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America Fantastica

Als Buch hier erhältlich:

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Einst Star-Journalist, lässt den in Ungnade gefallenen Boyd Halverson seine Vergangenheit einfach nicht los, während ihn die Gegenwart zermürbt. Also beschließt er eines Tages die lokale Bank auszurauben, eine Geisel zu nehmen und abzuhauen, um eine Rechnung zu begleichen – mit dem Mann, dem er die Schuld an seinem verpfuschten Leben gibt. Doch das gestohlene Geld übersteigt nicht mal Boyds eigene Rücklagen und Angie Bing, die Bankangestellte, mit der er immer ganz gerne geflirtet hat, stellt sich als ganz schön aufmüpfige Geisel heraus. Für die beiden beginnt ein Roadtrip in die Untiefen einer von Scham und Betrug zerfressenen Nation – mit einigen gefährlichen Verfolgern auf den Fersen. Nur die Polizei scheint sich nicht für Boyd und Angie zu interessieren …

»Durchdringend und messerscharf.« HARUKI MURAKAMI


  • Erscheinungstag: 22.10.2024
  • Seitenanzahl: 528
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907717
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Meredith, Timmy und Tad

Wir hatten das Herz mit Wahn genährt,

Das Herz, gesättigt, wurde roh …

– William Butler Yeats

Wir sind kein Volk der Wahrheitsliebenden.

– Hunter S. Thompson

ERSTER TEIL

Autos, Waffen, Überfälle,

Spielkasinos, Geld, Filme, Hautpflege, Gott,

Monopoly, Wohnmobile, Radiomoderatoren, Baseball und Lügner an öffentlichen Orten

1

Die Seuche war so alt wie Afrika, älter als Babylon, sie wurde mit dem Licht der Sonne durch die Zeiten geweht, mit dem Mondschein und dem Zittern der Zungen, die nicht stillhalten wollten. Im zweiten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts glitt die Seuche über die Bytes eines MacBook Air und landete in dem kalifornischen Städtchen Fulda. Dink O’Neill, Bandenchef der Fulda Holy Rollers, steckte seinen Bruder Chub an, den Bürgermeister von Fulda, der seinerseits Earl Fenstermacher, den Vorsitzenden der örtlichen Handelskammer, infizierte, der an diesem Abend seinen allwöchentlich erscheinenden Blog mit der Nachricht aufmachte, dass ein unschuldiges Mädchen aus South Beach in der Garderobe des Senats in Washington gefangen gesetzt worden sei, weil es öffentlich enthüllt habe, dass das Steuerformular 1040 zu Ehebruch, Unfruchtbarkeit und Hodenkrebs führe. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile. Von Montpellier bis Brownsville, von Eastport bis Barstow begannen Wahnbilder die dumpfe Realität zu ersetzen. Unter den Nutzern der Chatrooms, wo sich die Enttäuschten, die Niedergeschlagenen, die Verachteten und die genetisch Verdächtigen tummelten, forderte die von Wiederholung angefachte, von Wut zum Lodern gebrachte Mythomanie ihre ersten Opfer. In Fulda wurde die Seuche von immungeschwächten Mitgliedern des Kiwanis-Clubs an die Shriners und die Soldaten der Amerikanischen Legion weitergegeben, die ihre eigenen Kinder ansteckten, welche das Virus in die Sonntagsschule trugen. Masken nutzten gar nichts. Die Krankheit breitete sich nach Norden bis Oregon aus, bog östlich nach Idaho ab und erreichte im Januar 2017 das Weiße Haus in Washington. Kurz darauf wurde die Whistleblowerin aus South Beach, eine siebzehn Jahre alte, ziemlich naive Inlineskaterin, heimlich in ein Bundesgefängnis im nördlichen Wisconsin verlegt. An der Hotline der Steuerbehörde saßen Echsenmenschen, Heuschrecken fielen über die Wahrheit her. Am Rio Grande wurden Mauern hochgezogen. Die Mitläufer der extremen Rechten, auch die Frauen unter ihnen, hatten dem Präsidenten seine Herrenwitze längst verziehen. Monate und Jahre gingen ins Land. Als im Sommer 2019 die Gletscher schmolzen und der Anstand in riesigen Brocken vom Staatswesen kalbte, hatten sich die Mythomanen längst in ihre selbst errichtete Welt geflüchtet. In St. Joseph, Missouri, teilte ein siebenundvierzig Jahre alter Familienvater namens Willard Swift seiner Frau und seinen sieben Kindern mit, dass er in der Tiefkühlkostabteilung eines gut gehenden Walmart zum König von Amerika gekrönt worden sei. Am selben Abend schüttete König Swift die Überreste seiner Familie in acht jeweils zweihundert Liter fassende Plastiktonnen und bedeckte sie mit Katzenstreu. Beinahe gleichzeitig, nur tausend Meilen entfernt, berichtete ein höchst politisierter, rassistischer Orthopäde in einem Vorort von Baltimore, die Knochen exhumierter Sklaven würden auf einen »gesunden, angenehmen und privilegierten Lebensstil« hinweisen. Der Verfassungszusatz über die Abschaffung der Sklaverei, meinte er, sei »viel Lärm um nichts«. In New Mexico bekämpften Bürger das Tempolimit auf dem Highway als Eingriff in grundlegende Freiheitsrechte. In Washington, D.C., erklärten gut bezahlte Lobbyisten, dass Handwaffen als »lebendige menschliche Wesen« zu behandeln seien. Und die Kommentatoren im Radio enthüllten, dass Alka-Seltzer zur »Lieblingswaffe« der Chinesen geworden sei, ein täglicher Tupfer Pomade schütze vor Erkältungskrankheiten und Lee Harvey Oswald, der Mörder von John F. Kennedy, sei »gar nicht so schlimm« gewesen.

2

Nachdem Boyd Halverson an einem Spätnachmittag im August des Jahres 2019 den JCPenney-Laden auf der South Spruce Street abgeschlossen hatte, schlenderte er zu seinem Wagen, startete den Motor und blieb ein paar Minuten sitzen. Dann blinzelte er, rieb sich die Augen und beschloss, sein Leben zu ändern. Er hatte die Kunstfasern satt, vor allem die Viskose.

Am Abend packte er seinen Koffer. Zum Schluss warf er noch zwei Pässe hinein, ein Exemplar der Ilias, seinen abgelaufenen Presseausweis und eine Badehose. Er aß zu Abend, nahm die Biografie von Winston Churchill und legte sich ins Bett.

Spät am nächsten Morgen ging Boyd wie jeden zweiten Samstag zum Brunch der Kiwanis. Mitten in der Veranstaltung entschuldigte er sich, überquerte die Straße und trat in die Community National Bank. Es war elf Uhr vierunddreißig. Die Bank schloss samstags um zwölf, nur eine einzige Angestellte war noch da, eine zierliche Rothaarige namens Angie Bing. Boyd füllte einen Auszahlungsschein aus, unterschrieb und trat an die Kasse.

Angie kicherte.

»Das ist aber ein Haufen Geld«, sagte sie. »Wenn du nach Las Vegas willst, Boyd, dann nimm mich mit.«

Jetzt lachte sie richtig. Boyd und sie flirteten schon seit fast zwei Jahren.

Sie zerriss den Auszahlungsschein.

»Wir haben keine dreihunderttausend. Was kann ich sonst noch für dich tun?«

»Wie viel habt ihr denn in bar? Was schätzt du?«

»In bar?«

»Ich nehme alles.«

»Willst du mich ausrauben?«

»Nicht dich«, sagte Boyd.

Er zog die Pistole und zeigte sie her. Das war kein Spielzeug. Es war eine 38er Temptation Special.

Angie Bing gelang es, knapp einundachtzigtausend Dollar zusammenzukratzen, eine ordentliche Summe für eine kleine Bank in einem Nest wie Fulda.

Boyd stopfte das Geld in eine Papiertüte aus dem Supermarkt.

»Tut mir wirklich leid«, sagte er, »aber ich muss dich bitten, mitzukommen und in den Wagen zu steigen.«

Sie fuhren Richtung Süden aus der Stadt, und Angie Bing sagte voraus, dass er nicht einmal fünfzig Meilen weit kommen würde. Aber Sonntagmorgen waren sie in einem Motel in Bakersfield. Montagnachmittag waren sie in Mexiko. Es war nicht mehr als eine Laune gewesen, die Pässe einzustecken, die sich jetzt als glückliche Eingebung erwies, auch wenn Angie dem einen Foto nur vage ähnelte. Nach nervenaufreibendem Geschacher mit den Grenzbeamten war Boyd dankbar, mit beinahe der gesamten Beute von einundachtzigtausend Dollar davonfahren zu können.

Er ließ den Wagen stehen, einen 1993er Buick LeSabre mit Registriernummer, den er neun Jahre lang gefahren hatte. Später, beim Abendessen, fragte er Angie, ob sie bereit wäre, ihm etwas Vorsprung zu geben, bevor sie die Polizei anrief. Sie saßen in einem Strandrestaurant in San Felipe, Angie aß gegrillten Thunfisch, Boyd arbeitete sich an einem Teller Chicken Wings ab. Im großen Sprossenfenster zeigte sich in betörend durchfärbter Dämmerung der Golf von Kalifornien.

