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Der echte Krampus

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In einem verschneiten Bauernhaus auf dem oberbayerischen Land blickt Gryszinski mit seiner Familie einem besinnlichen Weihnachtsfest entgegen. Das Dorf ist Schauplatz erstaunlicher ländlicher Weihnachtsbräuche und mythischer Berggeschichten. Doch der Gemütlichkeit wird ein jähes Ende gesetzt: Während des traditionellen Krampuslaufs kommt es vor versammelter Gemeinde zu einer Messerstecherei. Kurz darauf ist das Opfer des Handgemenges tot – und liegt in Gryszinskis Räucherkammer. Der Major steht nun vor einer ungewöhnlichen Herausforderung: Zwanzig junge Männer sind zugleich Zeugen und Verdächtige. Hinter welcher Krampusmaske verbarg sich der wahre Teufel?


  • Erscheinungstag: 22.10.2024
  • Aus der Serie: Gryszinski Reihe
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749908035
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

In liebevollen Gedanken an unser »Bergzuhause«.

Bewohner und Gäste des Dörfleins Berghall
im Dezember 1897.

Das Haus der Wurmbrand

Franziska Gräfin von Wurmbrand

Ihre Gäste Major Wilhelm Freiherr von Gryszinski

Sophie Freiherrin von Gryszinski

Friedrich Freiherr von Gryszinski, ihr kleiner Sohn

Otto Freiherr von Grabow

Aloisia Brunner, die Köchin

Anneliese, die Kindsmagd

Zwei weitere Dienstmägde

Das Wirtshaus

Wirt Adi

Seine Gäste Johann Voglmaier, Wachtmeister

Konrad Eberle, Wachtmeister

Zwei englische Skienthusiasten

Die Tischlerei

Meister Holzner, Tischler, und seine Gattin

Ihre Söhne Moritz Holzner, Tischler

Joseph Holzner, Zollbeamter

Matthias Poltinger, Geselle

Das Jagdschloss

Schlossherr Baron von Schlieren

Sein Sohn Maximilian Baron von Schlieren

Einige Bedienstete

Einige weitere Dorfbewohner

Alfons Schönberger, Dorflehrer

(Seine Schwester Mitzi Schönberger)

Der Dorfpfarrer samt Haushälterin

Artur Huber, Zollbeamter

Der Krämer und seine Gattin

Schuster Pärtl und Gattin

Hans Pärtl, ihr Sohn

Ein Schusterlehrling

Der Birnböckhof

Bauer Birnböck, Witwer

Seine Töchter Sabine »Bine« Birnböck

Josefa »das Safferl« Birnböck

Martina Birnböck

Rudolf Weber, Knecht

Der Bergmüllerhof

Bauer Bergmüller, Witwer

Seine Söhne Sebastian »Basti« Bergmüller

Eduard »Eddi« Bergmüller

August Schwarzer, Knecht

Adalbert Schulz, Knecht

Der Kroißhof

Bauer Kroiß, Witwer

Sein Sohn Gregor Kroiß

Seine Tochter Antonia »Toni« Kroiß

Lene Mayer, Magd

Severin Mair, Knecht

Wolfgang Pledl, Knecht

Der Ranzingerhof

Bauer Ranzinger, Witwer

Seine Söhne Bertram Ranzinger und dessen Gattin, mehrere Kinder

Paul Ranzinger

Peter Ranzinger

Der Derfflerhof

Bauer Derffler und Gattin

Ihr Sohn Leonhardt Derffler

Lukas Obermaier, Knecht und Lichtmacher

Eine Dienstmagd

Der Oberschwenderhof

Bauer Oberschwender und Gattin

Ihre Tochter Sieglinde und deren Ehemann Vitus, mehrere Kinder

Ihr Sohn Franz Oberschwender

Der Gaißingerhof

Bauer Gaißinger, Witwer

Seine Söhne Lorenz Gaißinger mit Gattin und Kindern

Alois Gaißinger

Seine Tochter Susanne Gaißinger

Berghall im Dezember 1897.

Der vorweihnachtliche Zauber wäre vollkommen gewesen. Wenn nur die Brunner nicht die Tür zur Räucherkammer geöffnet hätte. Denn was hinter dieser Tür wartete, das konnte ihnen nur der Teufel persönlich dorthin gestellt haben.

»Der Spirifankerl«, flüsterte die Brunner, bevor sie unter spektakulärem Radau in Ohnmacht fiel.

»Allmächtiger!« Anneliese bekreuzigte sich zitternd.

»So eine Sauerei!«, schrie die sonst so würdevolle Wurmbrand zornig.

Gryszinski raufte sich die Haare.

Aber von Anfang an.

1.

27. November 1897.
Samstag. Vortag des ersten Advents.

Major Wilhelm Freiherr von Gryszinski machte tatsächlich Urlaub. Ganze fünf freie Wochen lagen vor ihm wie ein herrliches Versprechen. Zufrieden blickte er durch das Zugfenster, hinter dem sich allmählich ein mit Schnee bestäubtes Bergmassiv aufbaute. Neben ihm saß sein kleiner Sohn Fritzi, mittlerweile fast vierjährig, und drückte aufgeregt sein Gesicht gegen die Glasscheibe, die schon übersät war mit Abdrücken seiner vorwitzigen Nase. Gryszinskis Frau Sophie hatte es sich ihnen gegenüber bequem gemacht und notierte mit rasender Geschwindigkeit etwas in ihrem Büchlein, vermutlich Ideen für ihren zweiten Roman.

