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Degrees of Engagement

Als Buch hier erhältlich:

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Bianca Dimitriou hat an unzähligen Brautpartys, Junggesellinnenabschieden und Hochzeiten für ihre Freunde und Familie teilgenommen. Doch als sie alle nicht zur Feier ihres Doktortitels erscheinen, wird ihr klar, dass dies kein Meilenstein ist, den sie schätzen.

Wütend, traurig und ja, auch ein bisschen betrunken, beschließt Bianca, dass eine vorgetäuschte Verlobung mit ihrem grüblerischen Kommilitonen Xavier Byrne die perfekte Rache ist. Die Fake-Beziehung soll nur lange genug dauern, um ihren Standpunkt zu beweisen. Aber als die Reaktion ihrer Liebsten auf ihre "Verlobung" genau das ist, was Bianca befürchtet hat, ist sie versucht, das ganze noch ein bisschen länger laufen zu lassen . . .

Doch was ist möglicherweise zu lang? Die Spannung, die schon immer unausgesprochen zwischen Xavier und Bianca schwelte, verwandelt sich in eine sehr reale Anziehung, aber da Xaviers Arbeit ihn um den halben Globus führt, darf Bianca nicht vergessen, dass ihre Beziehung nur vorübergehend ist. Wenn die Zeit kommt die Verlobung aufzulösen, wird Bianca sich dann auch von ihren Gefühlen trennen können?


  • Erscheinungstag: 27.12.2024
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749908073
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für uns Mädels.

Feiert eure Meilensteine.

Feiert, was ihr erreicht habt.

Und am wichtigsten: Feiert einander.

1. Kapitel

Bianca Dimitriou weint nie.

Außer, sie ist richtig, richtig wütend. Sie kann sich nicht einmal erinnern, wann ihr zum letzten Mal etwas die Tränen in die Augen getrieben hat; aber heiliger Scheiß, ist sie gerade sauer. Zornig und enttäuscht. Sie glaubt nicht, dass sie sich schon einmal so gefühlt hat. Da ist sie sich ziemlich sicher. Normalerweise kann sie mit Enttäuschungen umgehen und sie als Chance betrachten; etwas, an dem sie sich abarbeiten kann, bis sie am Ende kriegt, was sie will.

Ach ja, richtig.

Deshalb kommen ihr die Tränen.

Sie ist enttäuscht und kann rein gar nichts dagegen tun. Es gibt kein Problem zu lösen und keine Frage, in die sie sich verbeißen könnte.

Und sogar das ist jetzt ärgerlich – wie bestürzt und frustriert sie ist –, und ihr Kopf weigert sich, ihren logischen Denkprozess so lange abzuschalten, dass sie sich in ihren Tränen aalen und den Schmerz und den Verrat wirklich spüren könnte.

Denn sie ist nicht mehr einfach Bianca Dimitriou.

Sie ist jetzt Dr. Bianca Dimitriou.

Und ihre Freunde und ihre Familie haben sich einen Dreck darum geschert und sind nicht mal aufgetaucht, um mit ihr zu feiern.

Nachdem sie das jetzt weiß, kann sie es unmöglich vergessen.

Bianca schnieft, schüttelt den Kopf und versucht, sich aus dieser Stimmung zu reißen, aber das führt alles nur dazu, dass die Tränen sich in ihren Augenwinkeln sammeln, ihren Blick verschwimmen lassen, sich an ihre Wimpern hängen und dann auf ihre Wangen fallen.

»Verdammt«, murmelt sie und wischt sie ungeduldig weg. Ihr ist klar, dass ihr Make-up wahrscheinlich total verlaufen ist.

»Oha«, sagt eine tiefe Männerstimme gleich hinter ihrer Schulter, und nur mit Mühe kann sie ein verzweifeltes Aufstöhnen unterdrücken.

Sie kennt diese Stimme, kennt den Mann, dem sie gehört, und weiß, dass ihr Abend gerade endgültig den Bach hinuntergegangen ist.

In der Öffentlichkeit zu heulen, war schon ein Tiefpunkt.

Vor Xavier Byrne zu heulen – tiefer könnte sie nicht sinken.

»Alles in Ordnung?«, fragt er und hält ihr eine Cocktailserviette hin.

»Mir geht’s gut; war nur ein langer Tag«, bringt sie heraus, obwohl sie sich sicher ist, dass er die Lüge erkennt. »Was machst du denn hier?«

Diese Bar ist nicht wirklich seine Szene. Allerdings weiß sie auch nicht, was seine Szene ist. Sie weiß nur, dass sie ihm in den fünf Jahren, in denen sie beide im selben Programm für ihren Abschluss geschuftet haben, kein einziges Mal im Lorraine’s begegnet ist. Andererseits passt er irgendwie hierher. Er sieht auf eine Art gut aus, die zu der Ästhetik einer etwas schmuddeligen Bar passt, mit seinem ewigen Bartschatten und seinem T-Shirt, das ihm eng um die breiten, definierten Schultern sitzt, was zu einer schlanken Taille in einem Verhältnis führt, das man normalerweise nur in diesen Superhelden-Filmen sieht – bei denen sie entschieden Nachholbedarf hat, nachdem sie ihre Doktorarbeit jetzt abgeschlossen hat.

Er zieht ruckartig die Augenbrauen hoch und reißt die grünen Augen auf. »Ich weiß nicht genau, ob ich jetzt beleidigt sein soll.«

Bianca schüttelt verwirrt den Kopf, und noch ein paar Tränen fallen, daher nimmt sie die Cocktailserviette, die er ihr immer noch entgegenhält, und tupft sich die Haut unter den Augen ab; nur um schwarze Flecken von ihrem Eyeliner zu sehen.

Oh Gott, wahrscheinlich sieht sie grauenhaft aus, und das natürlich ausgerechnet vor ihm.

Nicht dass es eine Rolle spielen sollte, wie sie vor ihm aussieht.

Sie sind schließlich nicht befreundet. Oder jedenfalls nicht eng, nicht mehr. Aber sie haben tiefen professionellen Respekt voreinander, und vielleicht besteht da, jedenfalls von ihrer Seite, noch ein ordentlicher Rest einer Schwärmerei, die nie ganz vergangen ist, obwohl das eine sehr, sehr schlechte Idee war.

Es mag ja wie ein Stereotyp klingen, aber es kommt nicht jeden Tag vor, dass ein superheißer Typ ins Seminar marschiert, wenn man an einem Doktor in Informationswissenschaften arbeitet. Ein Bibliothekar, der manchmal wie ein Indiana-Jones-Typ daherkommt und Bachelor und Master in Archäologie hat. Nur dass es ihm nur darauf ankommt, Artefakte zurückzugeben, statt sie zu stehlen.

Verdammt extrem heiß.

Aber es ist einfach nie etwas zwischen ihnen passiert.

Nicht dass sie damit gerechnet hätte.

Sie sind … waren … Kommilitonen, Kollegen, irgendwie Freunde, also befreundete Kollegen? Zu beschäftigt mit ihrer Arbeit für alles außer einer beiläufigen Affäre.

Und eine Affäre im eigenen, winzigen Doktorandenprogramm, wo es kein Entrinnen gibt, wenn etwas schiefläuft?

Nicht besonders schlau.

Und schlau sind sie beide.

Sehr klug.

Manchmal vielleicht zu intelligent.

Also ist nie etwas passiert, und dann ist er vor ein paar Monaten deutlich auf Distanz gegangen. Ihre wöchentlichen Lerntreffen hat er immer wieder abgesagt, bis sie gar nicht mehr geplant wurden, und ihre halbwegs regelmäßigen Treffen zum Kaffee lösten sich in nichts auf. Sie kann sich nicht einmal erinnern, wann sie ihn zum letzten Mal außerhalb des Hörsaals gesehen hat.

Er hatte zu tun.

Sie waren beide beschäftigt.

Und jetzt sind sie fertig.

Sie hat heute ihre Doktorarbeit verteidigt.

Seine Verteidigung ist Anfang nächster Woche.

Und das war’s.

Er wird in irgendein Abenteuer ziehen; in ein unbekanntes Land, das seine Hilfe bei der Rückführung von gestohlenen Kunstschätzen braucht.

Und sie?

Sie hatte vor ein paar Wochen ein Vorstellungsgespräch für ihren Traumjob und hat in ein paar Tagen ein zweites. Aber selbst wenn daraus nichts wird, weiß sie, was für einen Job sie sich wünscht, wo ihre Fähigkeiten am dringendsten gebraucht werden. Sie ist sich bloß nicht sicher, ob jemand ihr tatsächlich erlauben wird, sie anzuwenden.