»Wie lang brauchst du denn?«, fragte Angie. »Ich will keinen Ärger.«

»Drei Tage. Vielleicht vier.«

»Was soll ich denn die ganze Zeit machen?«

»Du kannst schwimmen gehen, dein Spanisch auffrischen. Mach einen Kurzurlaub daraus. Ich lass dir etwas Geld da.«

»Wie viel?«, fragte Angie.

»Weiß nicht. Tausend?«

»Soll das ein Witz sein? Von einundachtzigtausend?«

»Na gut, zwei.«

»Sagen wir zwei – und vierzig.«

Boyd zuckte mit den Schultern. »Gier ist krebserregend, Angie. Schlaf lieber noch einmal drüber.«

»Da kannst du dich drauf verlassen.«

Am Morgen sagte sie: »Ich bin keine Verbrecherin. Ich mache nicht mit.«

Sie nahmen einen Bus nach Süden und holperten und krachten durch den wunderschönen, wolkenlosen Tag. Wenn er nicht gerade erst eine Bank überfallen hätte, hätte sich Boyd Halverson vielleicht eine nette Runde über neun Loch vorstellen können, gefolgt von zwei rappeltrockenen Martinis auf der Steinterrasse des Fulda Country Club. Die handfeste und unanfechtbare Wirklichkeit der mexikanischen Vistas und des zerbeulten Überlandbusses, der unter ihm rumpelte, war, dachte er, von blendender Schönheit. Die Gerüche von Orangen und menschlichen Ausscheidungen verbanden sich miteinander. Auf der anderen Seite saß in stoischer Ruhe ein alter Mann mit gegerbter Haut, schwarzem Cowboyhut und roter Fliege, auf dessen Schoß ein großer Hahn unglücklich mit den Flügeln schlug. All das, dachte Boyd, wäre noch vor wenigen Tagen undenkbar gewesen. Es wäre allerdings etwas für einen Bildvortrag bei den Kiwanis – Und hier überfalle ich gerade eine Bank! – Und das hier ist Mexiko! – Und hier, seht mal, ein Hahn!

Auf halber Strecke nach Santa Rosalía wollte Angie seine ehrliche Meinung hören: Was glaubte er eigentlich, wie lange er mit einundachtzigtausend Dollar auskommen würde?

Boyd antwortete mit einem Schulterzucken.

»Ich hoffe, du hast dir das genau überlegt«, sagte sie. »Du steckst nämlich ganz schön in der Scheiße. Du hast eine Bank überfallen, Boyd. Du hast mich als Geisel genommen.«

»Ich habe auch vorher schon in der Scheiße gesteckt«, sagte Boyd.

»Vielleicht sollten wir zusammen beten, du und ich.«

»Das ist mal eine Idee.«

»Das ist mein Ernst«, sagte sie. »Du fängst an. Du kannst mit ›Himmlischer Vater, gütiger Herr‹ beginnen, wenn du nicht mehr weiterweißt, übernehme ich. Wenn ich selbst in der Klemme stecke, Boyd, weil ich etwas geklaut habe oder heiß auf einen verheirateten Mann bin, versuche ich immer sofort, das mit Jesus zu klären. So läuft das, Boyd, anders geht es nicht.« Sie schloss kurz die Augen, hob den Finger und zeigte auf ihre Nase. »Siehst du das kleine Loch da? Wenn ich nicht bei der Arbeit bin, trage ich da ein Kreuz, einen kleinen silbernen Nasenstecker. Die Leute bei der Bank, denen ist das nicht geheuer, die finden das zu freakig oder punkig. Aber ich bin mit Haut und Haaren Christin. Nur damit du weißt, mit wem du es zu tun hast.«

»Knallhart«, sagte Boyd.

»Genau, knallhart, das ist das richtige Wort. Das Christentum ist eine strenge Religion, Raubüberfälle sind strikt verboten.« Angie schob die Finger ineinander, um sich zu sammeln. »Die Sache ist die. Nur weil unser Herr Jesus meine Seele gerettet hat, bin ich noch lange keine Fanatikerin oder Jungfrau oder so was. Aber er kommt halt zurück. Wahrscheinlich viel eher, als du denkst.«

»Er kommt zurück?«

»Dein Erlöser.«

»Ach so, ja«, sagte Boyd mit geschlossenen Augen. Er fühlte sich irgendwie bedroht. »Hoffen wir mal, dass er den Schlafwagen nimmt und gleich morgen hier ist.«

Angie runzelte die Stirn und warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Meinst du, das Lamm Gottes findet das lustig?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Tut es nicht.«

»Na gut. Richte der gesamten Herde aus, es tut mir leid.«

»Das ist auch nicht lustig. Du solltest dich wirklich vorbereiten, Boyd. Besonders jetzt. Nach dem Bankraub und so.«

Der Hahn auf der anderen Seite des Gangs hatte sich ein wenig beruhigt. Angie sah ihn an und kicherte in sich hinein. »Ich stell dir jetzt mal eine Frage. Was glaubst du, wie viel hast du auf deinem Konto bei der Community National Bank?«

»Ich weiß nicht, vielleicht –«

»Zweiundsiebzigtausend und ein paar Gequetschte. Ich muss es ja wohl wissen?«

»Das solltest du, ja«, sagte Boyd.

»Genau. Und du hast uns einundachtzig abgenommen. Das bedeutet, wenn du nicht vorhast, eine weitere Bank zu überfallen, was, gelinde gesagt, eine ziemlich bescheuerte Idee wäre, dann hast du gerade einmal neuntausend Gewinn gemacht. Keinen Cent mehr.« Sie wartete, sah ihn an. »Du hast das gar nicht fürs Geld gemacht, oder?«

»Nein.«

»Wozu dann?«

Boyd dachte eine Weile nach. Die Frage, genauso wie der Bus und der Hahn, schienen ihm erschreckend surreal.

»Na ja«, antwortete er. »Ich wollte Spaß haben.«

»Verstehe. Statt Tanzstunden oder so?«

»Einfach nur, weil es mal was anderes ist, Angie.«

»Na klar.«

»Na klar?«

Angie schob das Kinn vor. »Ich versuche es mal so höflich wie möglich, Boyd«, sagte sie ärgerlich. »Na klar, das sollte heißen, du bist total geistesgestört.«

Der Bus fuhr durch ein staubiges Nest und begann, zu einer rötlich-violetten Hochebene hinaufzuklettern, die den Rand des Golfs von Kalifornien bildete. Die Landschaft schien wie leergefegt, weder pflanzliches noch tierisches Leben hatte sich gehalten, und einige ernüchternde Meilen lang staunte Boyd darüber, welche Ödnis sich über sein eigenes Leben gelegt hatte.

Wie karg, dachte er. Angst, wenigstens Beklemmung wäre zu erwarten gewesen. Aber nichts davon.

»Wenn du mich fragst, ich finde, Spaß eignet sich nicht als Erklärung«, seufzte Angie nach ein paar Meilen. »Was, wenn ich so etwas tun würde? Jetzt zum Beispiel, wenn ich diesem Hahn da den Hals umdrehen würde, einfach nur zum Spaß?«

»Von mir aus«, sagte Boyd. »Wenn es deiner Seele guttut.«

»Genau, die Seele, wenigstens kennst du das Wort. Ist immerhin ein Anfang, würde ich sagen, ich hoffe nur, du hast einen Plan.«

»Einen Plan würde ich es nicht nennen. Eher eine Idee.«

Angie betrachtete ihn von der Seite. »Wohl eher einen Wahn. Wir wissen allerdings beide, dass du damit nicht durchkommst.«

»Wahrscheinlich hast du recht.«

»Dein Plan kann gar nicht funktionieren«, sagte sie. Sie wartete, sah zum Golf hinaus, der am Fenster vorbeizog. Die Landschaft war ausgetrocknet, trostlos. »Hör zu, Boyd. Am Anfang hatte ich noch Angst vor dir, aber jetzt nicht mehr. Nicht mal einen Hauch von Angst habe ich. Jetzt, in diesem Augenblick, könnte ich aufspringen, wenn ich wollte, und den ganzen Bus zusammenkreischen. Und dann? Ziehst du dann deine Pistole und erschießt mich?«

»Ich glaube nicht.«

»Du bist dir nicht sicher?«

»Ziemlich sicher.«

»Wie sicher denn genau?«

»Achtzig Prozent.«

»Achtzig?«

»Ungefähr, ja.«

»Ich dachte, du magst mich.«

»Das tu ich ja auch. Du bist nett, Angie. Du redest nur sehr viel.«

In San Rosalía stiegen sie aus. Sie gingen vier Blocks, bis sie ein unspektakuläres Strandhotel erreichten. Sie aßen unten im Speisesaal, wo sie sich einen Tisch mit einem älteren, zankenden Ehepaar aus Toronto teilten. Später machten sie einen kurzen Strandspaziergang, dann gingen sie aufs Zimmer. Angie durfte, wie es sich seit Samstag eingespielt hatte, zuerst ins Bad. Sie duschte, kam angezogen heraus und stieg voll bekleidet ins Bett.