Er lehnte sich zurück. Obwohl dem Major als Reichsbeamter das Privileg bezahlten Urlaubs zustand – im Gegensatz zu fast allen anderen deutschen Bürgern –, hatte er doch in den gut vier Jahren, die er nun als Kriminalermittler bei der Königlich Bayerischen Polizeidirektion tätig war, bislang keinen entsprechenden Antrag gestellt. Hier und da mal ein paar freie Tage, das schon, aber ansonsten war doch immer zu viel gemordet worden, um an eine längere Auszeit zu denken. Vor einigen Wochen aber hatte ihre Hausfreundin Franziska Gräfin von Wurmbrand – nach Jahren regelmäßiger gemeinsamer dîners und enger Freundschaft war man mittlerweile sogar per Du – sie mit der Neuigkeit überrascht, dass sie sich ein Haus auf dem Lande gekauft hatte. Bislang logierte die reiche, nach einer vor Jahren geplatzten Verlobung immer noch ledige Wienerin als Dauergast irgendwelcher Verwandter in einer Bogenhausener Villa. An diesem Zustand komfortablen Nomadentums wollte sie wohl nichts ändern; dieses ominöse Landhaus, das sie sich, einer spontanen Eingebung folgend, zugelegt hatte, sollte eher eine Art Refugium werden, »um hin und wieder einmal dem enervierenden Baulärm Münchens und den ewigen Wedekind’schen Proklamationen zu entkommen«, wie sie erklärte. Es lag in einem Bergdörflein oberhalb Bad Reichenhalls, und die Wurmbrand hatte die Familie Gryszinski eingeladen, den gesamten Dezember mit ihr dort zu verbringen. Samt Kindermädchen Anneliese und ihrer Köchin Aloisia Brunner. Letztere war besonders wichtig, da die Wurmbrand selbst noch kein entsprechendes Personal hatte auftreiben können, lediglich zwei Dienstmägde, die sich um Haus und Hof kümmerten. Ihr anderer treuer Hausfreund, Otto von Grabow, der in München bei der preußischen Gesandtschaft arbeitete, würde später zu ihnen stoßen.

Die Brunner jedenfalls befand sich in einem Zustand permanenter Aufregung, seitdem sie von diesen ungewöhnlichen Urlaubsplänen erfahren hatte. Diese Aufregung entsprang wohl hauptsächlich einer grundlegenden Abneigung gegenüber jeder Art von Veränderung und verdichtete sich zu der Sorge, dass die Küche in dem fremden Haus bestimmt viel zu klein sein werde. Die Köchin lamentierte ununterbrochen über dieses etwaige Ärgernis, ereiferte sich über die mit Sicherheit klaustrophobischen Verhältnisse, dass man meinen könnte, man wollte sie zum Kochen in eine fensterlose Grabkammer einmauern. Die Wurmbrand hatte nichts getan, um ihre Ängste zu zerstreuen, im Gegenteil, sie hatte hier und da mit einem diabolischen Lächeln kleine Bemerkungen fallen lassen: »Ah geh, Frau Brunner, es wird schon passen. So groß sind Sie ja nicht, da müssen’s den Kopf sicher nur ein kleines bisserl einziehen.« Oder, die umfangreiche Topfsammlung der Brunner inspizierend: »Na, ein oder zwei Kasserolen werden schon gerade Platz finden in meinem Häuschen.«

Schnaufend und pfeifend fuhr der Zug in den Bahnhof von Bad Reichenhall ein. Im Sommer würden hier auffällig viele elegant gekleidete Reisende aussteigen. Gepäckdiener würden Hutschachteln und messingbeschlagene Überseekoffer auf den Bahnsteig heben und in die wartenden Kutschen der Grandhotels verfrachten. Doch jetzt im Winter waren sie fast die Einzigen, die in dem mondänen Kurort den Zug verließen. Der Gryszinski’sche Reisetrupp durchquerte die weite Bahnhofshalle. Die hohe Decke war mit Malereien geschmückt. Sie zeigten Schiffe, die Salz übers Meer trugen. Neben den geblähten Segeln thronte die mächtige Pumpe, die das weiße Gold aus den Tiefen der Alten Saline von Bad Reichenhall schöpfte. Auch einige Kurgäste, die in den heilenden Solequellen badeten, waren dargestellt. Als sie wieder ins Freie traten, hatte Gryszinski das diffuse Gefühl, Salz auf der Zunge zu schmecken, als würde hier in den Bergen ein Wind vom Meer herüberwehen.

Plötzlich packte Sophie Gryszinski am Arm. »Unglaublich!« Sie lachte fröhlich. Er folgte ihrem Blick.

Die Wurmbrand erwartete sie schon. Sie war in eine dramatische Stola aus weißem Pelz gehüllt, als wäre sie die Schneekönigin persönlich. Diamanten funkelten an ihren Ohren, die fast unter der übergroßen Uschanka aus Hermelin verschwanden. Um das russische Wintermärchen vollkommen zu machen, lehnte sie an einem Hundeschlitten, vor den zehn Huskys gespannt waren. Die Tiere hatten allesamt stechend blaue Augen und bellten ungeduldig, ihre drahtigen Körper vibrierten.

»Dezent wie gewohnt«, raunte Gryszinski seiner Frau zu. Fritzi kreischte begeistert und rannte zur Wurmbrand und ihren sibirischen Vierbeinern hinüber.

»Aber wie immer stimmig in den Kontext eingefügt«, gab Sophie zurück.

Kurz darauf saßen die drei Gryszinskis im Schlitten, allesamt in warme Felldecken gemummelt und eng hintereinandergesteckt, während ihre schneeweiß gewandete Gastgeberin sich stehend am Ende des Gefährts positionierte, um dieses zu lenken. Die immer skeptischer guckende Brunner und Anneliese folgten mit dem Gepäck in einer gewöhnlichen Pferdekutsche, die man allerdings ebenfalls auf Kufen gestellt hatte. Ein Ruck, und sie flogen durch Straßen mit prachtvollen Häuserzeilen und großzügigen Villen. Doch schon bald löste sich die Stadt um sie herum auf. Ihr Schlitten glitt in einen weißen Raum. Sie rasten durchs verschneite Tal, mit einem freien Blick auf die Alpen. In der klaren Luft schien die Bergwand direkt vor ihnen zu stehen, zum Greifen nah und doch so fern wie ein Trugbild. Schließlich erreichten sie eine kleine Straße, die in einen Wald aus dunklen Nadelbäumen führte. Es ging nun deutlich bergauf. Der ganze Wald war in Weiß getaucht, das jedes Geräusch schluckte. Ab und an erblickten sie zwischen den Baumstämmen eine sonnenbefleckte Lichtung.

