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Atlantis - Teil 1-3

hier erhältlich:

ATLANTIS - DER DRACHENKRIEGER

Atlantis, wo die von den Göttern Verstoßenen leben, wo dunkle Magie und Leidenschaften im gefährlichen Wettstreit liegen: Willkommen in Gena Showalters aufregender neuer Fantasy-Serie!

Wenn ein Mensch den Drachenherrscher Darius en Kragin erblickt, sind seine Sekunden gezählt. Denn Darius richtet jeden, der das Portal zum versunkenen Atlantis durchschreiten will.Deshalb müsste er auch die rothaarige Menschenfrau töten, die unvermittelt durch eine geheime Pforte in sein Reich tritt. Da entdeckt er das verloren geglaubte Drachenmedaillon an ihrem zarten Hals. Und weil sie das begehrenswerteste Geschöpf ist, das er seit Jahrhunderten erblickt hat, kann Darius nicht anders, als ihr das Leben zu lassen. Ein schrecklicher Fehler? Denn Grace kann nicht nur für ihm zum Verhängnis werden, sondern ganz Atlantis …

ATLANTIS - DAS JUWEL DER MACHT

Agent Grayson James hat einen Auftrag: das Juwel von Atlantis finden und dafür sorgen, dass es nicht in die falschen Hände gerät - selbst wenn das bedeutet, es zu zerstören. Doch nachdem er die schöne Jewel vor einer Horde Dämonen gerettet hat, scheint seine Mission auf einmal unmöglich. Denn sie ist das Juwel, das jeder in Atlantis beherrschen will. Und er ist der Halbgöttin längst verfallen. Statt sie zu töten, nimmt er es mit Dämonen, Drachen und Vampiren auf - und mit einer Prophezeiung, die sie beide zerstören könnte.

ATLANTIS - DER NYMPHENKÖNIG

Für eine Berührung des Nymphenkönigs würden Frauen alles tun. Alle, bis auf die Menschenfrau Shaye. Obwohl sie füreinander bestimmt sind, wehrt sie sich mit allen Kräften gegen die magische Bindung, die ihnen vorbestimmt ist. Aber nun, da er sie gefunden hat, wird keine andere Frau ihn jemals wieder zufriedenstellen können. Und Valerian wird erst ruhen, wenn er Shaye in einer sinnlichen Eroberung bezwungen hat und sie wahrhaft die Seine ist …

Prickelnd, aufregend, sexy - Showalter übertrifft sich selbst

"Sexy, lustig und einfach magisch!"
USA TODAY-Bestsellerautorin Katie McAllister


  • Erscheinungstag: 16.04.2018
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 1024
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955769048
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Gena Showalter

Atlantis - Teil 1-3

Gena Showalter

Atlantis – Der Drachenkrieger

Roman

Aus dem Amerikanischen von Freya Gehrke

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Heart of the Dragon (Atlantis #1)

Copyright © 2005 by Gena Showalter

erschienen bei: Harlequin Nocturne, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II. B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-517-5

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

PROLOG

Atlantis

Spürst du es, Junge? Spürst du, wie der Nebel sich bereit macht?“

Darius en Kragin kniff fest die Augen zu, während die Worte seines Mentors in seinem Geist widerhallten. Spürte er es? Bei den Göttern, ja. Selbst mit seinen erst acht Jahreswechseln spürte er es. Spürte die Kälte auf seiner Haut prickeln, spürte die Übelkeit erregende Woge von Magensäure in seiner Kehle aufsteigen, als der Nebel ihn umfing. Er spürte sogar, wie eine täuschend süße, fremdartige Essenz durch seine Adern strömte.

Angestrengt kämpfte er gegen den Drang an, über die Stufen der Höhle nach oben in den Palast zu flüchten, und ballte die Hände an den Seiten zu Fäusten.

Ich muss hierbleiben. Ich muss das schaffen.

Darius zwang sich, langsam die Augen zu öffnen. Erst als er Javars Blick begegnete, entließ er den angehaltenen Atem. Eingehüllt in den dichter werdenden geisterhaften Nebel stand sein Mentor da, die Wände der Höhle im Rücken.

„Das wirst du von nun an immer spüren, sobald der Nebel dich ruft. Es bedeutet, dass ein Reisender in der Nähe ist“, erklärte Javar. „Entferne dich niemals zu weit von diesem Ort. Du darfst oben bei den anderen leben, aber sobald du gerufen wirst, musst du augenblicklich hierher zurückkehren.“

„Ich mag diesen Ort nicht.“ Darius’ Stimme bebte. „Die Kälte macht mich schwach.“

„Andere Drachen schwächt die Kälte, aber nicht dich. Jetzt nicht mehr. Der Nebel wird zu einem Teil von dir werden, die Kälte dein liebster Gefährte. Und jetzt hör hin“, befahl Javar leise. „Hör genau hin.“

Zuerst hörte Darius gar nichts. Dann registrierte er ein schwaches, schriller werdendes Pfeifen – ein Geräusch, das in seinen Ohren widerhallte wie das Stöhnen eines Sterbenden. Wind, versuchte er sich einzureden. Das ist nur der Wind. Der starke Luftzug durchwehte jeden Winkel der Höhle und kam näher. Noch näher. Der Geruch von Verzweiflung stieg ihm in die Nase, von Zerstörung und Einsamkeit, und er wappnete sich für den Zusammenprall. Doch er spürte lediglich eine spöttisch sanfte Liebkosung auf seiner Haut und nicht die niederschmetternde Macht, mit der er gerechnet hatte. Vibrierend erwachte das juwelenbesetzte Medaillon um seinen Hals zum Leben und brannte auf dem Drachentattoo, das ihm erst heute Morgen unter die Haut gestochen worden war.

Mit zusammengepressten Lippen unterdrückte er ein Stöhnen.

Ehrfürchtig breitete sein Mentor die Arme aus. „Dafür wirst du leben, Junge. Das wird dein Daseinszweck sein. Für das hier wirst du töten.“

„Ich will nicht, dass mein Daseinszweck der Tod von anderen ist“, platzte Darius heraus, bevor er sich bremsen konnte.

Javar erstarrte, und ein feuriger Zorn loderte in den Tiefen seiner eisblauen Augen auf, die so ganz anders waren als die von Darius – als die eines jeden Drachen. Abgesehen von Javar hatte ausnahmslos jeder Drache goldene Augen. „Du wirst ein Wächter des Nebels, ein König unter den Kriegern hier“, erklärte er. „Du solltest dankbar sein, dass ich unter allen anderen dich für diese Aufgabe auserwählt habe.“

Darius schluckte hart. Dankbar? Ja, er hätte dankbar sein sollen. Doch stattdessen fühlte er sich seltsam … verloren. Allein. Schrecklich allein und verunsichert. War dies wahrhaftig, was er wollte? War dies das Leben, nach dem er sich sehnte? Er ließ den Blick über seine Umgebung schweifen. Auf dem mit Zweigen und Schmutz übersäten Boden lagen einige zerbrochene Stühle. Die Wände waren schwarz und kahl. Hier gab es keine Wärme, nur die kalte, harte Realität und einen hartnäckigen Schatten der Hoffnungslosigkeit. Um Wächter zu werden, würde er dieser Höhle sein Dasein, seine Seele verschreiben müssen.

Mit zu Schlitzen verengten Augen kam Javar auf ihn zu, seine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Schmerzhaft fest packte er Darius bei den Schultern. „Deine Mutter und dein Vater wurden abgeschlachtet. Deine Schwestern wurden vergewaltigt, bevor man ihnen die Kehlen aufgeschlitzt hat. Hätte der letzte Wächter seine Pflicht getan, wäre deine Familie noch an deiner Seite.“

Der Schmerz, der Darius durchzuckte, war so überwältigend, dass er sich beinahe die Augen aus den Höhlen gerissen hätte, um die verhassten Bilder auszulöschen, die in seinem Gedächtnis aufstiegen. Seine anmutige Mutter in einem scharlachroten Strom ihres eigenen Blutes. Der bis auf die Knochen zerfetzte Rücken seines Vaters. Seine drei Schwestern … Blinzelnd drängte er die Tränen in seinen Augen zurück. Er würde nicht weinen. Nicht jetzt. Niemals.

Erst vor wenigen Tagen war er von der Jagd zurückgekehrt und hatte seine Familie tot aufgefunden. Auch da hatte er nicht geweint. Genauso wenig hatte er auch nur eine Träne vergossen, als die Eindringlinge, die seine Familie überfallen hatten, in einem Vergeltungsschlag ermordet worden waren. Wer weinte, zeigte Schwäche. Er straffte die Schultern und hob das Kinn.

„So ist es gut“, lobte Javar, der ihn mit einem Funken von Stolz betrachtete. „Verschließ dich deinen Tränen und halte den Schmerz in deinem Inneren fest. Setz ihn ein gegen jene, die in unser Reich eindringen wollen. Töte sie damit, denn sie wollen uns nur schaden.“

„Das will ich ja. Das will ich wirklich.“ Darius wich seinem Blick aus. „Aber …“

„Reisende zu töten ist deine Pflicht“, unterbrach ihn Javar. „Sie zu töten ist dein Privileg.“

„Was ist mit unschuldigen Frauen und Kindern, die versehentlich durch das Portal stolpern?“ Die Vorstellung, eine solche Reinheit zu zerstören – wie die seiner Schwestern –, erfüllte ihn mit Abscheu für das Monster, das zu werden Javar von ihm verlangte. Allerdings nicht so sehr, dass er von dem Kurs abgewichen wäre, den er eingeschlagen hatte. Um seine Freunde zu schützen, würde er alles tun, was von ihm verlangt wurde. Sie waren alles, was er noch hatte. „Darf ich sie in die Oberwelt zurückbringen?“

„Nein, das darfst du nicht.“

„Was sollen denn Kinder unserem Volk anhaben können?“

„Sie würden das Wissen über den Nebel in sich tragen, und damit die Fähigkeit, eine Armee hindurchzuführen.“ Javar schüttelte ihn, einmal, zweimal. „Verstehst du das? Verstehst du, was du tun musst und warum du es tun musst?“

„Ja“, antwortete Darius leise. Er starrte hinab auf ein dünnes blaues Rinnsal, das sich an seinen Stiefeln vorbeischlängelte, voller Sanftheit und Gleichmut. Hätte er doch nur selbst eine solche Gleichmut in sich tragen können. „Ich verstehe.“

„Du bist zu sanftmütig, Junge.“ Seufzend ließ Javar ihn los. „Wenn du nicht stärkere Mauern darum errichtest, dann werden deine Gefühle dein Tod sein – und der all jener, die dir noch am Herzen liegen.“

Darius schluckte gegen den harten Kloß in seinem Hals an. „Dann hilf mir, Javar. Hilf mir, meine Gefühle loszuwerden, damit ich diese Taten vollbringen kann.“

„Wie ich dir bereits erklärt habe, musst du nur deinen Schmerz tief in deinem Inneren vergraben, an einem Ort, den niemand je erreichen kann – nicht einmal du selbst.“

Es klang so einfach. Doch wie sollte er einen solch quälenden Kummer begraben? Solch vernichtende Erinnerungen? Wie sollte er gegen diese entsetzliche Qual ankämpfen? Er hätte alles gegeben, nur um Frieden zu finden.

„Wie?“, fragte er seinen Mentor.

„Die Antwort darauf wirst du allein herausfinden. Sehr viel schneller, als du glaubst.“

Um sie herum verdichtete sich die Macht, die Magie, wirbelte umher, drängte nach irgendeiner Form der Entladung. Die Luft dehnte sich aus, brodelte, und zurück blieb ein schwindelerregender Geruch von Dunkelheit und Gefahr. Ein Schwall Energie schoss wie ein Blitz zwischen den Wänden hin und her, dann zerstob er zu einem farbenfrohen Funkenregen.

Darius erstarrte, als er spürte, wie sich Entsetzen, Furcht, aber auch Vorfreude in ihm ausbreiteten.

„Bald wird ein Reisender das Portal durchschreiten“, verkündete Javar, auch er angespannt und begierig.

Mit zitternden Fingern umklammerte Darius das Heft seines Schwerts.

„Kurz nach dem Austritt sind sie immer desorientiert. Das musst du zu deinem Vorteil nutzen und sie vernichten, sobald sie hervorkommen.“

Konnte er das? „Ich bin noch nicht bereit. Ich kann nicht …“

„Das bist du und das wirst du“, widersprach Javar mit stählernem Unterton. „Es gibt zwei Portale: dieses, das du bewachen wirst, und das meine auf der anderen Seite der Stadt. Ich verlange nichts von dir, was ich nicht selbst tun würde – und bereits getan habe.“

Im nächsten Augenblick trat ein hochgewachsener Mann aus dem Nebel hervor. Er hatte die Augen fest zusammengekniffen, sein Gesicht war blass und seine Kleider zerknittert. In seinem dichten Haar waren silbrige Strähnen, und tiefe Falten zeichneten seine Haut. Er sah aus wie ein Gelehrter, nicht wie ein Krieger oder jemand Böses.

Noch immer zitternd zog Darius sein Schwert. Unter dem Ansturm seiner widersprüchlichen Gefühle wäre er beinahe zusammengebrochen. Ein Teil von ihm schrie ihn ununterbrochen an, er solle die Beine in die Hand nehmen und davonlaufen, diese Aufgabe verweigern, doch er zwang sich, stehen zu bleiben. Er würde es tun, denn Javar hatte recht. Reisende waren Feinde, wer immer sie auch sein mochten, was auch immer sie hierherführte.

Ganz egal, wie sie aussahen.

„Tu es, Darius“, befahl Javar. „Tu es jetzt.“

Abrupt öffnete der Reisende die Augen, und ihre Blicke trafen aufeinander – Drachengold und menschliches Grün. Entschlossenheit und Angst. Leben und Tod.

Darius hob seine Klinge, hielt nur einen Moment inne – Halt, lauf weg, tu es nicht –, dann schlug er zu. Blut spritzte über seine nackte Brust und seine Unterarme wie ein giftiger Regen. Die Lippen des Mannes öffneten sich zu einem gurgelnden Schreckenslaut, dann, unendlich langsam, sank sein lebloser Körper zu Boden.

Mehrere lange, qualvolle Augenblicke stand Darius einfach nur da, wie versteinert angesichts des Resultats seines Handelns. Was habe ich getan? Was habe ich getan?! Er ließ das Schwert fallen und hörte wie von fern, wie das Metall dumpf auf der Erde aufschlug.

Er krümmte sich und übergab sich.

Zu seiner Überraschung verließ ihn mit seinem Mageninhalt auch der Schmerz in seinem Inneren, verließen ihn Reue und Trauer. Eis umschloss seine Brust und alles, was von seiner Seele noch übrig war. Dankbar hieß er die Gefühlslosigkeit willkommen, bis er nichts als eine fremdartige Leere spürte. All die Pein – verschwunden. All sein Leid – fort.

Ich habe meine Pflicht getan.

„Ich bin stolz auf dich, Junge.“ In einer seltenen Geste der Zuneigung klopfte Javar ihm auf die Schulter. „Jetzt bist du bereit, deinen Eid als Wächter abzulegen.“

Als das Zittern nachließ, richtete Darius sich auf und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. „Ja“, erwiderte er nüchtern und entschlossen, begierig nach mehr von dieser Gleichgültigkeit. „Ich bin bereit.“

„Dann tu es.“

Ohne noch einmal zu zögern, sank er auf die Knie. „Ich werde an diesem Ort wachen und jeden Bewohner der Oberwelt auslöschen, der den Nebel durchschreitet. Das schwöre ich bei meinem Leben. Das schwöre ich bei meinem Tod.“ Während er sprach, erschienen die Worte auf seiner Brust und seinem Rücken, schwarze und rote Schriftzeichen, die sich von einer Schulter bis zur anderen zogen und mit einem inneren Feuer glommen. „Ich lebe nur für diese Aufgabe. Ich bin ein Wächter des Nebels.“

Für einen langen Augenblick hielt Javar seinen Blick fest, dann nickte er zufrieden. „Deine Augen haben die Farbe des Nebels angenommen. Du und er seid jetzt eins. Das ist gut, Junge. Das ist gut.“

1. KAPITEL

Dreihundert Jahre später

Lachen ist für ihn ein Fremdwort.“

„Er wird nie auch nur ansatzweise laut.“

„Als Grayley ihm aus Versehen diesen sechszackigen Dolch in den Oberschenkel gerammt hat, hat Darius nicht mal geblinzelt.“

„Ich würde ja sagen, unser Anführer braucht nur mal ein paar Stunden anständigen Matratzensport, aber ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt weiß, wozu sein Schwanz gut ist.“ Auf diesen Kommentar folgte amüsiertes Gelächter aus zahlreichen Männerkehlen.

Darius en Kragin betrat den geräumigen Speisesaal und musterte systematisch seine Umgebung. Das dunkle Ebenholz des Fußbodens glänzte, ein perfekter Kontrast zu den Elfenbeinwänden mit den Drachenschnitzereien, und über ihnen ragte eine kristallene Kuppel, durch die das klare Meerwasser zu sehen war, das ihre Stadt umschloss.

Er ging auf den langen rechteckigen Tisch zu, an dem seine Männer saßen. Beim Näherkommen hätte ihm das verführerische Aroma von süßem Gebäck und Obst in die Nase steigen sollen, doch über die Jahre waren seine Sinne verkümmert, und Geruch, Geschmack und Farben waren nur noch eine blasse Erinnerung.

Er roch nur noch Asche, schmeckte nichts als Luft und sah lediglich schwarz-weiß. Bewusst hatte er all diese Sinne verdrängt. Es war besser, einfacher, in einem Vakuum zu existieren. Nur selten wünschte er, es wäre anders.

Einer der Krieger entdeckte ihn und warnte rasch die anderen. Schweigen packte den Saal mit unerbittlichem Würgegriff. Unvermittelt widmete jeder der anwesenden Männer seine volle Aufmerksamkeit seinem Essen, als sei gebratenes Geflügel neuerdings das Faszinierendste, was die Götter je erschaffen hatten. Die gesellige Stimmung wurde sichtlich düsterer.

Ganz wie seine Männer es beschrieben hatten, nahm Darius ausdruckslos seinen Platz am Kopfende des Tisches ein. Erst nach seinem dritten Kelch Wein setzten seine Krieger ihre Gespräche fort, auch wenn sie sich dabei klugerweise anderen Themen zuwandten. Diesmal sprachen sie über die Frauen, die sie verführt, und über die Kriege, die sie gewonnen hatten. Alles hemmungslose Übertreibungen. Einer der Männer ging sogar so weit, zu behaupten, er hätte vier Frauen auf einmal verwöhnt, während er seine Gegner niedergestreckt hatte. Ein Nymph hätte das vielleicht vollbringen können. Aber ein Drache? Niemals.