Dann war Boyd an der Reihe.

Als sie sich im Bett zurechtgerückt hatten, sagte Angie: »Ich brauche morgen etwas Frisches zum Anziehen. Unterwäsche, Jeans, Hemden und Socken. Und eine elektrische Zahnbürste. Und einen neuen Nasenstecker und wohl auch eine Kamera. Und eine gute Armbanduhr.«

Boyd grunzte und schloss die Augen. Diese Angie Bing ist wirklich anstrengend, dachte er.

»Ich brauche auch noch neue Schuhe«, sagte sie. »Irgendwas Legeres, vielleicht Sandalen, und zwei Paar hohe Schuhe – ich mag Stilettos –, und wenn wir jetzt immer essen gehen, also in Restaurants und so, dann brauche ich auch noch Kleider und Röcke, und ein Tuch, falls es abends mal kühl wird, und ein Nagelnecessaire. Und Geld, wenn ich mir mal was kaufen will.«

Ein unangenehmer Geschmack stieg in Boyds Rachen auf. »Wolltest du nicht nach Hause fahren?«

»Wie meinst du das?«

»Nach Hause«, sagte er. »War das nicht dein Wunsch?«

»Doch, doch, natürlich. Aber bis dahin – wann auch immer das sein wird – brauche ich ein paar Sachen. Auf jeden Fall auch ein Fußkettchen.«

»Angie …«

»Du hast einundachtzigtausend unter dem Bett liegen, Boyd. Ich habe ja nicht darum gebeten, entführt zu werden. Das war deine Idee. Sei jetzt also nicht so geizig.«

»Ich bin nicht geizig, Angie.«

»Das klang aber gerade so. Wie ein richtiger Geizkragen.«

»Na gut, dann bin ich halt ein Geizkragen«, sagte Boyd. »Und was ist jetzt? Willst du nach Hause? Versprich mir, dass du mir Vorsprung gibst, dann kannst du gehen.«

»Einfach so?«

»Du musst es mir nur versprechen.«

Angie drehte sich in dem dick gepolsterten Bett auf die Seite, stützte sich auf und sah ihn halb mitleidig, halb amüsiert an.

»Das ist naiv, Boyd. Was hindert mich denn daran, dir das zu versprechen und dann trotzdem sofort zu den Bullen zu rennen? Du solltest mal deinen Verstand einschalten.« Sie wedelte mit der Hand in die Dunkelheit. »Und außerdem, jetzt sind wir ja hier – in Mexiko, verdammt. Im selben Bett.«

»Du würdest dein Versprechen nicht einhalten?«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, was soll mich daran hindern. Das waren meine Worte. Was ich damit gemeint habe, war, dass du jetzt ein Verbrecher bist. Du solltest also nicht naiv sein. Als Räuber sollte man nicht jedem vertrauen.«

»Gib mir einen einzigen Tag Vorsprung, vierundzwanzig Stunden.«

»Ich kann das nicht ehrlich versprechen, Boyd. Es wäre eine Lüge.«

»Nur dieses eine Mal?«

»Nein, tut mir leid. Ich kann das nicht.« Sie hielt inne, dachte einen Augenblick nach und schüttelte den Kopf. »Ich hab’s dir ja schon gesagt. Ich bin eine Dienerin des Herrn, was, nebenbei gesagt, nicht bedeutet, dass ich so superanständig bin oder noch nie mit jemandem ins Bett gehüpft bin. Christliche Mädchen können auch ganz gut rummachen.«

»Habe ich gehört, ja«, sagte Boyd.

Sie lagen eine Weile schweigend da, bis Angie seufzte, die Bettdecke nach unten trat und sich aus ihrem Rock herauswand. Die antike Klimaanlage klapperte und knarzte in der Dunkelheit.

»Wie alt bist du eigentlich, Boyd? Sei ehrlich.«

»Neunundvierzig.«

»Ja? Ich werde bald dreißig.«

»Tut mir leid«, sagte Boyd.

»Was?«

»Dass du mir keinen Vorsprung geben willst.«

»Darum ging es doch gerade gar nicht. Es ging ums Leben. Wenn du mich nicht freundlich behandeln kannst …«

»Angie, ich versuche, dich freizulassen. Das ist freundlich.«

»Ist es nicht.«

»Würde ich schon sagen.«

»Ich nicht.«

Boyd stand auf und breitete sein Bettzeug auf dem Kachelboden aus.

»Freundlich«, sagte Angie aus der muffigen Dunkelheit heraus, »das ist, wenn man sich öffnet. Wenn man über persönliche Sachen redet.«

Am Morgen kauften sie einen blauen Samsonite-Koffer, den Angie Bing mit Kleidung und Schmuck und Kosmetik und den Maisblattpüppchen, die auf der Baja-Halbinsel überall als Souvenirs angeboten wurden, füllte.

Dann war Stillstand. Sie blieben acht Tage in dem Hotel in Santa Rosalía. Sie vertrieben sich die Zeit damit, das Geld der Community National Bank auszugeben. Manchmal setzten sie sich an einen gusseisernen Tisch auf der Veranda, um den Sonnenuntergang zu betrachten. Später am Abend hörten sie Radio, einen englischsprachigen Sender aus San Diego – kein Wort über einen Banküberfall, aber eine Menge Chaos nördlich der Grenze: Der Präsident steuerte auf ein Amtsenthebungsverfahren zu, die Russen machten Wahlkampf auf Facebook, in Philadelphia, Tucson, West Texas und Biloxi hatte es Amokläufe gegeben. »Schüsse«, erklärte ein begeisterter Senatsmitarbeiter, »sind die Tanzmusik der amerikanischen Freiheit.«

Abgesehen von dem alten, zankenden Ehepaar aus Toronto gab es keine weiteren Hotelgäste. Die Nächte waren lang, schwarz, vorzeitlich und trocken. Die Tage waren fiebrig heiß. Angie redete ohne Ende, und Boyd übte sich darin wegzuhören. Sie war eine Turnerin gewesen, damals in der Highschool. Sie mochte die Farbe Gelb nicht. Als sie einmal den Namen des Allmächtigen missbraucht hatte, schlug ihr die Mutter mit einem Tacker aufs Auge. Sie hatte einen festen Freund, einen Elektriker namens Randy, den Nachnamen konnte Boyd sich nicht merken. »Wenn du mal zuhören würdest, würdest du vielleicht etwas über unsere moderne Welt erfahren, über die moderne Frau. Zum Beispiel, warum man aus Steckrüben einen leckeren gesunden Auflauf machen kann, und warum das Wort Schnecke beleidigend ist, und warum es vielleicht keine gute Idee ist, dass du dich gerade schlafend stellst.«

Am 12. September, gegen Mittag, stiegen sie in einen Schnellbus Richtung Los Angeles.

Wenn Boyd überhaupt einen Plan hatte, dann hoffte er einfach, eine Spur zu legen, die sich in Mexiko verlaufen würde, und dann zurückzukehren. Das Geld würde ihm etwas Zeit verschaffen, um ein paar persönliche Dinge zu klären. Er machte sich allerdings keine Illusionen. Ihm war klar, dass es ein böses Ende nehmen würde, aber für den Augenblick fiel es ihm schwer, sich deswegen Gedanken zu machen. Nach beinahe einem Jahrzehnt als Abteilungsleiter bei JCPenney, das er als langen, langsamen Abstieg empfunden hatte, wusste er nicht mehr weiter. Er hatte keine Lust mehr auf diesen Job, und er hatte erst recht keine Lust mehr auf seine eigene, ermüdende Gesellschaft – die Gesellschaft eines höflichen, sparsamen, in Auftreten und Kleidung unauffälligen Mannes, der sogar sich selbst gegenüber beinahe unsichtbar war. Er hasste sein Handicap von vierzehn, er hasste die Kiwanis, und er hasste die Strumpfwaren in der Frauenabteilung. Er hasste es, mit Männern wie Winston Churchill ins Bett zu gehen.

Da er keine echte Zukunft hatte, dafür aber eine Vergangenheit, über die er lieber nicht nachdenken wollte, hatte Boyd nichts zu verlieren. Oder, um es genauer zu sagen, er hatte nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. Er hatte keine Lust mehr, sich vor der Welt zu verstecken. Der Verlust der Bürgerehre war schlimm gewesen – schrecklich sogar –, aber er hatte seine Schuld abgestottert. Er war geschieden, seine Karriere war gescheitert, er hatte jegliches Interesse an der Zukunft verloren. All das schien ihm Strafe genug.

Ließ man gewisse Details außer Acht, konnte man durchaus behaupten, dass er die Bank überfallen hatte, weil ihm einfach nichts Besseres eingefallen war. Wenn es klappen würde, so seine Überlegung, könnte es ihm gelingen, noch die eine oder andere offene Rechnung mit Jim Dooney zu begleichen.