Wie überzeugt man ein ganzes System, die ganze akademische Welt davon, dass sie sich ändern muss, und zwar schnell, weil sie sonst eine weitere Generation durch Fehlinformation verliert?

Das Problem ist zu umfassend, um von einer einzigen Person gelöst zu werden, das ist ihr schon klar, aber das heißt nicht, dass sie es nicht versuchen wird.

Das wird sie jedenfalls, sobald es ihr gelingt, diese verdammten Tränen zu stoppen.

»Beleidigt? Was? Wieso?«, fragt sie in dem Versuch, sich abzulenken.

»Du hast mich eingeladen.«

»Habe ich? Wann?«

»Am Anfang des Semesters? Du hast mir erklärt, dass du eine Party nach deiner Verteidigung planst, weil du Monate im Voraus visualisieren wolltest, dass du deine Verteidigung bestehst.«

Jetzt fällt es ihr wieder ein. Als es auf das letzte Semester ihrer akademischen Laufbahn zuging, war sie ein nervöses Wrack und tat alles, was ihr einfiel, um sich mit ein paar Tricks auf Teufel komm raus zu beruhigen.

»Oh, richtig. Tut mir leid, ich …«

»Soll … soll ich wieder gehen?«, fragt er. »Ich weiß, wir haben uns in den letzten paar Monaten nicht besonders oft gesehen, aber … Ja, ich gehe dann mal.«

Er stößt ein Schnauben aus, das wahrscheinlich ein selbstironisches Lachen darstellen soll, wendet sich schon ab und will zur Tür gehen.

»Nein, warte«, sagt Bianca und streckt den Arm nach ihm aus; eigentlich reicht es schon, mit den Fingern auf seinen Unterarm zu tippen, und sein Rückzug ist gestoppt. »Tut mir leid. Ich bin total durcheinander, und mein Hirn ist vollkommen matschig, aber natürlich will ich, dass du bleibst.«

»Natürlich?«

Bianca verdreht die Augen; zumindest vorübergehend sind die Tränen fort. »Ja, natürlich.«

»Also«, sagt Xavier lächelnd, »wollen wir hier herumstehen, oder werde ich endlich deine Freundinnen kennenlernen?«

»Meine Freundinnen?«

Verflucht.

Ihre Freundinnen.

Ihre Freundinnen, die entschieden haben, nicht zu kommen.

»Ja, diese Leute, zu denen du immer verschwindest und wer weiß, wohin abhaust, um zu noch einer Hochzeit und noch einem Junggesellinnenabschied oder sonst was zu gehen.«

»Ich verschwinde doch nicht ständig«, protestiert sie matt und in einem Ton, den sie hasst, weil sie weiß, dass ihre Stimme nur so klingt – schrill und unmoduliert –, wenn er recht hat und sie falschliegt.

Er prustet spöttisch. »In den letzten paar Jahren warst du bei mehr Hochzeiten, als ich überhaupt Leute kenne, ganz zu schweigen davon, dass ich zu ihrer Hochzeit gehen und ihnen einen Scheck über Geld ausstellen würde, das zu verschenken ich mir eigentlich nicht leisten kann.«

»Das ist nicht … So schlimm ist das nicht. Es waren bloß …« – sie zählt es schnell im Kopf ab: Lexi, Erik, Isobel und Frankie – »vier Hochzeiten.«

»Zusammen mit dem ganzen anderen Mist, der dazugehört«, beharrt er.

Er hat nicht wirklich recht, aber er ist auch nicht ganz im Unrecht. Denn heutzutage sind Hochzeiten nicht mehr einfach Hochzeiten; eine Ausrede, um ein schönes Kleid anzuziehen und sich umsonst volllaufen zu lassen. Hochzeiten haben heute einen Countdown, der ein Jahr oder manchmal auch länger dauert, mit Verlobungsfeiern und Brautpartys, Junggesellinnen-Wochenenden und Anproben für die Brautjungfern, und irgendwie scheint immer alles auf ein paar Tausend Dollar hinauszulaufen, während die Braut die ganze Zeit standhaft behauptet, dass sie nur eine ganz schlichte Zeremonie will.

Das tut man eben für seine Freunde. Man begeht ihre Meilensteine mit ihnen und ist bei den wichtigsten Anlässen ihres Lebens für sie da. Das ist halt die Realität, wenn man Ende zwanzig, Anfang dreißig ist – alle heiraten, kriegen Babys und haben ein Leben.

Nur sie nicht.

Obwohl, das stimmt nicht. Eine Doktorarbeit ist nicht kein Leben. Sie konzentriert sich eben auf ihre Karriere. Tut genau das, was sie sich schon gewünscht hat, seit sie als kleines Mädchen zum ersten Mal Die Mumie mit Brendan Fraser und Rachel Weisz gesehen hatte. Sobald Evie erklärte, sie sei Bibliothekarin, kannte Bianca ihre Antwort auf die Frage, die Erwachsene immer zu stellen pflegen: Was willst du werden, wenn du groß bist?

Vielleicht war der kleinen Bianca ja damals nicht klar, dass der Beruf eher aus Recherchen und Schreibarbeit bestehen würde als aus Abenteuern in der Wüste und einer Begegnung mit einem sexy Schurken mit einem Herz aus Gold, aber trotzdem werden ihre Träume endlich wahr.

»Ist nicht meine Schuld, dass die Menschen mich am wichtigsten Tag ihres Lebens dabeihaben wollen. Sie lieben mich eben!«

Xavier öffnet den Mund, um etwas zu erwidern, doch in dem Moment summt Biancas Handy in ihrer Tasche. Wahrscheinlich noch jemand aus ihrem Leben, der heute Abend abspringt. Schnell greift sie hinein, schnappt sich das verdammte Ding und klatscht es mit dem Bildschirm nach unten auf die Bar.

Jetzt schießen ihr wieder Tränen in die Augen.

Verdammt.

»Mist – dir geht’s aber gar nicht gut.«

»Doch, mir geht’s super, ich brauche bloß einen Drink.«

»Okay, wir besorgen dir etwas zu trinken. Was ist das Gift deiner Wahl?«

Sie schnieft, und es fühlt sich feucht und rotznasig und so verdammt unattraktiv an, doch andererseits ist es auch egal. Sie hebt ihr fast leeres Glas und neigt es vor und zurück. »Dirty Shirley.«

Er zieht kritisch eine Augenbraue hoch, aber sie starrt ihn wütend an.

»Ich mag Grenadine.«

»Dann einen Dirty Shirley für Dr. Dimitriou, kommt sofort«, erklärt er und legt zwei Finger zu einem lässigen Salut an die Stirn.

Seine kritische Miene verschwindet, sie lächelt ihm zu, und so mies sie sich auch gerade fühlt, klingt es schrecklich gut, den Doktortitel vor ihrem Namen zu hören; und sogar noch besser, wenn er es ausspricht. Er erwidert ihr Lächeln, wendet sich dann ab und hebt eine Hand, um die Barkeeperin auf sich aufmerksam zu machen.

»Und sobald wir dir einen Drink besorgt haben, würdest du mir dann vielleicht erzählen, was los ist?«, fragt er beiläufig; so nebenbei, dass ihr klar wird, dass es alles andere als ungezwungen ist. Ist er etwa … besorgt?

Verdammt.

Sofort steigt ihr eiskalte Panik den Hals hinauf.

Unwillkürlich beginnt sie, mit dem Knie zu wippen, und der Absatz ihres schwarzen Lackleder-Pumps stößt gegen die Sprosse ihres Barhockers, bevor sie den Fuß um das Metall hakt. Sie kippt den Rest ihres Drinks hinunter, stößt zittrig den Atem aus, und ihre Erinnerung reißt sie ein paar Stunden zurück …

~

Die Absätze ihrer einfachen nudefarbenen Pumps graben sich in den in Industrieästhetik gemusterten Teppich, mit dem der Gang ausgelegt ist. Sie verschränkt die Hände im Schoß und rutscht unruhig auf dem harten Plastiksitz des Stuhls herum, der direkt neben der Tür des Büros steht.

Auf die eine oder andere Art wird sich ihr Leben gleich für immer verändern, und alles liegt in den Händen der Menschen, die in der vergangenen Stunde über sie zu Gericht gesessen haben, während sie Frage um Frage beantwortet und gegen ihre Versuche angekämpft hat, Schwachstellen in ihrer Verteidigung zu finden.

Und jetzt kann sie nur noch warten.

Sie weiß, dass sie ihr Bestes gegeben hat, und wenn es überhaupt Gerechtigkeit auf der Welt gibt, wird die Kommission zu ihren Gunsten entscheiden.