»Das hier ist die Passstraße, der einzige befestigte Weg, der zu unserem Dörfchen führt«, sagte die Wurmbrand. »Die Straße geht dann weiter bis nach ganz oben, über die Berge und über die Grenze zu Österreich. Im Winter ist sie gesperrt, da kommt kaum einer ins Dorf.«

Ihr Schlitten glitt in immer steileren Serpentinen hoch, dann gab der Wald sie frei. Die Landschaft öffnete sich, und sie erblickten ein weites Plateau, auf dem sich mehrere Häuser versammelt hatten.

»Willkommen in Berghall.« Die Wurmbrand ließ ihre Peitsche knallen. »Dem friedlichsten Ort auf Erden.«

Gryszinski blickte sich um. Direkt am Ortseingang stand ein großes Haus, das ein Schild als Zollstation auswies. Im Sommer kamen viele Reisende und Händler über den Pass, und Berghall war das der Grenze zur österreichisch-ungarischen Monarchie nächstgelegene Dorf auf der bayerischen Seite. Diesem Amtsgebäude hatte er es letztlich zu verdanken, dass man ihm seine Reise genehmigt hatte: Ein Reichsbeamter musste laut Urlaubsverordnung immer erreichbar sein, und die Zollstube verfügte über einen elektrischen Telegraphen. Der schmucklose Bau und der Bergpass, der sich weiter Richtung Gipfel wand, schienen die letzte Verbindung zur Welt dort draußen zu sein. Kaum hatten sie das Zollhaus hinter sich gelassen, verschwand die Straße unter den Kufen ihres Schlittens, und sie schwebten in ein Dorf, das sich aus den Seiten eines Märchenbuchs zu erheben schien. Aus den Schornsteinen der weiß bepuderten Schindeldächer stieg Rauch, körperlose Essenz der Behaglichkeit. Dicke Eiszapfen glitzerten an Bäumen und Regenrinnen. Auf den kleinen Holzbänken, die an der Sonnenwand eines jeden Hauses aufgestellt waren, lagen weiche Schneedecken. Bunt bemalte Fensterläden leuchteten an den Fassaden aus Stein und Holz. Im Dorfkern stand eine Kirche, ein schlichter, aber recht großer Steinbau, dessen Glockenturm sich stolz von den blitzenden Gipfeln der umliegenden Berge abhob. Die Kirche befand sich an einem Weiher, den noch weitere Häuschen umgaben: ein Krämer, eine Tischlerei, ein Schuster, das einzige Wirtshaus und die Dorfschule. Der große Teich war zugefroren, und einige Kinder hatten sich Stahlkufen unter die Schuhe geschnallt und sausten über das Eis. Hier und da sah man in der Ferne große Bauernhäuser mit den dazugehörigen Stadeln. Offenbar bildeten mehrere Höfe einen Gürtel um das Zentrum von Berghall.

Ihr Hundeschlitten hielt nun auf ein solches Bauernhaus zu. Es hatte zwei Stockwerke, seine breite Fassade war mit kunstvollen Malereien verziert – illusionistische Sprenggiebel mit Muscheln über den Fenstern, in der Mitte eine Maria mit Kind, deren Kleider und widerspenstig langes Haar in einem imaginären Wind flatterten. Neben diesem prachtvollen Landhaus stand ein riesiges Stallgebäude, davor ein großer Brunnen mit Pumpe. Dazu kam noch, etwas abseits in einer Ecke des verschneiten Grundstücks platziert, ein rotes Häuschen, aus dessen Schornstein es ordentlich dampfte; eine Räucherkammer, vermutete Gryszinski.

»Da wären wir.« Der Wurmbrand war ihr Besitzerstolz anzuhören.

Der Schlitten und die Kutsche hielten vor dem Haus mit den Malereien. Die Gräfin war als Erste bei der Eingangstür – massive Eiche mit floralen Schnitzereien – und stieß diese auf. Ihre Gäste folgten ihr. Sie betraten eine große Halle. An den Wänden standen bäuerlich bemalte Truhen und Schränke, die bei ihren Schritten knarrten und leis schepperten, als würden sich freundliche Gespenster in den Möbelstücken verstecken. Fritzi betrachtete alles mit großen Augen, ließ aber die Hand seiner Mutter nicht los. Es roch nach frischer Tanne; überall hingen gewundene Girlanden, in deren grünen Nadeln mit Rauschgold überzogene Äpfel und Nüsse steckten. Am anderen Ende des Raums flackerte ein Feuer in einem mächtigen Kamin.

»Franziska, du meine Güte!« Sophie fand als Erste Worte. »Das ist ja wunderschön hier. Und diese Girlanden mit ihrem goldenen Schmuck …«

»Es freut mich, dass es dir gefällt.« Die Wurmbrand lächelte. »Der Hof nebenan gehört einem Bauern namens Birnböck, und der hat drei wirklich zauberhafte Töchter. Die haben mir gestern den ganzen Tag lang geholfen, alles zu dekorieren. Und nun entzünden wir die erste Kerze.«

Sie entschwand kurz im Nebenraum und kehrte mit einem Stuhl zurück. Eine massive Eisenkette baumelte von der Decke, daran hing das Wagenrad einer Kutsche, ebenfalls mit immergrünen Zweigen dekoriert und außerdem mit siebenundzwanzig Kerzen bestückt – vier große weiße für die Adventssonntage und dreiundzwanzig kleine rote für alle übrigen Tage, die ab morgen bis Heiligabend vergehen würden. Die Wurmbrand kletterte auf den Stuhl, um eine der großen Kerzen anzuzünden. Das knisternde Geräusch des aufflammenden Streichholzes durchfuhr die Stille, der Geruch nach verbranntem Schwefel weckte eine ganze Welt aus Kerzenschein und Festlichkeit.

»Der erste Advent ist zwar erst morgen, aber ich denke, wir dürfen diese Kerze schon entzünden, auf eine glückliche Adventszeit«, erklärte die Gräfin.

»Eine glückliche Adventszeit dir, Franziska.« Gryszinski räusperte sich, er war ungewohnt gerührt. Sophie lächelte und schmiegte sich für einen kurzen Moment an ihn.