Solche Geschichten hatte Darius schon unzählige Male gehört. Er schluckte einen nach nichts schmeckenden Bissen Fleisch hinunter und fragte den Krieger an seiner Seite: „Irgendwelche Neuigkeiten?“

Brand, sein erster Offizier, bedachte ihn mit einem grimmigen Lächeln und zuckte die Achseln. „Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.“ Das helle Haar hing ihm in dicken Zöpfen ums Gesicht, und einige davon strich er sich hinter die Ohren. „Die Vampire benehmen sich merkwürdig. Sie verlassen die äußeren Ringe der Stadt und sammeln sich hier im Zentrum.“

„Normalerweise kommen sie nur selten her. Habt ihr herausfinden können, was los ist?“

„Für uns kann es jedenfalls nichts Gutes bedeuten, was es auch ist“, schaltete sich Madox in das Gespräch ein. „Ich würde sagen, wir töten diejenigen, die unserem Palast zu nahe kommen.“ Er war der größte unter den anwesenden Drachen und immer für einen Kampf zu haben. Die Unterarme flach auf dem Tisch, in beiden Händen ein großes Stück Fleisch, saß er am gegenüberliegenden Ende der Tafel. „Wir sind zehnmal stärker und fähiger als die.“

„Wir müssen ihre gesamte Art auslöschen“, meldete sich der Krieger zu seiner Linken zu Wort. Renard war die Art Mann, die man in einer Schlacht in seinem Rücken wissen wollte. Im Kampf konnten es nur wenige mit seiner Entschlossenheit aufnehmen, er war absolut loyal und hatte dazu noch die Anatomie einer jeden Spezies in Atlantis verinnerlicht, sodass er genau wusste, wo er zuschlagen musste, um den größtmöglichen Schaden anzurichten. Und den größtmöglichen Schmerz zuzufügen.

Vor Jahren waren Renard und seine Frau von einer Gruppe Vampire gefangen genommen worden. Er war an eine Wand gekettet und gezwungen worden, zuzusehen, wie sie seine Frau vergewaltigt und ausgesaugt hatten. Als er sich befreit hatte, war jede der verantwortlichen Kreaturen seinem brutalen Rachefeldzug zum Opfer gefallen, doch das hatte seinen Schmerz nicht gelindert. Er war ein anderer geworden, sein früher so ansteckendes Lachen und seine Nachsicht waren verschwunden. Noch schlimmer war, dass eine Gruppe abtrünniger Drachen das Ganze nachgeahmt und das Gleiche dem König der Vampire angetan hatte, der nicht für Renards Tragödie verantwortlich war, aber nun Darius die Schuld an der seinen gab. Und so war es zum Krieg zwischen den Rassen gekommen.

„Vielleicht können wir Zeus anrufen, dass er sie ausrottet“, antwortete Brand.

„Die Götter haben uns doch längst vergessen“, entgegnete Renard achselzuckend. „Davon abgesehen ist Zeus in vielerlei Hinsicht genau wie Cronus. Vielleicht sagt er Ja, aber wollen wir das wirklich? Wir alle sind Schöpfungen der Titanen, auch jene, die wir hassen. Wenn Zeus eine Rasse vernichtet, was sollte ihn davon abhalten, auch die anderen auszulöschen?“

Brand stürzte seinen letzten Schluck Wein hinunter, einen stählernen Glanz in den Augen, als er den Kelch abstellte. „Dann fragen wir ihn eben nicht. Wir schlagen einfach zu.“

„Es ist an der Zeit, dass wir denen den Krieg erklären“, stimmte Madox grollend zu.

Bei dem Wort „Krieg“ leuchtete auf vielen Gesichtern ein Lächeln auf.

„Ich stimme euch zu, dass die Vampire ausgelöscht werden müssen. Sie verursachen Chaos und haben allein dafür schon den Tod verdient.“ Darius sah jedem einzelnen Krieger in die Augen, einem nach dem anderen, starrte sie an, bis sie die Blicke senkten. „Aber es gibt eine Zeit für Krieg und eine Zeit für strategisches Denken. Dies ist die Zeit für die Strategie. Ich schicke eine Patrouille los, um herauszufinden, was die Vampire vorhaben. Und schon bald werden wir wissen, wie wir am besten vorgehen.“

„Aber …“, setzte einer der Männer an.

Mit einer Handbewegung schnitt Darius ihm das Wort ab. „Den letzten Krieg gegen die Vampire haben unsere Vorfahren geführt, und auch wenn wir gewonnen haben, waren unsere Verluste zu hoch. Familien wurden zerstört und die Erde mit Blut getränkt. Meine Männer werden sich nicht Hals über Kopf in irgendwelche Gefechte stürzen.“

Enttäuschtes Schweigen breitete sich aus, legte sich um den Tisch und kroch an den Wänden empor. Darius war sich nicht sicher, ob sie über seine Worte nachdachten oder einen Aufstand in Erwägung zogen.

„Was kümmert es dich, wenn Familien zerstört werden, Darius? Man sollte meinen, einem herzlosen Bastard wie dir käme ein Kampf gerade recht.“ Diese trockene Feststellung ertönte von der anderen Seite des Tisches, wo Tagart sich auf seinem Stuhl fläzte. „Bist du etwa nicht begierig darauf, noch mehr Blut zu vergießen? Gleichgültig, ob es nun das von Vampiren ist oder das von Menschen?“ Erbostes Gemurmel erhob sich, und mehrere Krieger fuhren zu Darius herum und sahen ihn erwartungsvoll an. Als rechneten sie damit, dass er den Mann erschlagen würde, der laut ausgesprochen hatte, was sie alle gedacht hatten. Tagart lachte bloß, eine Herausforderung an alle Anwesenden, ihn für seine Worte zur Rechenschaft zu ziehen.

Halten sie mich wirklich für herzlos? fragte sich Darius. Herzlos genug, um einen seiner Artgenossen für etwas so Banales wie eine Beleidigung umzubringen? Er war ein Mörder, ja, aber nicht herzlos.

Ein herzloser Mann fühlte nichts, aber er war durchaus zu Emotionen fähig. Wenn auch nur leicht. Er wusste seine Gefühle eben zu beherrschen, wusste, wie er sie tief in seinem Inneren vergraben konnte. So war es ihm am liebsten. Intensive Empfindungen führten immer zu Aufruhr, und Aufruhr zog seelenzerfetzende Qualen nach sich. Seelenzerfetzende Qualen riefen Erinnerungen auf den Plan … Unwillkürlich umklammerte er die Gabel fester und musste sich zwingen, seinen Griff zu lockern.

Lieber empfand er gar nichts, als den Schmerz seiner Vergangenheit noch einmal zu durchleben – den Schmerz, der nur zu leicht Teil seiner Gegenwart werden konnte, wenn er auch nur eine Erinnerung Wurzeln schlagen und ihre giftigen Zweige sprießen ließ.

„Atlantis ist meine Familie“, antwortete er schließlich ruhig. „Um sie zu beschützen, tue ich, was immer nötig ist. Wenn das bedeutet, dass ich mit einer Kriegserklärung warten muss und damit jeden Einzelnen meiner Männer verärgere, dann ist es eben so.“

Als Tagart erkannte, dass Darius sich nicht provozieren lassen würde, zuckte er mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Essen zu.

„Recht hast du, mein Freund.“ Brand schlug Darius breit grinsend auf die Schulter. „Krieg macht nur dann Spaß, wenn wir auch als Sieger daraus hervorgehen. Natürlich befolgen wir deinen Rat zu warten.“

„Wenn du ihm noch tiefer in den Arsch kriechst“, murmelte Tagart, „ist bald nicht nur deine Nasenspitze braun.“

Abrupt erlosch Brands Grinsen, und das Medaillon um seinen Hals glomm auf. „Was hast du gesagt?“, fragte er leise und drohend.

„Sind deine Ohren genauso schwach wie der Rest von dir?“ Tagart stemmte sich hoch, die Hände fest auf die glänzende Tischplatte gestützt. Über die Entfernung starrten die beiden Männer einander wütend an, dass die aufgeladene Luft zwischen ihnen knisterte. „Ich habe gesagt: Wenn du ihm noch tiefer in den Arsch kriechst, ist bald nicht nur deine Nasenspitze braun.“

Knurrend warf Brand sich über den Tisch, dass Geschirr und Essen nur so durch die Gegend flogen. Noch im Sprung wuchsen Reptilienschuppen auf seiner Haut, und mächtige Schwingen schossen aus seinem Rücken. Sein Hemd und seine Hose rissen, als er vom Mann zur Bestie wurde, die mit einem Schwall Feuer alles in unmittelbarer Nähe versengte.

Tagart vollzog die gleiche Verwandlung, und in einem Gewirr von Klauen, Zähnen und Rage gingen die beiden Kreaturen zu Boden und rollten ineinander verkeilt über das Ebenholzparkett.

Drachenkrieger waren in der Lage, sich zu jedem gewünschten Zeitpunkt in echte Drachen zu verwandeln, doch wann immer sie von aufwühlenden Emotionen überwältigt wurden, geschah die Transformation von allein. Darius selbst hatte keine Verwandlung mehr durchgemacht – weder beabsichtigt noch unfreiwillig –, seit er vor über dreihundert Jahren seine Familie ermordet aufgefunden hatte. Mittlerweile glaubte er sogar, dass seine Drachengestalt verkümmert und verloren war.

Tagart fauchte, als Brand ihn gegen die nächstgelegene Wand schleuderte, wo das unbezahlbare Elfenbein unter der Wucht des Aufpralls splitterte. Rasch hatte er sich jedoch wieder aufgerappelt und schlug mit der gezackten Schwanzspitze nach Brands Gesicht, in dem er eine ausgefranste, blutige Wunde hinterließ. Schärfer als jede Klinge schnitt ihr wütendes Knurren und Grollen durch die Luft, die erhitzt war von den Wellen an Feuer, mit denen sie sich bekämpften. Wieder und wieder bissen und hieben sie nacheinander, fuhren zurück, zogen wachsame Kreise und stürzten sich dann wieder aufeinander.

Jeder Krieger außer Darius war mittlerweile aufgesprungen, und eilig wurden Wetten auf den potenziellen Sieger abgeschlossen. „Acht goldene Drachmen auf Brand“, verkündete Grayley.

„Zehn auf Tagart“, rief Brittan.

„Zwanzig, wenn sie sich gegenseitig umbringen“, warf Zaeven aufgeregt ein.

„Das reicht“, sagte Darius in ruhigem, beherrschtem Tonfall. Die zwei Raufbolde sprangen auseinander, als hätte er den Befehl geschrien und mit einer Drohung unterstrichen. Keuchend standen sie einander gegenüber, jederzeit bereit, erneut anzugreifen.

„Hinsetzen“, forderte Darius sie im selben ruhigen Tonfall auf.

Doch statt ein weiteres Mal zu gehorchen, knurrten die beiden einander an. Der Rest der Anwesenden dagegen setzte sich wieder. Auch wenn sie sicher gern weiterhin Wetten abgeschlossen und die Kämpfenden angefeuert hätten, war Darius ihr Anführer, ihr König, und sie wussten es besser, als sich ihm zu widersetzen.

„Ihr seid ebenfalls gemeint“, wandte er sich erneut mit nur minimal erhobener Stimme an Tagart und Brand. „Beruhigt euch, und setzt euch hin.“

Beide Drachen starrten ihn aus schmalen Augen an. Unbeeindruckt zog er eine Augenbraue hoch und machte eine Geste mit den Fingern, die deutlich ausdrückte: „Greift mich ruhig an. Erwartet bloß nicht, mit dem Leben davonzukommen.“

Sekundenlang herrschte angespannte Stille, bis die schwer atmenden Krieger schließlich wieder menschliche Gestalt annahmen. Ihre Flügel zogen sich zurück, ihre Schuppen verblassten, sodass nur nackte Haut zurückblieb. Da Darius in jedem Raum des Palasts Ersatzkleidung bereithalten ließ, konnten beide sich eine Hose von den Haken an der Wand nehmen und anziehen, ehe sie ihre Stühle wieder aufstellten und sich darauf niederließen.

„Ich dulde keine Zwistigkeiten in meinem Palast“, beschied Darius ihnen.

Brand wischte sich das Blut von der Wange und warf Tagart einen wütenden Blick zu. Der bleckte zur Antwort die Zähne und ließ ein schneidendes Knurren hören.

Sie standen schon wieder kurz vor der Verwandlung, wurde Darius klar.

Er rieb sich mit einer Hand über das stoppelige Kinn. Nie war er dankbarer gewesen, dass er ein so geduldiger Mann war, und zugleich war er nie unzufriedener mit dem System gewesen, das er für seine Krieger entwickelt hatte. Seine Drachen waren in vier Einheiten unterteilt. Eine davon patrouillierte im Außenring der Stadt, eine weitere innerhalb der Mauern. Die dritte Einheit durfte sich frei bewegen, sich mit Frauen vergnügen, sich in Wein ertränken oder sonstigen Lastern nachgehen. Die letzte hielt sich hier auf und trainierte. Alle vier Wochen wechselten sich die Einheiten ab.

Diese Männer waren seit zwei Tagen hier – erst seit zwei Tagen –, und schon jetzt waren sie rastlos. Wenn er sich nicht schnell etwas einfallen ließ, um sie abzulenken, war es gut möglich, dass sie einander umbringen würden, bevor die vier Wochen um waren.

„Was haltet ihr von einem Wettstreit im Schwertkampf?“, fragte er.

Gleichgültig zuckten einige der Männer die Schultern. Andere stöhnten: „Nicht schon wieder.“

„Nein“, antwortete Renard und schüttelte den Kopf, „du gewinnst jedes Mal. Davon abgesehen gibt es nichts zu gewinnen.“

„Wonach steht euch dann der Sinn?“

„Frauen“, rief einer der Männer. „Bring uns ein paar Frauen her.“

Darius runzelte die Stirn. „Ihr wisst, dass im Palast keine Frauen gestattet sind. Sie sind eine zu große Ablenkung, verursachen zu viele Feindseligkeiten zwischen euch. Und nicht die Art läppischer Zankerei wie von vor ein paar Minuten.“

Bedauerndes Raunen war die einzige Antwort auf seine Worte.

„Ich habe eine Idee.“ Brand wandte sich ihm zu, und ein träges Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus und überstrahlte alle anderen Emotionen, die ihn eben noch beherrscht hatten. „Ich möchte einen neuen Wettbewerb vorschlagen. Einen, bei dem es nicht um körperliche Kraft geht, sondern um Klugheit und List.“

Mit einem Mal galt ihm die Aufmerksamkeit aller im Saal. Selbst Tagarts zornverzerrte Miene verblasste, und Interesse leuchtete in seinen Augen auf.

Ein geistiges Kräftemessen klang harmlos. Nickend bedeutete Darius seinem ersten Offizier fortzufahren.

Brands Lächeln wurde breiter. „Der Wettbewerb ist ganz einfach. Der Erste, der Darius dazu bringt, die Beherrschung zu verlieren, hat gewonnen.“

„Ich verliere nie …“, setzte Darius an, doch Madox fiel ihm aufgeregt ins Wort.

„Und was genau hat der Gewinner davon?“

„Die Befriedigung, uns alle übertrumpft zu haben“, erwiderte Brand. „Und mit Sicherheit eine Tracht Prügel von Darius.“ Mit einem ungerührten Schulterzucken ließ er sich in die samtenen Polster seines Stuhls zurücksinken und legte die Füße auf den Tisch. „Aber ich schwöre bei den Göttern, es wird jede Blessur wert sein.“

Acht Augenpaare richteten sich auf Darius und durchbohrten ihn mit unangenehm interessierten Blicken. Wägten Optionen ab. Spekulierten. „Ich werde nicht …“, setzte er erneut an, doch wie zuvor wurde er wieder unterbrochen.

„Der Gedanke gefällt mir“, warf Tagart ein. „Ich bin dabei.“

„Ich auch.“

„Und ich.“

Bevor ihn noch jemand so einfach übergehen konnte, sagte Darius ein einziges Wort. Simpel, aber effektiv. „Nein.“ Er schluckte einen faden Bissen Geflügel hinunter und aß geruhsam weiter. „Und jetzt erzählt mir mehr von den Vampiren.“

„Was ist, wenn man ihn zum Lächeln bringt?“, fragte Madox, der vor Eifer aufgesprungen war und sich über den Tisch zu Brand lehnte. „Zählt das auch? Das ist ein Zeichen von Emotionen und genauso selten wie sein Zorn.“

„Absolut.“ Brand nickte. „Aber es muss einen Zeugen geben, sonst kann niemand zum Gewinner erklärt werden.“

Einer nach dem anderen murmelten die Männer: „Einverstanden.“

„Das Thema ist beendet, ein für alle Mal“, erklärte Darius entschieden. Wann war ihm die Kontrolle über diese Unterhaltung entglitten? Die Kontrolle über seine Männer? „Ich …“ Abrupt schloss er den Mund. Düsternis und Gefahr begannen in seinem Blut zu pulsieren, und seine Nackenhaare stellten sich auf.

Der Nebel macht sich bereit für einen Reisenden.

Resignation erfüllte ihn, gefolgt von kalter Entschlossenheit. Er erhob sich, und sein Stuhl schrammte geräuschvoll über das Parkett.

Alle Stimmen verstummten. Alle Blicke richteten sich neugierig auf ihn.

„Ich muss gehen“, erklärte er mit ausdrucksloser, leerer Stimme. „Bei meiner Rückkehr werden wir über den Wettstreit im Schwertkampf sprechen.“

Zielstrebig durchschritt er den Saal, doch Tagart sprang über den Tisch und stellte sich ihm in den Weg. „Ruft der Nebel nach dir?“, fragte der Krieger, lässig in den Türrahmen gelehnt, womit er den einzigen Ausgang versperrte.

Darius zeigte keinerlei Reaktion. Aber wann tat er das schon? „Geh mir aus dem Weg.“

Unbeeindruckt hob Tagart eine Augenbraue. „Zwing mich doch.“

Hinter ihm lachte jemand.

Es sah ganz danach aus, als hätte das Spiel begonnen, auch ohne seine Zustimmung. Das sah seinen Männern gar nicht ähnlich. Ihnen musste langweiliger sein, als er gedacht hatte.