Gedanken dieser Art gingen ihm durch den Kopf, als Angie Bing ihn vorsichtig anstieß. »Hey, Bankräuber«, sagte sie, »du brabbelst vor dich hin.«

»Sorry«, sagte Boyd.

»Alles klar?«

»Ich glaube schon.«

Sie sah ihn aufmerksam an. Schließlich sagte sie: »Reden ist gesund, denk ich mal, selbst wenn man mit sich selbst redet. Es ist wie ein Druckventil oder so, du pustest all die ungesunden Dämpfe raus. Wie wenn man auf die Knie fällt und betet, dass man im Lotto gewinnt. Man versucht halt irgendwie, sich über alles klar zu werden.« Angie empfand das, was sie gerade gesagt hatte, als äußerst weise. Ihre Miene war eine Festtafel der Selbstgefälligkeit. »Und wer ist Dooney?«

»Ist doch egal.«

»Sehr lustig.«

»Wirklich.«

Angie zuckte mit den Schultern.

Fünf Minuten vergingen, vielleicht zehn.

Schweine und Hühner liefen über die Straße, ein Mann auf einem Fahrrad erschien, dann viele endlose Meilen des Nichts.

»Hör zu«, sagte Angie. »Ich will nicht drängeln, das ist nicht meine Art. Ganz im Gegenteil. Aber früher oder später musst du mir erklären, was das hier eigentlich soll. Der Boyd Halverson, den ich kannte, war kein Bankräuber. Geiselnahme und so, damit hatte der nichts am Hut.«

»Das war improvisiert«, sagte Boyd.

»Improvisiert?«

»Kann man so sagen, ja. Ich wollte nicht, dass du den Alarm auslöst.«

»Deshalb hast du mich entführt?«

»Ich hätte dich auch erschießen können.«

»Haha.«

»Da gibt es nichts zu lachen, Angie.«

»Ich weiß. Deshalb habe ich ja auch ›Haha‹ gesagt.«

Sie sah kurz auf Boyds Jackentasche, in der die Pistole steckte, und legte die Hände in den Schoß.

»Böser, böser Junge, du«, murmelte sie.

Boyd erkannte, dass die junge Frau ein Problem war. Sie war keine eins fünfzig groß und brachte nicht mal fünfundvierzig Kilo auf die Waage, aber mit ihrem neuen silbernen Nasenstecker und dem Türkiskettchen am Fußgelenk war sie doch eine Frau, vor der man Angst haben konnte. Durch ihre ausgeprägte Stupsnase wirkte sie wie eine Irin des dunkleren, kleinwüchsigen, strolchartigen Typs.

Einige Minuten vergingen, dann sagte sie: »Noch etwas, Boyd. Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber ich dachte, weißt du, ich dachte, dass du ein bisschen verknallt in mich warst. Ich meine, du hast die ganze Zeit mit mir geflirtet.«

»Nein.«

»Wie bin ich denn dann darauf gekommen?«

»Weiß ich nicht.«

»Ich auch nicht. Vielleicht bin ich einfach nicht nett genug.«

»Natürlich bist du nett genug, Angie.«

»Und auf den Kopf gefallen bin ich auch nicht.«

»Das stimmt.«

»Und?«

»Nichts und«, sagte Boyd. »Das war ein Banküberfall.«

»Nur ein Banküberfall?«

»Na sicher.«

Sie dachte einen Augenblick nach und spitzte schon die schmalen Lippen, weil sie gleich losschimpfen wollte. Doch dann zuckte sie nur mit den Schultern und sagte: »Wahrscheinlich hast du Angst vor mir. Die meisten älteren Männer fühlen sich verunsichert, wenn sie es mit spirituellen Frauen zu tun bekommen, die dazu noch ganz süß aussehen.«

»Das wird’s sein«, sagte er.

Sie fuhren durch die karge Landschaft, Angie Bing schlief ein. Vor San Felipe, als der Himmel von Blau zu einer Art Wüstenlavendel wechselte, schlitterte Boyd in die eigene Gedankenwelt. Das Material, aus dem diese Welt bestand, war ermüdet, ein metallisches Kreischen kündigte die Katastrophe an. Das Unglück war unabwendbar. Er begriff jetzt, wie ungeheuerlich seine Tat gewesen war. Der Reiz des Neuen, den er anfangs mit dem Banküberfall verbunden hatte, verflüchtigte sich bereits.

Er nahm die Fotos von Evelyn und Teddy, die in seinem Portemonnaie steckten, betrachtete sie kurz und schob sie wieder zurück. Dann dachte er eine Weile über Jim Dooney nach.

Am Abend, als es bereits dämmerte, hielt der Bus an einer Tankstelle, wo es abgepackte Sandwiches und Chips und Riegel zu kaufen gab. Boyd und Angie saßen auf der Bordsteinkante und aßen. Als Boyd das Gefühl hatte, dass dies der richtige Augenblick sein könnte, fragte er Angie, wie sie über die Sache mit dem Vorsprung dachte.

Angie atmete hörbar aus. »Ich habe mich noch nicht entschieden. Alles ist ja jetzt anders.«

»Wie meinst du das? Was ist anders?«

»Alles.«

»Kannst du mal etwas konkreter werden?«

»Also«, antwortete sie. »Erstens mal war ich mir sicher, dass du ein bisschen verknallt in mich warst. Und da das nicht so ist, ist die Lage jetzt eine ganz andere.«

»Aber wieso denn?«

»Ist einfach so.«

Boyd nickte. »Angenommen, ich wäre tatsächlich ein bisschen verliebt. Was wäre dann?«

»Aber du hast ja gerade gesagt, dass es nicht so ist.«

»Nur mal angenommen. Würdest du mir dann den Vorsprung geben?«

Sie sah ihn an, als wäre er der begriffsstutzigste Mensch, den sie je kennengelernt hatte.

»Wenn du verliebt wärst, Boyd, dann würdest du überhaupt keinen Vorsprung haben wollen. Du würdest doch nicht die ganze Zeit versuchen, mich loszuwerden.« Sie riss ein Mars auf, biss hinein und kaute. »Ich habe dir ja gesagt, dass ich nicht auf den Kopf gefallen bin. Und wo wir gerade dabei sind. Da ist noch was anderes, an das du nicht gedacht hast. Die Polizei geht bestimmt davon aus, dass ich dir geholfen habe. Die werden sich die Videos ansehen und denken, dass ich mit dir unter einer Decke stecke.«

»Kann sein, ja.«

»Das ist so. Sie werden genau das denken. Wahrscheinlich hast du es genau so geplant.«

»Nein, Angie, natürlich nicht. Was sollte mir das bringen?«

»Wie soll ich das wissen. Diese Frage musst du dir selbst beantworten. Was ich dir nur sagen will: Wie soll ich denn jetzt überhaupt nach Hause zurückkehren? Für den Rest meines Lebens, jeden Tag, werden die Leute mich ansehen und denken: Da geht sie, die Bankräuberin. Wie soll ich beweisen, dass ich damit nichts zu tun hatte?«

»Ich könnte dir etwas schreiben.«

»Etwas schreiben?«

»Klar.«

Angie Bing stand auf.

Sie musterte ihn eindringlich, es hörte überhaupt nicht mehr auf. Nach einer halben Ewigkeit schüttelte sie den Kopf, drehte sich um und ging zum Bus zurück.

Gegen zwei fuhren sie über die Grenze, am Morgen waren sie in Los Angeles.

Sie nahmen ein Taxi und fuhren zu einem kleinen, hell verputzten Bungalow in Santa Monica.

»Was machen wir hier?«, fragte Angie.

3

Es gibt zwei Santa Monicas. Das eine ist ein Märchenland der glitzernden Abendkleider, der unmöglichen Brüste und Illustrierten-Gesichter, der Reichtümer und operierten Nasen, der ausgepowerten Stimmcoaches und skateboardfahrenden Erbinnen, der Superreichen und der Filmstars, die man für tot gehalten hat und die auch tatsächlich tot aussehen, der Wohnhäuser, die sich mit ihren terrassierten Balkonen gefährlich an gelbe, zum Meer stürzende Hügel klammern, der olympischen Schwimmer und Hip-Hop-Killer, der Impresarios des Heilsversprechens und der sechsundzwanzigjährigen Agenten, die sich in der Hotelbar des Shutters aus Verträgen herauswinden; von Yogalehrern und zaubernden Straßenkünstlern, von Pornokönigen, Sportwagen und Propheten des Microdosing, von moralisch flexiblen Fernsehpredigern, tätowierten Magnaten und noch reicheren Superreichen, von sudanesischen Hilfskellnern mit überkronten Zähnen, in deren Gesäßtaschen kleinformatige Hochglanzillustrierte stecken, von Bettlern mit Harvard-Abschluss und Teenagern am Ende ihrer Karriere, von pelz- und brillantenbehängten Baseballstars, Sultanstöchtern, Verbrechersprösslingen, Hollywoodwitwen und von der Art bedeutungslosen Reichtums, der vergessen hat, was Geld ist.