Doch in ihrem Bauch spürt sie immer noch diese nagenden Zweifel; diese Ungewissheit, die sie dazu treibt, praktisch ein Loch in den Boden zu ihren Füßen zu scharren.

Die Tür wird geöffnet. Jedes potenzielle Knarren wird durch mehrere jahrzehntealte Schichten grau-beiger Farbe gedämpft, mit denen anscheinend die Wände jeder akademischen Institution gestrichen sind. Bianca steht auf, streicht ihren Kostümrock glatt und kämpft gegen das Kollern in ihrem Magen an. Sie betet, dass es sich wenigstens beruhigt, bis sie irgendwo allein sein kann.

Die ältere Frau, die im Türrahmen steht, wirft ihr ein angespanntes Lächeln zu, das sie nicht deuten kann, obwohl die beiden sich schon so lange kennen. Dr. Miranda Wilkins, promovierte Informationswissenschaftlerin, ihre Doktormutter und in akademischen Kreisen eine der renommiertesten Expertinnen zum Thema Medienkompetenz. Sie haben sich zu Beginn von Biancas Programm kennengelernt, und sofort fühlte sie sich entsetzlich eingeschüchtert und voller Bewunderung für diese Frau, die auf ihrem gemeinsamen Fachgebiet die einzige Forschung, die sie achten konnte, veröffentlicht hatte. Deswegen ist sie an die University of Southern California gegangen, und aus diesem Grund hat sie ihre Entscheidung nie bereut, ganz gleich, wie stark Miranda sie gefordert hat.

»Wenn Sie noch einmal kurz hereinkommen würden; wir haben noch eine letzte Frage an Sie, Dr. Dimitriou.« Miranda verzieht einen Mundwinkel zu einem leisen Grinsen.

Bianca konzentriert sich auf ihre Betreuerin und gibt ihr Bestes, das Grauen zu ignorieren, das sich in ihrer Brust breitmacht, weil sie noch eine weitere Frage haben. Sie versucht, sich die Antwort auf ihre letzte Frage von vor ein paar Minuten noch einmal vor Augen zu führen – eine, die sich in vier Unterfragen aufteilte und ihr wirklich geholfen hat, der Prüfungskommission noch einmal ihre gesamte Forschung darzulegen: das geistige Umdenken, das in der Informationskompetenz notwendig ist, und das Vermitteln von digitaler Kompetenz, die zukünftigen Studenten hoffentlich noch auf Jahre hinaus von Nutzen sein wird. Alles, mit dessen Entwicklung sie die letzten fünf Jahre verbracht hat, auf einen abschließenden Punkt gebracht.

Doch dann macht es klick.

Miranda hat … sie hat gesagt … Dr.  Dimitriou.

Doktor.

Wie in …

… sie hat bestanden.

Das leise Grinsen auf Mirandas Gesicht wächst sich zu einem kompletten Lächeln aus, als die Frau, die sie während der letzten Jahre ihres Studiums betreut hat – die sie wohlwollend gepiesackt und ihr geholfen hat, ihrer Forschung den letzten Schliff zu geben, die die Stimme der Vernunft gespielt hat, wenn der Stress sich aufstaute und ihr alles zu viel wurde –, ihr mitteilt, dass es vorbei ist. Sie hat es geschafft.

Als sie wieder in den Raum tritt, lächelt der Rest der Kommission ebenfalls.

»Eine letzte Frage«, wiederholt Miranda. »Was hast du heute Abend zur Feier des Tages vor?«

Nachdem sie vier Personen die Hände geschüttelt hat, Miranda leicht verlegen umarmt und sie rasch zu ihrer geplanten Party eingeladen hat, ist sie hinausgeeilt in die Flure des Gebäudes, in dem sie in der zweiten Hälfte ihrer Zwanziger praktisch gewohnt hat.

Geschafft.

Sie hat es geschafft.

Dr. Bianca Dimitriou.

Sie hat ihren Doktor.

Und jetzt ist Feiern angesagt.

Seit Wochen treibt sie nur noch das Adrenalin an, und es muss sie noch ein paar Stunden aufrecht halten, denn nachdem sie die Verteidigung hinter sich hat, macht sich jetzt langsam die Erschöpfung breit.

An den Rückweg in ihre Wohnung kann sie sich kaum erinnern. Reine Gewohnheit hat sie zu Fuß durch die Straßen getragen. Das Haus ist kein Studentenwohnheim, liegt aber am Rand dieses Viertels, das eine Art Gürtel um den Campus bildet. Niemand, der nichts mit der Uni zu tun hat, würde freiwillig dort hinziehen, wo neun Monate im Jahr jeden Abend Schwärme von Studienanfängern die Straßen überschwemmen.

Die Wohnung ist nicht die schlimmste, in der sie je gelebt hat – diese Ehre gebührt dem kaum zehn Quadratmeter großen Apartment, in das sie sich damals in New York gequetscht hat, während sie ihren Master machte.

Eigentlich kann sie sich nicht beklagen. Ihre Wohnung ist gepflegt, sauber und sicher, obwohl es darin seit ein paar Wochen viel ruhiger geworden ist. Ihre Mitbewohnerin Julie, eine Musikerin, ist unterwegs, um als Eröffnungsact einer landesweiten Tournee aufzutreten, nachdem sie seit Jahren um ihren Durchbruch gekämpft hat. Es war zwar ein wenig einsam, hat ihr aber die Ruhe verschafft, sich auf ihre Verteidigung vorzubereiten. Außerdem kommt Julie bald wieder, zumindest für ein paar Tage, wenn die Tour sie durch Kalifornien führt.

Und so lange hat sie Amelia, die an der Tür auf sie wartet. Sie wälzt sich auf dem Rücken, so dass sie ihr den weichen weißen Bauch entgegenstreckt. Offensichtlich hat sie sie auf dem Flur gehört und will sofort gekrault werden, um für Biancas Abwesenheit während der letzten paar Stunden entschädigt zu werden.

»Ich hab bestanden, Mel«, quietscht sie, an die Katze gerichtet, die darauf mit leisem Schnurren reagiert.

Gleich in der Diele setzt sie sich auf den Boden, lehnt sich mit dem Rücken an die Tür und lässt zu, dass die Katze sich auf ihrem Schoß zusammenrollt, während sie behutsam und gegen den Strich über ihr Fell streicht, unter ihrem Kinn nach oben und dann wieder zurück; eine langsame, einschläfernde Bewegung. Biancas Kopf sinkt gegen die Tür, der kurze Moment der Ruhe überwältigt sie, und sie schlummert ein.

Als sie aufwacht, passiert alles auf einmal. Sie holt keuchend Luft und rastet augenblicklich aus.

Mist.

Mist. Mist. Mist.

Das gedämpfte Licht, das durch die Fenster auf der anderen Seite ihres Wohnzimmers einfällt, verrät ihr sofort, dass sie zu lange geschlafen hat.

An die verdammte Tür gelehnt.

Gott, sie war wirklich erschöpft.

Als sie den Kopf hebt, protestiert ihr Nacken, doch sie hat keine Zeit, sich damit aufzuhalten.

Ihre Party fängt gleich an.

Bianca springt auf, woraufhin Amelia empört aufjaulend in die andere Richtung flüchtet, und rennt in ihr Schlafzimmer. Sie schüttelt sich die vernünftigen, hautfarbenen Kitten-Heel-Schuhe von den Füßen und streift die Kombination aus Blazer und Bleistiftrock ab, die sie ausschließlich trägt, wenn sie professionell wirken muss. Zum Beispiel am ersten Tag des Semesters, um die neuen Studenten einzuschüchtern, damit ihnen gleich klar ist, dass die Bibliothekarin ihren Job ernst nimmt und sie es nicht zwischen den Regalen treiben sollten.

Sehr lange hält es sie allerdings nicht davon ab.

Sie kann gar nicht mehr zählen, wie viele Kids sie schon in diesem, wie sie glaubten, wenig genutzten Teil der Sammlung fast völlig unbekleidet erwischt hat.

Kleidung … sie braucht etwas zum Anziehen.

Jeans. Jeans sind gut. Jeans reichen vollkommen aus, wenn sie das richtige Oberteil dazu findet. Ihr Blick fällt auf ihr Spiegelbild. Das Top, das sie jetzt trägt, passt eigentlich ganz gut; es ist ein seidiges rotes Tanktop, das sich perfekt in den Ausschnitt ihres Blazers geschmiegt hat. Jetzt nur noch Schuhe … irgendwo hat sie High Heels.