»Ebenso.« Die Wurmbrand stieg von ihrem Stuhl herunter und griff nach dem Arm der Brunner, die sichtlich nervös um sich blickte. »Und nun, Frau Brunner, will ich Sie erlösen und Ihnen die Küche zeigen.«

Entgegen allen schwarzmalerischen Prognosen der Brunner war die Küche riesengroß. Auch hier prasselte ein Feuer im offenen Kamin. Der Raum hatte zudem Fenster, deren Dimensionen eher an ein Atelier denn ein Bauernhaus denken ließen und die einen atemberaubenden Blick aufs Alpenpanorama boten.

Atemlos war auch die Brunner. »Mei. Des ist ja ein Tanzsaal«, stieß sie hervor. Sie keuchte schwer und stützte sich auf dem wuchtigen Arbeitstisch ab, der in der Mitte der Küche stand. Dann fiel ihr Blick auf den schrankgroßen Ofen, und sie gab einen niemals zuvor gehörten quietschenden Ton von sich.

»Also, das ist kein Ofen! Dieser Herd sieht aus wie eine Lokomotive.« Gryszinski klopfte seiner völlig erschütterten Haushälterin auf die Schulter und schritt dann zu dem eisernen Ungetüm, in dessen Eingeweiden eine ordentliche Glut schlummerte.

Die Wurmbrand lachte auf. »Eine Lokomotive, ha, das ist wahr, und genauso viel muss dieser Ofen auch befeuert werden. Man könnte auch Banknoten hineinwerfen und verbrennen, das würde keinen Unterschied machen.« Sie schnippte mit den Fingern. Geld war der Gräfin ziemlich egal, sie hatte mehr als genug davon. Dann zeigte sie in Richtung Kamin. »Mein lieber Baldur.« (Die Wurmbrand nannte Gryszinski mittlerweile bei seinem alten Spitznamen aus Berliner Tagen.) »Den da habe ich für dich dort aufstellen lassen.«

Gryszinski folgte ihrem Blick und entdeckte einen Ohrensessel, zwischen Fenster und Kamin platziert, bezogen mit rotem Samt, auf dem orientalische Ornamente leuchteten. Er sah sehr fremd aus in seinem alpinen Umfeld – und sehr einladend. Der Major fühlte schon wieder Rührung in sich aufsteigen. Schließlich war sein liebster Platz in ihrer Münchner Wohnung ein wackliger Stuhl, den man in ihrer heimischen Küche zu den Mehlsäcken gestellt hatte, wo er am wenigsten im Weg war und, von Ofendüften umweht, seinen Gedanken nachhängen konnte.

»Wie aufmerksam!« Gryszinski wusste wirklich kaum, wie ihm geschah, verhielt sich doch die Wurmbrand ihm gegenüber sonst eher spöttisch. Aber offenbar war es ihr ein großes Anliegen, dass ihre Gäste sich wohlfühlten. Er ließ sich in den Sessel fallen. Der Platz bot die beste Rundumsicht auf Kaminfeuer, Berge und all die Köstlichkeiten, die sich bereits in seiner Vorstellung auf dem großen Küchentisch türmten.

»Papa, machen wir nachher unsere Topfrunde?«, fragte Fritzi und kletterte auf seinen Schoß.

Gryszinski nickte und strich ihm übers Haar. Die Topfrunde war das allabendliche Ritual von Vater und Sohn, das darin bestand, dass sie die Brunner in der Küche besuchten, in die brodelnden Töpfe lugten, die Ofentür öffneten, um ein aufgehendes Gebäck zu bewundern und der lautlos umherhuschenden Köchin – sie machte wirklich kein einziges Geräusch beim Laufen und hatte Gryszinski schon den einen oder anderen schockhaft aussetzenden Herzschlag beschert, wenn sie plötzlich direkt neben ihm stand – mit Andacht beim Schnippeln, Rühren und Kneten zuzuschauen. Was Sophie kopfschüttelnd als Verfressenheit bezeichnete, betrachtete Gryszinski als Inspiration. Essen und schon die Vorfreude darauf verschafften ihm einen klaren Kopf. Nicht wenige korrekte Mordtheorien waren ihm direkt zugeflogen, während er genüsslich in eine Bratensemmel gebissen hatte.

Die Brunner hatte derweil begonnen, unter lautem Geschepper einige Töpfe aus einem Wandschrank zu holen, und inspizierte bereits die Speisekammer. »Ist ja ein regelrechter Tumult hier drin«, brummte sie. Zweifellos hatte sie sich von ihrem euphorischen Anfall erholt und zu ihrem gewöhnlichen eher herben Charme zurückgefunden.

Die kleine Reisegesellschaft verließ auf diesen überdeutlichen Wink hin die Küche, um den Rest des Hauses zu erkunden.

2.

29. November 1897.
Montag. Andreasnacht.

Der Abend sowie der folgende erste ganze Tag in Berghall waren angenehm verlaufen. Die nicht einmal achtundvierzig Stunden zählende neue Realität war so präsent, dass der Münchner Alltag in ihrem Bewusstsein verblasst war. Rituale und Eindrücke verfestigten sich bereits: das ausgedehnte morgendliche Kännchen Mokka im persischen Sessel inmitten der nach Brot duftenden Küche, während die Berggipfel hinterm Fenster rosarot leuchteten. Die Topfrunden, die hier nicht nur am Abend, sondern auch am Morgen stattfanden und noch opulenter gerieten, denn die Brunner lief in der palastartigen Küche zur Hochform auf. Ein kleiner Inspektionsgang um den vereisten Dorfweiher herum, während die Schneeflocken knisternd auf seine von Kufen zerkratzte Oberfläche fielen. Das Hecheln der Hunde, die den Schlitten wie eine Mondkapsel in eisige Unendlichkeit rasen ließen. Und immer stand die Bergkette direkt vor ihnen, ohne dass man sie zu fassen bekam, konkret und gleichzeitig immateriell wie ein Schatten.