Das ist die eine Seite.

Wenn man aber vom Pier aus nach Südosten geht, erreicht man ein Wohnviertel mit einstöckigen, hell verputzten Häusern, die durch fünf Meter breite vertrocknete Rasenflächen voneinander getrennt sind und alle mehr oder weniger gleich aussehen. In einigen dieser Bungalows kann man Familien oder die Nachfahren von Familien finden, die seit der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre hier wohnen. Für diese erste Generation bedeutete Wohlstand ein in der Auffahrt geparkter Chevy. Die Kinder tranken Leitungswasser, das ihre Mutter für drei Cent pro Liter mit Getränkepulver anrührte. Papa verkaufte Gebrauchtwagen am Wilshire Boulevard, Junior trug morgens Zeitungen aus, die kleine Schwester verdiente sich am Wochenende ein paar Dollar als Babysitterin. Das Haus, das Papa damals für 37 000 Dollar gekauft hat, ist heute, bei einem schwächelnden Immobilienmarkt, knapp zwei Millionen wert, aber wie Papa, der insgeheim sehr stolz war, immer sagte: »Was könnten wir mit dem Gewinn schon kaufen? Ein Campingzelt? Einen Schuppen in Laguna?«

Schwesterchen ertrank, das war 1995. Papas Herz schlug unregelmäßig, fünfzehn Minuten nach Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts hörte es schließlich auf – das zumindest sollte später sein Sohn und Erbe behaupten. Mama hielt sich gut. Sie war fett, aber unzerstörbar. Sie stärkte sich mit Milkshakes und Cyd-Charisse-Filmen, die nach Mitternacht ausgestrahlt wurden, und mit einem kultivierten Verehrer, der den Vergleich mit einem alternden Cesar Romero nicht zu scheuen brauchte.

Und Junior, der Junge, der damals noch nicht Boyd Halverson hieß, den Namen aber bald annehmen sollte? Er ging seinen Weg. Er war schon als Kind voller Ehrgeiz gewesen. Er hatte als Voyeur an den Toren des Zauberreichs gestanden und die glitzernde, glänzende Welt wie durch ein Schaufenster gesehen, er hatte sich in sie hineingeträumt und begierig alles gelesen. Er schwindelte und täuschte, wo es nötig war. Er mogelte sich durch drei Semester an der University of Southern California, verschwand, ohne den Abschluss zu machen, kehrte nach zwei Jahren mit Orden und Verwundetenauszeichnung zurück, schlief einen Monat lang und fand sich, als er aufwachte, in der Lokalredaktion eben jener Zeitung wieder, die er als Zwölfjähriger ausgetragen hatte. Junior, der sich jetzt Boyd nannte, stand zwar noch immer vor dem Schaufenster, aber jetzt als Journalist, und er entdeckte seine Berufung. Und er hatte bereits Übung, schließlich hatte er seit frühester Kindheit nichts anderes getan, als zuzuschauen, wie andere Menschen lebten. Und so führte das eine zum anderen: Pasadena, Sacramento, eine gescheiterte Ehe, Mexico City, Manila, knapp am Pulitzer-Preis vorbeigeschrammt, Evelyn, wieder die Hochzeitsglocken, ein Jahr in Hongkong, beinahe zwei Jahre in Jakarta, dann kam Teddy, die Rückkehr nach L.A., wo er schließlich in die jähe, brutale, verdiente Katastrophe raste, die er seit Jahrzehnten geduldig erwartet hatte. An einem einzigen Nachmittag wurde Juniors Schicksal auf den Kopf gestellt. »Du bist ein Lügner, Mann, ein verkommener Mensch«, sagte ein bezopfter Laufjunge, worauf es keine Antwort gab außer der einen: mit einem Schulterzucken in den Aufzug zu treten und hinunterzufahren. Ein Lügner? Na klar. Verkommen? Das war ziemlich offensichtlich. Als er arbeitslos draußen auf dem grellweißen kalifornischen Bürgersteig stand, hatte Junior das Gefühl, etwas fallen gelassen zu haben – eine kleine Wassermelone vielleicht, oder sein Leben, das matschig und faulend vor seinen Füßen lag –, worauf wüste Saufereien folgten, Lethargie, Geldnot und eine grandiose Affäre. An einem schwülen Abend, als er in die argwöhnischen Augen einer Kellnerin blickte, die er zweimal flachgelegt hatte, stellte Junior mit Staunen fest, dass er gerade in die bittere Melancholie seines neununddreißigsten Lebensjahrs gerutscht war. »Du deprimierst mich irgendwie«, sagte die Kellnerin und schenkte ihm trotzdem noch einen ganzen Monat lang nach.

Junior ließ sich treiben, er ging nach Norden, bis er in der Kleinstadt Fulda, zwölf Meilen vor der Grenze zu Oregon, angespült wurde.

Er bekam einen Job bei JCPenney.

Er hatte keinerlei Erwartungen, und die Welt hatte nichts zu bieten. Einen Whiskey zum Frühstück, einen zum Mittagessen, und am Ende des Tages einen doppelten.

Das eigene Leben als ein atemberaubendes Scheitern zu erkennen war eine Erfahrung, die Junior jedem empfohlen hätte. Da er keine Illusionen mehr hegte, konnte er auch nicht mehr enttäuscht werden. Tatsächlich wurde die Erkenntnis, dass es nicht schlimmer kommen konnte, von einem harschen Reinigungseffekt begleitet. Kurzwaren und Kleidung verlangten ihm nur wenig ab, ein knappes Jahrzehnt lang genügte es Junior, sich im Gewühl retournierter Pullover und der Golfrunde um sechzehn Uhr zu vergessen. Die Jahre vergingen nicht im Flug. Aber sie vergingen doch. Er war weder glücklich noch unglücklich. Da er im verwirbelten Windschatten einer Bahn aufgewachsen war, auf der einige extrem schnelle Züge fuhren, ergab er sich nun der beruhigten Welt eines unscheinbaren Orts im Irgendwo – ein Triumph für jemanden, der einst vor einer Eisdiele an der Ocean Avenue dem Hund von Robert Stack Stöckchen geworfen hatte. Er kochte seine Eier genau dreieinhalb Minuten lang. Er lächelte, wenn er jemandem begegnete, und war immer ordentlich gekleidet. Manchmal schrieb er Gedichte. Einige dieser Gedichte handelten davon, etwas fallen zu lassen; einige handelten von falschen Pionieren und Stacheldraht, einige von Evelyn und viele von einer 38er Temptation Special, die er in einer Kleenex-Schachtel im obersten Regal seines Kleiderschranks aufbewahrte.

Kaum jemand interessierte sich für seine Vergangenheit. Fragen, denen er nicht elegant ausweichen konnte, musste er nicht beantworten.

Er mähte den Rasen, bezahlte seine Rechnungen, kochte, zog sich für den Krazy-Days-Sale im Kaufhaus ein Clownskostüm an und fragte sich gelegentlich, ob er jemals wieder ein Verlangen danach verspüren würde, in die Katastrophe einzutauchen, die er einst in fahrlässiger Weise für sich erschaffen hatte. Und dann, im Juli seines neunten Jahrs in Fulda, setzten die Schlafstörungen ein. Er streunte im Haus herum und redete mit sich selbst. Er dachte über Selbstmord nach. Und zwar sehr oft. Ständig. Er spielte mit dem Gedanken, die Community National Bank zu überfallen. Schließlich starb seine Mutter, auch das gehörte dazu. Aber er war auch zu dem Schluss gekommen, dass selbst ein Abteilungsleiter bei JCPenney im innersten Herzen ein Verbrecher sein konnte.

Er plante nicht großartig. Nur das Nötigste.

Boyd würde die Bank an einem Samstag überfallen, eine falsche Spur nach Mexiko legen und nach Hause zurückkehren, um Dinge zu erledigen, die er vor langer Zeit schon hätte erledigen sollen.

4

»Was ist das hier?«, fragte Angie, als Boyd mit einem rostigen Schlüssel in der Haustür stocherte. Er rüttelte kurz, stieß die Tür mit dem Knie auf und sagte: »Eine Drecksbude. Aber sie gehört mir.«

Boyd hatte dankbar zur Kenntnis genommen, dass vor dem Haus keine Polizeiwagen standen. Trotzdem spürte er, wie die Uhr tickte. Er war erschöpft und überspannt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er die Martinshörner hören würde, oder was man sonst so hörte, wenn man mit einundachtzigtausend geklauten Dollar auf der Flucht war. Die Spritztour nach Mexiko hatte ihm ein paar Tage, vielleicht eine Woche geschenkt, aber ein kurzer Blick in die Akten würde ihn mit diesem bescheidenen, wenn auch inzwischen sehr teuren Bungalow abseits des Ocean Park Boulevard in Verbindung bringen.

