlichere Gefilde vordringen, müssen die eigensinnigen Rubicon-Frauen lernen, das zu tun, wogegen sie sich immer gewehrt haben: sich aufeinander zu verlassen.

»Simon hat ein liebenswertes Trio von einprägsamen Figuren erschaffen.« New York Times Book Review

»Simons schillerndes Debüt bietet alles, was das Herz von Krimifans höher schlagen lässt: realistisch nuancierte Figuren, eine lebendig dargestellte kalifornische Küstenlandschaft als Schauplatz,, ein köstlicher Sinn für Humor und ein perfekt geplanter Mordfall mit genug Ablenkungsmanövern, um auch den erfahrensten Krimileser zu verwirren. Eine aufschlussreiche und oft witzige Analyse von Familiendynamik, verpackt in einem raffiniert gestalteten Cosy-Crime-Roman!« Library Journal


  • Erscheinungstag: 25.06.2024
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365005569

Leseprobe

Für meine Mutter,
die jede Seite dieses Buchs las bis auf diese.
Sodass sie bescheiden bleiben kann, auch wenn ich die Wahrheit verkünde: Sie ist einfach die Beste.

PROLOG

Beth war klar, dass sie nicht zur Arbeit konnte, bevor sie sich nicht um den Kadaver gekümmert hatte.

Sie holte tief Luft und suchte zusammen, was sie brauchte. Jacke. Stiefel. Gummihandschuhe vom Schrank unter der Spüle. Dann trat sie ins Freie, packte sich die Schaufel, die an ihrem selbst gebauten Pflanztisch lehnte, und blickte hinunter zum Gezeitensumpf. Über der Salzwiese lag dichter Morgennebel, sie konnte kaum etwas sehen. Doch darüber machte sie sich keine Sorgen. Seit fünfzehn Jahren schon kannte sie den Weg über den steilen, mit Gräsern bewachsenen Abhang hinunter bis zum Wasser. Und der Verwesungsgestank wies ihr die genaue Richtung, in die sie gehen musste.

Sie tauchte in den kühlen Herbstnebel ein und tastete sich zum Ufer hinunter. Die meisten Kadaver, die hier angespült wurden, wurden entweder ins Wasser zurückgezogen oder von Aasfressern beseitigt. Aber dieser Seehund lag schon fast eine Woche hier. Es war ein großer, braun gefleckter mit einem gezackten Loch an der Flanke und hellen Stellen, wo sich die Haut abpellte. Truthahngeier hatten ihm die Augen ausgepickt und eine feuchte Spur mit madigen Eingeweiden über den Strand gezogen. Beth verzog das Gesicht. Als Pflegerin in einem Altenheim war ihr der Tod nicht fremd. Sie hatte ihn in verschiedenen Erscheinungsformen kennengelernt, und mitunter wurde er sogar geschätzt und willkommen geheißen. Aber das hier, diese Ausweidung, war etwas anderes. Sie entfernte sich von der Robbe und suchte ein ruhiges Plätzchen zwischen den Sträuchern. Dort begann sie, zu graben.

Sie war noch dabei, als Jack angepaddelt kam und sich mit ihrem pinkfarbenen Board einen leuchtenden Pfad durch den Nebel bahnte. Ihre Tochter: braune Haut, dunkler Haarschopf, der ihren Kopf wie eine Wolke umgab, und ein kompakter Körper in einer roten Schwimmweste.

»Mom?«

Es war nur eine simple Anrede, doch noch immer wurde ihr davon warm ums Herz.

»Ich hab beschlossen, die Robbe zu begraben.«

Jack rümpfte wegen des Gestanks die Nase. »Brauchst du Hilfe?«

»Eine Plane haben wir, glaube ich, nicht.« Beth richtete sich auf. Sie war größer als ihre Tochter und hellhäutiger. »Aber in Primas Kiste in der Garage könnte eine Tischdecke sein. Bring auch einen Müllsack mit.«

Jack nickte, hievte geschickt das Paddelboard auf ihren Kopf und trug es den Hügel hinauf.

Zehn Minuten später kam sie mit einem schimmernd weißen Bündel im Arm zum schmalen Strand heruntergesprungen.

»Bist du sicher, dass du die nehmen willst? Auf dem Schildchen steht, dass sie aus Italien kommt.« Der Stoff war dick und seidenweich, mit einem raffinierten Muster aus silbrigen Ranken.

Beth schnaubte. »Wann genau sollten wir denn eine Tischdecke aus Damast brauchen?«

»Ich dachte … Prima hat sie uns doch geschenkt …«

»Ganz genau.« Beths Mutter, Lana – oder für Jack »Prima« –, hatte sie noch nie im Elkhorn Slough besucht, schickte ihnen aber jedes Jahr zu Chanukka pompöse Geschenke, die ihr totales Desinteresse und Unverständnis für Beths und Jacks Leben verrieten. »Hilf mir, sie auszubreiten.«

Sie legten das makellose Tischtuch auf den mit Gräsern durchwachsenen Sand. Beth zog die Gummihandschuhe an und schloss kurz die Augen. Dann rollte sie die tote Robbe mit sicheren, routinierten Bewegungen auf den Stoff – im Laufe der Jahre hatte sie so vielen Patienten ins und aus dem Bett geholfen, dass ihre mit Sommersprossen übersäten Arme ziemlich muskulös waren –, wickelte sie darin ein und zog sie zu dem Loch, das sie gegraben hatte.

Jack sah von einem Fuß auf den anderen hüpfend zu, während ihre Mutter den Seehund tief unter Sand und Sträuchern vergrub, und stopfte danach die schmutzige Tischdecke in den Müllsack.

»Also, was den ersten Mittwoch im Oktober betrifft …«, sagte sie.

Beth hielt den Atem an. Der Tag würde kommen, an dem Jack keine Lust mehr hatte, mit ihrer Mutter einen Hotdog im Hot Diggity zu essen und sich danach eine Raubkopie im Autokino anzusehen, das ein Farmer in Salinas hinter seiner Scheune aufgebaut hatte. Jack war jetzt fünfzehn. Sie hatte einen Job. Schon bald würde sie einen Freund haben, einen Autokredit und ein Leben, das sich nicht mehr um ihr kleines Haus am Elkhorn Slough drehte. Beth wusste, wie gut es sich anfühlte, sich von den Eltern zu lösen und seinen eigenen Weg zu gehen. Aber doch nicht Jack! Zumindest noch nicht.

»Es ist Sci-Fi-Slasher-Nacht«, sagte Jack grinsend. »Hast du rechtzeitig Feierabend?«

»Na klar.« Beth schob Sonderschichten im Altenheim, um Geld für Jacks College zurückzulegen, aber niemals würde sie einen ihrer Kinoabende verpassen.

Jack rannte den Hügel hinauf, um ihre Sachen zu holen und zur Schule zu radeln. Beth jedoch hielt irgendetwas am Strand zurück. Sie blickte auf den frisch aufgehäuften Sand neben ihr und dann auf die Salzwiese, auf der immer noch der Nebel lag. Ihr wurde bewusst, dass sie nach irgendeiner Bewegung Ausschau hielt, einem Kräuseln im Wasser, nach einem Zeugen dieses Begräbnisses.

Aber das war albern. Beth wischte sich mit dem Ärmel ein bisschen getrockneten Schlamm vom Gesicht und fuhr sich mit der Hand durch ihre kurzen, sonnengebleichten Haare. Im Elkhorn Slough gab es keine Trauernden. Und Mörder auch nicht. Nur den Tod, natürlich und brutal, in jeder Minute des Tages. In den schlammigen Tiefen etwa jagten Sandtigerhaie Plattfische. Otter knackten Krebse. Selbst die Algen hier, die leuchtend grün und voller Leben waren, nahmen den anderen Pflanzen die Nährstoffe weg.

Beth hob ein mondförmiges Stück Meerglas vom Strand auf und legte es vorsichtig auf den Sandhügel. Vor ihr ließ sich ein Pelikan wie eine Bombe ins Wasser fallen und tauchte mit einem zappelnden Fisch im Schnabel wieder auf. Seltsamerweise musste Beth bei dem Anblick an ihre Mutter denken: an Lanas aggressive Schönheit, ihre Scharfzüngigkeit, ihre ewige Gier, das Leben mit Haut und Haaren zu verschlingen.

Ihre Mutter hatte den Elkhorn Slough nie besucht. Und nie war hier jemand ermordet worden.

Aber es gab für alles ein erstes Mal.

KAPITEL EINS

Dreihundert Meilen weiter südlich lag Lana Rubicon auf dem dunklen Schieferboden ihrer Küche und fragte sich, wie sie hier gelandet war.

Ihr Interesse war nicht philosophischer Natur. Sie wollte nicht wissen, wie sie auf diesen Planeten gekommen war oder welcher ihrer griechischen Vorfahren sie mit ihrer knitterfreien olivfarbenen Haut gesegnet hatte. Sie wollte nur wissen, wieso sie zusammengebrochen war, wieso sie sich an einem Mittwoch um sieben Uhr morgens sturzbetrunken fühlte und ob sie es noch zu ihrem Treffen mit den Investoren um acht Uhr schaffen konnte.