Mühelos hob Darius seinen Herausforderer bei den Schultern in die Höhe und warf ihn an die gegenüberliegende Wand. Keuchend sackte Tagart zu Boden und rang nach Atem. Ohne die anderen anzusehen, fragte Darius: „Sonst noch jemand?“

„Ich“, ertönte es ohne Zögern. Im nächsten Augenblick blitzten schwarzes Leder und silberne Messer in seinem Augenwinkel auf, und Madox stand an seiner Seite. Aufmerksam beobachtete er seinen Anführer und versuchte offensichtlich, seine Reaktion einzuschätzen. „Ich will dich aufhalten. Macht dich das wütend? Willst du mich anschreien und auf meinen Platz verweisen?“

In Tagarts Augen glomm ein unheilvolles Funkeln, als er sich hastig aufrappelte. Er legte die Finger um das Heft des nächsten greifbaren Schwertes und näherte sich Darius erneut mit langsamen, bedachten Bewegungen. Ohne auch nur eine Sekunde über die Dummheit seines Tuns nachzudenken, richtete er die rasiermesserscharfe Spitze der Klinge auf Darius’ Hals.

„Würdest du Angst zeigen, wenn ich schwören würde, dich umzubringen?“, spie der aufgebrachte Mann ihm entgegen.

„Du gehst zu weit“, knurrte Brand, der sich zu der kleinen Gruppe um Darius gesellte.

An Darius’ Kehle rann ein Blutstropfen hinab. Der kleine Schnitt hätte wehtun sollen, doch er spürte nichts, keinerlei Empfindung drang zu ihm durch. Da war nichts außer dieser ewig anhaltenden Gleichgültigkeit.

Zuerst stand Darius völlig reglos da, Tagarts Angriff scheinbar widerstandslos hinnehmend, doch innerhalb eines Herzschlags hatte er sein Schwert gezogen und auf Tagarts Kehle gerichtet. Der Krieger riss überrascht die Augen auf.

„Steck dein Schwert weg“, befahl Darius ihm, „oder ich töte dich. Mir ist es gleich, ob ich lebe oder sterbe, aber du hängst an deinem Leben, glaube ich.“

Mehrere Sekunden verstrichen in angespannter Stille, ehe Tagart mit schmalen Augen die Klinge senkte.

Auch Darius senkte sein Schwert, immer noch keine Gefühlsregung zeigend. „Esst weiter – ihr alle –, und dann geht in den Übungsbereich. Ihr werdet trainieren, bis ihr euch nicht mehr auf den Beinen halten könnt. Das ist ein Befehl.“ Ohne ein weiteres Wort marschierte er aus dem Saal und war sich durchaus bewusst, dass er seinen Männern nicht die Reaktion gegeben hatte, nach der sie gierten.

Darius stieg die Treppe zur Höhle hinab, vier Stufen auf einmal nehmend. Er hatte es eilig, seine Pflicht zu tun und sich dann in Ruhe wieder seinem Abendessen zu widmen. Rasch zog er sich das schwarze Hemd aus und warf es in eine Ecke. Das Medaillon um seinen Hals und die Tattoos auf seiner Brust glühten wie winzige Funken, voller Erwartung auf die Erfüllung seines Eids.

Emotionslos im Angesicht seiner Aufgabe zog er sein Schwert, positionierte sich links vom Nebel … und wartete.

2. KAPITEL

Grace Carlyle hatte immer gehofft, sie würde an überwältigender Lust sterben, während sie Sex mit ihrem Ehemann hatte. Tja, verheiratet war sie nicht, und Sex hatte sie auch noch nie gehabt, aber sterben würde sie trotzdem.

Und nicht an überwältigender Lust.

An Überhitzung? Vielleicht.

Vor Hunger? Gut möglich.

An ihrer eigenen Dummheit? Aber so was von.

Sie irrte allein und orientierungslos durch den Dschungel des Amazonas.

Schweiß rann ihr über die Brust und den Rücken, während sie an verschlungenen grünen Ranken und hoch aufragenden Bäumen vorbeischritt. Durch das Blätterdach über ihr drangen dünne Lichtstrahlen herab und ermöglichten ihr eine eingeschränkte Sicht. Kaum ausreichend, aber besser als nichts. Die Gerüche von faulender Vegetation, altem Regen und Blumen bildeten eine widersprüchliche Mischung aus süß und sauer. Sie rümpfte die Nase.

„Ich wollte doch nur ein bisschen Aufregung“, murmelte sie. „Und stattdessen lande ich pleite und ohne Ausweg in dieser moskitoverseuchten Sauna.“

Bei ihrem Glück rechnete sie außerdem jeden Moment damit, dass der Himmel seine Schleusen öffnen und eine Sintflut auf sie niedergehen lassen würde.

Das einzig Gute an ihrer aktuellen Situation war, dass sie bei all dem Wandern und Schwitzen vielleicht ein paar Pfunde loswerden würde – sie hatte eindeutig zu viele Kurven. Nicht dass es ihr irgendetwas gebracht hätte, Gewicht zu verlieren, wenn man demnächst nur noch ihre Leiche finden würde.

Mit finsterer Miene erschlug sie einen Moskito auf ihrem Arm, der sie auszusaugen versuchte – obwohl sie mehrere Schichten Ucuru-Öl aufgetragen hatte, um Stichen von diesen Mistviechern vorzubeugen. Wo zum Teufel steckte Alex? Mittlerweile hätte sie ihrem Bruder längst über den Weg laufen sollen. Oder wenigstens einer Touristengruppe. Ein Stamm von Eingeborenen wäre ihr auch recht!

Hätte sie nur nicht diesen langen Urlaub genommen. Dann hätte sie sich nun hoch oben am Himmel befunden, tiefenentspannt dank des hypnotischen Summens der Düsentriebwerke.

„Dann wäre ich jetzt in einer G-IV mit Klimaanlage“, murrte sie und schlug mit der Hand durch das dichte grüne Blätterwerk wie mit einer Machete. „Und würde Vanilla Coke trinken.“ Wieder ein Hieb. „Und meinen Kolleginnen dabei zuhören, wie sie sich über Schuhe, teure Dates und unglaubliche Orgasmen austauschen.“

Und wäre trotzdem unglücklich und würde mich an irgendeinen anderen Ort wünschen.

Abrupt blieb sie stehen und schloss die Augen. Ich will doch einfach nur glücklich sein. Ist das denn zu viel verlangt?

Offensichtlich.

In letzter Zeit hatte sie so oft gegen ein Gefühl der Unzufriedenheit ankämpfen müssen, gegen den Wunsch, so viel mehr zu erleben. Ihre Mutter hatte versucht, sie davor zu warnen, wozu eine solche Unzufriedenheit führen würde, wenn sie versuchte, etwas dagegen zu unternehmen. „Das kann nur schiefgehen“, hatte sie gesagt. Aber hatte Grace auf sie gehört? Neeein. Stattdessen hatte sie sich auf den Rat ihrer Tante Sophie verlassen. Tante Sophie, um Himmels willen! Die Frau, die Leggings mit Leopardenprint trug und sich mit Postboten und Strippern vergnügte. „Ich weiß, dass du ein paar spannende Sachen gemacht hast, Liebes, aber das allein macht Leben nicht aus. Irgendetwas fehlt dir, und wenn du das nicht findest, dann endest du als verschrumpelte alte Schachtel wie deine Mutter.“

Es fehlte wirklich etwas in Graces Leben. Das wusste sie, und im Bemühen, dieses mysteriöse Etwas ausfindig zu machen, hatte sie es schon mit Speeddating, Onlinedating und Singlebars versucht. Als das ohne Erfolg geblieben war, hatte sie es mit der Abendschule versucht, aber der Schminkkurs dort hatte ihr nichts gebracht. Ihre wilden roten Locken hätten selbst die besten Stylisten der Welt nicht bändigen können. Danach hatte sie Autorennen und Stepptanz ausprobiert. Sie hatte sich sogar den Bauchnabel piercen lassen. Nichts hatte geholfen.

Was war nötig, damit sie sich endlich erfüllt und vollständig fühlen würde?

„Jedenfalls nicht dieser Dschungel, so viel ist sicher“, grummelte sie und setzte sich wieder in Bewegung. „Kann mir bitte mal jemand verraten“, sagte sie gen Himmel gerichtet, „warum Erfüllung und Zufriedenheit immer ein wenig außerhalb meiner Reichweite liegen? Das würde mich wirklich interessieren.“

Es war immer ihr Traum gewesen, um die Welt zu reisen, und der Beruf als Stewardess bei einem Charterunternehmen war ihr wie die perfekte Wahl erschienen, um diesen Traum zu leben. Ihr war damals nicht klar gewesen, dass sie eine Kellnerin der Lüfte sein würde, immer auf dem Sprung von einem Hotel zum nächsten, ohne eine Gelegenheit, den Staat, das Land oder das Höllenloch zu genießen, in dem sie sich gerade befand. Sie hatte zwar Berge erklommen, Wellen geritten und war aus einem Flugzeug gesprungen, doch die Freude jener Abenteuer hielt nie lange an. Wie bei allem, was sie versuchte, war sie hinterher nur noch unzufriedener.

Aus diesem Grund war sie hierhergekommen: um etwas Neues auszuprobieren. Etwas, das ein wenig mehr Spannung versprach. Ihr Bruder war Angestellter bei „Argonauts“, einer archäologischen Firma, die kürzlich den Gleiter entdeckt hatte, den Dädalus konstruiert hatte – eine Entdeckung, die sowohl die Welt der Mythologie als auch die der Wissenschaft in ihren Grundfesten erschüttert hatte. Tag und Nacht verbrachte Alex damit, sich durch die Mythen der Weltgeschichte zu wühlen und sie zu entzaubern oder zu beweisen.

Mit einem so erfüllenden Job musste er sich keine Gedanken machen, er könnte ein vertrockneter alter Greis werden. Nicht so wie ich.

Grace wischte sich den Schweiß von der Stirn und legte einen Zahn zu. Vor etwa einer Woche hatte Alex ihr ein Päckchen geschickt, in dem sich sein Tagebuch und eine umwerfend schöne Halskette mit zwei ineinander verschlungenen Drachenköpfen als Anhänger befunden hatten. Da sie gewusst hatte, dass er in Brasilien war und nach einem Portal suchte, das in die versunkene Stadt Atlantis führen sollte, hatte sie beschlossen, zu ihm zu fliegen, und ihm eine Nachricht mit ihrer Ankunftszeit auf die Mailbox gesprochen.

Seufzend tastete sie nach der Drachenkette um ihren Hals. Als Alex sie nicht am Flughafen abgeholt hatte, hätte sie zurück nach Hause fliegen sollen. „Aber neeein“, sagte sie voller Selbstverachtung und wurde sich plötzlich bewusst, wie staubtrocken ihr Mund war. „Ich musste ja einen Fremdenführer anheuern und versuchen, Alex aufzuspüren. ‚Sí, senhorina‘“, ahmte sie den Mann nach. „‚Natürlich, senhorina. Was immer Sie wünschen, senhorina.‘“

„Mistkerl“, murmelte sie.

Heute, nach zwei elenden Tagesmärschen, hatte ihr zuvorkommender Lassen-Sie-mich-Ihnen-helfen-Führer ihr den Rucksack gestohlen und sie hier sitzen lassen. Jetzt hatte sie kein Essen, kein Wasser und kein Zelt. Was sie allerdings hatte, war eine Waffe. Eine Pistole, mit der sie dem Mistkerl in den Hintern geschossen hatte, als er sich davongemacht hatte. Bei der Erinnerung verzogen ihre Mundwinkel sich zu einem trägen Lächeln, und liebevoll tätschelte sie den Revolver, der im Bund ihrer schmutzigen Leinenhose steckte.

Lange hielt das Lächeln allerdings nicht an in der quälenden Mittagshitze. Nicht in ihren wildesten Träumen hatte ihre Sehnsucht nach Erfüllung in so etwas geendet. Sie hatte sich Lachen ausgemalt und …

Etwas Hartes krachte gegen ihren Kopf und ließ sie einige Schritte nach vorn stolpern. Fluchend rieb sie sich den pochenden Schädel, während ihr das Herz bis zum Hals schlug, und blickte sich suchend nach dem Grund für ihre Schmerzen um.

Oh, danke, danke! rief sie innerlich aus, als sie den Übeltäter – eine rosafarbene Frucht – entdeckte. Bei dem Anblick des Safts, der aus den zermatschten Überresten rann, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Ob das Zeug giftig war? Interessierte sie das überhaupt? Sie leckte sich die Lippen. Nein, es war ihr gleichgültig. Tod durch Vergiftung erschien ihr immer noch allemal besser, als diesen unerwarteten Schatz einfach liegen zu lassen und langsam zu verhungern.

Gerade als sie sich bückte, um die Frucht aufzuheben, krachte ein weiteres Geschoss gegen ihren Rücken.

Keuchend fuhr sie hoch und suchte mit zusammengekniffenen Augen die umstehenden Bäume ab. Auf einem Ast in etwa fünf Metern Höhe entdeckte sie einen kleinen Affen, der in jeder Hand eine weitere Frucht hielt. Ihr fiel die Kinnlade herunter, und ungläubig starrte sie ihn an. War das etwa ein Lächeln auf seinem Gesicht?

Das Tier holte mit beiden Armen aus und schleuderte die Früchte nach ihr. Sie war zu überrumpelt, um sich zu rühren, und stand nur da, während das Obst schmerzhaft auf ihren Oberschenkeln zerplatzte. Lachend und offensichtlich unheimlich zufrieden mit seiner Leistung sprang der Affe auf und ab und wedelte dabei wild mit den Gliedmaßen.

Sie wusste, was das Vieh dachte: Haha, du kannst gar nichts machen. Das war zu viel. Ausgeraubt und im Stich gelassen, und dann auch noch von einem Affen angegriffen, der Pitcher bei den Yankees hätte sein können. Mit den Nerven am Ende, hob sie eine der Früchte auf, gönnte sich zwei köstliche Bissen, hielt inne, gönnte sich noch zwei und schleuderte dann die Reste des Obsts auf den Affen. Zielsicher traf sie ihr Opfer am Ohr. Das wischte ihm das Lächeln aus dem Gesicht.

„Ich kann also nichts machen, ja? Tja, nimm das, du stinkendes Fellknäuel.“

Ihr Triumph war nur von kurzer Dauer. Im nächsten Augenblick prasselten aus allen Richtungen Früchte auf sie ein. Überall in den Baumkronen hockten Affen! Grace sah ein, dass sie hoffnungslos unterlegen war, schnappte sich so viel Obst, wie sie tragen konnte, und nahm die Beine in die Hand. Rannte, ohne zu wissen, wohin. Rannte, bis sie glaubte, ihre Lungen würden jeden Moment kollabieren.

Als sie sich schließlich in Sicherheit wähnte, lief sie langsamer, holte tief Luft und biss in ihre Beute. Holte noch einmal Luft und nahm noch einen Bissen von dem Obst, und immer so weiter im Wechsel. Als der süße Saft durch ihre Kehle rann, seufzte sie genüsslich.

Das Leben ist schön, dachte sie.

Bis eine weitere Stunde verstrichen war. Bis dahin hatte ihr Körper vergessen, dass sie überhaupt etwas zu sich genommen hatte, und Lethargie überfiel sie, bis sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ihre Knochen schienen sich zu verflüssigen, und ihr Mund war trockener als Sand. Doch sie ging weiter, sagte mit jedem Schritt ein Mantra in ihrem Kopf auf. Finde. Alex. Finde. Alex. Finde. Alex. Er war irgendwo hier draußen, auf der Suche nach diesem dämlichen Portal, ohne auch nur den blassesten Schimmer davon zu haben, dass sie hier war. Warum hatte er nicht an den Koordinaten sein können, an denen er seinem Tagebuch zufolge hätte sein sollen? Wo zum Teufel war er?

Je länger sie durch den Dschungel streifte, desto mehr verlief sie sich. Die Bäume und Lianen verdichteten sich, genau wie die Dunkelheit. Wenigstens verflüchtigte sich der Fäulnisgeruch, bis nichts als eine sinnliche Ahnung von wilden Helikonien und taubenetzten Orchideen in der Luft zurückblieb. Aber wenn sie nicht bald einen Unterschlupf fand, würde sie zusammenbrechen, wo auch immer sie sich gerade befand, der Natur hilflos ausgeliefert. Auch wenn sie mit den Impfungen auf dem neuesten Stand war, verabscheute sie Schlangen und Insekten weit mehr als Hunger und Erschöpfung.

Einige Meter, einen Tapir und zwei Capybaras weiter war sie nicht wirklich vorangekommen. Ihre Arme und Beine waren mittlerweile bleischwer, und sie ließ sich kraftlos zu Boden sinken. Wie sie dort so lag, drang das sanfte Singen der Insekten an ihre Ohren und … das leise Plätschern von Wasser? Sie blinzelte und horchte genauer hin. Ja, stellte sie aufgeregt fest. Sie hörte tatsächlich das herrliche Rauschen von Wasser.

Hoch mit dir, befahl sie sich. Hoch jetzt, los, los, los!

Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, stemmte sich auf Hände und Knie hoch und kroch in ein dichtes Gewühl von Pflanzen, wo das Geräusch herkam. Um sie herum pulsierte das Leben des Waldes und verhöhnte ihre Schwäche. Vor ihr teilten sich leuchtend grüne feuchte Blätter, und der Boden wurde nasser und nasser, bis er in eine unterirdische Quelle mit klarem, türkisfarbenem Wasser überging.

Zitternd vor Durst formte sie eine Schale mit den Händen, schöpfte das kühle, himmlische Nass und trank in großen Schlucken. Jeder frische, köstliche Tropfen war eine Wohltat für ihre spröden Lippen … Bis sich ein Brennen in ihrer Brust ausbreitete, das sich so anfühlte, als würde sie Lava schlucken. Bloß dass die Empfindung von außerhalb ihres Körpers kam, nicht von innen.

Die Hitze wurde so unerträglich, dass Grace aufschrie und hochfuhr. Ihr Blick blieb an dem Medaillon hängen, das an der silbernen Kette um ihren Hals baumelte. In beiden Drachenköpfen glühten die rubinbesetzten Augen in einem strahlenden, unheimlichen Rot.

Hastig versuchte sie, sich die Kette über den Kopf zu ziehen, wurde jedoch unvermittelt von einer unsichtbaren Kraft nach vorn gezogen. Wild um sich schlagend, brach sie durch eine dichte Wand aus Pflanzen. Das Licht wich einer gedämpften Dunkelheit, während sie keuchend und strampelnd mehrere Meter weitergezerrt wurde, bevor sie endlich zum Stehen kam und das Medaillon an ihrer Brust wieder erkaltete.

Ihre Augen weiteten sich, als sie ihre neue Umgebung musterte. Irgendwie war sie in eine Art Höhle geraten. Tropf, tropf. Wasser tröpfelte auf den felsigen Boden. Vor Erleichterung wurden ihr die Knie weich, als eine herrlich kühle Brise ihr Gesicht küsste. Die Stille der Umgebung strömte in sie hinein, half dabei, ihren hämmernden Herzschlag und ihren schweren Atem zu beruhigen.