Vor ihrem Kleiderschrank geht sie auf die Knie, durchwühlt das Chaos auf dem Boden und tastet umher, bis sie einen schwarzen Lacklederpumps herauszieht, dessen Absatz gut zwölf Zentimeter hoch sind und den sie schon verdammt lange nicht mehr getragen hat.

Falls sie jetzt noch das Gegenstück des Schuhs findet.

Sie holt tief Luft, steckt noch einmal den Arm hinein und hofft auf ein Wunder.

Sie hat heute ihre verfluchte Doktorprüfung bestanden. Die Modegötter sind ihr einen Treffer schuldig.

Als sie die Hand, die Finger um den zweiten Schuh geschlungen, wieder aus dem Wirrwarr zieht, löst sich etwas in ihrer Brust.

Sie hat Schuhe.

Sie hat ein Outfit.

Ihr dunkelbraunes Haar ist annehmbar – einen Tag alte Locken, die nicht vollkommen platt, kraus oder fettig sind –, also fehlt nur noch Make-up, und dann kommt sie vielleicht nicht zu spät zu ihrer eigenen verflixten Party.

Ein paar Striche Mascara, ein Versuch, einen Winged Eyeliner aufzutragen, der ganz schnell zu einem nicht ganz beabsichtigten Smokey Eye mutiert, ein wenig Konturenstift um die Lippen und einen glänzenden Lipgloss, und ja, okay, sie sieht gut aus.

Die High Heels, die Jeans, das Top, alles sieht gut aus.

»Nicht übel für dreißig«, murmelt sie in sich hinein und dreht sich vor dem Spiegel, der innen an ihrer Schranktür hängt. Die Hügel und Täler, die sie als Teenager und in ihren Zwanzigern irgendwie gestört haben, entlocken ihr jetzt ein zufriedenes Lächeln.

Es hat schon etwas für sich, sich nach all der Zeit in der eigenen Haut wohlzufühlen, obwohl ihr Tag bisher großartig war, doch die Realität, die nun vor ihr liegt … Nein. Daran will sie heute Abend nicht denken. Nicht an den Stress der Jobsuche, nicht an irgendwelche Sorgen, dass ihre Karriere schon ein Flop sein könnte, bevor sie überhaupt angefangen hat.

Heute Abend wird nur gefeiert.

Denn alle werden da sein.

Einer der Vorteile daran, in ihre Heimatstadt zurückzukehren, um ihren Abschluss zu machen, ist, dass sie während der fünf Jahre Plackerei, die ihre Promotion bedeutet hat, von ihrer Familie und ihren Freunden umgeben war. Sie war bei jedem größeren Ereignis in deren Leben dabei, und nachdem sie jetzt endlich ihren Doktortitel hat, kann sie heute Abend alle zu ihrem eigenen großen Moment um sich scharen. Ihre Schwester, ihre besten Freundinnen aus ihrer Kinder- und Highschoolzeit, aus dem Ferienlager und aus den ersten Semestern – alle werden unter einem Dach zusammenkommen, um auf das teure Stück Papier anzustoßen, dass sie sich gerade verdient hat.

Nachdem Bianca dafür gesorgt hat, dass Amelias Näpfe gefüllt sind, wirft sie noch einen letzten Blick in den Spiegel und bricht in den Abend auf.

Lorraines Bar liegt nur ein paar Straßen entfernt; genau wie ihre Wohnung so weit weg vom Campus, dass sie kein Magnet für die Studienanfänger mit ihren gefälschten Ausweisen ist, die nicht wissen, wie viel Alkohol sie vertragen. Außerdem würde Lorraine sie ohnehin nicht hereinlassen.

Seit Bianca wieder nach L.A. gezogen ist, besucht sie diese Kneipe regelmäßig, die nicht so tut, als wäre sie etwas anderes, als sie ist. Die Besitzerin ist die entzückendste alte Dame, die man sich vorstellen kann, bis hin zu ihrem zu einem kurzen Bob geschnittenen Silberhaar und den freundlichen blauen Augen – bis sie den Mund aufmacht und buchstäblich Feuer spuckt.

Lorraine hat ihr für heute Abend das Hinterzimmer zugesichert, und die erste Runde geht aufs Haus – das Mindeste, was sie tun kann, hat sie gemeint, nachdem Bianca ihrem Enkel bei seinen Apps fürs College geholfen und ihm während der ganzen vier Jahre bis zu seinem ersten Abschluss an der UCLA Nachhilfe gegeben hat.

»Hey, Lorraine«, sagt Bianca, als sie durch die Tür tritt und die Dame dort erblickt, wo sie immer ist: hinter der Bar, wo sie, ein Geschirrtuch über die Schulter gehängt, ein paar Kurze für die Stammgäste einschenkt, die vor ihr sitzen.

»Hey, Honey, Sie können nach hinten durchgehen, es gehört alles Ihnen!«, ruft Lorraine.

»Ab heute Dr. Honey«, schießt Bianca zurück.

Die Wirtin der Bar schnaubt und macht eine wegwerfende Geste. »Bin mir ziemlich sicher, dass Sie nix verschreiben können, Mädel. Wenn Sie mir ein Rezept für meine Medizin ausstellen können, dann nenne ich Sie Doktor.«

Dieses Geplänkel zieht sich schon ein paar Jahre, doch heute Abend ist Bianca zu glücklich zum Streiten. Außerdem meint Lorraine das überhaupt nicht so. Sie macht einen nur herunter, wenn sie stolz auf einen ist.

Es ist Donnerstagabend, daher ist das Lokal nicht überfüllt. Aber leer ist es auch nicht, und während sie zwischen den Grüppchen hindurchgleitet, sieht Bianca ihnen in die Gesichter und hofft, dass alle herausgefunden haben, wo sie hinmüssen. Lorraine hat versprochen, einen kleinen Nebenraum im hinteren Teil der Bar abzusperren, den sie manchmal für geschlossene Gesellschaften vermietet.

Das laute Stimmengewirr, weil alle die Musik übertönen wollen, klingt ein wenig ab, als sie um die Ecke biegt. Miranda und ihre Frau sind schon da und kommen sofort auf sie zu, um sie zu umarmen; eine viel weniger gestelzte Umarmung als die vorhin, nach ihrer Verteidigung. Bianca weiß, dass sie sich für den Rest ihres Lebens auf diese Frau als Freundin und Mentorin verlassen kann.

»Nochmals Glückwünsche. Wir sind ein wenig zu früh dran, weil ein gewisser Jemand sich wegen des Parkens neurotisch angestellt hat«, erklärt ihre Doktormutter und verdreht voller Zuneigung die Augen in Richtung ihrer Frau Sarah, einer Ärztin am Cedars-Sinai – mit der Art von Doktortitel, der laut Lorraine wirklich zählt.

»Und ich hatte recht, wir sind zehn Minuten im Kreis gefahren, bis wir eine Lücke gefunden hatten«, sagt Sarah, umarmt Bianca dann aber als Nächste. »Herzlichen Glückwunsch, Liebes. Wir sind wirklich stolz auf dich.«

Biancas Mom und Dad sind im Ruhestand und nach Arizona gezogen, daher fühlt sich das heute Abend fast wie elterliche Anerkennung an, und das ist ein verdammt gutes Gefühl. Mit ihren Eltern wird sie morgen bei ihrem wöchentlichen Skype-Anruf reden. Doch jetzt summt das Handy in ihrer Tasche, und vielleicht rufen sie gerade an, um ihr zu gratulieren.

Nichts da.

Es ist eine Textnachricht von ihrer Schwester Lexi, die immer zu allem zu spät kommt, weil sie wegen ihres Kindes nie pünktlich das Haus verlassen kann.

Hey, Bianca, meine Hübsche, ich bin so stolz auf dich!! Herzlichen Glückwunsch! Aber Alec hat Fieber, deswegen muss ich für heute Abend absagen. Beim nächsten Mal gehen die Drinks auf mich!! Xoxo

Aha, dieses Mal lässt ihr Sohn sie also überhaupt nicht aus dem Haus. Die Unwägbarkeiten der Mutterschaft. Obwohl Biancas Schwager Chris vollkommen in der Lage wäre, sich um Alec zu kümmern, auch wenn er krank ist, scheint das nie zu passieren. Lexi beharrt darauf, dass sie das begreifen wird, wenn sie eines Tages selbst Kinder hat, aber das heißt nicht, dass es nicht ätzend ist.

»Alles in Ordnung?«, fragt Miranda. Als Bianca aufblickt, sieht sie stirnrunzelnd auf sie herunter.