Langsam und vorsichtig drehte sie ihren Kopf hin und her, um sich zu orientieren. Links von ihr in der Eingangshalle warteten ihre Aktentasche und ihre Pumps aus Schlangenleder. Rechts von ihr stand die Tür des Edelstahlkühlschranks weit offen, und die Mineralwasserflaschen und Fertigsalate wurden von einer Gloriole angestrahlt, als kämen sie direkt aus dem Himmel und nicht von Gelsons Lieferservice. Vom Sockel des Kühlschranks bis zu Lanas Kopf zog sich eine dickflüssige Spur über den Boden. Lana tastete über das platt gedrückte Haar an ihrer Schläfe und sah sich ihre Hand an. Ihre Fingernägel mit den weißen Spitzen waren rosa und klebrig.

Kein Blut. Joghurt.

Lana nahm es als Zeichen, dass der Tag nur besser werden konnte.

Nach fünf vergeblichen Versuchen, allein wieder aufzustehen, zog Lana ihr Handy aus der Jackentasche. Einen Moment schwankte sie, wen sie anrufen sollte. Ihre Tochter war eine medizinische Fachkraft, das konnte nützlich sein. Aber Beth war fünf Stunden entfernt, und bei ihrem eigenen Kind würde Lana nicht um Hilfe betteln.

Also drückte sie auf die oberste Nummer ihrer Favoritenliste.

Schon beim ersten Klingeln nahm ihre Assistentin ab. »Ich weiß, tut mir leid, ich bin um Viertel nach sieben im Büro. Irgendein Idiot hat am Hügel beim Getty schon wieder Feuer gelegt, und die 405 ist …«

»Janie, Sie müssen für mich …« Lana kniff leicht die Augen zusammen und starrte zur Decke. Was musste Janie? Sie vom Boden aufkratzen? Den Lauf der Welt anhalten? »Sie müssen alle Termine für heute Morgen canceln.«

»Aber die Investoren für die Hacienda Lofts …«

»Sagen Sie ihnen, wir würden noch sechzig Wohneinheiten hinzufügen. Sehr aufregend. Müssen die Pläne überarbeiten. Champagner für alle.«

»Aber …«

»Erledigen Sie das. Ich komme später.«

Ganz kurz schloss Lana die Augen und genoss die Kühle der Fliesen an ihrer Wange. Dann nahm sie erneut ihr Handy und wählte den Notruf.

Lana schätzte sich glücklich, dass sie zum ersten Mal in den siebenundfünfzig Jahren ihres Lebens auf einer Krankenliege in eine Klinik gerollt wurde. Sie wusste, dass sie selbst in diesem Zustand rettenswert aussah. Ein maßgeschneidertes Kostüm in Anthrazit umschmeichelte ihren schlanken Körper. Sie hatte ihr Haar noch nicht zu einem Knoten zurückgebunden, sodass es jetzt in pflaumenbraunen Wellen über ihren Rücken floss – durchsetzt mit Erdbeerjoghurt. Als der Pfleger sie in eine riesige weiße Röhre schob, hielt sie Augenkontakt mit ihm, damit er ja sein Bestes gab.

Nachdem es ihr gelungen war, das laute Klopfen der Maschine auszublenden, fand Lana das MRT seltsam entspannend. Hier gab es keine E-Mails von Architekten mit fadenscheinigen Begründungen, wieso die Pläne nicht rechtzeitig fertig waren. Keine Anrufe von ihrer Freundin Gloria, die über den neuesten Versager jammerte, der ihr das Herz gebrochen hatte. So musste sich der Tod anfühlen. Niemand wollte was von einem.

Nachdem Lana wieder aus der Röhre aufgetaucht war, handelte sie ein Einzelzimmer für sich aus, das allerdings keine Fenster hatte. Ihre Assistentin schickte ihr die Unterlagen für drei Projekte, zwei Vertragsentwürfe, einen roten Stift, schwarze Pumps, einen Salat mit Räucherlachs und eine Flasche Sprite. Lana war schon versucht, dem Mädchen eine Nachricht zu schicken, in der sie es ermahnte, wie wichtig es war, auf Details zu achten – war es wirklich zu viel verlangt, sich zu merken, dass sie ausschließlich Cola light trank? –, da schraubte sie die dubiose Flasche auf und roch daran. Janie hatte sie mit Chardonnay gefüllt. Lana trank einen Schluck. Gar nicht so übel.

Als man ihr am Nachmittag erklärte, man würde noch auf Testergebnisse warten, und empfahl, zur Beobachtung über Nacht dazubleiben, gab Lana nach. Schließlich war ein Bett so gut wie das andere. Na ja, nicht ganz, doch ihr widerstrebte die Vorstellung, am nächsten Tag Arbeitsstunden zu verschwenden, weil sie sich durch den Berufsverkehr von L. A. zurück zum Krankenhaus quälen musste, nur um sich von einem Arzt mit zwei unterschiedlichen Socken eine Predigt anzuhören, dass sie besser auf sich aufpassen sollte. Sehr wahrscheinlich würde sie früh am nächsten Morgen mitgeteilt bekommen, dass sie alle Tests mit Bravour bestanden hätte und nach Hause fahren könnte, um schnell zu duschen und es noch rechtzeitig zu ihrem Geschäftsessen mit den Hypothekenmaklern zu schaffen.

Den Abend verbrachte Lana damit, in ihrem Krankenhausbett Bebauungspläne abzuzeichnen. Wenn die Schwestern nach ihr schauten, lächelte sie, um besser bedient zu werden, hielt sich aber nicht mit Plaudereien auf. Sie piksten und untersuchten sie, während Lana arbeitete. Im Büro wusste niemand, wo sie war. Dazu gab es keinen Grund.

Der nächste Tag fing gar nicht gut an. Lana wachte früh mit benebeltem Hirn und einem Ausschlag von der gestärkten Krankenhauswäsche auf. Um halb acht rief sie ungeduldig eine Schwester und drängte sie, jemanden zu holen, der etwas zu sagen hatte. Der Arzt, der dann auftauchte, war groß, mager und ganz und gar nicht hilfreich. Die Tests seien noch nicht abgeschlossen. Nein, Lana könne nicht gehen und später telefonisch die Ergebnisse erfragen. Nein, es gebe keine Laptops für Patienten. Ja, sie würde einfach warten müssen.

Lana zählte die Wasserflecken an der Decke und machte Listen von Aufgaben, die sie erledigen wollte, sobald sie wieder im Büro war. Sie wollte eine Cola light. Sie wollte ihr eigenes Bad. Sie wollte hier raus.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kam ein neuer Arzt herein, ein Mann mittleren Alters mit zerzausten Haaren und abgewetzten weißen Sneakern. Er zog einen wackligen Wagen vom Flur herein, dessen Räder schrill quietschten.

»Mrs. Rubicon?«

»Miss.« Lana hockte mit Blazer und Pumps auf dem Besucherstuhl und tippte wild in ihr Handy. Sie schaute nicht mal auf.

»Ich hab hier ein paar Bilder vom MRT und CT, die wir gestern bei Ihnen angefertigt haben.«

»Könnten Sie sich auf das Wesentliche beschränken?« Ohne ihr Tippen zu unterbrechen, unterzog Lana ihn einer kurzen Musterung. »Ich muss wohin. Besser gesagt musste, schon vor drei Stunden.«

»Das werden Sie bestimmt sehen wollen, Ma’am.«

Der Arzt rollte den Wagen mit dem Computer zu Lanas Stuhl und öffnete klickend ein paar Dateien. Dann schob er den Monitor zu ihr und trat beiseite.

Es war schon seltsam, den eigenen Kopf auf dem Bildschirm eines fremden Computers zu sehen. Die Bilder waren schwarz und grau, mit dünnen weißen Linien, die Lanas Schädel, ihre Augenhöhlen und den Ansatz ihrer Wirbelsäule markierten. Lana stand auf, stellte sich neben den Arzt und beugte sich so dicht wie möglich zum Bildschirm. Mit der Maus zeigte der Arzt ihr vier verschiedene Ansichten ihres Kopfs: von oben, vorne, hinten und im Profil. Lana versuchte, seinen zuckenden Bewegungen zu folgen, und sah die graue Hirnmasse in der Dunkelheit rotieren, auf der Suche nach einem festen Fundament.

Als der Arzt zufrieden war, drückte er auf einen Knopf, und die graue Masse wurde bunt. An der Rückseite ihres Schädels sah man dicht nebeneinander drei Flecke in leuchtendem Orange, die von pinkfarbenen Höfen umgeben waren.

»Was ist das denn?«, fragte sie.

»Der Grund, warum Sie hier sind«, erwiderte er. »Hatten Sie in letzter Zeit öfter Kopfschmerzen? Eine verschwommene Sicht? Wortfindungsstörungen?«

Eine winzige Nadel der Furcht bohrte sich durch Lanas Selbstvertrauen. Aber mit ihr stimmte alles. Sie war die fitteste, aktivste Frau in der Schar ihrer Freundinnen. Die alle Single waren. Alle berufstätig. Die alle schwachköpfige Ex-Männer überlebt hatten, ohne dass es ihrem Bankkonto oder ihrer Würde geschadet hätte. Lana war stilettoscharf. Lana stand in der Blüte ihres Lebens.