„Jetzt brauche ich nur noch die Dosenbohnen und den Kaffee aus meinem Rucksack, und dann kann ich glücklich sterben.“

Zu erschöpft, um sich darum zu scheren, was sie drinnen erwarten mochte – und vielleicht nur darauf wartete, dass ein leckerer Mensch sich hierher verirrte –, stolperte sie tiefer in den Durchgang, der steil abfiel. Die Decke wurde niedriger, je weiter sie in die Dunkelheit vordrang, bis Grace sich bücken und schließlich sogar auf Knien weiterkriechen musste. Wie lange, wusste sie nicht. Minuten? Stunden? Sie wusste nur, dass sie eine trockene, ebene Fläche zum Schlafen finden musste. Plötzlich drang ein Lichtstrahl durch das Dunkel, lugte lockend um die Ecke. Sie folgte seinem Ruf.

Und entdeckte das Paradies.

Strahlendes Licht fiel auf ein kleines Becken voll … Wasser? Die eisblaue Flüssigkeit wirkte dicker als Wasser, beinahe wie ein transparentes Gel. Doch statt am Boden zu liegen, hing das Becken aufrecht da, leicht nach vorn geneigt wie ein Gemälde an der Wand. Da war nur keine Wand, an der etwas hätte hängen können.

Warum läuft da nichts über? fragte sie sich benommen. In ihrem umnebelten Hirn ergab der bizarre Anblick keinen Sinn. Zarte Nebelschwaden umhüllten diese Oase der Stille. Einige streckten sich wie Fühler bis zur Decke der Höhle, wirbelnd und kreisend, bevor sie wieder herabschwebten.

Ihr entfuhr ein nervöses Lachen, und das Geräusch hallte von überallher wider.

Vorsichtig streckte Grace die Hand aus, um die seltsame Substanz zu untersuchen. Bei der Berührung durchfuhr sie ein heftiger Stich, und es fühlte sich an, als würde sie in ein Vakuum gesogen, das von allen Seiten zugleich an ihr zog und zerrte.

Die Welt brach auseinander, Stück für Stück, bis sie schließlich aufhörte zu existieren. Entsetzen machte sich in Grace breit, überrollte sie. Sie fiel, stürzte hinab in die Leere. Mit ausgestreckten Armen suchte sie verzweifelt nach einem festen Halt, doch ihre Handflächen trafen auf nichts Greifbares.

Schreie durchdrangen die Stille. Schrille Schreie, als würden tausend kreischende Kinder um sie herum toben. Sie hielt sich die Ohren zu, um das Geräusch auszusperren. Doch das Geschrei wurde nur noch lauter. Durchdringender.

„Hilfe!“, rief sie verzweifelt.

Um sie herum barsten Sterne wie ein Feuerwerk, und sie wurde wild umhergewirbelt. Übelkeit ergriff in Wogen von ihr Besitz.

Plötzlich legte sich Stille über alles.

Ihre Füße berührten eine harte Fläche, und sie schwankte, fiel aber nicht. Langsam ebbte die Übelkeit ab. Vorsichtig schob sie die Füße tastend über den Boden, um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich auf festem Untergrund stand.

Ein. Aus. Erleichtert holte sie tief Luft und ließ sie langsam wieder entweichen. Ein. Aus. Als sich der Aufruhr in ihrem Inneren gelegt hatte, öffnete sie die Augen einen Spaltbreit. Noch immer stieg Nebel von dem Becken empor wie glitzernder Feenstaub. Das Einzige, was die Schönheit dieses Anblicks störte, war die Düsternis der Höhle – einer Höhle, die sich deutlich von der unterschied, die Grace zuerst betreten hatte.

Unwillkürlich runzelte sie die Stirn. Hier waren die Wände von seltsamen farbigen Zeichen bedeckt. Und … waren das Blutspritzer dazwischen? Erschaudernd wandte sie den Blick ab. Der Boden war feucht, übersät von seltsam geformten Zweigen, Steinen und Stroh. In einer Ecke standen einige grob zusammengezimmerte Stühle.

Anstelle der elenden feuchten Hitze des Dschungels atmete sie plötzlich eine Luft so kalt wie Eis. Die Wände der Höhle waren höher und breiter. Und als sie hier gelandet war, hatte das Becken sich zu ihrer Rechten befunden, nicht links.

Wie hatte ihre Umgebung sich so abrupt und so drastisch verändern können, obwohl Grace sich nicht von der Stelle gerührt hatte? Sie erbebte. Was ging hier vor? Ein Traum oder eine Halluzination konnte es nicht sein. Dafür war es zu real, zu beängstigend. War sie tot? Nein. Das hier war ganz sicher nicht der Himmel, und für die Hölle war es zu kalt.

Was also war passiert?

Bevor sie sich mit der Frage befassen konnte, knackte ein Zweig, und Grace riss den Kopf herum. Ihr Blick traf auf den zweier eisblauer Augen, die kalt auf sie herabblickten. Überwältigt schnappte sie nach Luft. Der Eigentümer dieser außergewöhnlichen Augen war der maskulinste Mann, den sie je gesehen hatte. Von seiner linken Augenbraue zog sich eine Narbe bis hinab zum Kinn. Seine Wangenknochen über dem kantigen Kiefer waren scharf geschnitten, und das einzig Weiche an seinem Gesicht war sein herrlich voller Mund, der ihm auf eigenartige Weise die hypnotische Schönheit eines gefallenen Engels verlieh.

Riesig ragte er vor ihr auf, mindestens eins fünfundneunzig groß und ein schierer Muskelberg. Sein nackter Oberkörper gestattete ihr einen großzügigen Blick auf einen Sixpack. Der Nebel umspielte ihn und setzte sich in schimmernden Perlen auf seiner gebräunten, tätowierten Brust ab.

Diese Tattoos glühten, doch nicht nur das: Sie wirkten lebendig. Ein Drache breitete seine roten Flügel aus und schien geradewegs aus seiner Haut herauszufliegen, wie ein 3-D-Bild, das zum Leben erwacht war. Der Schwanz des Drachen zog sich bis unter den Bund der schwarzen Lederhose ihres Gegenübers. Um den Körper des Tiers wanden sich schwarze Runen, die sich über sein Schlüsselbein und um seine Oberarme herum erstreckten.

Der Mann selbst wirkte noch wilder als der Drache auf seiner Haut. In der rechten Hand hielt er ein langes, bedrohliches Schwert.

Eine Woge der Angst durchströmte sie, doch das hielt sie nicht davon ab, ihn anzustarren. Bei seinem Anblick kam ihr ein eingesperrtes wildes Tier in den Sinn. Bereit, anzugreifen. Alles an ihm schrie nach Gefahr – von seinen kristallklaren Raubtieraugen bis hin zu den Messern, die an seinen Stiefeln befestigt waren.

Mit einer lässigen Bewegung des Handgelenks wirbelte er das Schwert um seinen Kopf.

Langsam wich sie zurück. Er hatte ja wohl nicht vor, das Ding zu benutzen. Oh Gott, er hob es höher, als wollte er tatsächlich … „Okay, Moment mal.“ Sie brachte ein zittriges Lachen zustande. „Steck das lieber weg, bevor du noch jemanden verletzt.“ Mich zum Beispiel.

Er wirbelte die tödliche Waffe erneut. Die Muskeln seines Waschbrettbauchs tanzten unter seiner Haut, als er auf sie zukam und das scharfe Metall mit starker, sicherer Hand durch die Luft schneiden ließ. In seiner Miene war nicht der Hauch einer Emotion zu erkennen. Kein Zorn, keine Furcht, keine Bosheit – nichts, das Grace verriet, warum er es für nötig hielt, hier vor ihr Schwertkampftechniken zu trainieren.

Er starrte sie an. Sie starrte zurück und redete sich ein, es läge nur daran, dass sie zu viel Angst hatte wegzusehen.

„Ich will dir nichts Böses“, brachte sie krächzend hervor. Unendlich langsam strich die Zeit dahin, in der er keine Antwort von sich gab.

Entsetzen packte sie, als sein Schwert auf ihren Hals zuraste. Er würde sie umbringen! Instinktiv riss sie die Pistole aus ihrem Hosenbund. Ihr angehaltener Atem brannte in ihrer Kehle, als sie den Abzug drückte. Klick, klick, klick.

Nichts geschah.

Scheiße. Scheiße! Das Magazin war leer. Grace musste all ihre Kugeln an den Mistkerl von einem Führer vergeudet haben. Mit bebenden Händen hielt sie die Waffe auf den Mann gerichtet, während sich Entsetzen um sie legte wie die Kälte eines Schneesturms. Ihr Blick suchte die Höhle nach einem Fluchtweg ab. Der Nebel war der einzige Ausgang, doch den Weg dorthin versperrte jetzt der große, kräftige Körper des wilden Kriegers.

„Bitte“, wisperte sie. Was sonst hätte sie auch tun oder sagen sollen?

Entweder verstand der Mann sie nicht oder ihm war egal, was sie sagte. Sein scharfes tödliches Schwert näherte sich unerbittlich ihrem Hals.

Grace kniff fest die Augen zusammen.

3. KAPITEL

Darius stieß einen scharfen Fluch aus und ließ sein Schwert dicht vor der Frau vorbeisausen, ohne sie damit zu berühren. Durch die Bewegung tanzte ein zarter Luftzug durch die Strähnen ihres roten Haars. Die Tatsache, dass er die Farbe tatsächlich wahrnahm – ein karminrotes Leuchtfeuer, das ihre Schultern umspielte –, brachte ihn weit genug aus der Fassung, dass er davor zurückschreckte, die Eigentümerin einer solchen Pracht auszulöschen.

Er bezwang seinen Schock und umklammerte die Waffe an seiner Seite, versuchte, seine Gliedmaßen dazu zu bringen, ihr Werk der Zerstörung zu tun. Versuchte, eisige Entschlossenheit in seine Blutbahn zu zwingen und jeden Gedanken an Gnade oder Bedauern weit wegzuschieben. Er wusste, was er zu tun hatte. Zuschlagen. Zerstören.

Das hatte er geschworen.

Aber ihr Haar … Er weidete sich an der ersten Wahrnehmung von Farbe seit über dreihundert Jahren. Es juckte ihn in den Fingern, sie zu berühren. Seine Sinne gierten danach, sie zu erforschen. Er hätte diesen Drang verfluchen sollen. Er hatte schließlich gewollt, dass diese Sinne verkümmerten. Doch bei ihrem Anblick hatte er an die Familie denken müssen, die er einst geliebt hatte, und seine Entschlossenheit war ins Wanken geraten. Dieser winzige Riss in der Oberfläche hatte gereicht, um seine Sinne zum Leben zu erwecken.

Töte sie, forderte sein Verstand. Tu es!

Er presste die Kiefer zusammen, und sein ganzer Körper spannte sich an. In seinem Kopf hallte die Stimme seines Mentors wider: „Reisende zu töten ist deine Pflicht. Sie zu töten ist dein Privileg.“

Es gab Momente wie diesen, in denen er die Dinge verabscheute, die er tat, doch nie zuvor hatte er gezögert, das zu tun, was notwendig war. Er hatte einfach weitergemacht, Mord für Mord, denn er hatte gewusst, dass es für ihn keine Alternative gab. Der Drache in ihm hatte schon vor langer Zeit seine sterbliche Seite überwältigt. Er hatte zwar ein Gewissen, doch das war kläglich verkümmert in all den Jahren, die er es ignoriert hatte.

Warum also zögerte er jetzt, bei dieser Reisenden? Er musterte sie. Auf jedem Zentimeter ihrer Haut tanzten Sommersprossen, und eine Spur von Dreck zog sich über ihren Kiefer. Ihre Nase war klein und schmal, ihre Wimpern dicht, rußschwarz und so lang, dass sie Schatten über ihre Wangen warfen. Langsam öffnete sie die Augen, und scharf sog er den Atem ein. Ihre Augen waren grün, durchzogen von blauen Sprenkeln, und Entschlossenheit und Angst sprachen aus ihrem Blick. Diese neuen Farben hypnotisierten ihn, verzauberten ihn. Riefen sämtliche Beschützerinstinkte in ihm auf den Plan. Schlimmer noch …

Es hätte nicht sein dürfen, doch in ihm ballte sich Begehren zusammen, eine Empfindung, die sich nicht zurückdrängen lassen wollte.

Als der Frau aufging, dass die Spitze seines Schwerts auf den Boden zeigte, ging sie beinahe unmerklich in die Knie und umklammerte dabei einen seltsam geformten Metallgegenstand. Sie fürchtete sich zwar, zeigte ihm aber mit dieser Angriffsstellung, dass sie sich mit aller Kraft gegen ihn zur Wehr setzen würde, um zu überleben.

Konnte er eine solche Tapferkeit wirklich auslöschen?

Ja. Das musste er.

Und er würde es tun.

Vielleicht war er tatsächlich die herzlose Bestie, als die Tagart ihn dargestellt hatte. Nein, das kann nicht sein, dachte er im nächsten Augenblick. Dieselben Taten, die ihn in etwas Böses verwandelten, machten ihn auch zu einem Bewahrer des Friedens und dienten dem Schutz all jener, die in Atlantis lebten.

Es gab keinen anderen Weg.

Und doch fühlte er sich wie eine Bestie, als er diesen jüngsten Eindringling so betrachtete, sie wirklich ansah. Sie wirkte so arglos, so engelhaft, und eine unbekannte Emotion regte sich in ihm. Besorgnis? Bedauern? Scham?

Eine Kombination aus allen dreien?

Das Gefühl war so neu, dass er Schwierigkeiten hatte, es zu identifizieren. Was unterschied diese Reisende so sehr von allen anderen, dass er zögerte – und, bei den Göttern, sogar Verlangen verspürte? Die Tatsache, dass sie wirkte wie eine zarte Feenkönigin? Oder dass sie all das ausstrahlte, wonach er sich insgeheim immer gesehnt hatte – Schönheit, Sanftheit und Freude –, während er gleichzeitig wusste, dass ihm das jedoch nie vergönnt sein würde?

Unwillkürlich nahm er ihren Anblick in sich auf. Hochgewachsen war sie nicht, doch ihre königliche Haltung verlieh ihr den Anschein von Größe. Ihre Haut war dreckverschmiert und schweißüberströmt, was ihrer Anziehungskraft aber keinerlei Abbruch tat. Enge Kleider schmiegten sich perfekt um ihre üppigen Kurven und unterstrichen ihre Schönheit.

Weitere unerwünschte Empfindungen durchströmten ihn, undefinierbare Empfindungen. Verhasste Empfindungen. Er hätte nichts fühlen sollen, hätte gleichgültig bleiben sollen. Doch er fühlte; war nicht gleichgültig. Er sehnte sich danach, mit den Fingerspitzen über ihren Körper zu fahren, sich in ihrer Weichheit zu verlieren, in dem bunten Strahlen zu baden, das sie umgab. Gierte danach, sie zu kosten, alles von ihr zu schmecken und den Geschmack der Leere zu vertreiben.

„Nein“, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr. „Nein.“

Er musste sie töten.

Sie hatte das Gesetz des Nebels gebrochen.

Vor vielen Jahren hatte ein Wächter seine Pflicht nicht erfüllt, hatte Atlantis nicht beschützt und damit den Tod vieler Menschen verursacht – Menschen, die Darius geliebt hatte. Er konnte, würde nicht einmal dieser Feenkönigin gestatten zu überleben.

Erfüllt von diesem Wissen blieb Darius trotzdem reglos stehen. In seinem Inneren kämpfte seine kalte, harte Logik mit seinem wilden männlichen Hunger. Hätte die Frau doch wenigstens den Blick abgewandt … Doch Sekunden dehnten sich zu Minuten, und ihre Augen blieben auf ihn gerichtet, musternd. Vielleicht sogar anerkennend.

In einem verzweifelten Versuch, ihren Bann zu brechen, forderte er: „Wende den Blick ab, Weib.“

Langsam, unendlich langsam schüttelte sie den Kopf, wobei rote Strähnen um ihre Schläfen wehten. „Tut mir leid. Ich verstehe dich nicht.“

Selbst ihre Stimme war unschuldig, weich und melodisch, eine Liebkosung für seine Sinne. Und doch hatte er keinen Schimmer, was sie gesagt hatte.

„Verdammt noch mal“, murmelte er.

Er befahl sich noch, ihr gegenüber gleichgültig zu bleiben, während er schon sein Schwert in die Scheide schob und den Abstand zu ihr überbrückte. Es gab keinen Grund, zu tun, was er gleich tun würde, doch er konnte nicht anders. Sein Handeln war nicht länger kontrolliert von seinem Verstand, sondern beherrscht von einer Macht, die er weder verstand noch anerkennen wollte.

Sie schnappte nach Luft, als er sich ihr näherte. „Was tust du da?“

Ohne zu antworten, drängte er sie zurück, pferchte sie ein, bis sie an die felsige Wand stieß. Noch immer hielt sie den Metallgegenstand auf ihn gerichtet, und das alberne Ding klickte wieder und wieder. Glaubte sie wirklich, mit so einem nutzlosen Apparat könnte sie sich gegen einen Drachenkrieger verteidigen? Mühelos nahm er ihr das Ding ab und warf es über die Schulter hinter sich. Doch sie gab sich nicht geschlagen, sondern schlug und trat nach ihm wie ein rasender Dämon.

Er packte sie bei den Handgelenken und hielt ihre Arme über ihrem Kopf fest. „Hör auf damit“, befahl er. Als sie sich weiter wand, seufzte er und wartete einfach, bis ihre Kräfte sie verlassen würden. Es vergingen nur wenige Minuten, bis ihre Bewegungen langsamer wurden und schließlich ganz aufhörten.

„Dafür kommst du ins Gefängnis“, keuchte sie nach Luft ringend.

Warm liebkoste ihr Atem seine Brust, und die berauschende Süße darin stahl sich in seinen Kopf. Eine weitere sanfte Erinnerung an die Familie, die er nie ganz aus seinen Gedanken verdrängen konnte. Beinahe wäre er vor ihr zurückgezuckt, doch ihn hüllte der Duft von Angst und Orchideen ein. Schon so lange hatte er nichts als Asche gerochen – so lange, dass er nicht anders konnte, als in diesem neuen Duft zu baden. Tief einatmend drückte er sich an sie, berührte ihren Körper mit seinem, löschte jede Andeutung von Abstand zwischen ihnen aus. Das überwältigende Bedürfnis, sie zu berühren, egal welchen Teil von ihr, ließ ihn einfach nicht los.