Mit einer vagen Handbewegung in Richtung Telefon nickt sie. »Doch, alles klar, aber meine Schwester schafft es nicht.«

Dann wird ihr Blick über Mirandas Schulter hinweg gezogen, zu einer Gruppe ihrer Kommilitonen, die im Gänsemarsch durch die Tür der Bar kommen. Obwohl sie die letzten Jahre im selben Studiengang verbracht haben, hat sie nicht wirklich enge Freundschaften geschlossen. Die meisten waren nur gewissermaßen Randfiguren in ihren Seminaren oder haben dieselben Konferenzen besucht – ganz nett, aber sie hatte ihr eigenes Studium, ihren Unterricht, die Schichten in der Bibliothek und musste noch Zeit für ihre Familie und ihre Freunde abzweigen, so dass sie nie Muße hatte, neue Menschen kennenzulernen.

Mit einer großen Ausnahme, aber sie ist sich nicht sicher, ob sie ihn heute Abend sehen wird. Sie hat seit Wochen, vielleicht Monaten nicht mehr mit Xavier Byrne geredet, da die Vorbereitung auf ihre Verteidigung jeden wachen Moment beansprucht hat.

Trotzdem ist es nett, sich unter Glückwünschen umarmen zu lassen und allen gut zuzureden; ihnen zu erklären, dass sie zwar die Erste in ihrem Jahrgang ist, die erfolgreich ihre Doktorarbeit verteidigt hat, aber nicht die Letzte sein wird; und dass sie sich alle im gelobten Land nach ihrer Verteidigung wiedersehen werden.

Es sind ziemlich viele gekommen.

Alle paar Minuten huscht ihr Blick zur Tür, wenn sie geöffnet wird, aber nie sieht sie die Gesichter, nach denen sie sich am stärksten sehnt.

Sie hat fast ihren dritten Drink geleert, als eine weitere Textnachricht hereinkommt. Dieses Mal von Isobel, mit der sie sich als Studienanfängerin ein Zimmer geteilt hat.

Ich schaffe es heute Abend nicht! Tut mir ganz schrecklich leid. Ich bin wirklich das Allerletzte. Kann ich dich nächste Woche zum Essen einladen?

Bianca trinkt noch einen Schluck von ihrem Drink und schreibt zurück:

Okay, wir werden dich vermissen!

Sie hat kaum auf »Senden« geklickt, als die nächste Nachricht hereinkommt.

Von Chloe, ihrer guten Freundin aus dem Ferienlager, mit der sie sich über das gemeinsam erlittene Trauma angefreundet hat. Sechs Wochen in den Wäldern abgeladen, wobei ihre Hütten klimatisiert waren und abgesehen vom Schwimmen in einem See kaum anspruchsvolle Freiluftaktivitäten von ihnen verlangt wurden.

Dieser Idiot von Josh hat seinen Chef und seine Kollegen für heute Abend hierher eingeladen, ohne mir Bescheid zu geben. Tut mir furchtbar leid. Ich mache das wieder gut!

Sie hat noch nicht einmal zu Ende gelesen, als die nächste hereinkommt. Von Erik, ihrem einstigen besten Freund von der Arbeit. Dem, der ihr versichert hatte, sie sei nicht verrückt, weil sie ihren Doktor machen wolle, als sie in ihrem Lehrerinnenjob an der Highschool todunglücklich war.

Hasse mich bitte nicht, aber ich schaffe es heute Abend nicht. Die Zwillinge haben Koliken. Hab ganz viel Spaß. Ich schicke dir etwas Geld über Venmo! Trink einen auf mich!! Xoxo

Sein Mann und er haben vor ein paar Monaten Zwillinge adoptiert, und seitdem ist es schwer, ihn zu treffen, doch deswegen tut es nicht weniger weh. Ihr Handy rattert wie eine Registrierkasse.

Und dann noch eine Nachricht; von Frankie, die am ersten Kindergarten-Tag neben ihr im Bus saß und sie gefragt hat, ob sie beste Freundinnen sein wollten, was sie seitdem sind.

Tut mir schrecklich leid, aber wir haben gerade ein Last-Minute-Meeting mit Tokio. Ich glaube, ich schaffe es nicht. Wir holen das bald nach, versprochen! Glückwunsch, Dr. Dimitriou.

Als die Benachrichtigung eingeht, kann sie die Nachricht kaum entziffern, weil ihr heiße Tränen in die Augen schießen und sich in ihrem Hals ein Kloß bildet, der so groß ist wie ihre Studienkredite.

~

An diesem Punkt war sie geflüchtet, fort von Miranda und den Leuten aus ihrem Doktorandenprogramm, die sie kaum als Freunde betrachtet; zurück an die Bar, um sich bei Lorraine noch einen oder zehn Drinks zu bestellen und dieses Gefühl zu ertränken.

Und genau da ist er natürlich aufgetaucht und sah so verdammt gut aus, und sie ist total aufgelöst, und jetzt reicht er ihr mit weicher, offener, besorgter Miene noch einen Drink.

»Bist du auch sicher, dass es dir gut geht?«, fragt er noch einmal, und mit einem Mal liegt seine freie Hand auf ihrer Schulter und fühlt sich warm und verlässlich an.

»Mir geht’s bestens.«

»Du siehst aber nicht …«

»Mir geht’s super. Aber ich hab’s mir anders überlegt. Ich brauche Shots.«

»Schnaps?«, fragt er, und obwohl sie schon drei Drinks intus hat, nimmt sie seinen ungläubigen Ton wahr.

»Schnaps«, bekräftigt sie. »Lorraine! Wir brauchen Shots! Tequila!«

»Kommt sofort, Dr. Honey!«, schreit Lorraine von der anderen Seite der Bar zurück. Wahrscheinlich ist sie entzückt darüber, ihr etwas servieren zu können, das nicht pink ist.

»Bianca«, sagt er, und verdammt, es gefällt ihr, wie er ihren Namen ausspricht. Sie spürt ihn hinter sich. Seine Hand liegt immer noch auf ihrer Schulter, und er steht groß und breit in ihrem Rücken. Eigentlich ist es sogar ziemlich ärgerlich, wie gern sie ihn ihren Namen sagen hört.

Sie fährt herum und sieht wütend zu ihm auf. »Ich bin verdammt noch mal Doktor, und wenn ich sage, dass ich Klare will, dann kriege ich Klare, auch wenn meine Freunde alle Drecksäue sind und nicht kommen werden, um Schnaps mit mir zu trinken. Außer dir, du bist gekommen.«

»Na ja, ich und Miranda und, du weißt schon, alle anderen hier.«

»Ja, doch die sind nicht meine Freunde, nicht wirklich … Aber du bist mein Freund, nicht wahr?«

Er sieht auf sie hinunter, und sie wartet. Gott, er ist doch wohl nicht die Art Mistkerl, der sie darauf festnageln wird, oder? Denn sie sind nicht befreundet, nicht wirklich, nicht so wie bei den Leuten, die sie heute Abend versetzt haben. Aber vielleicht sieht er etwas in ihrem Gesicht, das verrät, dass sie das jetzt braucht. Dass sie ihn als Freund braucht.

»Ja, Chefin, wir sind Freunde.«

Bianca verdreht die Augen über diesen Spitznamen, den sie sich anscheinend in ihrem ersten gemeinsamen Studienjahr verdient hat, bei ihrem ersten gemeinsamen Projekt. Es ist nicht ihre Schuld, dass ihre frühen Jahre in der akademischen Welt sie gelehrt hatten, die Verantwortung zu übernehmen, wenn sie wollte, dass etwas richtig gemacht wurde.

Dann legt sich ein breites Lächeln über ihr Gesicht, und sie springt von dem Barhocker auf, umschlingt seine Schultern und stellt sich ganz hoch auf die Zehenspitzen, um ihn fest zu umarmen. Er stützt sie mit den Händen, als sie beginnt, seitwärts wegzukippen. Eine landet auf ihrer Hüfte, und die andere legt sich in ihr Kreuz, und Mist, er riecht wirklich, wirklich gut. Was nett ist, aber auch gefährlich und beängstigend, und plötzlich kommt ihr das wie eine viel bessere Idee vor als in den letzten fünf Jahren, als es schlecht gewesen wäre, ihre Arbeit mit etwas zu vermischen, aus dem extrem chaotische Gefühle hätten entstehen können. Gefühle, die letztendlich nur ein Ergebnis gehabt hätten: dass sie beide verletzt worden wären und sie allein zurückgeblieben wäre.

»Freunde lassen Freunde nicht allein Shots trinken«, sagt sie, weil sie sich davon ablenken muss, wie gut er sich an ihrem Körper anfühlt. »Trinkst du Shots mit mir?«

»Ich trinke Shots mit dir«, erwidert er leise, während sie sich auf ihre Absätze zurücksinken lässt, nimmt aber die Arme nicht weg, als sie sich abrupt wieder zur Bar umdreht, sondern zieht sie nur enger an sich. So bilden seine Arme den perfekten Schutzschild, der wenigstens für den Rest des Abends alles andere verdrängt.