Zumindest bis gestern Morgen.

»Diese bunten Flecke sind Tumore«, erklärte Dr. Abgewetzte Sneaker. »Sie bewirken Schwellungen, sodass der Teil Ihres Gehirns, der Gleichgewicht und Grobmotorik kontrolliert, nicht mehr genügend durchblutet wird. Deshalb sind Sie umgekippt.«

»Tumore?«

Er nickte. »Die müssen raus. So schnell wie möglich.«

Lana ließ sich wieder auf den harten Besucherstuhl sinken. Sie richtete die Spitzen ihrer Pumps parallel zueinander aus und hielt sich so gerade, dass ihre Muskeln zuckten.

»Ich habe Hirnkrebs.«

»Möglicherweise. Hoffentlich.«

»Hoffentlich?« Ihr drohte die Stimme zu versagen.

»Manchmal entsteht der Krebs anderswo im Körper und bildet Metastasen im Hirn. Dann wäre er schlimmer, weiter fortgeschritten. Sobald wir die Tumore entfernt haben, führen wir eine Biopsie durch, um zu bestätigen, dass sie der Krebsherd sind. Und wir machen einen Scan von Ihrem gesamten Körper, um zu sehen, ob es weitere Tumore gibt.«

Sie konzentrierte sich auf seine rissigen Lippen, um ihn allein mit ihrem Willen zu zwingen, das Gesagte zurückzunehmen. Das konnte einfach nicht wahr sein. Als Lana zehn Jahre zuvor Brustkrebs gehabt hatte, war das keine große Sache gewesen. Stadium 0. Für die OP war Beth zwar gekommen, doch den Rest hatte sie allein bewältigt. Nach ein paar Bestrahlungen und einer Brustrekonstruktion, die sie nutzte, um sie ein bisschen anheben zu lassen, konnte sie schon wieder zurück zur Arbeit.

Und jetzt sah dieser Arzt sie an, als wäre sie ein verletztes Vögelchen.

»Verstehen Sie, was ich gerade gesagt habe?«

»Ich muss meine Tochter anrufen«, erwiderte sie nur.

KAPITEL ZWEI

Beth trank einen Schluck von ihrem lauwarmen Kaffee und starrte grübelnd auf ihr Handy. Drei verpasste Anrufe von ihrer Mutter. Und eine Voicemail, in der sie knapp um Hilfe bat. Das war alarmierend, und Lanas Stimme noch mehr. War sie betrunken? Oder von Grippe benebelt? Die Stakkatonachrichten ihrer Mutter klangen sonst immer ganz anders, waren stets eine Mischung aus Prahlerei und Entrüstung, mit einem guten Schuss Schuldzuweisung noch dazu. Aber die hier hörte sich anders an. Kaum zu erkennen. Lanas Stimme klang verloren, fast Mitleid erregend.

Beth überließ Amber den Stationsempfang und verließ Bayshore Oaks durch den Seiteneingang. Sie lächelte dem jungen Mann, der an seinem Auto herumfummelte, beruhigend zu. Es machte ihn sichtlich nervös, das Altenheim zu besuchen. Dann bog sie um eine Ecke und betrat das Wäldchen aus Monterey-Kiefern. Dort holte sie tief Luft und wählte die Nummer ihrer Mutter.

»Ma?«

»Beth, endlich!« Lana hatte die Stimme zu einem eindringlichen Flüstern gesenkt. »Arbeitest du noch für diesen Hirnchirurgen? Den mit den großen Zähnen?«

»Den mit dem Nobelpreis? Du weißt doch, dass ich vor zwei Jahren bei ihm gekündigt habe, um mehr Zeit mit …«

»Beth, hör mir zu! Man hat mir gesagt, ich hätte Tumore. Mehrere. In meinem Gehirn. Deshalb brauche ich sofort eine Operation. Aber du solltest mal die Schuhe sehen, mit denen dieser Arzt herumläuft! Ich meine, wie kann er da erwarten, dass man ihn ernst nimmt?«

Beths mattes Lächeln gefror. »Moment mal. Ganz langsam. Wo bist du? Geht es dir gut?«

»Abgesehen davon, dass ich von einem Radiologen als Geisel gefangen gehalten werde, der sich nicht mal die Haare kämmt, geht es mir gut. Ich bin in der City-of-Angels-Klinik, und angeblich darf ich mich nicht selbst entlassen. Weil sich jemand um mich kümmern müsste. Ich muss aber in eine bessere Klinik. In eine mit echten Ärzten in anständigen Anzügen. Also …«

Die unausgesprochene Frage hing in der Luft.

Beth konnte sich nicht erinnern, dass Lana sie jemals um Hilfe gebeten hätte. Ihre Aufmerksamkeit verlangt? Na klar. Ihre Billigung erwartet? Ständig. Aber ihre Hilfe gebraucht? Ihr Fachwissen anerkannt? Wäre Beth nicht so besorgt gewesen, hätte sie diesen Tag mit einem goldenen Sternchen im Kalender markiert.

»Ma, ich komme natürlich.«

Schweigen. Dabei schwieg Lana nie. Ganz kurz stellte sich Beth ihre Mutter in einem Krankenhausbett vor. Allein, vielleicht sogar ängstlich. Aber es fiel ihr schwer.

Mit ihrer zuversichtlichsten Stimme sagte Beth: »Dr. K. ist im Ruhestand. Aber ich kenne die Oberschwester der Neurologie in Stanford. Das ist eine der besten neurologischen Abteilungen im ganzen Land. Ich rufe sie an.«

»Können wir es nicht an der UCLA machen?«

Da war die Primadonna wieder, mit der sie aufgewachsen war. Beth wusste, es war nutzlos, ihre Mutter daran zu erinnern, dass auch sie ein Leben, einen Job und ein Kind hatte. Stattdessen antwortete sie in der Sprache, die Lana verstand.

»Ma, hier geht’s um Hirnchirurgie. Also muss ich dir das Beste besorgen.«

»Stanford?«

»Stanford. Ich kümmere mich drum.«

»Warte. Da kommt gerade jemand.«

Beth überprüfte ihre Aufgaben für den Rest des Tages. Noch zwei Patienten, allerdings nichts Kompliziertes: Checken der Vitalwerte, Baden und Plaudern. Das würde Amber sicher für sie übernehmen. Jack hatte sie schon per SMS um die Erlaubnis gebeten, nach der Schule zu einem Fußballspiel zu gehen und bei ihrer besten Freundin Kayla zu übernachten. Perfekt. Also konnte Beth nach L. A. fahren, ihre Mutter holen und sie am nächsten Morgen in Stanford anmelden.

Lanas Stimme drang durchs Handy. »Also gut, Stanford. Aber ich bleibe in einem Hotel.«

»Ma, du kannst dich nicht allein von einer Operation am Gehirn erholen.«

»Aber auch nicht in einem Schuppen, der jede Minute in einem Schlammloch versinken kann.«

Beth schloss die Augen und widerstand dem Drang, ihr Handy wegzuschleudern. »Es ist zwar nicht deine Wohnung und auch nicht L. A., aber es ist nett. Versprochen.«

Erneut trat eine lange Pause ein, in der Lana, so vermutete Beth, innerlich aufzählte, in welchen Aspekten das schäbige Haus ihrer Tochter und das nahe gelegene Provinznest nicht mal ihren Mindestanforderungen genügten.

»Erkundigst du dich bitte, wann du heute entlassen werden kannst?«, fragte Beth.

»Ich soll erst noch mit einem Onkologen reden, aber danach kann ich gehen.«

»Ist gut. Warte auf mich. Sammle so viele Informationen, wie du kannst. In fünf Stunden bin ich da.«

In ihrem alten Camry bretterte Beth den Highway hinunter und hielt nur einmal kurz an, um zu tanken und sich einen Energy-Riegel und einen überdimensionalen kalten Kaffee mit Eiswürfeln zu kaufen. Während sie fuhr, rasten ihre Gedanken und wurden immer mal wieder vom Summen des Handys unterbrochen, das Nachrichten ihrer Mutter anzeigte.

Tumore in Hirn, Lunge, vielleicht Darm. Stadium 4, mindestens. Nicht gut.

Dr. popelt in der Nase. HOL MICH HIER RAUS!

Fahr bitte bei meiner Wohnung vorbei. Brauche Laptop, gute Jeans, schwarzes Oberteil (macht schlank)

Wenn ich sterbe, kriegt Gloria mein Auto.

Nach einer Stunde voller Textnachrichten entschied Beth, dass sie weder einen Unfall noch einen Herzinfarkt erleiden wollte, und warf ihr Handy in das Handschuhfach, um sich auf die Straße und ihre immer noch wild umherwirbelnden Gedanken zu konzentrieren.

Beth war medizinische Notfälle gewohnt. Als ausgebildete Krankenschwester war sie zu mehr als einem gerufen worden. Aber ihre Patienten waren alt, gebrechlich und in den meisten Fällen nett. Sie befanden sich im Zustand verzweifelter Hoffnung, wo ein Tag dann gut war, wenn er nicht allzu viele Schmerzen mit sich brachte.