Das Haus hatte leer gestanden, seit seine Mutter vor beinahe zwei Monaten gestorben war. Im Vorgarten steckte einsam ein Zu-verkaufen-Schild, es wirkte in dem hohen Unkraut beinahe verloren, Namen und Telefonnummer des Maklers waren nicht mehr zu erkennen. Strom und Wasser waren nicht abgestellt, um mögliche Käufer nicht zu verschrecken, aber eigentlich war es das Grundstück, nicht das heruntergekommene alte Haus, das eines Tages für einen warmen Geldregen sorgen könnte. Boyd wusste aber auch, dass Kapitalerträge zu diesem Zeitpunkt nicht mehr relevant sein würden.

Er schob die Fenster auf, schaltete den Deckenventilator ein und betrachtete die unschicke Möbellandschaft, in der er aufgewachsen war. Dreißig Jahre alte Essensgerüche drangen ihm in die Nase, auf dem Küchenboden verstreut lagen rücklings einige tote Wasserwanzen. Es war dieses Haus, dachte Boyd, dieses Umfeld, aus dem der ehrgeizige Junior einst seinen jugendlichen Ausbruch oder, großzügiger formuliert, Aufstieg organisiert hatte, einen sich selbst und anderen gegenüber rücksichtslosen Kampf, mit dem er sich von Kunstfurnier und Plastiktischdecken befreit hatte. Arme Mom, armer Pop, dachte er. Armer, schneidiger Junior.

»Na ja«, sagte Angie.

»Ich weiß«, sagte Boyd. »Schön ist was anderes.«

Angie stellte ihren Koffer ab und ließ sich abgekämpft in einen staubigen Sessel fallen – denselben Sessel, in dem Juniors Vater einst bis in die Nacht hinein seine Selbsthilfebücher gelesen hatte.

»Mach noch mehr Fenster auf«, sagte Angie. »Meine Güte, hier riecht es nach … ich weiß nicht … verbrannten Würstchen oder ranzigem Speiseöl oder so.« Sie streifte sich die neuen Sandalen von den Füßen. »Andererseits – versuch mal, sechzehn Jahre in einem Camper zu wohnen. Dann wirst du dich über diese Hütte nicht beklagen. Wir lüften richtig durch und schrubben alles ordentlich, dann wird’s schon gehen.«

Boyd zuckte mit den Schultern. »Wir bleiben hier nicht lange. Ein, zwei Tage nur. Kommt drauf an.«

»Kommt worauf an?«

»Ich muss ein paar Leute ausfindig machen.«

»Und dann?«

»Weiß nicht«, gestand Boyd.

»Ah ja, fast hätte ich vergessen, wie gern du alles im Voraus planst.« Angie schnaubte abfällig und schloss die Augen. Sie trug ein schwarzes Unterhemd, Er kehrt zurück stand in kitschiger Silberschrift auf ihrer Brust. Die Haare hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten. »Na ja, was auch immer du vorhast, es verheißt bestimmt nichts Gutes.«

»Stimmt.«

»Und? Willst du es mir nicht erklären?«

Vor seinem geistigen Auge blitzte eine Liste von Erklärungen auf, zusammen mit dem verstörenden Bild von Jim Dooneys blauem, grinsendem Blick. Ihm war klar, dass ein Erklärungsversuch sie nur verwirren würde.

»Du hast recht«, sagte er. »Wir sollten hier ein bisschen sauber machen.«

»Geht’s dir gut, Boyd?«

»Ja, ja.«

»Du siehst aber nicht gut aus. Du siehst aus wie jemand, der gleich Rosenkohl essen soll.«

Er wandte sich ab, sein Blick glitt über den Flur in das winzige Kinderzimmer, das er vierzehn Jahre lang mit seiner Schwester geteilt hatte. Wie unnötig, das alles, dachte er.

Achtzehn Stunden im Greyhound. Er war mit den Nerven am Ende.

»Dafür, dass ich so einen Scheiß gebaut habe, geht’s mir richtig gut«, sagte er.

»Du solltest dich ein bisschen hinlegen.«

»Ja, das sollte ich.«

»Solltest du wirklich. Sonst fängst du noch an, Menschen zu zerstückeln.« Sie nahm seinen Arm und führte ihn in ein Schlafzimmer. »Und hör auf mit den schmutzigen Wörtern, Boyd. Ich mag das gar nicht.«

Es gelang ihm, ein bisschen zu schlafen, auch wenn der Schlaf nervös und flimmrig war, so als würde jeden Augenblick jemand an die Tür klopfen. Er stand auf, nahm sein Handy und wählte Evelyns Nummer in Bel Air. Niemand antwortete, und er hinterließ eine kurze Nachricht: Bank überfallen, war in Mexiko, muss mit dir reden, wo ist Dooney?

Er duschte, rasierte sich und begann, das Haus durchzuwischen.

Angie schlief noch.

Später stand sie, sichtbar erholt, mit einer Flasche Sprudel da und sah ihm zu. Sie redete, erzählte aus ihrem Leben, was immer ihr gerade in den Sinn kam. Er hatte das Gefühl, dass sie ihn seit zwei Wochen ununterbrochen volllaberte, beinahe, als hätte sie nicht ein einziges Mal Luft geholt.

Während Boyd ein Haarbüschel seiner Mutter aus dem Waschbeckenabfluss zupfte, erzählte Angie, wie sie im östlichen Teil von Sacramento in einer Pfingstgemeinde aufgewachsen war. Wie sie viermal in der Woche abends in die Kirche musste, dass es sie aber, das ließ sich nicht leugnen, zu dem anständigen und moralischen Menschen gemacht hatte, der sie nun war. Sie erzählte von ihrem vierten Kuss. Sie erzählte, was es bedeutete, so zierlich zu sein, wie schwer es war, passende Kleidung zu finden, wie sie sich auf den Kopf stellen musste, um respektiert zu werden. Sie sprach über ihre Schwester Ruth, die als Kosmetikvertreterin von Tür zu Tür ging, und die davor als Gehilfin eines Hufschmieds beim Rodeo gearbeitet hatte, worüber Angie ihren derzeitigen Freund kennengelernt hatte, Randy, einen Elektriker, der selbst eine Zeit lang Rodeo geritten hatte, zumindest wenn er nicht gerade dabei war, in Häuser einzubrechen oder Autos zu klauen.

»Vielleicht ziehe ich diese Sorte an, diese kriminellen Elemente«, sagte Angie resigniert und belustigt zugleich, als wäre sie stolz darauf. »Wenigstens ist er eins neunzig groß und überhaupt nicht fett oder langweilig oder alt oder sonst was. Wie groß bist du eigentlich?«

»Eins achtzig«, antwortete Boyd. »Und dick bin ich auch nicht.«

»Klar«, sagte sie. »Und ich bin auch nicht Angie Bing, Entführungsopfer. Wie auch immer. Wer hat denn gesagt, dass ich über dich rede? Es ging um mich selbst, glaube ich.«

»Zweifellos«, sagte Boyd.

Er drehte sich um, öffnete seinen Koffer, zog ein sauberes Hemd an und band sich eine Krawatte.

Angie schien es gar nicht zu bemerken.

Sie quasselte immer weiter, wie sie sich in der Ausbildungszeit mit Kellnern über Wasser gehalten hatte, dass Impfungen Satanswerk waren, dass ihr Chef in der Bank Schwierigkeiten hatte, schriftlich zu dividieren, und dass Randy eines Nachmittags, als er wegen irgendetwas wütend war, den HP Jet Pro Drucker von jemandem aus der Wohnung geschleppt und in den Swimmingpool geschmissen hatte, und den Gefrierschrank dann auch noch.

Die Stimmbänder dieser Frau müssen aus Titan sein, schloss Boyd, aus Raumfahrtmaterial.

Angie sah ihn scharf an und sagte: »Titan?«

»Hab nur laut nachgedacht«, sagte Boyd. »Dein Elektriker klingt nach einem Klassetyp.«

Angie runzelte die Stirn. »Und was hat das mit Titan zu tun?«

»Keine Ahnung«, antwortete Boyd.

»Jetzt hör zu. Wenn das Kritik war, dann ist es mir egal, weil Randy ist echt verliebt in mich, so richtig. Wir sind verlobt. Und er ist einunddreißig. Wie alt bist du noch mal?«

»Neunundvierzig.«

»Wie kommst du also darauf, dass du seinen Platz einnehmen könntest?«

»Das tue ich nicht.«

»Wenn du meinst.«

»Ja, meine ich.«

»Du sagst nur, dass du es meinst.«

Boyd pochten die Schläfen. Er ging in die Küche, fand eine Flasche von dem Lieblingswodka seiner Mutter und suchte ein sauberes Glas. Er gab auf und nahm einen großen Schluck aus der Flasche. Dann rückte er die Krawatte zurecht und sah auf die Uhr.