Mit unverhohlener Neugier hatte Gryszinski, der Stadtmensch, das Dorf erkundet. Es gab alles, was es auch in der Stadt gab, aber eben nur immer einmal und nicht in hundertfacher Variation. Ein Laden, in dem lokale Lebensmittel, Kolonialwaren und ein bisschen Nippes angeboten wurden. Eine Schule, eine Kirche, ein Amtsgebäude. Eine Versammlung von Prototypen urbanen Lebens. Im Wirtshaus schien alles zusammenzulaufen, es war schon zur Mittagszeit gut besucht. Eine holzvertäfelte Stube mit langen, sauber geschrubbten Holztischen. Auf der Fensterbank lag ein blütenweißes Handtuch zum Trocknen in der Sonne.

Am Nachmittag hatten Gryszinski und Fritz einen Schneemann gebaut, unterbrochen nur von einem kleinen Sprung in die Küche, wo die Brunner ihnen heiße Bratäpfel mit einer dicken, nach Zimt schmeckenden und schon halb zerlaufenen Schlagsahne reichte. Sophie und die Wurmbrand hatten derweil den hiesigen Tischler aufgesucht, um ein paar Stühle in Auftrag zu geben. Das Haus hatte unzählige Zimmer, die man mit noch viel mehr Möbeln füllen konnte. Es war aber schon jetzt ein bemerkenswerter Ort. Von der Halle mit dem Adventskranz gelangte man in eine originale Bauernstube aus dem 17. Jahrhundert und von da aus weiter in einen behaglichen Salon, den die Wurmbrand vorrangig mit biedermeierlichen Möbeln eingerichtet hatte. Im schönsten Kontrast dazu drängten sich unzählige Gemälde an den Wänden, die allesamt einer brandneuen Kunstrichtung entstammten, welche wild und ausdrucksstark war. Die Gräfin besaß nicht wenige Bilder von jenem Edvard Munch, der erst vor Kurzem einen Skandal in Berlin provoziert hatte, wo man dessen Gemälde als Werke eines wahnsinnigen Anarchisten verriss. Es war typisch für ihr ganzes eigenwilliges Wesen, dass sie die verstörenden Werke direkt über einer zierlichen Sitzgruppe in lieblichen Pastelltönen arrangiert hatte. Daneben hingen Arbeiten eines bereits verstorbenen und wenig erfolgreichen Künstlers namens Vincent van Gogh, die Gryszinski nicht eben schön, aber doch aufregender als die Ölschinken im Hause seiner preußischen Eltern fand. Sophie hatte eine halbe Stunde lang stumm und versunken vor den Bildern im Salon gestanden und war dann nicht weniger wortlos verschwunden. Gryszinski hatte sie später in dem Schreibzimmer gefunden, das die Wurmbrand, die sich wirklich überschlug vor Gastfreundschaft, ihrer Freundin eingerichtet hatte. Fieberhaft warf Sophie Notizen auf lauter Papiere, immer wieder die mittlerweile verkrampfte Hand schüttelnd.

So war dieser erste Urlaubstag zur makellosen Folie einer ganzen Reihe weiterer angenehmer Tage geraten. Am nächsten Morgen nahm Gryszinski bereits mit der Selbstverständlichkeit eines unumstößlichen Rituals auf dem Sessel in der Küche Platz und zuckte nur kurz zusammen, als die Brunner plötzlich direkt vor ihm stand, eine dampfende Mokkatasse für ihn in der Hand. Er sah seiner Haushälterin eine Weile bei der Arbeit zu. Die Küche verwandelte sich allmählich in eine Weihnachtsbäckerei. An den Fenstern hingen Girlanden aus silbernen Sternen, auf dem Kaminsims leuchteten mehrere Rauschgoldengel. Die Brunner formte mit gekonnter Geschwindigkeit ganze Truppen von Vanillekipferln und bestrich zwischendurch lauwarme Spitzbuben mit roter Marmelade. Einige noch ungebackene Stollen lagen bereit, sie waren in Leinentücher gehüllt und sorgsam angeordnet worden wie seltene Artefakte in einem archäologischen Archiv. Der Ofen spie wuchtige Bleche voller Plätzchen aus, begleitet von einem Schwall heißer Luft, die nach gerösteten Nüssen und süßem Honig roch.

Fritzi erschien in der Tür, noch verschlafen und ungekämmt. In der Halle hatte er einen goldenen Apfel gefunden, der sich wohl aus einer der Tannengirlanden gelöst hatte. Der Junge hatte den unverhofften Schatz im Ärmel seines Hemds versteckt und zeigte ihn unter verschwörerischen Blicken seinem Vater. Zufrieden nahm er einen Teller mit heißen Plätzchen von der Brunner entgegen und kuschelte sich damit auf Gryszinskis Schoß.

»Papa, gibt es hier eigentlich Hexen?«, fragte er zwischen zwei Keksen.

»Nein, mein Sohn, Hexen gibt es hier nicht, genauso wenig wie irgendwo anders auf der Welt.«

»Hm, komisch.« Fritzi rieb sich nachdenklich die Stirn. »Aber vorhin, ganz früh, hab ich Geräusche gehört und bin zum Fenster gegangen. Da war eine Gestalt in einem schwarzen Umhang zwischen den Bäumen. Wie die Hexe aus meinem Märchenbuch.«

Gryszinski schüttelte den Kopf. »Das wird ein Tier gewesen sein, vielleicht ein Reh.«

»Aber Papa.« Fritz untersuchte mittlerweile wieder seinen goldenen Apfel und blickte nur kurz geschäftig auf. »Rehe tragen doch keine schwarzen Umhänge.«

»Ich wiederhole: Es gibt keine Hexen.«

»Hier auf dem Dorf ist alles etwas anders.«

Gryszinski zuckte zusammen und stieß einen heiseren Schreckensschrei aus. Schon wieder war die Brunner direkt vor ihnen aus dem Boden gewachsen. »Frau Brunner.« Er keuchte. »Hören Sie doch endlich mit diesem Herumgeschleiche auf.«

Sie überging seinen kleinen Ausbruch würdevoll. »Hier oben gehen vor Weihnachten allerlei Gespenster um, deshalb müssen kleine Kinder nachts auch schön brav in ihren Betten bleiben.« Fritz sah gespannt zu ihr auf. Die Brunner senkte ihre Stimme. »Im Morgengrauen wandern die feurigen Männer übers Land. Sie lassen sich von jedem, der ihnen begegnet, Huckepack nehmen und leuchten ihm den Weg.«

»Klingt doch ganz freundlich«, warf Gryszinski trocken ein.