2. Kapitel

Er ist nicht betrunken. Nicht wirklich.

Er ist leicht angeheitert.

Sie ist betrunken.

Nicht komatös oder so, dass sie nicht mehr zusammenhängend reden könnte.

Aber eindeutig betrunken.

»Das ist so gut«, stöhnt sie genüsslich, nachdem sie ihren dritten riesigen Bissen von dem Burrito verschlungen hat, den er ihr gekauft hat, während sie die Straße zu ihrer Wohnung entlanggehen. Er ignoriert die aufflammende Erregung, die ihn bei dem Laut durchfährt, den sie von sich gibt, und konzentriert sich darauf, sie in einem Stück nach Hause zu bugsieren. Die gleiche Erregung, die ihn in den letzten Monaten dazu gebracht hat, solche Momente zu vermeiden, nachdem er die Gewissheit hatte, dass er nicht mehr allzu lange in L.A. bleiben würde.

Aber er hatte sich überlegt, dass es für heute Abend okay wäre. Er würde zu ihrer Party gehen und sich verabschieden, und das wäre es dann gewesen. Aus einem Vielleicht wäre ein Nie passiert geworden, und er hätte mit seinem Leben weiterkommen können.

Stattdessen bringt er sie nach Hause.

Das hat er alles schon einmal hinter sich.

In den letzten fünf Jahren haben sie bei mehr als einem Projekt zusammengearbeitet und mehr als einen Abend schweigend und mit Kopfhörern auf den Ohren zusammengesessen und an ihren Doktorarbeiten geschrieben. Ab und zu unterbrachen sie sich, um ein Bruchstück aus einer Beweisführung laut vorzulesen, um sicherzugehen, dass sie nicht vollkommen idiotisch war, nachdem sie viel zu lange darauf gestarrt hatten.

Sie gerät ein wenig ins Stolpern auf ihren hohen Absätzen, auf denen sie den ganzen Abend herumbalanciert ist, trotz ihrer Dirty Shirleys, die, wie er vermutet, größtenteils aus purem Wodka bestanden, und der Tequila-Shots, die sie zusammen getrunken haben, als nicht ein einziger wichtiger Mensch aus ihrem Leben sich bequemt hat, ihr zu Ehren aufzukreuzen.

Nach dem zweiten Schnaps hat sie die Geschichte herausgesprudelt.

Und sie ist totaler, verdammter Bockmist.

Es ist eine Sache, wenn man niemanden hat, der kommen könnte – das ist auf eine andere Art mies, er muss das schließlich wissen –, aber wenn die Menschen, die du liebst, dich einfach am wichtigsten Abend deines Lebens versetzen?

Verfluchte Schwachköpfe.

»Möchtest du abbeißen?«, fragt sie und bringt es irgendwie fertig, ihm trotz ihres Stolperns ohne Zwischenfall den Weg zu verstellen und ihm den fast aufgegessenen Burrito anzubieten. Auf ihren hohen Absätzen geht sie ein paar Schritte rückwärts, bis sie sich mit dem Fuß in einem Riss im Beton verfängt und beinahe der Länge nach auf den Gehweg hinschlägt. Rasch legt er einen Arm um ihre Taille und hält sie fest.

Bianca sieht aus großen Augen, den Mund zu einem erstaunten »Oh« aufgerissen, zu ihm auf. »Du hast mich gerettet. Jetzt musst du von dem Burrito abbeißen, als Belohnung.«

Sie hält ihn vor seinen Mund, und ja, warum eigentlich nicht?

Er beugt sich hinunter, sieht ihr in die Augen, beißt ab und behält den würzigen Geschmack der Chorizo-Wurst einen Moment auf der Zunge. Sie hat recht, er ist verdammt gut; fast so gut wie das Gefühl dabei, wie sie ihren Körper an seinen drückt. Manchmal vergisst er, wie klein sie eigentlich ist. Ihre Präsenz in seinem Leben war so aufreibend massiv, dass es ihm schwerfällt, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass sie nur knapp über eins fünfzig ist und ihm ohne diese Mörder-High-Heels kaum bis zur Schulter reicht, obwohl er für einen Mann nicht besonders groß ist.

»Du hast recht«, pflichtet er ihr bei, reißt den Blick von ihrem los und tritt einen Schritt zurück. Kurz legt er die Hände auf ihre Hüften, nur um sich zu vergewissern, dass sie sicher auf den Füßen steht, und lässt sie dann endgültig los.

»In welchem Punkt?«, fragt sie und setzt dieses entzückende Stirnrunzeln auf, wie immer, wenn sie aufrichtig verwirrt ist. Was nicht besonders oft vorkommt.

»Der Burrito ist gut.«

»Ich weiß!«, ruft sie aus und eilt die Straße entlang, und er stolpert los und versucht, mit ihr mitzuhalten. Wie zur Hölle bringt sie es fertig, im betrunkenen Zustand in diesen Schuhen zu rennen? »Ich vergesse das bestimmt, du musst es aufschreiben.«

»Was soll ich aufschreiben?«

»Den Namen des Food Trucks«, ruft sie über die Schulter zurück, und dann haben sie das Haus erreicht, in dem ihre Wohnung liegt.

Sie lebt im ersten Stock, und er beeilt sich, damit er direkt hinter ihr geht, während sie die Außentreppe hinaufsteigt, und gibt sich dabei die größte Mühe, die Aussicht nicht allzu sehr zu genießen.

Ganz gelingt ihm das nicht.

Xavier hatte schon immer eine Schwäche für Frauen mit üppigen Kurven, aber üppige Frauen, die genauso schlau sind wie er – eigentlich schlauer, wenn er ehrlich ist?

Er hatte nie die geringste Chance.

»Alles gut?«, fragt er, als sie versucht, ihren Haustürschlüssel ins Schloss zu stecken.

»Ich bin betrunken und unkoordiniert«, murmelt sie, startet einen zweiten Versuch und scheitert wieder.

»Nüchtern genug für Wörter mit fünf Silben«, erwidert er und streckt die Hand aus, um ihr den Schlüssel abzunehmen. Blitzschnell hat er die Tür geöffnet, und sie huscht hinein und zieht ihn hinter sich her.

»Mach die Tür zu!«, schimpft sie.

Oh, richtig, ihre Katze.

Die Tür fällt mit einem Klicken hinter ihm ins Schloss, und ihre graue Katze liegt tief schlafend in ihrem Körbchen neben ihrer plüschigen grünen Couch. Er weiß noch, wie sie das kleine Ding als Junges zu sich genommen hat, und es ist seitdem kaum gewachsen.

»Wo steckt denn deine Mitbewohnerin?«

Er erinnert sich vage, dass ihre Mitbewohnerin der Singer-Songwriter-Typ ist und sich verzweifelt an diesen Traum klammert, während sie hier und da kellnert.

»Julie?«, fragt Bianca, lässt sich in den weich aussehenden Ledersessel fallen, streift die Schuhe ab und seufzt leise. »Sie ist auf Tournee, Vorprogramm für Mari Martin.«

Ein Traum, der anscheinend dabei ist, wahr zu werden.

»Wow, das ist eine große Sache.«

Ein strahlendes Lächeln breitet sich über ihr Gesicht, und er kann nicht anders, als es zu erwidern. »Das ist toll. Sie wird groß rauskommen, wie sie sich das immer gewünscht hat.«

»War sie deswegen heute Abend nicht dabei?«, fragt er.

»Ja, sie hat wenigstens eine gute Ausrede. ›Tut mir leid, ich schaffe es nicht zur Feier deiner Promotion, aber ich widme dir meinen heutigen Auftritt vor achtzigtausend Leuten‹ ist so viel besser als …« Sie verstummt.

Endlich durchquert er den Raum, setzt sich auf die Kante ihres Sofas und beugt sich mit aufgestützten Ellbogen vor, damit er ihr in die Augen sehen kann. »Tut mir leid, dass sie sich alle gedrückt haben.«

Sie zuckt die Achseln. »Egal.«

»Nein, ist es nicht. Es ist total mies«, wendet er ein, und sobald das Wort über seine Lippen kommt, kann er den Rest nicht zurückhalten. »Ich kenne dich nicht so lange wie die anderen, aber in den letzten fünf Jahren habe ich miterlebt, wie du praktisch auf Zuruf alles für sie hast fallen lassen, ständig wegen ihres Mists herumgerannt bist, und sie konnten das heute Abend nicht für dich tun? Du hast Besseres verdient.«

Sie stößt einen tief empfundenen Seufzer aus, wedelt mit einer Hand durch die Luft und starrt an die Decke. Offensichtlich unterdrückt sie die Tränen, genau wie in der Bar, als ihre Freunde und ihre Familie sie sitzen gelassen haben. Er hasst das. Hasst, dass er nicht die Hände nach ihr ausstrecken, sie in die Arme ziehen, sie festhalten und ihren Schmerz wenigstens ein wenig lindern kann, wenn er ihn ihr schon nicht nehmen kann.