Sie erschauerte. Wegen der Kälte? fragte er sich. Oder weil sie ein Verlangen verspürte, das ähnlich aufwühlend war wie seines? Durch ihr Oberteil hindurch spürte er ihre aufgerichteten Brustwarzen an seinen Rippen, eine erotische Liebkosung, und als er sah, wie sie an ihrer weichen Unterlippe knabberte, wurde seine Lust auf sie zu einem tosenden Sturm. Einem so intensiven Sturm, dass er sich anfühlte wie eine übernatürliche Präsenz. Pochend, heiß und verzehrend strömte sein Drachenblut in seinen Schwanz.

Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln voller Selbstverachtung. Sobald ihm klar wurde, dass er wahrhaftig lächelte, runzelte er jedoch die Stirn. Was hätten seine Männer gelacht, hätten sie dieses zarte Wesen zur Siegerin ihres Wettstreits krönen dürfen. Doch das war ihm seltsamerweise egal. Bei den Göttern, nie zuvor hatte er etwas so Perfektes, so Richtiges gespürt.

Blinzelnd sah seine Gefangene auf, und ihre Blicke trafen aufeinander. Wären in diesem Augenblick sichtbare, weißglühende Funken der Erkenntnis um sie herum aufgesprüht, es hätte ihn nicht überrascht.

Diese Frau ist der Feind, rief er sich in Erinnerung, biss die Zähne zusammen und bewegte sein Becken, sodass seine Erektion auf sicherem Abstand zu ihr blieb.

„Die Ohren sind offen, der Geist ist klar“, presste er hervor. „Wir verstehen einander, ob fern oder nah. Meine Worte sind deine – deine Worte sind meine. So binde ich uns. Von jetzt an bis in alle Zeit.“

Aufmerksam behielt er sie im Blick und fragte: „Verstehst du mich jetzt?“

„Ja – ja, tatsächlich!“ Ihre Augen wurden groß, und erneut verdunkelten sie sich alarmiert. Mehrere Male öffnete und schloss sie den Mund, während sie darum kämpfte, eine zusammenhängende Antwort zu formulieren. „Wie?“, war alles, was sie schließlich zustande brachte. Ihre Stimme klang erstickt. Dann wiederholte sie etwas sicherer: „Wie?“

„Ich habe einen Verstehenszauber über deinen Geist gelegt.“

„Zauber? Nein, nein. So was gibt es nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich spreche drei Sprachen, und für jede davon musste ich hart arbeiten. Was hast du mit mir gemacht? Was hast du mit meinem Gehirn angestellt?“

„Das habe ich dir bereits erklärt.“

„Dann nimm die Wahrheit eben mit in dein Grab.“ Sie lachte, ein Laut, der eher verzweifelt als erheitert klang. „Das spielt sowieso alles keine Rolle. Morgen früh wache ich auf und stelle fest, dass das alles nur ein furchtbarer Albtraum war.“

Nein, das wirst du nicht, dachte er und hasste sich in diesem Moment mehr als je zuvor. Wenn der nächste Morgen dämmerte, würde sie nie wieder erwachen. „Du hättest nicht herkommen sollen, Weib“, sagte er. „Bedeutet dir dein Leben denn gar nichts?“

„Soll das eine Drohung sein?“ Sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden. „Lass mich los.“

„Hör auf, dich zu wehren. Damit presst du dich nur noch enger an mich.“

Augenblicklich hielt sie still.

„Wer bist du?“, verlangte er zu wissen.

„Eine amerikanische Staatsbürgerin, und ich kenne meine Rechte. Du kannst mich nicht gegen meinen Willen hier festhalten.“

„Ich kann tun, was immer mir beliebt.“

Ihr wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht, als ihr dämmerte, dass er unbestreitbar die Wahrheit sagte.

Ihren Tod so hinauszuzögern ist grausam, herrschte sein Gewissen ihn an. Schließ die Augen und schlag zu.

Wieder einmal handelten sein Geist und sein Körper völlig unabhängig voneinander. Unwillkürlich ließ er sie los und trat einen Schritt zurück. Sie machte einen Satz von ihm weg, als wäre er ein widerlicher Blutsauger oder einer der grausam missgestalteten Formorier.

Mit aller Macht konzentrierte er sich auf ihre Vernichtung, sah überallhin, nur nicht in ihre rätselhaften meergrünen Augen, dachte an alles außer ihr wildes, bewundernswertes Temperament. Ihr Oberteil war am Kragen eingerissen und klaffte auseinander, sodass der Ansatz zweier perfekter Brüste sichtbar war, eingehüllt in blassrosa Spitze. Wieder glomm Begierde in ihm auf. Bis sein Blick an den zwei rubinroten Augenpaaren hängen blieb, die in ihrem Dekolleté ruhten.

Ihm stockte der Atem, als er das Schmuckstück genauer betrachtete. Das war doch sicher kein … Das konnte unmöglich …

Doch das war es.

Sein Gesicht verfinsterte sich, und er ballte die Fäuste so fest, dass seine Knochen zu brechen drohten. Wie war diese Frau in den Besitz eines so geheiligten Talismans gekommen? Jedem Drachenkrieger wurde ein solcher Ra-Dracus – ein Drachenfeuer – verliehen, sobald er das Mannesalter erreichte, und dieses Geschenk legte ein Krieger niemals ab, so lange er lebte. Die Runen am unteren Rand dieses Medaillons kamen ihm bekannt vor, doch er konnte sich nicht entsinnen, wem es gehörte.

Jedenfalls nicht dieser Frau, so viel wusste er. Sie war kein Drache, noch war sie eine Tochter von Atlantis.

Tiefe Falten gruben sich in seine Stirn. Derselbe Eid, der von ihm verlangte, sie zu töten, zwang ihn ironischerweise, sie am Leben zu lassen, bis sie erklärt hatte, woher und warum sie das Medaillon hatte. Darius streckte die Hand aus, um es ihr abzunehmen. Erschrocken schlug sie ihm auf den Handrücken und wich hastig zurück.

„W-was machst du da?“, fragte sie fordernd.

„Gib mir das Medaillon.“

Doch sie kuschte nicht vor seinem schneidenden Tonfall, wie es die meisten anderen getan hätten. Genauso wenig beeilte sie sich, ihm zu gehorchen. Nein, mit unnachgiebigem Mut hielt sie seinem Blick stand. Vielleicht war es aber auch einfach nur Dummheit.

„Komm ja nicht näher“, warnte sie ihn.

„Du trägst das Zeichen eines Drachen“, fuhr er fort. „Und du, Weib, bist kein Drache. Gib mir das Medaillon.“

„Das Einzige, was ich dir gebe, ist ein Tritt in den Hintern, du dreckiger Dieb. Bleib, wo du bist.“

Er maß sie mit einem eindringlichen Blick. Sie war defensiv und verängstigt. Keine gute Kombination, wenn er Antworten von ihr wollte. Beinahe hätte er geseufzt. „Man nennt mich Darius“, erklärte er. „Besänftigt das deine Ängste?“

„Nein – nein, tut es nicht.“ Im Widerspruch zu ihren Worten entspannten ihre Muskeln sich leicht, aber sichtlich. „Die Kette ist von meinem Bruder. Das ist im Moment meine einzige Verbindung zu ihm, und ich gebe sie auf keinen Fall her.“

Darius rieb sich mit einer Hand übers Gesicht. „Wie ist dein Name?“

„Warum willst du das wissen?“

„Wie ist dein Name?“, wiederholte er. „Vergiss nicht, wer hier das Schwert in der Hand hält.“

„Grace Carlyle“, gab sie zögerlich preis.

„Wo befindet dein Bruder sich im Augenblick, Grace Carlyle?“ Mühelos ging ihm ihr Name über die Lippen. Zu mühelos. „Ich will mit ihm sprechen.“

„Ich weiß nicht, wo er ist.“

Und es gefiel ihr nicht, dass sie das nicht wusste, ging ihm auf, als er die Sorge in ihren Augen sah. „Das macht nichts“, erwiderte er. „Auch ihm gehört das Medaillon nicht. Es gehört einem Drachen, und du wirst es mir zurückgeben.“

Für einen langen Moment musterte sie ihn stumm, dann schenkte sie ihm ein strahlendes, wenn auch etwas sprödes Lächeln. „Du hast recht. Du kannst es haben. Gib mir eine Sekunde, um es abzunehmen.“ Sie hob die Arme, als hätte sie genau das vor, was sie gesagt hatte – es abzunehmen. Doch im nächsten Augenblick schoss sie nach vorn und auf den Nebel zu. Darius griff nach ihr und riss sie zurück an seinen harten Körper. Sie keuchte bei dem Aufprall.

Hätte er nicht so schnelle Reflexe gehabt, hätte er sie verloren.

„Du wagst es, dich mir zu widersetzen?“, fragte er perplex. Als Herr über diesen Palast war er es gewohnt, dass jedem seiner Befehle Folge geleistet wurde. Nun ja, jedenfalls bis heute, bis zu diesem Spiel seiner Männer. Dass diese Frau ihm den Gehorsam verwehrte, war ein Schock, und doch steigerte es ihre Anziehungskraft nur noch. Sie war keine Kriegerin, hatte ihm nichts entgegenzusetzen.

„Lass mich los!“

Unbeirrt hielt er sie fest. „Widerstand ist zwecklos und zögert das Unvermeidliche nur hinaus.“

„Und was soll das sein?“ Statt sich zu beruhigen, rammte sie ihm die Ellbogen in die Magengrube. „Was zum Teufel ist denn so unvermeidlich?“

Er wirbelte sie herum und hielt mit einer Hand ihre Handgelenke in eisernem Griff hinter ihrem Rücken fest, presste sie an sich, Brust an Brust, hart auf weich.

„Halt still!“, schrie er. Dann blinzelte er. Er hatte geschrien? Ja, er hatte wahrhaftig die Stimme erhoben.

Erstaunlicherweise hielt sie tatsächlich still. Ihr Atem ging schnell und flach. In der sich ausbreitenden Stille hörte er ihren Herzschlag, ein stakkatoartiger Rhythmus, der in seinen Ohren widerhallte. Mit schmalen Augen starrten sie einander an, und keiner von ihnen schien den Blick abwenden zu können. Unbeachtet verstrichen die Minuten.

„Bitte“, flüsterte sie schließlich, und er war sich nicht sicher, ob sie ihn bat, sie loszulassen oder sie fester an sich zu ziehen.

Mit der freien Hand strich er über die samtige Haut an ihrem Hals, dann strich er sachte ihr Haar beiseite. Ihre Hitze lud ihn ein, zu verweilen, und er kämpfte gegen den Drang, mit beiden Händen jede weiche Stelle ihres Körpers zu erforschen, von ihren üppigen Brüsten bis hin zu ihrem flachen Bauch. Von den erotischen Kurven ihrer Hüfte bis zu der heißen Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen.

War sie die Art Frau, die seine animalische Leidenschaft annehmen und erwidern würde? Oder wäre er zu viel für sie?

Die Vorstellung ging ihm durch Mark und Bein, und mit einem heftigen Kopfschütteln versuchte er, sie zu vertreiben. Ob Grace mit ihm umgehen könnte oder nicht, spielte keine Rolle. Er würde diese Frau nicht in sein Bett holen.

Und doch …

Nur allzu leicht konnte er sich Grace nackt in seinem Bett vorstellen, ihr Körper seinen hungrigen Blicken ausgeliefert. Die Arme ausgebreitet, nur auf ihn wartend. Verführerisch würde sie ihn anlächeln, und Zentimeter für Zentimeter würde er sich über sie schieben, jede Kurve und Kuhle an ihrem Körper mit der Zunge liebkosen, sie genießen, wie er noch keine andere genossen hatte – und wie noch keine andere ihn genossen hatte –, bis sie beide nicht mehr konnten.

Bei dieser Fantasie mischte sich Zärtlichkeit in seine Begierde, und beide Empfindungen fachten einander immer weiter an, während sie durch ihn hindurchströmten.

Mit Begierde konnte er leben. Aber nicht mit Zärtlichkeit. Jahrelang hatte er versucht, seine körperlichen Bedürfnisse zu unterdrücken, war jedoch zu der Erkenntnis gelangt, dass das unmöglich war. Also hatte er begonnen, sich ab und an eine Frau zu gestatten, sie hart und schnell zu nehmen und danach rasch wieder zu verschwinden. Er küsste nicht, kostete nicht. Er nahm sie mit purer Gleichgültigkeit – eine leicht zu vergessende Begegnung.

Dieselbe Gleichgültigkeit brauchte er auch jetzt, was bedeutete, dass er sich gegenüber Graces Anziehungskraft verschließen musste. Mit diesem Entschluss fest in seinen Gedanken verwurzelt, löste er rasch den Verschluss der Kette um ihren Hals.

„Gib das wieder her“, forderte sie und fing an, sich gegen seinen Griff zu wehren. „Das gehört mir.“

„Nein. Es gehört mir.“

Ihr Blick wurde tödlich giftig.

Ohne sie aus den Augen zu lassen, legte Darius sich das Medaillon um den Hals, wo es klirrend gegen sein eigenes Ra-Dracus stieß. „Ich habe viele Fragen an dich, und ich erwarte, dass du sie alle beantwortest“, beschied er ihr. „Wenn du auch nur einmal die Unwahrheit sprichst, wirst du es bereuen. Ist das klar?“

Ihr entwich ein erstickter Atemhauch.

„Hast du verstanden?“, beharrte er.

Die Augen weit aufgerissen, nickte sie langsam.

„Dann beginnen wir jetzt. Du wolltest das Medaillon deinem Bruder zurückgeben, oder? Warum? Was hat er damit vor?“

„Ich – ich weiß nicht.“

Log sie? Wenn man ihre engelhaften Züge so betrachtete, hätte man meinen können, sie hätte noch nie im Leben eine Unwahrheit über die Lippen gebracht. Beim Gedanken an ihre Lippen wanderte sein Blick dorthin. Sie hatte volle Lippen. Lippen, die wie dafür geschaffen waren, einem Mann Lust zu verschaffen. Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht, unsicher, was er glauben sollte. Er wusste allerdings, dass er sich auf keinen Fall hätte vorstellen sollen, wie diese Lippen an seinem Schaft auf und ab glitten, während ihr rotes Haar sich über seine Oberschenkel ergoss.

„Woher hat er es?“, presste Darius hervor.

„Ich weiß nicht“, antwortete sie entmutigt.

„Von wem hat er es?“

„Von seinem Boss.“

Seinem Boss … An Darius’ Kiefer zuckte ein Muskel. Das bedeutete, es waren noch mehr Oberweltbewohner in die Sache verwickelt. „Wie lange befindet sich das Medaillon schon in deinem Besitz?“

Für einen Moment schloss sie die Augen und schien im Stillen die Tage zu zählen. „Ein bisschen länger als eine Woche.“

„Weißt du, was das ist? Oder was es kann?“

„Das kann gar nichts“, gab sie stirnrunzelnd zurück. „Es ist bloß eine Halskette. Ein Schmuckstück.“

Eindringlich musterte er sie und versuchte, sie einzuschätzen. „Wie hast du dann den Nebel gefunden?“

Sie stieß den Atem aus. „Ich weiß es nicht, okay? Ich bin in diesem verdammten Dschungel herumgeirrt. Mir war heiß, und ich war müde und hungrig. Ich hab eine unterirdische Quelle und die Höhle entdeckt und bin reingekrochen.“

„Ist noch jemand mit dir in die Höhle gekommen?“

„Nein.“

„Bist du dir sicher?“

Wütend funkelte sie ihn an. „Ja, verflucht. Ich bin mir sicher. Ich war allein da draußen.“

„Wenn du lügst …“ Den Rest der Drohung ließ er ungesagt in der Luft hängen.

„Das ist die Wahrheit“, fauchte sie ihn an.

War es das? Er konnte es wirklich nicht sagen. Er wusste nur, dass er jedes Wort glauben wollte, das über ihre Lippen gekommen war. Er war zu gefangen genommen von ihrer Schönheit. Zu betört von ihrem Duft. Am besten hätte er sie hier und jetzt endlich umgebracht, doch er brachte es noch immer nicht über sich, ihr wehzutun. Noch nicht. Nicht, bis er etwas Zeit und Abstand gewonnen hatte, um sie im richtigen Licht betrachten zu können.

Ich bin ein Narr, dachte er. Darius packte sie bei der Taille und warf sie sich über die Schulter. Augenblicklich begann sie, um sich zu treten und zerkratzte ihm den Rücken.

„Lass mich runter, du Höhlenmensch von einem Arschloch!“ Schrill gellten ihre Schreie in seinen Ohren. „Ich hab deine Fragen beantwortet. Du musst mich gehen lassen.“

„Vielleicht werden deine Antworten etwas hilfreicher, wenn du ein wenig Zeit in meinen Gemächern verbracht hast. Etwas Besseres als ‚Ich weiß nicht‘ bekommst du sicherlich zustande.“

„Hilfreicher? Hilfreicher?! Hätte ich dir etwas anderes erzählt, hätte ich gelogen.“

„Wir werden sehen.“

Er marschierte die Stufen aus der Höhle hinauf und steuerte den Palast an. Noch immer wand sie sich und trat um sich, und unbeirrt hielt er sie mit beiden Armen fest. Sorgfältig achtete er darauf, seinen Männern aus dem Weg zu gehen, während er sie in sein Gemach trug. Dort angekommen, warf er sie auf die samtbedeckte Matratze und band ihre zappelnden Arme und Beine an die Bettpfosten. Sie so ausgestreckt auf seinem Bett zu sehen, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn und eine schmerzhafte Begierde in die Lenden. Er war steinhart. Bei den Göttern, er konnte sich jetzt nicht mit ihr auseinandersetzen, nicht wenn sie so … zum Vernaschen aussah. Ohne einen weiteren Blick in ihre Richtung wandte er sich ab und verließ den Raum. Die Tür glitt von allein hinter ihm zu.

Früher oder später würde die Frau sterben müssen … und zwar von seiner Hand.

4. KAPITEL

Als sie allein im Zimmer war, zog und zerrte Grace so lange an den Fesseln, bis sie ihre Handgelenke befreit hatte. Hastig schoss sie hoch und löste auch die Knoten an ihren Knöcheln. Alex hatte sie unzählige Male gefesselt, als sie noch klein gewesen waren, deshalb war das Befreien ein Kinderspiel für sie. Davon abgesehen hatte ihr Entführer die Knoten auch nicht allzu fest gebunden. Als hätte er sich davor gescheut, ihr wehzutun. Zittrig holte sie Luft, während ihr Blick durch das geräumige Gemach huschte und jedes Detail aufnahm. Abgesehen von dem herrlich weichen Bett, auf dem sie saß, war eine kunstvoll gestaltete Elfenbeintruhe das einzige Möbelstück im Raum. Dafür schillerten unendlich viele Farben an den mit Schnitzereien versehenen Ebenholzwänden wie Regenbogensplitter, gefangen in Onyx. Es gab einen Kamin aus hellem Marmor, leer und säuberlich ausgefegt. Der einzige Ausgang war eine Tür ohne Klinke.