»Aber!«, rief die Brunner eigentümlich schrill, als wäre sie ein Medium, das mit der fremden Stimme eines Toten sprechen würde. Fritzi konnte seinen Blick nicht von ihr wenden, der Keks, den er eben zum Mund führen wollte, schwebte vergessen in der Luft. »Sie erwarten dann eine Gabe. Einen Laib Brot wollen sie haben. Wenn man den nicht hat, wenn sie leer ausgehen, dann werden sie sehr wütend.«

»Sehr wütend«, flüsterte das Kind und knusperte aufgeregt den Keks weiter.

»Dann schütteln die feurigen Männer sich wie wild, und dann sprühen, springen und stieben die Funken aus ihren langen Mänteln. Aus den Funken werden kleine Flammen, sie werden größer – und plötzlich brennt der ganze Hof lichterloh.«

Fritz kreischte und hielt sich die Augen zu.

»Nun reicht es aber mit den Schauermärchen, Frau Brunner«, sagte Gryszinski verärgert. »Sie machen dem Jungen ja Angst.«

Die Brunner brummte und reichte Fritz ein weiteres Plätzchen. »Angst brauchst nicht zu haben, wenn du brav bist, gell, Fritzi. Aber Sie werden sehen, Herr Major, auf dem Land geht es ein bisschen anders zu. Hier ist wirklich Bayern und kein München. Und Preußen eh nicht.«

Damit entschwand sie wieder zu ihren Schüsseln und Töpfen. Nachdenklich sah Gryszinski aus dem Fenster. Die Berge blickten stumm zurück. Nein, das hier hatte mit Preußen wirklich nichts mehr zu tun.

Am Abend saßen sie gemeinsam beim dîner. Die Brunner servierte eingangs Leber im Kalbsnetz. Dafür hatte sie Brösel und Speck geröstet, diese gewürzt und mit Muskatblüten, saurem Rahm und einem Ei vermengt und damit die Leber gefüllt. Mit Butter und Limonensaft hatte ihr kleines Werk, fest in das feine netzartige Fettgewebe gewickelt, im monströsen Ofen geschmort. Das Gericht wurde in sorgsam aufgeschnittenen Scheiben aufgetragen, auf dem feinen Geschirr im Speisezimmer, das im gelben Schein der Kerzenleuchter und Öllampen glänzte. Strom oder fließendes Wasser hatte das Haus der Wurmbrand nicht. Das glasklare Wasser aus der hauseigenen Quelle musste aus dem Brunnen geholt und überm Feuer erwärmt werden.

Obwohl Gryszinskis und die Wurmbrand unter sich und nicht in der Stadt waren, hatten sie sich vorher umgekleidet, die Damen den besonderen Schmuck für den Abend angelegt. Auch wenn sie alle drei in Künstlerkreisen verkehrten und unkonventioneller als viele ihrer adligen Zeitgenossen dachten, so waren bestimmte Dinge doch Fixpunkte ihrer Identität. Gryszinski und Sophie konnten zudem jederzeit die preußische Kunst der Konversation abrufen, sie war zu einem geistigen Reflex geworden – das Vermögen, viel und elegant zu reden, sich gebildeter Redewendungen und Sprichwörter bedienend, ohne eigentlich etwas zu sagen. Gryszinski fand allerdings, dass die abendlichen Gespräche in ihrem kleinen Zirkel durchaus mehr Tiefe hatten, und das lag nicht zuletzt an den beiden anwesenden Frauen. Sophie, die belesenste Person, die er kannte, brachte niemals hohle Phrasen an, sondern füllte ihre literarischen Zitate und bon mots mit Sinn und Leben. Und die Wurmbrand dachte auf eine solch verquere Weise, dass sie jede Plauderei in unerwartete Richtungen schubste, die ihre Gesprächspartner nicht selten völlig überrumpelten. Unvergessen der Moment, als sie einem für den Abend geladenen Berliner Diplomaten, der gerade von den Brandenburger Jagdgründen schwärmte, erklärte, dass man in Südamerika Kartoffeln immer schon gern der Methode des Schockfrostens unterzogen habe.

Auch heute spülten ihre Worte sie wieder in unerwartete Gefilde. Ein knuspriges Speckstückchen hatte die Wurmbrand an das Profil von Thomas Jefferson erinnert, so hatten sie erst ein wenig zur Unabhängigkeitserklärung parliert, um dann gemütlich über die Freiheit an sich zu philosophieren.

»Und frei sind wir doch hier oben!«, rief die Wurmbrand gerade aus, als die Brunner den Nachtisch brachte, passenderweise einen Punsch Chaudeau, eine mit Rum und Saft versetzte aufgeschlagene Eigelbcreme, die sie zu einer Art phantastischer Alpenlandschaft aufgetürmt hatte. Zufrieden löffelte jeder seinen Teil der süßen Bergkette, da war plötzlich ein lautes Rumpeln zu vernehmen.

»Was war das?« Auch wenn Gryszinski den Reden über die feurigen Männer ein Ende gesetzt hatte, tauchte vor seinem inneren Auge sofort das Bild eines Fremden auf, der dort draußen in der Dunkelheit wütend mit einem Knüppel gegen die Hauswand schlug. Und sich dann, taumelnd und rasend, zu schütteln begann. Der wirbelnde Mantel verwandelte sich in seinem Kopf bereits in einen lodernden Strudel aus Feuer, der gleich das Haupthaus erfassen würde.

»Ah geh!« Die Wurmbrand lachte spöttisch. »Das sind nur die beiden Dienstmägde in ihren Kammern.«

»Wieso machen sie denn solch einen Krach?«, fragte Sophie erstaunt.

Die Wurmbrand rüttelte ihre Schultern und richtete so ihren Oberkörper auf. Das tat sie immer, war Gryszinski aufgefallen, wenn sie zu einer längeren Rede anhob. »Diese verschneiten kurzen Tage mit ihren bitterkalten Nächten im Monat vor Weihnachten haben für die einfache Bevölkerung auf dem Lande eine besondere Bedeutung. Es ist eine Zeit voller abergläubischer Bräuche, Gespenstergeschichten, angeblicher Zaubernächte und obskurer Riten, das könnt ihr euch kaum vorstellen.« Sie klopfte zur Bekräftigung mit ihrem zierlichen Dessertlöffel auf den Tisch. Erneut drang der Krach aus den Kammern.