»Zu allem anderen«, sagte Angie gerade, »solltest du vielleicht noch wissen, dass Randy unfassbar wütend werden kann. Einmal, in einer Bar, habe ich zugesehen, wie er einem Typen eine Zigarre ins Ohr gerammt hat, eine brennende Zigarre, wumms, einfach so, dabei hat der noch nicht mal mit mir geflirtet. Also kaum.« Sie zuckte ein paarmal amüsiert mit den Augenbrauen. »Wie auch immer, ich wette einundachtzigtausend Dollar, dass ihm diese Geiselsache richtig heftig gegen den Strich geht. Nach Mexiko durchbrennen, Schmuck für mich kaufen, im selben Bett schlafen und wer weiß was sonst noch alles.«

»Da war sonst nichts, Angie.«

»Stimmt schon. Aber erklär das mal Randy.«

»Wie soll er es denn je herausfinden?«

»Also, weiß nicht. Ich meine, er kann ja lesen.«

Boyd sah sie an. »Was? Was soll er lesen?«

»Der liest alles. Kataloge, Comic. Er ist nicht blöd, Boyd, weißt du. Erinnerst du dich an die Postkarten in dem Hotel in Santa Rosalía, an der Rezeption?«

»Du hast ihm eine Postkarte geschickt?«

»Na ja. Er ist schließlich mein Verlobter.«

Boyd setzte noch einmal die Flasche an. Etwas später nahm er ihr das Handy ab und fesselte sie an einen Stuhl in der Küche.

»Willst du mich etwa auch noch knebeln?«, fragte Angie.

»Wär wohl das Beste«, sagte Boyd.

Er nahm den Bus, stieg zweimal um, aß einen Burger und wanderte die letzte Viertelmeile zu Evelyns weißem Palast hinauf, der sich in der allerfeinsten Gegend von Bel Air befand. Seine Ex-Frau hatte beim zweiten Mal klug geheiratet. Das war natürlich in Ordnung so. Boyd wäre nie auf die Idee gekommen, ihr den Bentley zu neiden, der in der Einfahrt stand.

Er klingelte, aber niemand kam an die Tür. Enttäuscht saß er vierzig Minuten lang auf den weißen Marmorstufen und fragte sich, wie er vorgehen sollte. Er hätte sich das alles vorher überlegen sollen, das war klar – wenn ich das mache, dann passiert Folgendes –, aber diese Art von Planung hätte letztlich nur dazu geführt, dass er ein weiteres Jahrzehnt bei JCPenney zugebracht hätte. Er hatte in seinem Leben schon genug geplant: Jede verdammte Nacht hatte er dagelegen und gegrübelt, als wäre er mit seinen außerordentlichen Untaten sozusagen verkabelt. Selbst jetzt, als er in das von Evelyns weißem Marmor zurückgeworfene Sonnenlicht blinzelte, staunte er über die unentschuldbaren Dinge, die er getan hatte, die Schande, die er auf seine Frau und sich selbst gebracht hatte. Allein die Lügen hätten genügen müssen, um Evelyn zu verjagen, doch sie war nicht gegangen, zumindest nicht gleich. Sie hatte mehrere Wochen ertragen, in denen er sich im Suff immer und immer wieder entschuldigt hatte, ohne es wirklich zu meinen. Es schien ihm nämlich überzogen, nur sich selbst die Schuld zu geben, besonders, da er für all diese Dinge ebenso gut die Umstände verantwortlich machen konnte, oder eine im ganzen Land grassierende Lügenepidemie, oder einfach jemand anderen. Er gab Jim Dooney die Schuld. Er gab einem kleinen Bungalow in Santa Monica die Schuld. Er gab – denn das war unbestreitbar wahr – vor allem dem Zwölfjährigen die Schuld, der verzweifelt versucht hatte, jemand anders zu sein, als er war, nämlich ein lausiger kleiner Zeitungsjunge, der ein geborgtes Schwinn-Rad fuhr. Er hatte all das Evelyn erklärt, und einige Wochen lang schien es beinahe, als hätte sie ihm verziehen. Aber es wurde schlimmer, bevor es besser werden sollte, und besser wurde es einfach nicht.

Als Boyd nicht mehr ertrug, was als seine eigene Geschichte auf ihn einstürmte, stand er auf und lief über einen gewundenen Plattenweg in den penibel gepflegten Garten auf der Rückseite von Evelyns Haus.

In Nachbars Garten schmecken die Kirschen süßer, und nirgends ist das Gras so grün wie dort.

Die Anlage wirkte wie ein edles mediterranes Anwesen, es gab Zitronenbäume und Dattelpalmen und einen gigantischen, von bedrohlichen griechischen Statuen bewachten Swimmingpool. Zwei Brunnen plätscherten in der Sonne, jeweils vor dem Hintergrund von Bougainvilleas, deren prächtige Farben Evelyns makellosen Rasen geradezu knatschgrün aufleuchten ließen.

Mit dieser Art von Reichtum, dachte Boyd, kommt man nach einem harten Shoppingtag am Rodeo Drive bestimmt wieder auf die Beine. Er versuchte sich zu erinnern, womit ihr neuer Ehemann sein Geld verdiente. Irgendwas mit Reisen. Jachten, Rettungsinseln? Nein, nicht Rettungsinseln, aber etwas in der Art – Sicherheitsgurte vielleicht. Oder Fallschirme.

Boyd kehrte zur Haustür zurück, drückte noch einmal auf die Klingel, drehte sich um und schleppte sich fünfzehn lange Blocks hinunter, bis er auf dem Sepulveda Boulevard eine Bar fand, die einigermaßen einladend wirkte. Es gelang ihm, in nur zwei Stunden vierundneunzig Dollar auf den Kopf zu hauen. Er unterhielt sich eine Weile mit einem Mann, der Drehbuchautor werden wollte, und trat schließlich wacklig und mit der außerkörperlichen Verdutztheit eines Mannes, der nicht mehr weiterwusste, auf die Straße. Auf der langsamen Busfahrt zurück nach Santa Monica war Boyd den Tränen nahe. Es war nun nicht mehr zu übersehen, wie bemitleidenswert sein Zustand war und wie wenig er sein Leben noch im Griff hatte.

Irgendwann zog er die Pistole aus der Tasche und zeigte sie dem jungen, elegant gekleideten Pakistaner, der neben ihm saß. »Wenn Sie sie haben wollen, dann bitte schön«, sagte er. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie funktioniert.«

Der Mann schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster.

»Wie Sie wollen«, sagte Boyd. »Ist aber eine feine, eine solide Waffe.«

Sein Zwerchfell zuckte. Er spannte die Pistole und schoss ein Loch in die plastikverkleidete Decke des Busses. »Ein gutes Stück, wirklich«, sagte er.

5

Auf der Postkarte war eine Hotelveranda zu sehen, die einen weißen, sonnigen Strand im mexikanischen Santa Rosalía überblickte. Auf der Veranda ein gusseiserner Tisch, auf dem Tisch zwei Sektflöten, eine Schale mit Orangen, eine lange, schmale Vase und eine Flasche Champagner, an der Wassertropfen perlten. Aus der Vase spähte der Kopf einer roten Nelke. An dem Tisch, in bequemen weißen Korbstühlen, saß – und das tat wirklich weh – ein Liebespaar, das mit glasigen, verknallten Augen und schlabbrig-verschmuster Miene aufs Meer hinausblickte. Als hätten sie ein ganzes Fass Austern verschlungen. Wahrscheinlich auf Hochzeitsreise. Oder was auch immer. Egal, dachte Randy Zapf, der an eben diesem gusseisernen Tisch saß und schlecht gelaunt auf dasselbe Meer hinausstarrte.

Randy hatte in den vergangenen Tagen kaum geschlafen. Als Elektriker mit Einbruchserfahrung war er körperliche Arbeit gewohnt, aber nach zwölfhundert Meilen, die er hier heruntergerast war, fühlte er sich bis auf die Knochen erschöpft.

Vor ihm stand eine warme Cola. Vor ihm, auf dem gusseisernen Tisch, lag auch Angies zündelnde, bitterböse Postkarte.

Randy war erst vor ein paar Stunden in Santa Rosalía angekommen. Aber er hatte bereits den Hoteldirektor ausgefragt, ein Zimmermädchen, das sich für klüger hielt, als es war, und ein älteres, meinungsstarkes Ehepaar aus Toronto, dem die Verbitterung eines langen Lebens ins Gesicht geschrieben stand. Besonders das kanadische Ehepaar erinnerte sich mit empörter Deutlichkeit an Angie. »Dieser quasselnde Zwerg«, sagte die weibliche Hälfte des Paars. »Ohne Pause«, fügte ihr Mann hinzu. »Ein Chihuahua auf Speed.« Als Randy nach Angies Begleiter fragte, stritten sie über Details, sie konnten sich nur darauf einigen, dass der Mann mittleren Alters und von mittlerer Statur und ansonsten höflich und unauffällig war. »Ich weiß nicht, wie er das ausgehalten hat«, sagte der schmale, gebückte Ehemann, die gebrechlichere Hälfte des Paars. Seine trüben Augen schwenkten in ihren Höhlen hinüber zu seiner Frau, er sah sie unsicher an. »Wahrscheinlich mit Ohrenstöpseln.«

Die Sonne näherte sich langsam dem Horizont, Randy Zapf hatte eine ganze Weile auf der Veranda vertrödelt, sich nur gelegentlich die Vorstellung erlaubt, was er mit Boyd Halverson anstellen würde.