Wo zum Teufel bin ich? fragte sie sich mit wachsender Panik. Tobend rauschten Angst und Adrenalin durch ihre Adern. Ein Mann, der sich solchen Luxus leisten konnte, hatte auch die Mittel für ein lückenloses Sicherheitssystem. Als sich ihr ein weiterer Gedanke aufdrängte, ballte sie die Fäuste um den saphirblauen Samtüberwurf. Ein Mann, der sich solchen Luxus leisten konnte, war auch in der Lage, eine Unschuldige zu entführen und zu foltern, ohne dafür Konsequenzen fürchten zu müssen.

Hastig sprang sie auf, versuchte aber, ihrer Angst Herrin zu werden. Alles wird gut. Alles wird gut. Sie musste bloß einen Weg hier rausfinden. Bevor er zurückkam. Sie rannte zur Tür und schob einen Fingernagel in den winzigen Spalt in der Mitte. Als das nicht fruchtete, drückte sie mit aller Kraft gegen die Türflügel, doch das dicke Elfenbein rührte sich keinen Zentimeter. Ihr entfuhr ein frustrierter Schrei. Aber was hatte sie auch erwartet? Als würde er ihr die Flucht so leicht machen.

Was sollte sie nur tun?

Es gab keine Fenster, durch die sie sich hätte hinauszwängen können. Und die Decke … Sie warf einen Blick nach oben und schnappte nach Luft. Die Decke bestand aus übereinandergeschichteten Kristallprismen, durch die das Licht in den Raum drang und die einen spektakulären Blick auf türkisblaues Wasser freigaben. Fische und andere Ozeanwesen – keine Meerjungfrauen, versicherte sie sich – glitten über sie hinweg.

Ich bin unter Wasser. Unter Wasser! Mit beiden Fäusten hämmerte sie gegen die Tür. „Lass mich raus hier, verdammt!“

Keine Antwort.

„Das ist illegal. Wenn du mich nicht rauslässt, nehmen sie dich fest, das schwöre ich dir. Und dann gehst du ins Gefängnis und wirst gezwungen, intime Bekanntschaft mit einem Mann namens Butch zu machen. Lass. Mich. Raus.“

Wieder kam keine Antwort. Ihr Hämmern geriet ins Stocken, dann hörte sie ganz damit auf. Sie lehnte die Wange an die kühle Tür. Wo zum Teufel bin ich? fragte sie sich ein weiteres Mal.

Etwas regte sich in ihrem Gedächtnis … Etwas, das sie gelesen hatte. In einem Buch oder einer Zeitschrift oder … Alex’ Tagebuch! Ihr rutschte das Herz in die Hose, und sie kniff die Augen zusammen, als ihr die volle Bedeutung dieser Erkenntnis aufging. Ihr Bruder hatte von einem Zugang von der Erde nach Atlantis geschrieben, einem Portal, das im Nebel lag. Ein leises „Oh“ entwich ihr, als ihr ein bestimmter Textabschnitt in den Sinn kam, der wie ein Puzzlestück an die richtige Stelle rutschte: Atlantis war nicht die Heimat einer außergewöhnlichen Menschenrasse, sondern beherbergte entsetzliche Kreaturen, wie man sie nur aus Albträumen kannte. Es war der Ort, an dem die Götter ihre schlimmsten Fehler verborgen hatten.

Ihr wurden die Knie weich, ihr Magen verkrampfte sich. Sie drehte sich um, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und sank daran hinab auf den kalten, harten Boden. Alles in Alex’ Tagebuch war wahr. Sie war durch den Nebel gefallen. Sie war in Atlantis. Bei entsetzlichen Kreaturen, vor denen selbst die Götter sich fürchteten.

Bitte mach, dass das ein Traum ist. Ein Traum, aus dem ich jeden Moment aufwache. Ich beschwere mich nie wieder über irgendwas, versprochen. Von jetzt an bin ich mit allem zufrieden.

Falls die Götter sie hörten, ignorierten sie sie.

Moment mal, dachte sie und schüttelte den Kopf. Sie glaubte nicht an irgendwelche Götter aus dem antiken Griechenland.

Ich muss hier raus. Sie hatte zwar nach Gefahr und Erfüllung gesucht, aber ganz bestimmt nicht so. Auf dem Weg nach Brasilien hatte sie sich ausgemalt, wie unerschrocken sie Alex helfen würde, wie toll sie sich fühlen würde, einen so beliebten Mythos zu beweisen oder zu widerlegen.

Nun ja, soeben hatte sie ihn bewiesen – und sie fühlte sich alles andere als toll.

„Atlantis“, flüsterte sie mit brechender Stimme und starrte zum Bett hinüber. Der Überwurf glänzte wie Glas, obwohl sie genau wusste, wie weich er war. Sie befand sich in Atlantis, Heimat von Minotauren, Formoriern, Werwölfen und Vampiren. Und so vieler anderer Kreaturen, dass ihr Bruder sie gar nicht alle hatte benennen können. Wieder krampfte ihr Magen sich schmerzhaft zusammen.

Was für ein Wesen war ihr Entführer wohl?

Sie stöberte in ihrem Gedächtnis. Minotauren waren halb Stier, halb Mensch. Auch wenn er sich wie ein Stier benommen hatte, fehlten ihm die physischen Merkmale. Formorier waren einarmige, einbeinige Kreaturen. Auch hier fiel er durchs Raster. Konnte er ein Werwolf oder Vampir sein? Doch beides schien ebenfalls nicht richtig zu ihm zu passen.

Mit seinen Drachentattoos wirkte er mehr wie ein, nun ja, Drache. War das möglich? Hatten Drachen nicht Schuppen, einen Schwanz und Flügel? Vielleicht war er der einzige Mensch hier. Oder er war ein Nymph, eine Kreatur so vibrierend vor Sex, Potenz und Männlichkeit, dass er nicht auf die menschliche Gesellschaft losgelassen werden durfte. Das wäre jedenfalls eine Erklärung für ihre heftige Reaktion auf ihn.

„Darius“, sagte sie und ließ sich seinen Namen auf der Zunge zergehen.

Ein Schauer überlief sie, als ein Bild von ihm vor ihrem inneren Auge erschien – aus Angst, aber auch wegen eines Gefühls, das sie lieber nicht analysieren wollte. Er war ein Mann voller Widersprüche. Mit seinen eisblauen Augen, dem barschen, fordernden Tonfall und den stahlharten Muskeln verkörperte er die pure Kälte und Herzlosigkeit, eine völlige Unfähigkeit, Wärme zu schenken. Doch als er sie berührt hatte, hatte sich eine Hitze in ihrem Körper ausgebreitet, als wäre Lava durch ihre Adern geflossen.

Der Mann roch förmlich nach Gefahr, wirkte wie ein Krieger, der nur nach seinen eigenen Gesetzen lebte. So wie die herrlich verlockenden Krieger aus den Liebesromanen, die sie so gern las. Doch das hier war kein Roman. Dieser Mann war real. Rau und wild. Unglaublich männlich. Wenn er sprach, schwang in seiner Stimme eine dunkle, kaum im Zaum gehaltene Macht mit, die an ungezähmte Stürme erinnerte. Trotz allem hatte sie sich in der Höhle zu ihm hingezogen gefühlt.

Trotz allem fühlte sie sich noch immer zu ihm hingezogen.

In den vierundzwanzig Jahren, die sie nun schon lebte, hatte noch nie ein Mann eine solche sinnliche Anspannung in ihr geweckt. Dass gerade dieser Mann es tat, ein Mann, der sie bedroht hatte – mehrfach –, ging über ihren Verstand. Er hatte versucht, sie mit diesem monströsen Schwert in zwei Hälften zu teilen. Aber er hat dir kein Haar gekrümmt, wisperte eine Stimme in ihrem Kopf. Nicht ein einziges Mal. Seine Berührungen waren so sachte gewesen … beinahe ehrfürchtig. In einigen Momenten hatte sie sogar geglaubt, in seinem Blick ein Flehen zu erkennen, dass sie ihn ebenfalls berühren sollte.

„Du solltest dringend mal zum Psychologen, junge Dame, wenn du diesen Kerl ernsthaft anziehend findest“, ertönte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf. „Tätowierungen und Schwerter. Ganz zu schweigen davon, dass er dich wie ein Höhlenmensch über die Schulter geworfen und in sein Gemach geschleppt hat.“

Dann schaltete sich ihre Tante Sophie ein: „Ach, Gracie, Süße, hör nicht auf deine Mutter. Die hatte seit Jahren keinen Mann mehr. Du solltest dich ein bisschen mit ihm amüsieren. Hat Darius zufällig einen ledigen älteren Bruder?“

„Ich sollte wirklich mal zum Psychologen“, murmelte Grace. Jetzt nisteten sich schon ihre Verwandten in ihrem Kopf ein und gaben ihr Ratschläge.

Eine Woge von Heimweh schlug mit einer Macht über ihr zusammen, wie sie es seit ihrer ersten Woche im Ferienlager vor vielen Jahren nicht mehr erlebt hatte. Ihre Mutter mochte reserviert und nach Jahren der Pflege von Graces krankem Vater nervtötend penibel sein, aber Grace liebte sie, und sie fehlte ihr, genau wie ihre Tante, die sie fest umarmt hätte.

Grace schlang die Arme um ihren Oberkörper und versuchte, die Leere in sich zu ignorieren. Wohin war Darius verschwunden? Wie lange würde es dauern, bis er zurückkehrte?

Was hatte er mit ihr vor?

Nichts Gutes, vermutete sie.

Die Luft war hier wärmer als in der Höhle, doch die Kälte hielt sich hartnäckig in ihren Gliedern, und sie zitterte. Ihr Blick huschte an den rauen Wänden hinauf zur Decke. Wenn sie dort hochkletterte, würde sie sich zerkratzte und blutige Handflächen einhandeln – Verletzungen, die sie in Kauf nehmen würde, wenn es in der kristallenen Decke einen Durchschlupf gäbe, der weit genug wäre, dass sie sich hindurchzwängen und in die Freiheit schwimmen könnte.

Mit zittrigen Beinen erhob sie sich. Zuerst brauchte sie eine Stärkung, sonst würde sie zusammenbrechen – und dann würde sie niemals entkommen.

Auf der Truhe standen eine Schale Obst und eine Karaffe, in der vermutlich Wein war. Sie atmete tief durch und ging näher hin. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen, als sie die Hand ausstreckte und sich einen Apfel nahm. Ohne sich genug Zeit zu lassen, über eine eventuelle Vergiftung nachzudenken, aß sie die köstliche Frucht hastig – inhalierte sie praktisch. Zwischen den Bissen nippte sie an dem süßen roten Wein, den sie direkt aus der Karaffe trank.

Als sie schließlich an die Wand herantrat, fühlte sie sich stärker, beherrschter. Sie umfasste zwei kleine Vorsprünge und zog sich empor, bis sie auch mit den Füßen an dem aufwändig verzierten Ebenholz Halt fand. Langsam kletterte sie höher und höher. Einmal hatte sie den Devil’s Thumb in Alaska bestiegen – nicht unbedingt ihre Lieblingserinnerung; sie hatte sich den Hintern abgefroren –, deshalb konnte sie wenigstens vernünftig klettern. Sie wagte einen Blick nach unten, schluckte schwer und dachte sehnsüchtig an die Sicherungsgurte zurück, die sie auf dem Devil’s Thumb getragen hatte.

Als sie oben ankam, waren ihre Handflächen tatsächlich wund und aufgerissen und pochten schmerzhaft. Mit aller Kraft drückte sie gegen das Kristall. „Komm schon“, flehte sie. „Geh auf. Lass mich bitte durch.“ In ihrer Brust welkte die Hoffnung dahin, als die verfluchte Decke nicht nachgab. Den Tränen nahe, stieg sie vorsichtig wieder zum niedrigsten Vorsprung hinab und sprang das letzte Stück zu Boden.

Sie schob sich das Haar aus dem Gesicht und überdachte ihre Optionen. Viele waren es nicht, da sie in diesem Raum festsaß. Entweder sie akzeptierte kampflos, was auch immer Darius mit ihr vorhatte, oder sie setzte sich gegen ihn zur Wehr.

Da musste sie gar nicht erst überlegen. „Ich kämpfe“, sagte sie entschlossen.

Mit welchen Mitteln auch immer, sie musste hier rauskommen und ihren Bruder vor den Gefahren des Nebels warnen – falls es nicht längst zu spät war. Plötzlich schob sich ein Bild von Alex vor ihr inneres Auge: sein dunkelrotes Haar kunstvoll um das blasse Gesicht arrangiert, sein Körper reglos in einem Sarg aufgebahrt.

Sie presste die Lippen zusammen und weigerte sich, diese Möglichkeit auch nur einen Moment länger in Betracht zu ziehen. Alex war lebendig und wohlauf. Wie sonst hätte er ihr sein Tagebuch und das Medaillon schicken sollen? Im Jenseits verkauften sie keine Briefmarken.

Wieder musterte sie den Raum, diesmal auf der Suche nach einer Waffe. Es gab keinerlei Zierrat. Kein Feuerholz im Kamin. Das Einzige, was vielleicht infrage käme, war die Obstschale, aber Grace war sich nicht sicher, wie viel Schaden sie Darius’ Dickschädel – zugegeben, seinem sexy Dickschädel – damit würde zufügen können.

Enttäuschung breitete sich in ihr aus. Was zum Teufel konnte sie tun, um zu entkommen? Aus dem Bettüberwurf eine Stolperfalle bauen? Sie blinzelte. Hey, das war gar keine schlechte Idee. Sie rannte zum Bett hinüber. Als sie den seidigen Stoff hinunterzog, fuhr ein brennender Schmerz durch ihre Handflächen.

Ohne dem Beachtung zu schenken, knotete sie zu beiden Seiten der Tür jeweils einen Zipfel des Überwurfs fest. Darius mochte unbezwingbar erscheinen, aber ein Unfall konnte ihm ebenso widerfahren wie jedem anderen. Selbst die alten Mythen erzählten davon, dass jede Kreatur, ob Mensch oder Gott, fehlbar war. Oder wie hier: zu Fall zu bringen.

Auch wenn sie mittlerweile in New York lebte, war Grace in einer kleinen Stadt in South Carolina aufgewachsen, einem Ort, dessen Bewohner bekannt waren für ihre Freundlichkeit und Höflichkeit gegenüber Fremden. Ihr war beigebracht worden, niemals absichtlich einem anderen Lebewesen Schaden zuzufügen. Trotzdem konnte sie ein Lächeln der Vorfreude nicht unterdrücken, als sie ihr Werk betrachtete.

Sie würde Darius zu Fall bringen.

Wortwörtlich.

Darius marschierte in den Speisesaal. Kurz hielt er inne, als er bemerkte, dass er keine Farben mehr wahrnahm, nur noch schwarz-weiß sah. Enttäuscht atmete er durch. Als ihm aufging, dass er auch nichts roch, runzelte er die Stirn. Selbst sein wiederentdeckter Geruchssinn hatte ihn verlassen.

Bis jetzt war ihm nicht klar gewesen, wie sehr er diese Dinge vermisst hatte.

Das war Grace zu verdanken. In ihrer Gegenwart waren jegliche seiner Abwehrmechanismen zusammengebrochen und seine Sinne zum Leben erwacht. Jetzt, mit genügend Abstand zwischen ihnen, war er zum vorherigen Zustand zurückgekehrt. Was hatte sie an sich, dass sie einen derartigen Einfluss auf seine Wahrnehmung hatte? An seinem Kiefer zuckte ein Muskel.

Zum Glück hatten seine Männer nicht auf seine Rückkehr gewartet. Sie hatten sich bereits in die Trainingsarena zurückgezogen, wie er es befohlen hatte. Obwohl sie mehrere Räume von ihm entfernt waren, erfüllte ihr Ächzen und Stöhnen die Luft.

Darius presste die Lippen fest zusammen und ging hinüber zu der gewaltigen Fensterfront auf der anderen Seite des Saals. Er umfasste die Leiste über seinem Kopf und lehnte sich vor. So hoch auf den Klippen, wo der Palast erbaut war, hatte Darius einen spektakulären Blick über die Stadt zu seinen Füßen. Das Herz von Atlantis. Wo die unterschiedlichsten Kreaturen sich entspannen und unters Volk mischen konnten. Selbst Vampire, auch wenn er sie nicht in den Massen ausmachen konnte, von denen seine Männer berichtet hatten.

Zahllose Sirenen, Zentauren, Zyklopen, Greife und weibliche Drachen betraten und verließen die Läden und schlenderten durch die Straßen, wo Händler ihre Waren feilboten. An einem Wasserfall in der Nähe vergnügten sich mehrere weibliche Nymphen. Wie glücklich sie wirkten, wie sorgenfrei.

Nach einem solchen Frieden sehnte auch er sich.

Grollend stieß er sich von der Leiste ab und stapfte zum Tisch. Er packte die Kante so fest, dass der Stein ein Stück abbrach. Er musste die Beherrschung zurückerlangen, bevor er dieser Frau – Grace – erneut gegenübertrat. Zu viele Emotionen tobten in ihm: Begehren, Zärtlichkeit, Zorn.

Mit eisernem Willen stach und schlug er auf die Zärtlichkeit ein; trat und stieß das Begehren von sich. Beide erwiesen sich als äußerst widerstandsfähig, klammerten sich mit schraubstockartigem Griff in ihm fest. Angesichts Graces Schönheit wäre auch der härteste Krieger bezaubert genug gewesen, um sämtliche Schwüre über Bord zu werfen.

Bei den Göttern, wenn er schon solche Dinge empfand, nur weil er ihre Handgelenke festgehalten und in ihre strahlenden Augen geblickt hatte, was würde erst in ihm vorgehen, wenn er ihre vollen Brüste umfasste? Was würde er fühlen, wenn er ihre weichen Schenkel spreizte und seine pochende Erektion in sie versenkte? Aus seinem gequälten Stöhnen wurde ein Brüllen, das von der kristallenen Decke über ihm widerhallte. Sollte er jemals diese Frau nackt unter sich liegen haben, war es gut möglich, dass er an einem Übermaß an Empfindungen zugrunde gehen würde.

Beinahe hätte er aufgelacht. Er, ein blutrünstiger Krieger, von dem alle glaubten, er besäße kein Herz, der seit dreihundert Jahren nichts als gleichgültige Akzeptanz empfunden hatte, zerbrach sich den Kopf über eine Frau. Hätte er nur nie ihren süßen Duft eingeatmet, ein Aroma aus Blumen und Sonnenschein. Hätte er nur nie ihre seidige Haut liebkost.

Wenn er doch nur nicht mehr wollen würde.