»Und was soll also dieses Gerumpel?«

»Heute, mein lieber Baldur, ist Andreasnacht, eine der sogenannten Losnächte.« Die Gräfin machte eine Kunstpause, während sie ein Döschen aus hellgrüner Jade hervorholte, das mit winzigen Perlen besetzt war. Darin befand sich ihr Schnupftabak der erlesenen englischen Marke Wilsons of Sharrow. »Da werfen die Mädchen auf dem Dorf ihre Pantoffeln über die Schulter.« Wieder rumpelte es. »Wie man hört, werfen sie auch ihre Holzpantinen. Ha, wie in diesem dänischen Märchen, in dem die roten Schuhe immer weitertanzen, mit den kleinen abgehackten Füßchen des armen Mädchens darin.« Die Wurmbrand schnupfte eine ordentliche Prise. »Jedenfalls: In der Richtung, in die dann die Spitze des Schuhwerks zeigt, liegt der Hof, auf dem der zukünftige Ehemann wohnt, versteht ihr.«

Ein neues Geräusch ertönte jetzt, ein rhythmisches Quietschen.

»Aha!« Die Wurmbrand grinste. »Jetzt folgt das Bettstatthüpfen.«

»Und das wäre?« Gryszinski war wirklich erstaunt. Er hatte natürlich bereits Bekanntschaft mit dem bayerischen Katholizismus und seinen heiligen Riten gemacht, aber das hier grenzte ja an die undurchsichtigen Praktiken irgendwelcher indigener Schamanen.

»Sie schreiben die Namen aller potenziellen Heiratskandidaten auf einzelne Zettelchen und verteilen die auf ihrem Bett. Dann hüpfen sie so lange auf selbigem herum, bis alle Zettelchen heruntergeflogen sind und nur noch eines übrig ist. Voilà, das ist dann der glückliche Zukünftige.« Die Wurmbrand sog eine weitere Prise ein, während das Quietschen immer lauter und schneller wurde, bis es plötzlich erstarb.

»Es wirkt zwar alles recht skurril, aber wir sollten uns dennoch nicht darüber lustig machen«, sprach Sophie in die Stille hinein. »Eine Heirat ist für die meisten Mädchen aus einfachen Verhältnissen der einzige Weg, ein wenig wirtschaftliche Sicherheit zu erlangen. Ansonsten ist deren Zukunft doch recht ungewiss.«

»Du hast natürlich recht, meine Liebe …«

Die Wurmbrand wollte noch mehr sagen, aber ein weiteres lautes Geräusch ließ sie alle zusammenfahren. Dieses Mal kam es eindeutig von draußen. Ein Klirren wie von einer zersplitternden Vase. Gryszinski sprang auf, riss eines der Fenster auf und spähte hinaus. Es war stockdunkel, aber der Schnee, der alles bedeckte, leuchtete blauweiß im Mondschein und erhellte die Nacht. An der Hauswand entlang waren große Laternen aufgestellt worden, in denen Kerzen flackerten, und eine davon war umgefallen und lag in Scherben.

»Seltsam.« Sophie war neben ihn getreten und hatte die kaputte Laterne ebenfalls entdeckt. »Ob ein Tier sie umgeworfen hat?«

»Möglich.« Gryszinski glaubte allerdings nicht so recht an diese Erklärung. Er entschuldigte sich für einen Augenblick und schritt in die knarzende Eingangshalle, die im dunklen Schimmer einiger Öllampen und des schwach flackernden Kaminfeuers lag. Hier stieg er in seine schweren Winterstiefel und warf sich seinen Mantel über, dann ging er hinaus.

Er lief die Außenwand entlang und sah sich dabei aufmerksam um. Der Schnee erstickte das Geräusch seiner Schritte wie eine dicke Decke.

»Willi?« Sophie erschien am Fenster des Esszimmers. »Siehst du etwas?«

»Oder hörst du Geräusche?« Die Wurmbrand stellte sich nun neben Sophie, um ebenfalls alles kommentieren zu können.

»Dort drüben ist die Laterne zu Bruch gegangen«, erläuterte Sophie überflüssigerweise und zeigte auf die Stelle.

»Wo denn? Dort?« Die Wurmbrand fiel fast aus dem Fenster, als sie sich gespannt vorbeugte.

»Gehen Sie lieber nicht zu weit in die Dunkelheit, gnädiger Herr.« Auch die Brunner stand plötzlich wieder bei ihnen. Sie spähte argwöhnisch nach draußen. Vermutlich rechnete sie jede Sekunde mit dem Anblick eines funkensprühenden Mannes.

»Es wird sicherlich nur ein kleines Tier gewesen sein, Frau Brunner.« In Sophies geduldiger Stimme klang doch eine Prise Gereiztheit mit.

Gryszinski seufzte leise. Tatsächlich veranstalteten die drei einen solchen Radau, dass er so gut wie nichts von dem wahrnehmen konnte, was sich da vielleicht in der Nacht abspielte.

»Und?«, fragte Sophie noch einmal.

Gryszinski wollte schon den Kopf schütteln, dann stutzte er und sah noch einmal genauer hin. Dort waren Spuren im Schnee.

3.

1. Dezember 1897.
Mittwoch.

Am Morgen nach dem Andreastag hatten neue Schneeflocken die Spuren verschwinden lassen. Es waren kleinere menschliche Fußspuren gewesen, etwa dreiundzwanzig Zentimeter lang (aus Gewohnheit hatte Gryszinski nachgemessen), und da sich sonst nichts weiter ereignet hatte, einigten sie sich auf die Vermutung, dass einer der Dorfjungen neugierig ums Haus geschlichen war und dabei die Laterne umgeworfen hatte. Sie wurde ersetzt, und damit war die Sache erledigt. Am Morgen des ersten Dezember dachten sie bereits nicht mehr daran. Nach dem Frühstück bat die Wurmbrand in die Bauernstube. »Ich habe eine kleine Überraschung.« Sie nahm Fritzi verschwörerisch bei der Hand und ging mit ihm voran.