Lana war da ganz anders. Krank war für sie ein Unwort. Beth schätzte, dass sie den Krebs so betrachtete wie alles andere: als eine Reihe von Hindernissen, die mit dem Bulldozer beiseitegeschafft wurden. Genauso hatte sie es vor zehn Jahren mit ihrem Brustkrebsalarm gehalten. Jene Krise hatte sich im Nachhinein als Segen erwiesen, als Schubs des Schicksals, der Lana und Beth zwang, nach fünf Jahren Funkstille wieder miteinander zu sprechen. Seitdem hatten sie eine fragile Beziehung aufgebaut, die aus alljährlichen Passahbesuchen in L. A. und spärlichen, unbehaglichen Telefonaten bestand, wo sie sich an ungefährliche Themen wie Lanas Arbeit oder Jacks Schulnoten hielten.

Aber die Informationen aus diesen wirren Nachrichten klangen alles andere als ungefährlich. Und der Umstand, dass Lana sie angerufen hatte, um Hilfe gebeten und sogar zugestimmt hatte, zum Elkhorn Slough zu kommen: Das war geradezu Furcht einflößend.

Fünf vollgestopfte Koffer, eine Kiste Akten und Unterlagen und zwei Latte macchiato mit dreifachem Espresso später fuhren die Rubicon-Frauen Richtung Norden. Während Beth am Steuer saß, erledigte Lana Anrufe, wies ihre Freundin Gloria an, ihre Pflanzen zu gießen, ihren Nachbarn Ervin, ihre Post aufzuheben, und ihre Assistentin Janie, alles andere zu übernehmen.

»Betrachte es als Chance, zu wachsen«, erklärte Lana, als sie ihr eine lange Liste mit Anweisungen diktiert hatte.

Als Janie nachhakte, was sie denn ihren Kunden sagen sollte, senkte Lana den Blick auf ihre schwarzen, offenen Satinpumps, als suchte sie dort nach Inspiration. Sie registrierte, dass der tiefblaue Lack auf ihren Fußnägeln abblätterte.

»Sag ihnen, es geht um eine Operation am Fuß. Sehr kompliziert. Ich brauche einen Spezialisten. In einer anderen Stadt. In sechs Wochen bin ich wieder im Büro.«

Beth warf ihrer Mutter einen Blick zu.

»Was?«, wehrte Lana ab, nachdem sie aufgelegt hatte. »Man hat mir gesagt, ich hätte vielleicht noch mehr Tumore. Könnte doch einer im Fuß sein.«

»Sechs Wochen, Ma?«

»Scheint mir mehr als genug, um die OPs hinter mich zu bringen, einen Behandlungsplan aufzustellen, wieder nach Hause zu fahren und all diese Unannehmlichkeiten zu vergessen. Außerdem würden wir ohnehin nicht länger in einem Haus miteinander überleben.«

Nach zwei Stunden im Schneckentempo durch den Verkehr von L. A. hatten sie die Stadt hinter sich gelassen. Beths Camry schnaufte gerade einen mit Zitrusbäumen gesäumten Bergpass hinauf, als sich die ersten Sterne zeigten. Bei den Weinbergen schloss Lana die Augen, und Beth fuhr schweigend weiter und betrachtete die geschwungenen Hügel, die sich zur tintenschwarzen Monterey Bay öffneten. Selbst in der Dunkelheit machte sich der Ozean bemerkbar, warf sich rauschend gegen Felsen und sprühte Nebel und Salzwasser über die Brücke, die das Meer von Erdbeerfeldern trennte.

Beths Haus hockte zwischen Ozean und Farmland auf einem winzigen Abschnitt aus Kies und Sand über dem Elkhorn Slough. Beth liebte es, wie die Salzwiesen sich mit den Gezeiten veränderten, wie das Wasser sich hob und senkte wie der Brustkorb eines atmenden Geliebten. Als sie vor fünfzehn Jahren hierhergezogen war, hatte sie Elkhorn nur als vorübergehende Zuflucht betrachtet. Aber mittlerweile genoss sie den Morgennebel und die wilde Natur, die weich war, wo Los Angeles hart war, schroff, wo die Stadt glatt war. Als Beth mit ihrer Mutter zur Haustür ging, widerstand sie dem Drang, auf die selbst gebauten Pflanzkästen aus Treibholz zu weisen, die sie mit Sukkulenten bestückt hatte, und den von ihr geflochtenen Kranz aus Farn. Sie führte Lana in Jacks Zimmer und wappnete sich innerlich gegen das Urteil ihrer Mutter über die gebrauchten Möbel, die abgelaufenen Dielen und den torfigen Geruch des Marschlands, der zu ihnen heraufwehte.

In jener Nacht verlor Lana kein Wort über Inneneinrichtung oder Schlamm. Lana sagte überhaupt nichts. Ihre Miene war grimmig entschlossen, ihr Mund zu einem schmalen Strich zusammengekniffen. Beth öffnete die Tür zu Jacks Zimmer, winkte Lana zum Bett und half ihr, die Schuhe auszuziehen. Es verstörte Beth, dass ihre Mutter so gefügig war. Aber es machte die Sache auch einfacher.

Kaum war Lana eingeschlafen, begann Beth, Gefallen einzufordern. Ihre Freundin aus der Neurologie von Stanford hatte für sie bereits den Kontakt zum besten Hirnchirurgen hergestellt, und der hatte sich bereit erklärt, sie am nächsten Tag für ein Vorgespräch einzuschieben. Eine alte Kollegin aus der Onkologie wollte versuchen, jemanden zu finden, der sich noch mal die Bilder ansah. Selbst der Typ, mit dem sie im letzten Jahr liiert war, ein bärtiger Rettungssanitäter aus Big Sur, bot seine Hilfe an. Beth war froh, so viele Jahre Überstunden gemacht zu haben, so oft für andere eingesprungen zu sein und Hausbesuche für einen Arzt übernommen zu haben, wann immer er sie darum bat. Schließlich hatte man nur eine Mutter. Selbst wenn sie eine Nervensäge war wie Lana.

KAPITEL DREI

4. Februar (siebzehn Wochen später)

Ein Schrei vor dem Fenster ließ Lana auffahren. Sie war jetzt seit vier Monaten am Elkhorn Slough, lange genug also, um die Geräusche und Laute der Tiere zu kennen, die hier die Nacht erfüllten. Doch nicht annähernd lang genug, um nicht von ihnen geweckt zu werden. Sie hörte noch einen Schrei, dann ein Rascheln. Da unten war ein Raubtier auf der Jagd.

Lana machte Licht und schob die unzähligen Pillendöschen beiseite, um an ihr Fernglas zu kommen. Es war halb zwei morgens. Eine weitere schlaflose Nacht, die sie den Wundern der modernen Medizin verdankte. Finster starrte Lana auf das halb volle Smoothie-Glas auf der Kommode und musste würgen, als ihr der kalkige Geruch von Blaubeerschaum in die Nase drang. Niemand hatte sie gewarnt, was die Chemotherapie mit ihren fünf Sinnen anrichten würde: Jetzt konnte sie ein verwesendes Tier aus einer Meile Entfernung riechen, aber nicht das Geringste schmecken. Was sie sich auch in den Mund steckte, gerann zu feuchter Wolle, die ihr zäh und eklig in der Kehle stecken blieb.

Es gab vieles am Krebs, auf das sie nicht vorbereitet gewesen war. Die Hirn-OPs waren gut gelaufen. Aber dann eröffneten ihr die Stanford-Ärzte in ihren Zweireihern, dass man die kleine Tumorenarmee in ihrem linken Lungenflügel nicht herausschneiden konnte. Dies war kein kurzer Flirt mit dem Tod, über den man auf Cocktailpartys lachen konnte. Dies entwickelte sich zu einer Langzeitbeziehung, die weit weniger glamourös war.

Die Chemotherapie raubte all ihre Energie – und ihre Haare, die ihr büschelweise im Kamm hängen blieben, bis sie an einem Nachmittag voller Wein und Tränen nach dem Elektrorasierer griff. Und dann verlor sie ihre Arbeit. Ihr Zweihundert-Apartments-Projekt in Westchester ging an eine Idiotin aus Beverly Hills, die einen Nackthund in ihrer Handtasche dabeihatte. Eine dreißigjährige Thronräuberin, die auch drinnen verspiegelte Sonnenbrillen trug, stahl ihr die Hacienda-Lofts. Gott sei Dank behielt Lana ihre Krankenversicherung, doch alles andere nahm man ihr weg. Anfangs war ihre Assistentin Janie noch sehr empört und überbrachte ihr jeden neuen Schlag mit schriller, atemloser Stimme, als würde jemand die künstlichen Fingernägel des Mädchens persönlich an einen Telefonmast nageln. Doch Lana brachte schon kaum die Energie auf, die Geschichte über ihre angebliche Fußoperation aufrechtzuerhalten. Da konnte sie nun wirklich nicht die Hölle gegen eine weitere Jungmaklerin heraufbeschwören, die ihr ihren Platz an der Spitze von L. A.s Geschäftsimmobilienmarkt stehlen wollte. Genau einen Tag vor Thanksgiving rief Janie an, um ihr mitzuteilen, dass sie woanders eine Chance, zu wachsen, gefunden hatte. Lana war überrascht, dass sie das gar nicht kümmerte. Sie legte einfach wortlos auf.