»Weißt du, was komisch ist? Ich weiß, warum sie heute Abend nicht gekommen sind.«

»Ja?«

»Es ist ihnen nicht wichtig.«

»Es ist ihnen nicht wichtig?«

»Ich bin ihnen wichtig, das weiß ich. Sie lieben mich genauso wie ich sie, aber diese Sache ist ihnen gleichgültig. Es ist einfach ein Teil von mir, den keiner von ihnen begreift. Sie verstehen Verlobungsfeiern und Baby- oder Brautpartys, Junggesellinnen-Wochenenden, Hochzeiten an exotischen Locations, Gender-Reveal-Partys und allen möglichen Stuss, sie haben sogar Verständnis für einen Streifzug durch die Bars anlässlich einer Scheidung, aber … das? Es hat für sie einfach keine Bedeutung. Sie finden nicht, dass es das Gleiche oder genauso wichtig ist wie ihr Zeug, deswegen war es ganz einfach, heute Abend nicht zu kommen.«

»Das ist Bullshit.«

»Ich meine, tatsächlich? Es ist bloß ein Stück Papier. Genau wie meine letzten beiden, vielleicht ein wenig schicker und sehr viel teurer, aber es ist nicht …«

Und da kann er sich nicht mehr beherrschen. Er streckt den Arm aus und schnappt die Hand, mit der sie in der Luft wedelt, um ein Wort zu finden, das ihr Argument besiegelt, von dem er sich komplett sicher ist, dass sie nicht wirklich daran glaubt. Und falls sie doch davon überzeugt ist, wird er es vielleicht zu seiner Lebensaufgabe machen, sie vom Gegenteil zu überzeugen.

»Das ist Bullshit«, wiederholt er und fährt mit einem Daumen über ihre Knöchel, während sie sich an seine Hand klammert. »Sie lieben dich, und das hier ist dein Traum, und sie können nicht einfach entscheiden, dass er keine Bedeutung hat.«

»Weißt du, was besonders beschissen daran ist?«, fragt sie, und er ist erleichtert, dass sie endlich seiner Meinung zu sein scheint.

»Was?«

»Wenn ich mich heute Abend verlobt hätte, wären sie gekommen. Jeder Einzelne von ihnen hätte es möglich gemacht, dort zu sein. Meine Schwester hätte sich einen Babysitter gesucht. Frankie hätte dafür gesorgt, dass sie nicht mit Japan telefonieren muss, und Chloe hätte Josh mitgeteilt, sie hätten heute Abend etwas vor. Isobel und Erik hätten nicht das Gefühl gehabt, einfach wegbleiben zu können, ohne mir auch nur eine anständige Erklärung zu geben. Sie wären alle da gewesen, selbst wenn sie den Typen gehasst hätten, selbst wenn sie der Meinung gewesen wären, dass ich meine Träume für ihn aufgebe, selbst wenn sie alle möglichen Termine verschieben und einen Haufen Geld abdrücken müssten, genau wie ich es für sie getan habe, weil nichts wichtiger wäre, als in diesem Moment für mich da zu sein. Weil sich das für Freunde so gehört. Ich habe das für sie getan. Aber es ist ja bloß ein blödes Stück Papier, von dem sie nicht wirklich einen Begriff haben und auf das sie keinen feuchten Dreck geben. Also war es einfach leicht, nicht zu kommen.«

»Das ist …« Er verstummt, weil er nicht die geringste Ahnung hat, was er sagen soll. Am liebsten möchte er ihr widersprechen, aber sie hat wahrscheinlich recht. Abgesehen davon, dass sie sie im Lauf der Jahre kurz erwähnt hat, kennt er keinen dieser Leute, aber in diesem Moment verabscheut er sie alle.

»Das ist es wirklich«, pflichtet sie ihm trotz seiner mangelnden Beredsamkeit bei und lehnt sich in ihren Sessel zurück. Ihr Haar steht ihr wild um den Kopf, der Seidenstoff ihres Tanktops umschmeichelt ihre Kurven, die schon immer viel zu verlockend für seine geistige Gesundheit waren, und ihre Hand liegt noch in seiner und hält sie fest. Während er mit dem Daumen ein letztes Mal behutsam über ihre Knöchel streicht, starrt er diese Hand an, die so viel kleiner als seine eigene ist, mit ihrem nackten Ringfinger, und sagt das absolut Dümmste, was überhaupt möglich ist.

»Wir sollten uns verloben.«

Bianca schnaubt humorlos, doch als er keine Antwort gibt, weil sein Mund trocken und sein Hals wie zugeschnürt ist, nimmt sie den Blick von der Decke und sieht ihm in die Augen.

»Dein Ernst?«

Panik. Totale, pure Panik schießt durch seinen ganzen Körper. Was … wie … Mist … was zur Hölle macht er da – aber sein Mund ist immer noch viel schneller als sein Hirn, und er kann ihn jetzt nicht mehr stoppen.

»Nein! Doch, ich meine … nicht wirklich verloben. Aber wir könnten allen erzählen, dass wir verlobt sind. Ihnen eine verdammte Lektion erteilen.«

Ein gepresstes Lachen steigt aus ihrer Kehle auf. »Sie würden den Verstand verlieren, wenn ich sie einfach damit überfalle. ›Hey, Leute, ich heirate, und ihr kennt den Typen nicht mal.‹ Das wäre eine absolute Atombombe. Rasend komisch wäre das.«

Sie springt vom Sessel auf und stolpert fast über die Schuhe, die sie erst vor wenigen Minuten abgestreift hat. Irgendwie ist sie barfuß tollpatschiger als auf hochhackigen Schuhen. Sie fängt sich ab, bevor sie umkippt, und beginnt, auf und ab zu gehen. Betrunken hat er Bianca fast nicht wiedererkannt, aber diese Version von ihr ist ihm vertraut; genau das passiert, wenn sie sich durch eine schwierige Stelle in ihrer Forschung arbeitet. Im Kopf stellt sie die Verbindung zwischen den Puzzleteilen her und lässt diese Brillanz, die ihn während der letzten fünf Jahren so oft überwältigt hat, ihr Wunder wirken, bis sie schließlich zu einer perfekten Lösung kommt.

Und als sie direkt vor ihm stehen bleibt, mit blitzenden Augen auf ihn heruntersieht und langsam die Lippen zu einem Lächeln verzieht, spürt Xavier, wie sich in seiner Brust ein winziges Fünkchen Hoffnung auf das Unmögliche bildet.

»Würde ihnen recht geschehen, weil sie heute Abend nicht gekommen sind. Zum Beispiel: ›Tut mir leid, wenn ihr meine Verlobung verpasst habt, weil ihr dachtet, es wäre nicht so wichtig, den wirklich größten Moment in meinem Leben zu feiern.‹«

Erneut geht sie auf und ab.

»Dann machen wir das doch«, meint er. Langsam erwärmt er sich für die Idee, und in seinem Kopf steigen Fragmente eines Plans auf. »Einen Ring hätte ich.«

Das lässt sie wie angewurzelt stehen bleiben. »Du hast rein zufällig einen Verlobungsring?«

»Ich habe ihn immer in der Tasche, nur für alle Fälle.« Sie wirft ihm einen leicht ungläubigen Blick zu. »Nein, nicht dabei, aber bei mir zu Hause. Er hat meiner Mom gehört, von damals, vor der Hochzeit mit meinem Dad. Nach der Scheidung hat sie ihn behalten, und nach ihrem Tod habe ich ihn geerbt.«

Wieder klappt ihr der Mund auf, und sie schaut ihn aus starren, weit aufgerissenen Augen an. Er ist sich nicht sicher, ob er sie schon einmal so gesehen hat; auf dem falschen Fuß erwischt und wie vom Donner gerührt. Sonst ist sie immer so selbstsicher und kompetent. Diese Veränderung wirft ihn aus der Bahn, was die einzige Erklärung für das vollkommen verrückte Zeug ist, das er in den letzten paar Minuten von sich gegeben hat.