Gryszinski und Sophie folgten. Die Gräfin öffnete die Tür der Bauernstube, deren vertäfelten Wänden der Atem einer anderen Zeit entströmte. Die Wurmbrand hatte das komplette Zimmer einem einstmals reichen Bauern abgekauft, aus dessen Hof ausbauen und hier wieder einbauen lassen. Gryszinski meinte noch den schwachen Herzschlag des ausgeweideten Hauses zu hören, während sie den Raum betraten. Ein großzügiger Kachelofen verströmte eine alles durchdringende Wärme. Eine lange Sitzbank zog sich um den Ofen herum, davor ein ausladender Tisch und mehrere Stühle, an den Wänden Schränke und Tellerborde, in denen Zierteller steckten, auf denen allerlei Weisheiten zu lesen waren:

Das beste Wappen in der Welt, das ist der Pflug im Ackerfeld.

Bauernstand ist Ehrenstand, erhält die Stadt, erhält das Land.

Der Bauer glaubt nur seinem Vater.

Alle Möbelstücke sowie Wände und Decke waren üppig mit Blumen bemalt – Kränze und Girlanden aus Wiesenblumen und widerspenstigen Gräsern. Dazwischen leuchteten auffällig viele Gebinde, die aus den verführerisch gesprenkelten und dafür hochgiftigen Blüten des Fingerhuts gewunden waren.

Auf dem Esstisch hatte die Wurmbrand ein Paradeisl aufbauen lassen, eine Pyramide aus vier roten Äpfeln, in denen jeweils eine Adventskerze steckte und die mithilfe bunt bemalter Stäbe zusammengehalten wurde. Das Paradeisl stand auf einem ausladenden Zinnteller, der mit Nüssen und buntem Weihnachtsgebäck gefüllt war. Die Überraschung aber thronte auf einer mächtigen Anrichte. Fritzi entdeckte sie als Erster: eine kleine Stadt aus winzigen Häusern, Bäumen, Brunnen und Bänken, es gab auch einen Marktplatz und eine Kirche, aus deren Fenstern das Licht einer Kerze flackerte. Feiner künstlicher Schnee bedeckte die Dächer. Die Bewohner dieses Miniaturdorfes waren allesamt rotwangige Engel. In der Mitte der Szenerie ragte eine Leiter nach oben, und am obersten Ende stand ein Christkindlein.

»Eine Himmelsleiter«, sagte die Wurmbrand. »Sie hat vierundzwanzig Sprossen. Ab heute steigt das Christkindl jeden Tag eine Stufe tiefer, bis es unten ankommt, dort warten die Engelchen auf ihren Erlöser, und dann ist Heiligabend.«

Andächtig griff Fritzi nach der kleinen Figur. Er hielt sie einen Moment fest und strich ihr vorsichtig übers Puppenhaar, dann setzte er sie eine Sprosse tiefer. Die Erwachsenen sahen lächelnd zu.

»Wie hübsch, und so viele schöne Details.« Sophie beugte sich vor, um alles noch genauer anzusehen. Auch Fritz ging noch näher heran. Sein Gesicht war heiß vor Aufregung, während er das Treiben auf dem himmlischen Markt betrachtete. Ein Engelchen verkaufte winzige Lebkuchen und Törtchen, die auf einer golden schimmernden Decke ausgebreitet waren, sie war nicht größer als seine Handfläche. Bei dem Anblick zog sich sein Bauch zusammen vor lauter Festfreude.

»Am frühen Morgen ist es in Konstantinopel besonders schön, wenn es auf den großen Plätzen nach heißem Mokka riecht«, erklärte die Wurmbrand in ihrer würdevollen Zusammenhanglosigkeit. Damit verließ sie die Stube, draußen wartete der Hundeschlitten.

Wieder rasten sie durch einen weißen Raum, das Hecheln der Hunde gab den Rhythmus ihrer Gedanken vor. Gryszinski spürte, wie diese Gedanken zerrrannen und sein Kopf immer leerer wurde. Zufrieden schmiegte er sich in seinen Pelzsack und zwirbelte seinen Moustache, in dem lauter winzige Eiszapfen hingen. Die riesige Silhouette der Alpen schien immer noch weit weg, obwohl sie sich in einem hoch gelegenen Dorf in den Bergen befanden. Berghall lag auf einem großzügigen Plateau, die Wege gingen nur sanft aufwärts, und so fühlte man auf den ersten Blick keinen großen Unterschied zum Flachland. Einzig die riesigen Felsbrocken, die hier und da ihre Häupter aus den schneebedeckten Wiesen erhoben, kündeten davon, dass sie sich in einer fremden Sphäre bewegten. Wie vergessene Kreaturen der Urzeit lagen sie mitten in der Landschaft und starrten ihrem sausenden Schlitten hinterher.

»Versteinerte Wesen«, murmelte Sophie, die offenbar ähnlichen Gedanken nachhing.

Gryszinski nickte. Das alles hier war fremdes Terrain für ihn, bislang hatte er sich weder dem Wandern gewidmet noch diese neumodischen Schneeschuhe ausprobiert, auf denen kürzlich ein norwegischer Abenteurer Grönland durchquert hatte.

Sophie räusperte sich. »Ich würde euch gerne etwas vorlesen. Können wir kurz anhalten?«

Die Wurmbrand rief etwas, das wie ein majestätisches Bellen klang, daraufhin wurde der Leithund langsamer, und kurz darauf standen die Hunde still. Aus den Untiefen ihres warmen Umhangs zog Sophie ein Büchlein hervor. Gleichzeitig wies sie in Richtung der Bergketten. »Gestern Abend habe ich in Bechsteins Sagenbuch etwas über den Watzmanngipfel gelesen, der liegt oberhalb Berchtesgadens. Dort hinten könnte man ihn vielleicht mit einem Fernglas erkennen. Ein großer, zackiger Berg, das ist der König Watzmann, links daneben ein etwas kleinerer Gipfel, wohl seine versteinerte Gattin, und dazwischen sitzen mehrere kleine Spitzen, das sind ihre Kinder.«

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