Das neue Jahr läutete Lana ohne Haare, ohne Arbeit und ohne klare Antwort auf die Frage ein, wann alles überstanden sein würde. »Es ist zu früh, das zu sagen«, wiederholten die Ärzte ein ums andere Mal, als wäre sie eine Kristallkugel, die Krankheiten anzeigte. Nach drei Monaten Chemotherapie sollte in zwei Wochen die zweite Runde Scans seit Beginn der Behandlung durchgeführt werden. Bald würde sie wissen, ob es ihr besser ging oder ob sie für immer im Hinterzimmer der Strandhütte ihrer Tochter festsitzen würde.

Wie ein Todesurteil. So fühlte es sich an. Sogar an guten Tagen hatte Lana nichts zu tun und niemanden, mit dem sie das teilen konnte. Beth war auf der Arbeit. Jack war in der Schule oder paddeln. Lana hatte nicht mal das dritte Carepaket von Gloria geöffnet, wahrscheinlich war auch das wieder nur mit nutzlosen Kinkerlitzchen wie Liebesromanen und Bergkristallen gefüllt. So beobachtete sie, wie das Leben vor ihrem Fenster weiterging: wie Fischreiher auf den Sandbänken jagten, Otter ihre flaumigen Jungen an die Brust drückten und Kajakfahrer durch die Gezeiten pflügten. Sie fühlte sich wie eine Außenstehende, die für eine Rolle vorsprach, die sie gar nicht haben wollte. Niemand bat sie um ihre Unterschrift. Niemand fragte sie nach ihrer Meinung. Ihr Leben war bedeutungslos. Das war fast so deprimierend wie der Krebs.

Zwei Uhr morgens, und sie schlief immer noch nicht. Die Schreie waren verstummt, aber vom Strand drangen weiterhin quietschende und raschelnde Geräusche zu ihr hoch. Lana zog die Jalousien hoch und schaute auf der Suche nach der Quelle durchs Fernglas.

Der Vollmond über den Salzwiesen tauchte die ganze Welt in Grau: dünne Wolken, körnige Felder, rasch dahinströmendes Wasser. Das Mondlicht tanzte auf dessen Oberfläche, aus der Seehunde auftauchten, und Krebse jagten in den feuchten Sandflächen, die den schmalen Strand unterhalb des Hauses säumten. Obwohl Strand ein zu großer Begriff war für den dürftigen Streifen aus Kies, Algen und verrottenden Quallen, der sich von Beths mickrigem Wohnviertel bis zu dem alten Kraftwerk und dem Jachthafen erstreckte. Zweimal am Tag wurde das Ufer von einem Strudel aus Fluss- und Meereswasser verschluckt und dann bei Ebbe wieder ausgespuckt – zusammen mit Treibholz, alten Autoreifen und allem möglichen Kram, den der Pazifische Ozean nicht mehr wollte.

Lana überschaute mit dem Fernglas den Strand. Am hinteren Ende sah sie, wie etwas mit pelzigen Pfoten und glühenden Augen Sand in die Luft scharrte. Ihr schreiender Nachtmahr war ein Rotluchs, der mit einem schlaffen Nagetier im Maul hektisch ein Loch grub. Um dort ungestört seine Beute zu verspeisen? Oder um sie für später zu lagern? Wie auch immer, sie hoffte nur, er würde mal aufhören, solchen Krawall zu veranstalten.

Lana ließ das Fernglas sinken und blickte übers Wasser. Nur Schlamm und Getier, wohin sie auch schaute. Sie vermisste ihre Wohnung in Santa Monica, wo die einzigen nächtlichen Geräusche von Autos stammten und die Tierwelt ausschließlich aus hypoallergenen Zuchthunden bestand. Das Leben in Los Angeles verstand sie, es war ein wimmelnder Bienenkorb, durch den sie sich ihren Weg ins Zentrum bahnte, als Königin – oder zumindest nicht als Drohne. Aber der Elkhorn Slough war etwas ganz anderes, er gehörte dunklen, verborgenen Kreaturen.

Ein Flackern am hinteren Ende des Marschlands riss Lana aus ihren Gedanken. Ein kleiner Lichtkreis, schwach und gelb, zuckte wild durchs Gestrüpp. Lana hob das Fernglas an die Augen und fuhr langsam den Landstrich ab, hin und her und wieder zurück. Schließlich entdeckte sie die Quelle: ein Mensch mit einer Taschenlampe, der über einen schmalen Pfad Richtung Nordufer stapfte. Der Mann – war es ein Mann? – schob etwas. Gegen die Februarkälte trug er einen übergroßen Mantel, Hut und Handschuhe.

Eine Schubkarre. Die schob er vor sich her. Um zwei Uhr morgens.

Lana runzelte die Stirn. Sie war immer ein Stadtmädchen gewesen, aber das kam ihr nun doch seltsam vor. Sicher gab es keine Farmerspflichten, die mitten in der Nacht erledigt werden mussten.

Der Mann bewegte sich schnell zum Brackwasser hinunter. Während er durch das hohe Gras pflügte, kippelte die Karre und geriet immer wieder außer Sicht. Entweder war seine Last schwer oder der Boden uneben. Vielleicht auch beides.

Er hielt in einer Kuhle im Marschland, die Lana nicht gut einsehen konnte. Dort blieb er ein paar Minuten und schien etwas auszubreiten oder zu arrangieren. Lana ertappte sich dabei, dass sie mit angehaltenem Atem auf sein Wiederauftauchen wartete. Stattdessen hörte sie ein Platschen. Der Mann schoss in die Höhe, tauchte mit dem Hut und den dunklen Schultern aus der Kuhle auf. Dann drehte er sich um und starrte über die Salzwiese hinweg direkt zu Lana.

Erschrocken wich Lana zurück. Unmöglich, dass der Mann sie über diese Entfernung im Dunkeln sehen konnte! Und doch. Sie hätte schwören können, seinen glühenden Blick zu spüren.

Nein, das war unmöglich. Sie erkannte, dass die Hitze aus ihrem eigenen Körper kam, weil sie die Luft angehalten und sich so sehr konzentriert hatte. Mit einem Mal überkam sie die wilde Sehnsucht, dieser Mann zu sein – kein Farmer, sondern jemand da draußen in der Welt, der etwas tat, etwas Körperliches, etwas klar Umrissenes, Greifbares, während alle anderen schliefen. Das war das Leben, zu dem sie geboren war. Sie war eine Macherin, keine Zuschauerin.

Trotzdem stand sie hier und umklammerte ihr Fernglas. Sie beneidete den Mann dort drüben am Nordufer, der weiße Atemwolken in die Dunkelheit stieß. Eine ganze Minute lang starrte er über das Wasser. Dann wandte er sich ab.

Lana schloss abrupt die Jalousien und ließ sich zurück aufs Bett fallen. Plötzlich fühlte sie sich erschöpft, verquollen, mit zum Platzen gespannter Haut, als hätte sie einen ganzen Tag am Strand in der Sonne gelegen. Als sie noch einmal durchs Fernglas spähte, war der Mann verschwunden. Auch der Luchs hatte sein Gescharre beendet. Der einzige Laut stammte vom Virginia-Uhu, der zum Schlafen heimgeflogen kam.

KAPITEL VIER

»Tiny! Hey, Tiny!«

Jacqueline Avital Santos Rubicon, alias Jack, alias Tiny, hob ihr Paddel aus dem Wasser und drehte sich um. Der Achtjährige vorne in Kajak 12 schwenkte beide Arme in der Luft, als hätte er gerade die versunkene Stadt Atlantis entdeckt.

»Du hast gesagt, ich soll Ausschau nach Quallen halten«, brüllte er. »Und ich hab die allergrößte gefunden!«

Er beugte sich vor und zeigte auf eine schimmernde Blase. Dabei wackelte das Boot so, dass seine Mutter gegenhalten musste, um das Gleichgewicht wiederherzustellen.

»Großartig, Kumpel«, sagte Jack. »Siehst du, wie sie pulsiert?«

Der Junge starrte ins Wasser und nickte feierlich.

»Das ist toll. Aber vergiss nicht, manche Vögel und Otter mögen es nicht, wenn wir laut sind. Schließlich befinden wir uns in ihrem Zuhause, verstehst du?«

Wieder nickte er, der Blick ernst wie bei einem Pfadfinder, der Mund ein breites Grinsen.

Sie zeigte ihm ihre gereckten Daumen und glitt an ihm vorbei. Dann hielt sie inne, um zuzusehen, wie ein Otter sein Junges fütterte und der winzigen Flauschkugel an seiner Brust kleine Stückchen Flusskrebs anbot. Jack fühlte sich selbstsicher und zuversichtlich, viel mehr als an Land. Auf dem Wasser war ein ein Meter zweiundfünfzig großer Teenager halb jüdischer und halb philippinischer Herkunft genauso ernst zu nehmen wie jeder andere.