Was hatte sie nur an sich, das seine jahrhundertealten Schutzmechanismen außer Kraft setzte? Wenn er darauf eine Antwort fände, wäre es ihm ein Leichtes, ihr zu widerstehen.

Kämpfe, verdammt. Kämpf an gegen ihren Zauber. Wo ist deine legendäre Disziplin?

Ruppig riss er ein Oberteil von einem der Haken an der Wand. Er zog sich das schwarze Shirt über den Kopf, sodass die beiden Medaillons um seinen Hals darunter verschwanden. Vor seinem inneren Auge blitzte die Gravur am unteren Rand des Medaillons auf, das Grace getragen hatte, und mit plötzlicher Klarheit konnte er es seinem Eigentümer zuordnen. Javar, sein ehemaliger Mentor.

Darius runzelte die Stirn. Wie hatte Javar einen so kostbaren Gegenstand verlieren können? Besaß Graces Bruder irgendwelche unerklärlichen Kräfte, die es ihm gestattet hatten, den Nebel zu durchschreiten, gegen Javar zu kämpfen und das wertvolle Schmuckstück zu ergattern? Sicher nicht, denn dann hätte Javar sich Hilfe suchend an Darius gewandt – sofern er noch lebte.

Erst vor einem Monat hatte Darius über einen Boten mit seinem alten Mentor kommuniziert. Damals hatte alles normal gewirkt. Doch Darius wusste besser als jeder andere, dass sich ein Leben innerhalb eines Herzschlags völlig verändern konnte.

„Du musst irgendwas unternehmen, Darius“, grollte Brand, als er in den Saal geflogen kam. Mit seinen ausladenden Flügeln füllte er beinahe den gesamten Torbogen aus, doch trotz seiner eindrucksvollen Größe landete er sanft auf dem Boden und näherte sich Darius auf scharfen Klauen. Die ebenso tödlich scharfen Zähne hatte er zu einer bedrohlichen Miene gebleckt, ein weißes Leuchten gegen seine dunklen Schuppen.

Darius bedachte seinen Freund mit einem stählernen Blick und achtete sorgsam darauf, dabei sämtliche Emotionen aus seinen Zügen zu verbannen. Weder durch Worte noch durch Taten würde er seinen Männern gegenüber zu erkennen geben, wie es um seine Beherrschung bestellt war. Sie würden nur Fragen stellen – Fragen, die er nicht beantworten wollte. Fragen, auf die er die Antworten nicht einmal wusste.

„Ich rede erst mit dir, wenn du dich beruhigt hast“, erklärte er, verschränkte die Arme vor der breiten Brust und wartete.

Brand holte tief Luft, dann noch einmal, und langsam verblasste seine Drachengestalt zu einem menschlichen gebräunten Körper. Seine Reißzähne zogen sich zurück, und dank seiner selbstheilenden Fähigkeiten war der Schnitt an seiner Wange bereits wieder verheilt. Darius betastete die Narbe auf seiner eigenen Wange. Diese Verletzung hatte er sich vor Jahren bei einem Kampf mit dem König der Nymphen eingefangen, und er verstand bis heute nicht, warum er davon so gezeichnet war.

„Du musst was unternehmen“, forderte Brand erneut, diesmal etwas ruhiger. Er schnappte sich die letzten Sachen, die noch auf den Haken hingen, und zog sie über. „Wir sind kurz davor, uns gegenseitig umzubringen.“

Darius hatte Brand kurz nach seinem Einzug in den Palast kennengelernt. Sie waren damals beide jung gewesen, praktisch frisch geschlüpft, und bei dem Überfall durch die Menschen waren ihre beiden Familien ermordet worden. Zwischen Brand und ihm hatte von Anfang an eine besondere Bindung bestanden. Brand lachte und redete mit ihm, er sorgte dafür, dass Darius zu jeder Veranstaltung eingeladen wurde. Und auch wenn er regelmäßig abgelehnt hatte – selbst da war er bereits strikt auf Distanz geblieben –, so hatte er mit Brand einen Kameraden gefunden, jemanden, auf den er hören und dem er vertrauen konnte.

„Das habt ihr eurem albernen Spiel zu verdanken, nicht mir“, erwiderte Darius leise knurrend, als er an den Unsinn von vorhin dachte.

Plötzlich hoben sich Brands Mundwinkel, und er lächelte sein breitestes Lächeln. „Du zeigst schon jetzt Emotionen? Dann muss ich wohl davon ausgehen, dass du meinen Kopf auf dem Silbertablett serviert haben möchtest.“

„Dein Kopf sollte reichen … für den Anfang.“ Mit gezwungen entspannter Geste nahm er sich einen Stuhl und ließ sich verkehrt herum darauf nieder, die Unterarme auf der samtbezogenen Rückenlehne. „Was hat dich diesmal dazu gebracht, dich zu verwandeln?“

„Langeweile und Eintönigkeit“, lautete die trockene Antwort seines Freundes. „Wir haben versucht, die erste Runde eines Turniers einzuläuten, konnten aber nicht mit dem Streiten aufhören. Wir sind am Rande des Wahnsinns.“

„Nach dem Theater, das ihr vorhin veranstaltet habt, verdient ihr es, in den Wahnsinn getrieben zu werden.“

Brands Lächeln blitzte wieder auf. „Tz, tz, tz, Darius. Du solltest mir danken, statt mir zu drohen.“

Finster starrte Darius ihn an.

Brand hob die Augenbrauen. „Jetzt sag mir nicht, ich stehe kurz davor, diese Wette zu gewinnen. Nicht wenn gerade niemand da ist, um meinen Sieg zu bezeugen.“

Darius blickte noch finsterer drein. „Abgesehen von diesem Spiel: Gibt es irgendetwas, das ich tun kann, um diese Langeweile zu vertreiben?“

„Würdest du noch mal in Erwägung ziehen, uns Frauen zu bringen?“

„Nein“, antwortete er rasch. Vor seinem inneren Auge tauchte Graces liebliches Gesicht auf, und sein Blut rauschte heiß durch seine Adern, schien sich direkt in seinem Unterleib zu sammeln. In diesen Palast würde keine weitere Frau auch nur einen Fuß setzen. Nicht, wenn schon eine so kleine wie Grace eine solche Reaktion in ihm auslöste.

Brand schien sein Unbehagen nicht zu bemerken. „Dann lass uns unser Spiel spielen. Lass uns versuchen, dich zum Lachen zu bringen.“

„Oder zum Toben?“

„Ja, oder auch das. Es ist schon lange überfällig, dass mal jemand deine Mauern einreißt.“

Darius schüttelte den Kopf. Das hatte bereits jemand, und das ging ihm fürchterlich gegen den Strich. „Tut mir leid, aber meine Antwort bleibt dieselbe.“

„Seit Jahren muss ich dabei zusehen, wie du Stück für Stück distanzierter wirst. Kälter. Dieses Spiel ist für dich noch viel wichtiger als für uns.“

Mit der Schnelligkeit der Drachen kam Darius auf die Füße, wobei der Stuhl nach vorne umkippte. Das konnte er jetzt nicht gebrauchen, nicht während er so hart um Beherrschung kämpfte. Ein Grinsen, und er könnte zusammenbrechen. Eine Träne, und er könnte fallen. Ein Schrei, und seine tiefsten Qualen könnten freigesetzt werden. Falls der Tag jemals kommen würde, an dem er die absolute Kontrolle verlor, würde er in einem Mahlstrom von Emotionen untergehen, das wusste er.

„Ich bin aus gutem Grund so geworden, Brand. Würde ich meinen Gefühlen Tür und Tor öffnen, könnte ich meine Pflicht nicht erfüllen. Willst du das?“

Frustriert fuhr Brand sich mit einer Hand durch seine Zöpfe. „Du bist mein Freund. Auch wenn mir klar ist, wie wichtig das ist, was du tust, wünsche ich mir auch Glück und Zufriedenheit für dich. Und damit du beides finden kannst, muss sich in deinem Leben etwas ändern.“

„Nein“, beharrte Darius. Als Grace durch das Portal getreten war, hatte sein Leben sich unwiderruflich verändert – und nicht zum Besseren. Nein, er brauchte keine weiteren Veränderungen. „Zufällig kommt mir Monotonie sehr entgegen.“

Als ihm aufging, dass er mit diesem Argument nicht weiterkam, änderte Brand seine Taktik. „Aber die Männer sind anders als du. Ich bin anders. Wir brauchen etwas, womit wir uns beschäftigen können.“

„Meine Antwort lautet immer noch Nein.“

„Wir brauchen etwas Aufregendes, eine Herausforderung“, fuhr Brand unbeirrt fort. „Wir brennen darauf, herauszufinden, was die Vampire vorhaben, aber du hältst uns hier fest und zwingst uns zu trainieren.“

„Nein.“

„Nein, nein, nein. Wie mir dieses Wort zum Hals raushängt.“

„Du wirst dich damit anfreunden müssen, denn es ist das Einzige, was ich dir anzubieten habe.“

Brand trat an den Tisch und fuhr beiläufig mit den Fingern über den Stein. „Ich drohe dir ja nur ungern, und du weißt, dass ich es nicht tun würde, hätte ich irgendeine andere Möglichkeit“, setzte er rasch hinzu. „Aber wenn du uns nicht irgendwas erlaubst, Darius, dann wird in deinem Palast bald das reine Chaos herrschen. Wir werden immer wieder bei der kleinsten Provokation aneinandergeraten. Wir werden weiterhin die gemeinsamen Mahlzeiten stören. Wir werden …“

„Schon verstanden.“ Darius erkannte die Wahrheit in den Worten seines Freundes und seufzte. Wenn er nicht auf irgendeine Weise nachgab, würde er niemals Ruhe haben. „Sag den Männern, ich erlaube ihnen ihre Wette, wenn sie einen Blutschwur leisten, sich von meinen Gemächern fernzuhalten.“ Mit zu Schlitzen verengten Augen sah er Brand an und hielt seinen Blick fest. „Wenn auch nur einer ohne meine ausdrückliche Erlaubnis meine Privaträume betritt, verbringt derjenige den nächsten Monat an die Zinnen gekettet.“

Brand neigte den Kopf zur Seite, und sein Blick wurde durchdringend. Schweigen legte sich um sie, und Neugier sprach aus seinen Zügen. Nie zuvor hatte Darius irgendjemandem den Zutritt zu seinen Gemächern verboten. Seinen Männern hatte es immer offengestanden, mit ihren Problemen zu ihm zu kommen. Dass er diese Einladung nun widerrief, musste seltsam wirken.

Er gab keine Erklärung dazu ab.

Klugerweise stellte Brand auch keine Fragen. Er nickte nur. „Einverstanden“, verkündete er und klopfte Darius freundschaftlich auf die Schulter. „Ich glaube, du wirst eine beachtliche Veränderung an den Männern feststellen.“

Ja, aber wäre es eine Veränderung zum Besseren? „Bevor du zu den anderen zurückkehrst“, wies Darius ihn an, „schick einen Boten zu Javar. Ich möchte mich mit ihm treffen.“

„Schon erledigt.“ Beschwingten Schrittes verließ Brand den Raum genauso schnell, wie er hereingekommen war.

Wieder allein, gestattete Darius sich, den Blick zur Treppe wandern zu lassen, die zu seinen Gemächern hinaufführte. Ein heimtückisches Bedürfnis, Graces seidige Haut zu berühren, wob sich mit einer fesselnden Macht durch seinen Körper, mit derselben Wirkung, als würde sie gerade auf seinem Schoß sitzen.

Brand hatte behauptet, die Männer würden wahnsinnig werden, doch es war Darius, der am Rande des Wahnsinns stand. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Sich von Grace zu entfernen hatte ihm keinerlei Erleichterung gebracht; er wurde einfach das Bild nicht los, wie sie auf seinem Bett lag. Schließlich gestand er sich ein, dass er nicht mehr ruhiger werden würde, was diese Frau betraf. Am besten brachte er es gleich jetzt hinter sich, bevor sein Verlangen nach ihr noch wuchs.

Abwesend berührte er die beiden Medaillons um seinen Hals, als er den Weg beschritt, den sein Blick eben genommen hatte, bis er vor der Tür zu seinem Gemach stand. Sie wird mir die Antworten geben, die ich will, dachte er. Und ich werde als Wächter handeln. Nicht als Mann, nicht als Ungeheuer. Als Wächter.

Entschlossen ließ er die Medaillons los, und die Tür öffnete sich.

5. KAPITEL

Kein Geräusch war zu hören. Und doch war die Tür des Zimmers im einen Moment noch geschlossen, und im nächsten glitten die zwei Türflügel auseinander.

Grace stand links davon, dicht an die Wand gepresst. Als Darius an ihr vorbeitrat, übersah er ihre Stolperfalle und kippte mit einem überraschten Laut nach vorn, als er mit dem Fuß an dem Überwurf hängen blieb.

Im selben Moment, als er auf den Boden krachte, sprang Grace ihm auf den Rücken, benutzte ihn als Sprungbrett und stürzte hinaus auf den Korridor. Gehetzt sah sie sich um, auf der Suche nach dem richtigen Weg, aber keine Richtung schien vielversprechender als die andere, also rannte sie einfach los. Weit kam sie nicht, bevor starke Männerhände sich um ihre Unterarme legten und sie ruckartig zum Stehen brachten. Plötzlich fand sie sich über Darius’ Schulter geworfen wieder, zu geschockt, um zu protestieren, als er sie zurück in sein Zimmer trug. Dort angekommen, ließ er sie an seinem Körper hinuntergleiten. Sie erstarrte förmlich, als sie durch ihre Kleider die Hitze seiner Haut spürte. Sie war ihm so nah, dass sie sogar spürte, wie seine Muskeln sich bewegten.

Ohne sie loszulassen, brachte er irgendwie die Tür dazu, sich ruckartig zu schließen und ihr damit den einzigen Fluchtweg zu versperren. Ihr stockte der Atem, als ihr Versagen sie niederdrückte. Nein. Nein! In nicht einmal zwei Sekunden hatte er ihre beste Chance auf Freiheit zunichtegemacht.

„Du wirst diesen Palast nicht verlassen“, erklärte er ohne eine Spur von Ärger in der Stimme, in der sie nur Entschlossenheit ausmachte. Und Reue? „Warum bist du nicht in meinem Bett, Weib?“

Überrollt von ihrem Fehlschlag, wisperte sie: „Was hast du mit mir vor?“

Schweigen.

„Was hast du mit mir vor?“, rief sie verzweifelt.

„Ich weiß, was ich tun sollte“, antwortete er, und seine Stimme war nur noch ein dunkles, zornbebendes Grollen, „aber was ich tun werde, weiß ich noch nicht.“

„Ich habe Freunde“, sagte sie, „und Familie. Die werden nicht eher aufgeben, bis sie mich gefunden haben. Wenn du mir was tust, ziehst du nur ihren Zorn auf dich.“

Es entstand eine aufgeladene Pause, dann fragte er: „Und was ist, wenn ich dir nichts tue?“ So leise, dass sie ihn kaum hörte. „Was ist, wenn ich dir nichts als Lust anbiete?“

Hätte er nicht mit seinen schwieligen Handflächen über ihre Unterarme gestrichen, hätten seine Worte ihr womöglich Angst gemacht. Doch so war sie wie verzaubert. Jede Fantasie, die sie sich je ausgemalt hatte, wirbelte durch ihre Gedanken. Nackte, ineinander verschlungene Leiber – auf dem Fußboden, an der Wand, im Flugzeug. Hitze stieg ihr in die Wangen. Was ist, wenn ich dir nichts als Lust anbiete? Sie antwortete nicht. Konnte es nicht.

Er nahm ihr die Antwort ab. „Ganz egal, was ich dir anbiete, es gibt nichts, was du oder irgendjemand sonst dagegen unternehmen kann.“ Sein Tonfall wurde härter, der sinnliche Unterton verschwand. „Du bist in meinem Palast, in meinen persönlichen Gemächern, und ich werde tun, was immer ich will. Ganz egal, was du sagst.“

Als diese düstere Warnung an ihre Ohren drang, brach der eigenartige Zauber, den er um sie gewoben hatte, und sie rief sich ihr Anti-Terror-Training aus der Flugschule wieder in den Sinn. SONG, sagte sie sich innerlich vor. Solarplexus, Oberfuß, Nase, Gemächt. Sie fuhr herum, rammte ihm den Ellbogen in den Solarplexus und trat ihm auf den Fuß. Wieder zu ihm herumwirbelnd, schlug sie ihm mit der Faust in das kalte, emotionslose Gesicht. Aber ihre Knöchel trafen auf seine Wange statt auf seine Nase, und schmerzerfüllt schrie sie auf.

Er zuckte nicht zurück. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sie zu packen, um sie davon abzuhalten, das Ganze zu wiederholen.

Also tat sie es.

Sie holte mit dem anderen Arm aus und legte all ihre Kraft in den Schlag. Beim Zusammenstoß erlebte sie dasselbe wie beim ersten Mal. Pulsierende Schmerzen für sie, amüsierte Selbstgefälligkeit seinerseits. Nein, nicht amüsiert, begriff sie. Seine blauen Augen waren zu kalt und leer, um irgendeine Art von Emotionen zu enthalten.

Er hob eine Augenbraue. „Gegen mich zu kämpfen schadet nur dir selbst.“

Ungläubig verengte sie die Augen zu Schlitzen und durchbohrte ihn mit Blicken. Nach allem, was sie in den letzten zwei Tagen durchgemacht hatte, brachen Graces Temperament und Frustration mit voller Macht los. „Und was ist mit dir?“ Sie riss das Knie hoch, hart und schnell, und landete einen direkten Treffer zwischen seinen Beinen. Gemächt: die letzte Zielregion aus ihrem Training.

Keuchend krümmte er sich nach vorn und kniff die Augen zusammen.

Sie rannte zum einzigen Ausgang und versuchte die Türflügel auseinanderzuschieben. „Geh auf, du verdammtes Ding“, beschimpfte sie ihren Weg in die Freiheit. „Bitte, geh einfach auf.“

„Du machst nicht den Eindruck, als wärst du zu solchen Taten fähig“, bemerkte Darius mit gepresster Stimme. „Aber ich werde dich nicht noch einmal unterschätzen.“

Sie hörte keine Bewegung, doch plötzlich war er da, die Arme neben ihrem Kopf abgestützt, sein heißer Atem an ihrem Hals. Diesmal versuchte sie nicht, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Was hätte es ihr gebracht? Er hatte bereits bewiesen, dass körperliche Schmerzen ihm nichts – oder zumindest nicht viel – ausmachten.

„Bitte“, flehte sie. „Lass mich einfach gehen.“ Donnernd dröhnte ihr Herzschlag ihr in den Ohren. Vor Angst, sagte sie sich, nicht weil sein muskulöser Körper so dicht an ihrem war.