Ein Schraubenzieher. Hoch in die Nase gerammt. Das wär’s.

Jawohl, dachte Randy. Und Angie auch. Eine Bank überfallen, das war eine Sache – es handelte sich schließlich um eine Institution –, aber diese Postkarte war einfach nur Provokation. Er war seit ungefähr sechs Jahren mit Angie zusammen, zwar keine Ewigkeit, aber ausreichend, um zu verstehen, wie sie tickte. Sie hatte Wir haben eine Bank überfallen – Boyd hat mir eine Kamera gekauft! auf diese Postkarte geschrieben, und Randy wusste sofort, was das bedeutete: Heb den Arsch und komm sofort hier runter.

Eine Spitzzange. Vielleicht noch ein Päckchen Heftzwecken und eine Rolle Isolierband.

Randy kannte sich aus.

Einmal, in Fresno, hatte er einem Rodeokumpel zugesehen, der einem buckelnden, acht Zentner schweren Bullen ein Brecheisen ins Auge gesteckt hatte. Er hatte zugesehen, wie sich ein Schwein, das von einem Sprungturm gestoßen worden war, elektrisch hingerichtet hatte. Er hatte eine Menge tolle, coole Sachen erlebt. Er wusste zwar noch nicht genau, was er mit Boyd Halverson machen würde, aber am Morgen würde er diesen Expressbus finden, den jemand erwähnt hatte, und dann, er wusste nicht genau, wie, aber dann haltet euch fest.

Randy schob sich die Stiefel von den Füßen.

Mannomann, dachte er, welche Frau überfällt eine Bank, turtelt mit einem Kiwanis-Spießer und schreibt dann eine Postkarte? Nicht zu fassen.

Er trank aus, bestellte eine weitere Cola, ohne Eis natürlich, er war schließlich in Mexiko.

In der dumpfsten, südlichsten Benommenheit von Südost-Texas saß Jim Dooney gerade in seinem Whirlpool, als das Telefon klingelte. Er hätte drangehen sollen, aber er sagte nur zu seinem Partner Calvin: »Lass mal, wir sind beschäftigt.« Erst später hörte er die Nachricht seiner Tochter ab und rief zurück.

»Eine Bank?«, fragte er.

Er hörte Evelyn eine Weile zu, dann sagte er: »Nein, das glaube ich auch nicht, das kann gar nicht sein. Aber wie auch immer, er weiß ja nicht, wo er mich finden kann, oder?«

Dann fügte er hinzu: »Du hast allen Grund, mich zu hassen.«

Kurz bevor er auflegte, sagte er noch: »Tut mir leid Schätzchen. Ich bin, wie ich bin.«

Dooney überprüfte, dass Türen und Fenster verriegelt waren, und ging zu Bett.

»Was ist denn los?«, fragte Calvin, und Dooney antwortete: »Ich denke, wir fahren morgen rauf zu meinem Haus in Minnesota.«

»Gibt’s ein Problem?«

»Möglicherweise.«

Dooney schaltete seine Nachttischlampe aus, dachte eine Weile nach und sagte: »Ich bete dich an, Cal. Falls ich das in letzter Zeit nicht erwähnt habe.«

»Wirklich?«

»Ja, wirklich. Du bist wunderschön.«

»Das ist lieb von dir«, sagte Calvin. »Ich mag diese Fantasie. Aber du weißt ja, ich bin dreiundsiebzig. Da ist wunderschön vielleicht ein bisschen weit hergeholt.« Er zögerte kurz. »Darf ich dich etwas fragen, Jimmy? Etwas Ernstes?«

»Klar«, sagte Dooney.

»Kann uns etwas passieren?«

»Jedem kann etwas passieren.«

Calvin schwieg und seufzte leise. »Kannst du bitte mal etwas genauer sein? Ich bin ganz Ohr.«

»Nicht ganz Ohr«, sagte Dooney.

Es war Zufall, dass Evelyn Boyd bemerkt hatte, der zu Fuß die Straße hinaufgekommen war. Sie hatte beinahe eine ganze Stunde oben in ihrem Ankleidezimmer gesessen und darauf gewartet, dass er aufstehen und von ihrer Haustür verschwinden würde. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Boyd war, auf die eine oder andere Art, schon interessant gewesen, und Evelyn hatte ihn eine Zeit lang tatsächlich geliebt, aber auf diese Zeitreise hatte sie keine Lust. Natürlich war es feige, sich so zu verstecken. Sogar lächerlich. Trotzdem. Sie hatte alles darangesetzt, mit Junius ein neues Leben zu beginnen – kein märchenhaftes, aber doch ein gutes Leben. Jetzt war es für alle Beteiligten, einschließlich Boyd, das Beste, eine Szene zu vermeiden.

Was Evelyn jetzt am meisten brauchte, war die eisige Ruhe in diesem Haus in den Hügeln von Bel Air. Keine Klagen, keine tränenreichen Entschuldigungen. Sie wartete noch zehn Minuten, kehrte zum Fenster zurück und sah, dass Boyd weg war. Ein kurzes, kribbelndes Schuldgefühl durchfuhr sie.

Evelyn seufzte. Sie schlüpfte in eine Hose von Lanvin, zog eine weiße Seidenbluse an und fügte vor dem Spiegel Ohrringe hinzu, die Junius oder eine seiner Assistentinnen zu ihrem fünfundvierzigsten Geburtstag ausgewählt hatte. In zwei Stunden würde sie ihrer Pflicht nachgehen und für ein Dutzend von Junius’ Freunden die Gastgeberin mimen. Sie würde nicht zu viel trinken. Sie würde das Wort Klage meiden. Sie würde so echt und natürlich lächeln, wie sie konnte, und sich von Gast zu Gast treiben lassen, denn es war wichtig bei diesen Anlässen, keine allzu große Vertrautheit aufkommen zu lassen. Niemand hatte ein Interesse an Vertrautheit. Sie würde auf keinen Fall Boyd Halverson erwähnen. Sie würde auch Dooney nicht erwähnen. Es war nur ein kleiner bescheidener Empfang in privatem Rahmen, mit Häppchen und Getränken, nichts Aufgesetztes. Dabei gingen Gastgeber wie Gäste davon aus, dass niemand nach dem dritten Martini sein Herz ausschütten würde. Finanzbetrug würde an diesem Abend kein Thema sein, genauso wenig wie Steroide oder Botox oder schlechte Filmkritiken. Man würde lachen und langsam von Grüppchen zu Grüppchen ziehen und tun, als wäre man über die Nachrichtenlage informiert, und dann würde man in seinen schicken Wagen steigen und – nicht zu spät, so ihre Hoffnung – nach Hause fahren.

Evelyn gab sich einen kleinen Klaps auf den Oberschenkel und ging zum Schminktisch, wo sie eine dünne Schicht Lippenstift auftrug.

Das Einzige, was sie nun tun konnte, war, Boyd dahin zurückzudrängen, wo er hingehörte – nämlich in die fernste Ecke ihres Bewusstseins. Sie nahm sich vor, sich zu amüsieren.

Vielleicht eine Valiumtablette, bevor sie hinunterging. Oder anderthalb.

Es war ja nicht so, dass sie Boyd etwas schuldete.

Sie betrachtete sich noch einmal im Spiegel. »Na also«, murmelte sie. Dann ging sie hinunter, um die Bar zu eröffnen.

Siebenhundert Meilen nördlich, in dem Städtchen Fulda, erläuterte Douglas Cutterby, der Direktor der Community National, seiner Frau Lois Cutterby, die als Geschäftsführerin der Bank fungierte, eine etwas verfahrene Situation. »Im Moment«, sagte Douglas, »wissen wir noch nicht viel, wir wollen also keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Bleib ruhig, Schnucke. Ruhig, das ist die Lösung.«

Sein Ton war heiter, vielleicht einen Hauch zu herablassend. Sein Haar war silbergrau, das Gesicht zerklüftet, ein großer Mann, der in seinem Bänkeranzug auf geschmeidige Weise stattlich wirkte, in der Badewanne allerdings weniger. Jetzt, da er wohlwollend seine Frau betrachtete, wirkte sogar sein Lächeln geschmeidig.

Lois hatte nicht vergessen, wie er in der Badewanne aussah.

»Aber wir wissen doch, dass einundachtzigtausend Dollar verschwunden sind.«

»Nicht verschwunden, Liebling. Es fehlt nur der Beleg.«

»Die Kassen sind leer. Der Tresor ist leer.«

»Sieht so aus, ja.«

»Ich bin also blind? Ist es das?«

»Aber nein«, sagte Douglas, um sie zu beruhigen. »Nur etwas kurzsichtig vielleicht. Vergiss nicht, meistens kom...

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