Jack arbeitete seit fast zwei Jahren an den Wochenenden als Kajak-Tourguide, und nach ihrer Rechnung würde sie nur noch neun weitere Monate brauchen, um sich vom Lohn ein gebrauchtes Segelboot kaufen zu können. Ursprünglich hatte sie für ein eigenes Auto sparen wollen, aber je mehr Zeit sie damit verbrachte, im trägen Wasser zwischen Jachthafen und Salzwiesen zu paddeln, desto größer wurde ihre Sehnsucht, immer weiter zu fahren, in wilderes Gewässer, ins offene Meer. Nicht, dass sie den Elkhorn Slough nicht liebte. Sie kannte nur mittlerweile seine Geheimnisse.

Jeden Samstag bretterte sie um acht Uhr morgens mit ihrem Fahrrad zur Kajakbude, obwohl ein Großteil des Jachthafens noch schlief. An diesem Morgen kettete sie ihr Zehngangrad hinter einem schicken grünen Mountainbike an den Zaun, das sie hier noch nie gesehen hatte. Es war nicht mal abgeschlossen und stand da, als wollte es geklaut werden. Unglaublich! Manche Menschen vertrauten darauf, dass das Universum für sie sorgte. Und dann gab es Menschen wie Jack, die für sich selbst sorgten.

Der Morgen verflog in einem Wirbel aus Schwimmwesten, Neoprenanzügen und aufgeregten Touristen. Um neun führte sie eine Familiengruppe in den Gezeitensumpf und hatte danach eine private Tour mit einem tierlieben Pärchen, das seine Stunde damit verbrachte, ein paar ältere Otter zu beobachten, die sich an einem sonnigen Fleckchen unterhielten. Jack richtete ihre Kameras in die richtige Richtung, wofür sie nach dem friedlichen Ausflug mit einem Zwanzigdollarschein belohnt wurde, den sie mit einer einzigen routinierten Bewegung entgegennahm und in ihre Tasche steckte.

Sie rannte ins Büro, um vor der letzten Tour des Tages kurz noch was zu essen, und winkte Travis zu, der am Schreibtisch saß. Mit ihrem Sandwich ging sie durch die Hintertür nach draußen und bog in dem Augenblick um eine Ecke, als Paul Hanley in verblichenen Boardshorts aus der Außendusche kam. Der Besitzer der Kajakbude war mindestens vierzig, zog sich aber immer noch an wie ein halbwüchsiger Surfer. Mit seinem Handtuch rubbelte er sich die blonde Mähne trocken und schlenderte zu ihr.

»Tiny! Hey. Muss dich was fragen.« Paul hatte sich angewöhnt, all seine Tourguides mit Spitznamen anzureden – aus Gründen der Vertraulichkeit, behauptete er. Erst wollte er sie Moana nennen, weil sie klein und braun war und furchtlos mit dem Paddelboard umging, doch Jack hatte sich den Rat ihrer Großmutter zu Herzen genommen und starrte ihn nur finster an, bis er zurückruderte und stattdessen Tiny vorschlug.

»Kannst du heute Abend abschließen?«, fragte er nun.

»Aber ich hab doch schon aufgeschlossen«, erwiderte Jack. »Kann Travis das nicht übernehmen?«

»Er meinte, er könnte noch bleiben, bis alle eingecheckt sind, aber dann …« Paul sah sie mit großen Augen hoffnungsvoll an.

»Okay, na gut.« Sie nickte. »Dann schließe ich nach der Sonnenuntergangstour ab.«

»Du bist die Beste.« Paul drehte sich um und zog ein löchriges T-Shirt über den Kopf. »Hey, ich hab heute im Jachtclub ein Mädchen, das heißt, eine Frau kennengelernt. Sie ist übers Wochenende hier, mit dem schönen Zwanzig-Meter-Boot am Tankdock. Und die hat mich gebeten, heute Abend und vielleicht auch morgen noch mit zum Marlinfischen rauszufahren. Als Privatguide.«

Im Klartext: Paul wollte flachgelegt werden, und Jack war auf sich allein gestellt.

Nachdem Jack ihren Ärger über sich selbst überwunden hatte, weil sie von Paul keinen Überstundenzuschlag verlangt hatte, verbrachte sie einen recht unterhaltsamen Abend. Alle anderen Mitarbeiter in der Kajakbude waren männlich und älter und eigentlich ziemlich cool zu ihr. Dennoch war es schön, mal nicht, und sei es auch nur unterschwellig, als jemand behandelt zu werden, der nicht wusste, was er tat. Für die Sonnenuntergangstour an diesem Samstag waren nur Erwachsene angemeldet: zwei sportliche Frauen, ein älterer Mann mit buschigen Augenbrauen und kahlem Kopf und eine Junggesellenparty aus acht jungen Männern, die alle die gleichen Hawaiihemden trugen. Die Truppe kam ziemlich spät und platzte in Jacks Sicherheitsanweisungen genau in dem Moment, als sie den Frauen erklärte, dass es zu dieser Zeit des Jahres keine Haie im Gezeitensumpf gab.

»Abgesehen von dir, Brian«, sagte einer der jungen Männer und schlug seinem Kumpel auf den Rücken. »Du bist ein Hai.«

»Sharknado, Alter.«

»Nein, Mann, eher wie Brian SHARK du du du, Brian SHARK du du …«

Jack rieb sich die Schläfen, als noch weitere in die Melodie von »Baby Shark« einstimmten. Würden diese Idioten ihr Ärger machen? Paul sagte immer, bei den Touren ginge es nicht darum, niedliche Seelöwen zu sehen, sondern in Kontakt mit der wilden Natur zu kommen; um den Nervenkitzel, wenn man sich aus seiner Komfortzone bewegte. Jacks Aufgabe bestand nicht darin, das zu verhindern, sondern es zu fördern: die Abenteuerlust ihrer Kunden zu befriedigen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass sie nicht in Gefahr gerieten. Solange niemand zu Schaden kam, war ein bisschen Grenzüberschreitung gut und schön.

Die anderen wirkten ebenfalls amüsiert. Die beiden Frauen lächelten nachsichtig und wippten zum Song. Der Kahlkopf klatschte sogar mit. Als das Gegröle verstummte, räusperte sich Jack.

»Alles klar. Also keine Haie zu dieser Jahreszeit.« Jack warf dem Bräutigam ein Lächeln zu. »Außer Brian. Aber sobald wir aus dem Hafen sind, gibt es Quallen. Also versucht, nicht ins Wasser zu fallen.«

Ohne weitere Gesangseinlagen ließ die Gruppe sich zeigen, wie man im Kajak paddelte. Am Ende klatschten die jungen Männer jeden ab. Zu ihrer eigenen Überraschung machte Jack grinsend mit und versuchte sich mit einem von ihnen an einer komplizierten Abklatschfolge. Die Jungs erinnerten sie an Welpen, und ihre Energie war ansteckend. Hier drohte keine Gefahr.

Als sie aber auf dem Wasser waren, wurden sie wilder. Einer von ihnen hatte sich eine Flasche Tequila in die Schwimmweste gestopft, und jede Sichtung eines Otters wurde mit einem Schluck begossen. Sie warfen sich gegenseitig die Flasche zu und hänselten einander, wenn sie sie nicht fingen. Die anderen Teilnehmer der Tour machten den Spaß mit. Der Kahlkopf gluckste, die beiden Frauen flirteten.

Als es kühler wurde, kamen Jack langsam Zweifel über ihren »Wir sind alle Freunde«-Ansatz. Sie war jung und klein, und die wilden Kerle hörten nicht mehr auf sie. Genauso wenig wie die anderen. Irgendwann musste Jack das Kajak einer der Frauen festhalten, damit es nicht umkippte. Die Frau hatte sich weit herausgelehnt und versucht, einen der jungen Männer zu küssen. So viel zur Angst vor Haien.

Als eine zweite Flasche Tequila auftauchte, hatte Jack genug. Sie ließ die Gruppe frühzeitig umkehren und führte sie in einem ausgebeulten Bogen zurück zum öffentlichen Angelanleger. Zwei von den Jungs waren so voll, dass sie nicht mal wenden konnten, und trieben in den schlammigen Ableitungskanal hinter den morschen Pfeilern des Piers. Mit drei raschen Schlägen war Jack bei ihnen, entriss ihnen die Paddel und machte ihre Boote an ihrem eigenen fest. Danach kam der Rest des Trupps an die Reihe. Sie band ihre Kajaks aneinander, sodass sie wie eine Reihe ungehorsamer Entchen wirkten, die ihrer leidgeprüften Mutter nach Hause folgten.

Jack war nur noch wenige Meter vom Ufer entfernt, als einer der Männer hinter ihr zum Wettbewerb aufrief, so viele Krebse wie möglich zu küssen. Dann hörte sie ein Platschen. Und dann noch eins. Als sie sich umschaute, waren die vier Boote hinter ihr leer, und acht erwachsene Männer tummelten sich johlend und brüllend im öligen Wasser.