Schließlich scheint sie sich zu fassen. »Xavier, das … nein, das ist der Ring deiner Mutter, das wäre nicht richtig.«

Er sollte erleichtert sein. Sie zeigt ihm einen Weg, aus dieser Nummer herauszukommen, und er sollte ihn einschlagen. Doch stattdessen ist er bloß enttäuscht. Er will das machen. Um ihr einen Gefallen zu tun, natürlich. Aus keinem anderen Grund.

»Ich meine, wir könnten einfach einen billigen, unechten kaufen.«

Oh, dann hat sie nicht gemeint … Sie hat sich nur Gedanken wegen des Rings gemacht.

Er zuckt die Achseln. »Es würde dem Ganzen einen authentischen Anstrich geben. Außerdem ist es bloß ein Ring, und da ich nicht vorhabe, irgendwann wirklich zu heiraten, würde er sonst nur in seiner Schachtel verstauben.«

»Du willst nicht heiraten?«

Hmpf, na ja, vielleicht ist er ein wenig betrunkener, als ihm klar war, denn anscheinend erzählt er ihr jetzt einfach irgendetwas; Dinge, die er sich nicht einmal selbst ganz eingestanden hat.

»Wer würde mich schon nehmen?«

Das ist nur halb im Scherz gemeint. Er hat genug Elend in der Ehe seiner Eltern miterlebt, oder zumindest die Auswirkungen zu spüren bekommen. Er hat keinerlei Interesse daran, sich selbst oder jemand anderem das anzutun.

»Ähm, hast du dich in letzter Zeit mal selbst angesehen?«, fragt sie, und dieser Burrito hat eindeutig den ganzen Tequila noch nicht neutralisiert, denn in den fünf Jahren, die er sie jetzt kennt, hat sie nie, niemals Bemerkungen über sein Aussehen gemacht. »Die Hälfte der Studienanfängerinnen, die wir unterrichten, belegen den Grundkurs Archäologie bloß, damit sie dich ein Semester lang anstarren können.«

Eigentlich sollte er beleidigt sein, aber sie hat das so nett gesagt, so völlig ohne jeden Sarkasmus, als wäre es einfach eine Tatsache.

Xavier weiß, dass er gut aussieht. Das ist ihm seit der Grundschule klar, als sich all die Valentinskarten auf seinem Pult stapelten und einige der Mädchen Wetten abgeschlossen hatten, wer es wagen würde, ihn in der Pause auf die Wange zu küssen. Aber Bianca schien immer immun dagegen zu sein und wirkte manchmal sogar ein wenig genervt, als wäre das etwas, das er unter Kontrolle hätte.

»Ich meine auch nicht …« Er zeigt auf sein Gesicht. »Ich meine, wer würde schon mein Leben mit mir teilen wollen? Immer unterwegs, immer mit Zuschüssen bezahlt, einen Job beenden und dann den nächsten und sich nie fest niederlassen. Menschen, die heiraten wollen, wünschen sich das Gegenteil, nicht wahr? Außerdem haben sich meine Eltern scheiden lassen, als ich fünf war; mein Dad war vier Mal verheiratet. Die Byrnes können Ehe nicht.«

Und sie bringen auch nicht annähernd so etwas wie Familie zustande.

Er selbst eingeschlossen.

»Die meisten Leute führen beschissene Ehen. Die Scheidungsrate beträgt fünfzig Prozent. Die Hälfte meiner Freundinnen, die geheiratet haben, sind schon wieder geschieden … oder sollten es sein.«

»Meine ich ja, deswegen ist der Ring auch keine große Sache. Du steckst ihn an, schießt ein paar Fotos, postest sie und lässt alle in deinem Leben ausflippen. Das haben sie schließlich verdient, weil sie dich versetzt haben. Sollen sie doch ein, zwei Tage ein schlechtes Gewissen haben, und dann: Ätsch!« 

»Ätsch! Wirklich?«, fragt sie, lässt sich neben ihm auf die Couch fallen, legt seufzend den Kopf zurück in die Kissen, und er dreht sich auf seinem Platz, um auf sie hinunterzusehen.

»Wirklich«, gibt er zurück. »Was hältst du davon?«

Sie steht nicht auf und läuft herum, sondern sieht ihn nur an. Er ist sich nicht ganz sicher, was sie in seinen Augen sucht, also erwidert er nur ihren Blick und lässt sie überlegen, bis sie schließlich zu einer Entscheidung zu kommen scheint.

»Wir machen es.«

Er wohnt nur ein paar Straßen weiter, daher geht er in die Nacht hinaus, um den Ring zu holen. Er schiebt die Hände in die Taschen seiner Cargo-Jacke, die er übergeworfen hatte, als die Abendtemperatur unter das gesunken war, was für L.A. im Mai normal ist, und lässt die kühle Nachtluft ihr Ding machen und ihn ein wenig ernüchtern.

Vor fünf Minuten hat sich die Sache noch nach einer guten Idee angefühlt; eine Art, ein wenig mehr Zeit mit der einzigen Person zu verbringen, zu der er in seinen Jahren in L.A. eine echte Verbindung aufgebaut hat.

Doch mit Beton unter den Füßen und mit jedem Schritt, der ihn weiter von ihr fortträgt, setzt sich die Realität durch.

Er hatte einen Grund dafür, sich in den letzten Monaten zurückzuziehen. Ihrer beider Doktorarbeiten und ihre bevorstehende Verteidigung waren eine praktische Ausrede, doch in Wahrheit brauchte er einfach etwas Freiraum. Musste verhindern, dass seine Gefühle von Respekt, Bewunderung und Anziehung sich zu etwas verbanden, das stärker als reine Freundschaft war.

Der Abstand war hilfreich … sehr.

Aber jetzt stürzt er sich wieder Hals über Kopf hinein.

Doch er tut das nur, um ihr zu helfen, um ihren Freundinnen und ihrer Familie klarzumachen, dass es mies war, sie sitzen zu lassen.

Er geht bald fort; zu bald, als dass mehr daraus werden könnte.

Nachdem er seine Wohnung aufgeschlossen hat, steuert er um die Kisten herum, die sich im Wohnzimmer stapeln. Ein paar Wochen hat er noch Zeit, bis er ausziehen muss, aber sein Untermietvertrag läuft zum Ende des akademischen Jahrs aus, sein Zeugs ist größtenteils auf dem Weg zum Einlagern, und er hofft, sich mit Couchsurfing über Wasser halten zu können, bis er nach Griechenland geht. Sein Mentor Paolo hat ihm dort einen Job organisiert. Er wird bei der Rückführung einiger Artefakte helfen, die sich seit ein paar Hundert Jahren in Museen und Privatsammlungen befinden, obwohl sie zurück sein sollten, wo sie hingehören, nämlich in ihrem Heimatland.

Bianca ist Griechin. Wenigstens ist ihr Familienname griechisch, und er ist sich ziemlich sicher, woher sie ihre langen, dunklen Locken hat – er hat länger, als er zugeben mag, damit verbracht, sich vorzustellen, wie sie sich um seine Finger schlingen oder über sein Kopfkissen breiten. Vielleicht wird sie ja stellvertretend für ihre Vorfahren seine Bemühungen zu schätzen wissen.

Der Ring ist genau dort, wo er ihn zurückgelassen hat: in einem Karton mit der Aufschrift Diverses. Er enthält auch einige Gegenstände aus seiner Kindheit, die die Kiste, in der sie gekommen waren, seit dem Tod seiner Mom vor fünf Jahren nicht verlassen haben.

Er öffnet die kleine, samtbezogene Schachtel und mustert den Ring eingehend. Xavier hat keinerlei Erinnerung daran, dass seine Mutter ihn tatsächlich getragen hätte. Kann ihn sich nicht einmal an ihrem Finger vorstellen. Definitiv sieht er nicht aus wie diese glitzernden Ungetüme, die er an einigen Frauen gesehen hat. Er ist alt, das weiß er. Sein Dad hat ihn Ende der 1980er Jahre gekauft, aber wahrscheinlich ist er hundert Jahre älter. Der Reif ist schmal und aus einem rosig schimmernden Gold gefertigt, mit einem runden Diamanten von vielleicht einem Karat oder etwas mehr in der Mitte, umgeben von kleineren Diamanten.

Elegant und einzigartig.

Ganz ähnlich wie die Frau, der er ihn geben wird.

Er nimmt ihn von dem Polster hoch, das ihn an seinem Platz hält, und schiebt ihn auf seinen kleinen Finger, aber er geht nicht einmal über seinen Knöchel. Seine Mom war auch klein, wie Bianca. Hoffentlich passt er.

Mist.

Seine Mom.

Ihr würde diese Idee ni...

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