Jack wog ihre Möglichkeiten ab. Schließlich war sie für die Herren verantwortlich. Es war dunkel und das Wasser eiskalt. Aber hier im Hafenbecken nur knietief. Sie würden es überleben. Jack glitt ans Ufer. Die Frauen eilten schon zur Kajakbude, um sich umzuziehen, aber der Kahlkopf stand immer noch dort, beobachtete das alberne Treiben und lachte dröhnend. Jack schob sich an ihm vorbei und zog die leeren Kajaks ans Ufer. Dabei behielt sie die hüpfenden Schwimmwesten im Wasser im Auge. Ja, sie würden klarkommen.

Sie hatte alle Kajaks bereits eingeräumt, als die tropfnassen Männer schließlich aus dem Wasser wateten. Zitternd zockelten sie im Dämmerlicht zu ihr zum Rand des Parkplatzes. Der Hafen war still, alles für die Nacht fertig gemacht, und die anderen Touristen waren längst verschwunden. Der Trauzeuge grinste verlegen, als er Jack hundert Dollar in die Hand drückte, bevor er seine nasse Hose hochkrempelte und über den Parkplatz taumelte. Sie warf einen Blick auf den Geldschein und lächelte. Mit solchen Trinkgeldern wurden Segelboote möglich.

In der Zeit, die Jack brauchte, die drei Meilen bis zum Haus zu radeln, führten Lana und Beth Krieg. Beth war draußen auf der Frontveranda und schrie ihre Mutter an; Lana war im Haus und schrie zurück; und zwischen ihnen standen zwei zunehmend unbehaglich dreinblickende Männer und hielten Beths altes Sofa in der Tür zwischen ihnen.

Lana erkannte, dass es ein taktischer Fehler gewesen war, nicht darauf zu achten, dass das neue Sofa nur dann angeliefert werden durfte, wenn ihre Tochter bei der Arbeit war. Allerdings änderte sich Beths Schichtplan ständig, und Lana hielt es einfach nicht mehr aus, in einer Hütte zu wohnen, die mit willkürlich zusammengewürfelten Möbeln und Lampen aus Palmwedeln eingerichtet war. Das Ganze sah aus, als wäre Martha Stewart für sehr lange Zeit auf eine einsame Insel verbannt worden. Neulich hatte Beth sogar eimerweise Steine vom Sumpf hochgeschleppt. Lana befürchtete, sie würde bald einen Sofatisch aus Flusssteinen bauen.

»Beth, sei doch vernünftig«, sagte Lana nun mit bemüht ruhiger Stimme, während sie mit einer Hand die Arbeiter drängte, sich mit dem durchgesessenen Sofa an ihrer Tochter vorbeizuschieben.

»Das war nicht abgesprochen«, entgegnete Beth. »Du hättest vorher fragen sollen.«

»Darf ich meiner Enkelin etwa kein anständiges Schlafsofa kaufen? Möchtest du nicht auch, dass sie gut schläft?«

»Darum geht es nicht, Ma.«

»Deine Tochter hat mir ihr Zimmer überlassen und schläft seit Monaten auf diesem klumpigen Sofa. Das ist doch wirklich das Mindeste, womit ich ihr danken kann.«

Beth warf Jack einen Blick zu, die verdächtig lange brauchte, um ihren Fahrradhelm abzulegen. Dann atmete sie geräuschvoll aus und trat einen halben Schritt beiseite, woraufhin die beiden Männer sich beeilten, die Patchworkcouch die Stufen hinunter zu ihrem wartenden Lieferwagen zu schleppen. Triumphierend sah Lana zu, wie sie mit einem brandneuen cremefarbenen Sofa mit zierlichen vergoldeten Beinchen zurückkehrten.

Nachdem sie das Haus wieder verlassen hatten, zogen sie noch einen großen Pappkarton aus dem Wagen.

Auf Beths fragenden Blick antwortete Lana eilig: »Das ist eine neue Matratze für mich. Europäische Pillow-Top-Matratze. Lordosenstütze ist wichtig für meine Genesung.«

»Aber …«

»Möchtest du auch eine neue Matratze? Kein Problem, ich kann sie in fünf Tagen für dich hier haben.«

Beth biss die Zähne zusammen und starrte auf die Männer, die den Karton die Stufen zur Veranda hinaufwuchteten. »Ich mag keine Fremden in meinem Haus.«

»Fremde? Ich bitte dich! Dies hier ist Max, und das Esteban.« Lana strahlte die beiden an. »Nächste Woche streichen sie die Zimmer neu.«

Während die Männer die Matratze ins Haus zwängten, zog Lana einen Stapel Farbmuster aus ihrer Bademanteltasche und begann, sie auf der Verandaschaukel auszubreiten. Jack, die nach Salzwasser und Gummi roch, trat hinter sie und legte einen Finger auf eines der Muster.

»Das ist wie French Vanilla«, sagte sie und bückte sich, um es besser sehen zu können.

Lana nickte. »Ich dachte, das würde gut in die Küche passen. Oder es wäre nett für mein Schlafzimmer. Deins, wollte ich sagen.«

»Auf keinen Fall«, widersprach Beth.

»Gefällt dir Arktic Grey besser?«

»Mir gefällt das Haus, das wir haben

Lana sah Beth mit großen Augen an. »Ich sorge dafür, dass alles gemacht wird, während du arbeiten bist. Du musst die beiden nicht mal sehen. Die Tapete mit dem Farn in der Küche blättert doch praktisch schon von den Wänden ab …«

»Ma, das meine ich nicht. Du wirst meine Möbel nicht austauschen. Du wirst mein Haus nicht umgestalten.«

»Ich möchte es doch nur wohnlich machen …«

»Es ist wohnlich. Jack und ich haben es fünfzehn Jahre lang wohnlich gemacht. Klar?«

Lana blickte zu Jack in der Erwartung, dass sie für sich selbst sprach und kundtat, was sie wollte. Aber das Mädchen nickte nur und sah verunsichert seine aufgebrachte Mutter an.

»Wir freuen uns, dich hier zu haben«, sagte Beth in versöhnlicherem Ton. »Wir können das neue Sofa behalten. Und deine Matratze. Aber bitte, mach mal ’ne Pause.«

»Pause kann ich machen, wenn ich tot bin!«

»Und wir tun alles dafür, dass es bis dahin noch lang hin ist.«

»Aber der Anblick eurer Tapeten bringt mich um!« Lana schob die Farbmuster zusammen, stopfte sie in ihre Tasche und schlurfte ins Haus zurück.

KAPITEL FÜNF

Jack versprach sich selbst, dass ihre Schicht am Sonntag ganz anders werden würde. Wie aus dem Lehrbuch. Ruhig. Der frühmorgendliche Nebel entsprach ihrer Stimmung und hüllte sie in eine silbrige Decke, die jedes Geräusch dämpfte, während sie Richtung Hafen radelte. Als sie an der Kajakbude ankam, war dort noch alles still. Das grüne Mountainbike war verschwunden, entweder von seinem Besitzer oder jemand anderem mitgenommen. Kein Mensch in Sicht. Offenbar dauerten Pauls Privatstunden noch an.

Jack schloss also selbst die Kajakbude auf, legte neue Formulare für Haftungsverzicht in Klemmbretter ein und zog Boote zum Wasser. Jorge, einer der älteren Guides, traf ein und übernahm die für neun Uhr angemeldete Gruppe – sechs Personen, ruhig und umgänglich –, während Jack sich um den Shop kümmerte. Bevor sie sichs versah, war es Zeit für ihre Elf-Uhr-Gruppe.

Keiner der Teilnehmer sah nach Ärger aus. Da waren eine fünfköpfige Familie aus Deutschland, ein Gespann aus Vater und Sohn, ein junges Pärchen und eine abgeklärte ältere Frau mit sonnengebräunter Haut. Um fünf nach elf hatte Jack die Gruppe am Wasser aufgereiht und erklärte ihr mit ihrer erwachsensten Stimme die Regeln zur eigenen Sicherheit und zum Schutz der Natur. Keine Songs über Haie. Kein Alkohol. Um zehn nach elf waren sie auf dem Wasser.

Diese Tour war genau das, was Jack gebraucht hatte. Die Kinder mochten ihren Spitznamen, die Erwachsenen wussten ihr Wissen über die Wanderungsmuster der Fischreiher zu schätzen, und selbst die Otter zeigten sich von ihrer besten Seite. Jacks kleine Kajakgruppe fuhr zügig flussaufwärts und hielt kurz am schmalen Strand von Kirby Park, wo Seehunde lagerten, um den Tag zu verschlafen. Der Junge und sein Vater in Kajak 33 paddelten schon weiter, um die Mündung eines der Seitenarme zu erkunden. Das Pärchen in Kajak 9 war von Sardinen besessen und schoss tausend Fotos von den glänzenden Schwärmen, die unter ihrem Rumpf durch den Tang zogen.

Als der Wind auffrischte, lenkte Jack alle in die deutlich erkennbare Spur aus Glattwasser, die sie zurück zum Hafen bringen würde. Alle Boote brachen Richtung Westen auf, bis auf Nr. 33. Vater und Sohn. Stirnrunzelnd schaute Jack sich um. Wo waren sie?

Sie ließ ihren Blick mit zusammengekniffenen Augen über das Wasser schweifen. Da war ihr Kajak, drüben im flachen Gewässer des Sumpfs, und wippte an Ort und Stelle. Steckten sie fest? Jack wies die anderen an, zu warten, und paddelte über die Fahrrinne.

Der Vater hatte das Kajak verlassen und stand im flachen Sumpf. Das Kind beugte sich über den Rand, sodass das Boot schaukelte. Hatten sie ein Paddel verloren?

»TINY

Das Kind schrie.

Jack paddelte entschlossener, um zu ihnen aufzuschließen. Sie wirkten unversehrt, Jack sah keine Verletzung oder so etwas, doch sie rührten sich nicht vom Fleck. Vielleicht waren sie zu neugierig gewesen und von einer Qualle verbrannt worden. Jack paddelte noch schneller und angelte mit dem Fuß nach dem Erste-Hilfe-Set im Bug des Kajaks.

»TINY! TINY

Jetzt kreischte der Junge so schrecklich wie ein schrilles Nebelhorn. Als Jack neben ihnen ankam, brüllte das Kind immer noch und übertönte das Gezwitscher der Vögel über ihnen.

»Tiny.« Die Stimme des Vaters drang durch die Schreie seines Sohnes. »Da.«

Dort, im Schlamm, wo ein Durchlass auf den Sumpf traf, lag ein Mensch. Ein schlammbedeckter, aufgedunsener Mensch. Mit dem Gesicht im Wasser. Reglos. Mit Tang überzogener Pulli, dunkle Hose, Wanderstiefel. Und eine rote Schwimmweste von der Kajakbude.

Jack sprang in den kalten Schlick und stapfte vorwärts, die eine Hand an ihrem Kajak, die andere vor sich ausgestreckt, als wollte sie sich auf der Wasseroberfläche abstützen.

»Hallo?«, rief sie laut. Trotz Neoprenanzug und -schuhen waren ihre Gliedmaßen taub vor Kälte. »Alles in Ordnung?«

Keine Reaktion. Als sie näher kam, sah sie, dass lange braune Haare um seinen Kopf schwebten.

Jack holte tief Luft, streckte den Arm aus und ergriff einen der Riemen von der Schwimmweste, um ihn umzudrehen. Es war ein Mann. Sie kannte ihn nicht. Oder doch? War er auf ihrer Tour gewesen? Wann war er ins Wasser gefallen?

Sie befahl sich, ruhig weiterzuatmen, alle Fragen zu verdrängen und sich nur auf das zu konzentrieren, was vor ihr lag. Der Mann brauchte ihre Hilfe. Jack versuchte, ihn direkt hier im Sumpf wiederzubeleben, doch als sie seine Schwimmweste öffnete, erkannte sie, dass sie hier, wo alles weich und nachgiebig war, auf keinen Fall eine Herzdruckmassage durchführen konnte. Sie musste ihn ans Ufer bringen.

Während sie durch den quatschenden Schlick stapfte und den Mann mit sich zog, ging sie im Kopf noch mal alle Maßnahmen zur Wiederbelebung durch. Doch je näher sie dem Ufer kam, desto deutlicher fiel ihr auf, wie still der Mann war. Seine Haut wirkte auch irgendwie falsch, glitschig und prall, und sein ganzer Körper war von einem dünnen, körnigen Film überzogen.

Jack zerrte ihn ans Ufer und ergriff sein Handgelenk. Kein Puls. Die Augen des Mannes quollen hervor, seine dunklen, geweiteten Pupillen schwammen in einer gelblichen Flüssigkeit. Seine Haut, die aussah, als müsste sie bernsteinbraun sein wie ihre, hatte grünlich-weiße Flecke. Eine Seite seines Kopfs wirkte eingedellt, und unter seinen Haaren lugte etwas Klebriges hervor. Da fügten sich die Puzzleteilchen zusammen, und sie erkannte die ganze schreckliche Wahrheit.

Jack ließ das Handgelenk des Manns los und wandte den Kopf ab. Sie beugte sich übers Wasser, versuchte aber, nicht zu würgen. Dann bahnte sie sich platschend einen Weg zu ihrem Kajak zurück, hielt den Blick fest auf den beruhigenden Anblick des orangen Bugs gerichtet und tauchte beide Hände in das eiskalte Wasser, um das Gefühl seiner glitschigen, klammen Haut loszuwerden.

Bevor sie ins Kajak stieg, schaute Jack ein letztes Mal zu dem Toten, der nun am Ufer lag. Seine Augen waren aufgerissen, als könnte er nicht glauben, wie weit sich die Wolkendecke heute erstreckte.

Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sich Jack ganz weit weg vom Wasser. Egal wohin, Hauptsache nicht hier.

KAPITEL SECHS

Nach einer Schreckminute, in der sie in ihrem Boot den Kopf zwischen die Knie nahm, schaltete Jack in den Effizienzmodus. Sie hatte Verantwortung. Also funkte sie die Küstenwache an und lotste Vater und Sohn zurück zur Gruppe. Sie zählte sie durch. Alle von ihrer Tour waren anwesend. Und sie würden jetzt zurück ans Festland fahren. Der Tote lag am Ufer und würde nirgendwo mehr hingehen. Der Vater wirkte, als wäre ihm übel, während der Sohn vor lauter Schreck und Adrenalin völlig aufgeputscht war. Aber Jack leitete sie mit ruhiger, fester Stimme an, und alle folgten ihren Anweisungen.

Jack führte die Kajaks in einer losen Reihe zurück zum Hafen und zog ihr Paddel mit leichtem Schäumen durchs Wasser wie ein leiser, leistungsstarker Geschirrspüler. Die Gruppe fuhr unter der Autobahnbrücke hindurch und über die kabbelige Mündung. Die Neuigkeit verbreitete sich von Boot zu Boot, deren Insassen flüsternd die Köpfe zum Gezeitensumpf zurückwandten, als wäre er schuld, dass ihr Tag verdorben war.

Sie näherten sich dem Ufer. Travis stand an der Slipanlage und schwenkte die Arme wie ein Mädchen bei einem Drag Race. Viel zu fröhlich für die Umstände. Da wurde Jack bewusst, dass sie weder Paul noch einen Mitarbeiter der Kajakbude angerufen und vom Geschehen unterrichtet hatte. Für die Leute am Hafen waren sie nur eine ganz normale Gruppe Touristen, die zurück an Land kam. Sie warf Travis einen bedeutsamen Blick zu, der versuchte, der älteren Frau ein Lächeln und gleichzeitig ihr Paddel zu entlocken. Vergeblich. Jack zog ihr Kajak hoch und stapfte zu ihm.

»Travis, du wirst es nicht glauben.«

»Was ist denn?«

»Wir haben einen Mann gefunden. Einen Toten. Im Sumpf. Könntest du Paul anrufen und ihm sagen, dass er herkommen soll? Ich kümmere mich um die Gruppe.«

»Was? Bist du …«

»Mach einfach. Jetzt. Bitte.«

Jacks Großmutter hatte mal gesagt, dass es immer gut war, Männern in komplizierten Situationen klare Anweisungen zu geben.

Als Travis zehn Minuten später zurückkam, hatte Jack ihre Gruppe an die Picknicktische in der Nähe der Slipanlage gesetzt und ihnen dicke Handtücher um die Schultern gelegt. Langsam trafen auch Beamte von der Polizei ein. Und von der Küstenwache. Sie schienen sich zu beraten, vermutlich stritten sie sich um die Zuständigkeit, und warfen hin und wieder einen Blick zu der verängstigten Gruppe Touristen.

Travis trat zu Jack. »Ich hab Paul nicht erreicht«, sagte er. »Konnte nur eine Nachricht hinterlassen.«

Jack war müde und fror. Sie war kein bisschen überrascht.

»Aber ich habe heißen Kakao mitgebracht«, fuhr Travis fort und zeigte auf eine große Thermoskanne aus Metall und einen Stapel Pappbecher. »Willst du einen?«

Ein warmes Getränk klang verlockend, aber Jack befürchtete, sie würde im Moment nichts bei sich behalten können. Also schenkte sie ihm nur ein mattes Lächeln, und dann gingen sie zu ihren Kunden an den Picknicktischen.

»Wer ist hier der Verantwortliche?«, fragte ein Beamter der Küstenwache. Offenbar war die Frage der Zuständigkeit geklärt worden, sodass man mit der Untersuchung beginnen konnte.

Die Touristen blickten zu Jack. Jack und Travis schauten sich an.

»Unser Boss ist nicht da«, sagte Travis schließlich.

»Und wer ist für diese Gruppe verantwortlich?«

»Ich«, sagte Jack.

Sie wusste, wie lächerlich das klang: ein fünfzehnjähriges Mädchen, das kaum fünfzig Kilo wog und sich in einer roten Schwimmweste und Neoprenschuhen auf ein Paddel stützte.

Der Officer starrte sie durchdringend an. »Wo ist die Leiche?«

»Am Nordufer des Sumpfs. Etwa zwei Meilen hinter der Brücke. In der Salzwiese gegenüber von Kirby Park.«

»Ist jetzt irgendjemand da draußen?«

»Nein, ich habe die Tour allein geleitet. Ich dachte, ich sollte die Gruppe zuerst zurückbringen.«

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