„Das kann ich nicht.“

„Doch, du kannst.“ Sie drehte sich um und stieß ihn zurück. So schwach sie auch gegen ihn war, reichte die Geste doch aus, um ihn erneut über den Überwurf stolpern zu lassen. Er riss sie mit sich zu Boden, und nach dem Aufprall rollte er sich herum und hielt sie mit seinem Körper an Ort und Stelle fest.

Automatisch hob sie die Arme, um ihn von sich zu schieben. Dabei verschob sie sein Shirt, und die Medaillons um seinen Hals purzelten daraus hervor. Sie schnappte nach Luft. Welches gehörte Alex? Das mit den glühenden Augen?

Was spielt das für eine Rolle? fragte sie sich dann. Sie war mit einem Medaillon hergekommen und würde auch wieder mit einem von hier verschwinden.

Entschlossenheit schlug in ihrer Brust wie ein zweites Herz. Um ihn abzulenken, schrie sie so laut sie konnte. Sie strampelte heftig mit den Beinen und schloss die aufgeschürften Hände um seine Kehle, als wollte sie ihn würgen. Eilig fingerte sie an einem der Verschlüsse herum, und als sie ihn aufgehen spürte, riss sie die Hände nach unten und schob sich das Medaillon in die Hosentasche. Mit einem weiteren ohrenbetäubenden Schrei überspielte sie ihre Zufriedenheit über ihren Triumph.

„Beruhige dich“, befahl er.

„Leck mich.“ Sie schrie erneut.

Als sie verstummte, bemerkte er: „Ich wäre äußerst ungehalten, wenn du meinen Ohren bleibenden Schaden zufügst.“

Ungehalten? Er wäre ungehalten. Nicht wütend, nicht in völliger Rage. Einfach nur leicht ungehalten. Aber bei diesem Mann wirkte das auf unerklärliche Weise um ein Vielfaches beängstigender als ein explosiver Wutausbruch. Mit einem tiefen, bebenden Atemzug ließ sie sich am Boden zusammensacken. Schließlich hatte sie, was sie wollte, und gegen ihn zu kämpfen brachte ihr gar nichts, außer dass ihre Körper sich aneinanderrieben.

Seine Augenbrauen schossen in die Höhe, und ihm war deutlich sein Schock über ihr Nachgeben anzusehen.

„Einfach so?“, hakte er misstrauisch nach.

„Ich weiß, wann ich besiegt bin.“

Darius nutzte ihre Reglosigkeit aus und ließ sich schwerer auf sie sinken. Er führte ihre Hände über ihren Kopf und hielt sie dort fest – etwas, das er offenbar gern tat –, sodass ihr Rücken sich durchdrückte und ihre Brüste sich ganz seinem Blick darboten.

„Du willst, dass ich dich lecke?“, fragte er todernst.

Für einen Moment war sie verwirrt. Dann begriff sie, worauf er anspielte. Oh mein Gott. Sie hatte ihm tatsächlich gesagt, er solle sie lecken. Ein heißes, kribbelndes Gefühl breitete sich in ihrem Unterleib aus. Etwas, das sie bei diesem Mann ganz sicher nicht fühlen sollte. Vor ihrem inneren Auge stieg dennoch ein Bild von seiner Zunge auf ihrer Haut auf, von seinen Zähnen, die sich in ihr Fleisch senkten und an ihr knabberten. Erotisch und sexy, es sei denn …

Wenn er ein Vampir war, hatte sie quasi gerade eine offene Einladung an ihn ausgesprochen, sie zu seiner nächsten Mahlzeit zu machen.

„Das war nicht wörtlich gemeint“, brachte sie piepsend hervor. „Das sagt man nur so.“ Gleich darauf fügte sie hinzu: „Bitte. Geh runter von mir.“ Er roch so gut, so männlich, nach Sonne, Erde und Meer, und in tiefen Zügen sog sie diesen Duft ein, als hinge ihr Leben davon ab. Darius war mehr als gefährlich. „Bitte“, wiederholte sie.

„Dazu gefällt es mir zu sehr, wo ich bin.“

So klar hallten diese Worte in ihren Gedanken wider, dass ihr Körper ungehört darauf antwortete: Mir gefällt auch, wo du bist. Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Wie machte er das? Wie konnte er sie so leicht in seinen Bann ziehen, und ihr zugleich Furcht einflößen? Mit Sicherheit war er ein blutsaugender Vampir. Er war so sexy, dass ihr das Wasser im Mund zusammenlief. Dass sie ein Pochen an der Stelle zwischen ihren Beinen verspürte, von der sie geglaubt hätte, sie wäre längst abgestorben. Dass sie fantasierte und sich verzehrte.

Jetzt reiß dich mal zusammen, Grace. Nur eine Idiotin würde nach einem Mann zweifelhafter Herkunft hungern, dessen Motive sogar noch zweifelhafter sind.

Was wollte er von ihr? Sie musterte sein Gesicht, fand jedoch keinen Hinweis auf seine Absichten. Seine Miene war vollkommen ausdruckslos. Sie betrachtete seine Züge genauer, die Narbe, die sich über seine Wange zog, glänzend und erhaben, und seine dunkle Augenbraue teilte. Aus dieser Nähe sah sie, wie schief seine Nase war, als sei sie einmal zu oft gebrochen gewesen.

Er war auf düstere Weise verführerisch. Gefährlich, beharrte ihr Kopf.

Das ist es, begriff sie mit einem Anflug von Selbstverachtung. Darum wirkt er so anziehend auf mich. Ich bin süchtig nach Gefahr.

„Was hast du mit deinen Händen gemacht, Weib?“, fragte er plötzlich fordernd. Seine Gesichtszüge waren nicht länger ausdruckslos, sondern offenbarten eine Wildheit, die mehr als einschüchternd war.

„Wenn ich es dir sage“, antwortete sie, und ihre Stimme bebte im Angesicht seiner Strenge, „lässt du mich dann gehen?“

Er verengte die Augen zu Schlitzen und führte eine ihrer Hände an seinen Mund. Heiße Lippen versengten ihr Fleisch, bevor seine Zungenspitze hervorschnellte und leckend ihre Wunden wusch. Die Geste durchzuckte sie wie ein Stromschlag, und beinahe hätte sie an Ort und Stelle einen Orgasmus gehabt.

„Warum machst du das?“, brachte sie atemlos hervor. Was auch immer er damit bezweckte – was er tat, war äußerst anzüglich, bezaubernd süß, und ihr blieb die Luft weg, so herrlich fühlte es sich an. „Hör auf.“ Doch noch während sie das sagte, betete sie, er möge nicht auf sie hören. Ihre Haut erhitzte sich zunehmend unter seiner Zunge, die ein Prickeln durch ihren ganzen Körper jagte. Eine berauschende Trägheit strömte durch sie hindurch, und so wahr ihr Gott helfe, sie wollte diese Zunge intensiver spüren, wollte tiefere Regionen erforscht wissen.

„Mein Speichel wird dich heilen“, erklärte er in noch immer angespanntem Tonfall. Doch jetzt war es eine andere Anspannung. Gepresster, erregter, weniger zornig. „Was hast du mit deinen Händen angestellt?“, fragte er erneut.

„Ich bin an der Wand hochgeklettert.“

Er hielt inne. „Warum denn das?“

„Ich wollte fliehen.“

„Töricht“, murmelte er. Eins seiner Knie drängte zwischen ihre Beine, und das Ziehen in ihrem Unterleib verstärkte sich.

Er nahm ihre andere Hand und glitt mit der Zunge über jede Erhebung und Vertiefung. Überrollt von den Empfindungen, die er in ihr weckte, nahm Grace alles an ihm noch deutlicher wahr. Die Art, wie seine Augen zwischen Eisblau und Goldbraun flackerten. Wie ihm das weiche, seidige Haar über die Schultern fiel und auf ihrer Haut kitzelte.

Hätte er vorgehabt, ihr wehzutun oder sie zu töten, hätte er sich doch sicherlich nicht so um sie bemüht. Er würde doch sicher nicht …

Er sog einen ihrer Finger in den Mund. Atemlos stieß sie seinen Namen hervor. Als er ihre Fingerkuppe mit der Zunge umspielte, stöhnte sie auf und hob sich ihm entgegen, presste die Brustwarzen an seinen harten Leib und genoss die herrliche Reibung.

„So ist es besser“, befand er mit rauer Stimme.

Flatternd öffneten sich ihre Lider. Mit angespannter Miene hielt er ihre Hände hoch, damit sie sie begutachten konnte. Nicht ein Kratzer war mehr zu sehen.

„Aber … Aber …“ Verwirrung trübte ihre Lust. Wie konnte das sein? Wie war überhaupt etwas von all dem hier möglich? „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

„Dann sag nichts.“

Genauso gut hätte er ihre verletzten Hände lassen können, wie sie waren, als Strafe für ihren Fluchtversuch, doch das hatte er nicht. Sie verstand diesen Mann nicht. „Danke“, sagte sie leise.

Steif nickte er. „Gern geschehen.“

„Lässt du mich jetzt aufstehen?“, fragte sie, nicht sicher, ob sie sich vor seiner Antwort fürchtete oder sie herbeisehnte.

„Nein.“ Ihre linke Hand ließ er los, doch die rechte hielt er fest. Bedächtig liebkoste er jeden Zentimeter davon, als könne er es nicht ertragen, die Verbindung zu lösen. „Was hatte dein Bruder mit dem Medaillon vor?“

Für einen Moment zog sie in Erwägung, zu lügen – alles zu tun, um dieser schäumenden Flut gegensätzlicher Wünsche Einhalt zu gebieten. Dann, ebenso kurz, überlegte sie, gar nicht zu antworten. Doch instinktiv wusste sie, dass er ihr weder das eine noch das andere durchgehen lassen würde und sie lediglich länger festhalten würde. Also sagte sie: „Das hatten wir schon, und ich weiß es immer noch nicht. Vielleicht wollte er es bei eBay verkaufen. Vielleicht wollte er es auch behalten, für seine Privatsammlung.“

Darius runzelte die Stirn. „Das verstehe ich nicht. Erklär mir dieses eBay.“

Als sie in die Einzelheiten über das Konzept des Online-Auktionshauses ging, funkelte er sie empört an.

„Warum sollte er so etwas tun?“, fragte Darius völlig perplex. „Einen solchen Gegenstand an einen völlig Fremden zu verkaufen ist der Gipfel der Torheit.“

„Wo ich herkomme, brauchen die Leute Geld, um zu überleben. Und eine Art, an Geld zu kommen, ist, sein Eigentum zu verkaufen.“

„Auch wir hier brauchen Geld, aber wir würden niemals unsere kostbarsten Besitztümer verschachern. Ist dein Bruder zu faul, um für seinen Lebensunterhalt zu arbeiten?“

„Nur damit das klar ist, mein Bruder arbeitet sehr hart. Und ich habe nicht gesagt, dass er es verkauft. Nur, dass er es könnte. Alex ist süchtig nach Auktionen.“

Darius stieß ein Seufzen aus und ließ nun doch ihre Hand los, um sich zu beiden Seiten ihres Kopfs aufzustützen. „Wenn du versuchst, mich zu verwirren, leistest du hervorragende Arbeit. Warum hätte dein Bruder dir das Medaillon geben sollen, wenn er auch nur das geringste Interesse daran gehabt hätte, es zu verkaufen?“

„Ich weiß es nicht“, wiederholte sie. „Was interessiert dich das?“

Beharrlich schweigend musterte er sie, blickte fort und musterte sie dann wieder. Statt einer Antwort sagte er: „Du behauptest, du wüsstest nichts, Grace, und doch hast du den Nebel gefunden. Du bist hindurchgetreten. Irgendetwas musst du wissen, etwas, das du mir noch nicht gesagt hast.“

„Jedenfalls weiß ich, dass ich nicht vorhatte, in dein Reich einzudringen.“ Nur zaghaft erhob sich ihre Stimme zwischen ihnen. „Ich weiß, dass ich nicht will, dass mir jemand wehtut. Und ich weiß, dass ich nach Hause will. Ich will einfach nur nach Hause.“

Als seine Züge sich verhärteten, ging sie in Gedanken noch einmal durch, was sie gesagt hatte. Was um alles in der Welt hätte eine solche Reaktion bei ihm auslösen können?

„Warum?“, verlangte er barsch zu wissen, wie ein Peitschenschlag ertönte das Wort aus seinem Mund.

Sie legte die Stirn in Falten. „Jetzt bist du es, der mich verwirrt.“

„Wartet da ein Mann auf dich?“

„Nein.“ Was hatte das denn jetzt damit zu tun? Es sei denn … Er war doch sicher nicht eifersüchtig. Die Vorstellung erstaunte sie. Sie war nicht die Art Frau, die in einem Mann irgendwelche heftigen Gefühlsausbrüche auslöste. Weder glühende Lust noch Eifersucht. „Ich vermisse meine Mutter und meine Tante, Darius. Ich vermisse meinen Bruder und mein Apartment. Meine Möbel. Die hat alle mein Dad gemacht, bevor er gestorben ist.“

Darius entspannte sich. „Du hast gefragt, warum mir das Medaillon so wichtig ist. Das ist es, weil mein Zuhause mir etwas bedeutet“, erklärte er. „Ich würde alles tun, um es zu beschützen, genauso wie du alles tun würdest, um in deins zurückzukehren.“

„Wie kann es deinem Zuhause schaden, wenn ich das Medaillon besitze?“, fragte sie. „Das verstehe ich nicht.“

„Und das musst du auch nicht“, gab er zurück. „Wo ist dein Bruder jetzt?“

Sie verengte die Augen und hob erneut widerspenstig das Kinn. „Das würde ich dir selbst dann nicht sagen, wenn ich es wüsste.“

„Ich respektiere deine Loyalität, ich bewundere sie sogar, aber es ist zu deinem Vorteil, wenn du mir sagst, ob er den Nebel durchschritten hat oder nicht.“

„Das hab ich dir schon mal gesagt. Ich weiß es nicht.“

„So kommen wir nicht weiter“, grollte er. „Wie sieht er aus?“

Das Blau und Grün ihrer Augen verschmolz zu einem aufgewühlten Meer aus Türkis. Sie schürzte die Lippen. Darius konnte ihr ansehen, dass sie nicht vorhatte zu antworten.

„So kann ich herausfinden, ob ich ihn bereits getötet habe“, versuchte er sie zu überzeugen, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er irgendeins seiner Opfer wiedererkennen würde. Das Töten war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, und mittlerweile schenkte er ihnen kaum noch einen Blick.

„Bereits … getötet?“ Erstickt keuchte sie auf. „Er ist eins dreiundachtzig groß. Rote Haare. Grüne Augen.“

Da Darius vor Grace keine Farben gesehen hatte, war die Beschreibung, die sie ihm gerade geliefert hatte, bedeutungslos. „Hat er irgendein besonderes Erkennungsmerkmal?“

„Ich … ich …“ Während sie versuchte, eine Antwort zu formulieren, durchfuhr sie ein Beben, das bis in seinen Körper vibrierte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Langsam rollte ein einziger Tropfen über ihre Wange.

Seine Armmuskeln verkrampften sich, als er gegen den Drang ankämpfte, die feuchte Spur fortzuwischen. Stattdessen sah er zu, wie die Träne hinabrollte und in ihrem Haar verschwand. Ihre Haut war blass, fiel ihm auf – zu blass.

Die Frau hatte Todesangst.

Laut meldete sich sein Gewissen, das er lange für tot gehalten hatte. Er hatte diese Frau bedroht, sie in einem fremden Zimmer eingesperrt und im Kampf zu Boden gerungen, und trotzdem hatte sie sich ihr unbeugsames Wesen bewahrt. Aber die Vorstellung vom Tod ihres Bruders drohte sie zu brechen, wie es keinem anderen Schicksalsschlag gelungen war.

Es bestand die Wahrscheinlichkeit – eine große Wahrscheinlichkeit –, dass er ihren Bruder tatsächlich getötet hatte. Wie würde sie dann reagieren? Würden jene Ozeanaugen ihn voller Hass ansehen? Würde sie Rache schwören?

„Hat er irgendein besonderes Erkennungsmerkmal?“, fragte er sie erneut und fürchtete sich beinahe vor ihrer Antwort.

„Er trägt eine Brille.“ Ihre Lippen und ihr Kinn zitterten. „Mit Drahtgestell, weil er denkt, damit sieht er wür-würdevoller aus.“

„Ich weiß nicht, was eine Brille ist. Erklär es mir.“

„R-Runde Gläser f-für die Augen.“ Mittlerweile zitterte sie so heftig, dass ihr das Sprechen schwerfiel.

Er ließ den Atem entweichen, den er ohne es zu bemerken angehalten hatte. „Ein Mann mit einer Brille hat den Nebel nicht durchschritten.“ Das wusste er, weil er diese Augengläser gefunden hätte, nachdem der Kopf zu Boden gerollt wäre – und das hatte er nicht. „Dein Bruder ist unversehrt.“ Dass dieser eventuell durch das andere Portal hergekommen sein könnte – Javars Portal –, verschwieg er lieber.

Grace brach in lautes, erleichtertes Schluchzen aus. „Über diese Möglichkeit wollte ich gar nicht erst nachdenken … Und als du gesagt hast … Ich hatte solche Angst.“

Vielleicht hätte er sie in diesem Augenblick allein lassen sollen, doch die Erleichterung, die sie verströmte, war wie ein unsichtbares Band, das ihn festhielt. Er konnte sich nicht rühren, wollte sich nicht rühren. Ihn erfüllte Eifersucht, dass sie so starke Gefühle für einen anderen Mann empfand, auch wenn dieser Mann ihr Bruder war. Noch stärker als die Eifersucht verspürte er allerdings Besitzansprüche. Und stärker als diese Besitzansprüche verspürte er das Bedürfnis, sie zu trösten. Er wollte sie in seine Arme schließen und sie mit seiner Kraft, seinem Geruch einhüllen. Wollte sie als sein markieren.

Wie töricht, dachte er.

Ihre Liebe für ihren Bruder war dieselbe, die auch er für seine Schwestern empfunden hatte. Bis zum Tod hätte er gekämpft, um sie zu beschützen. Er hätte … Verbittert verzog er den Mund und verbannte jenen Gedanken in einen verborgenen Winkel seines Bewusstseins.

Grace presste die Lippen aufeinander, doch ein weiteres Schluchzen brach aus ihr hervor.

„Hör auf damit, Weib“, befahl er barscher, als er beabsichtigt hatte. „Ich verbiete dir zu weinen.“

Sie weinte nur noch heftiger. Dicke, fette Tränen rollten ihr über die Schläfen und sickerten in ihre Haare.

Es dauerte Stunden – diese langen, quälenden Augenblicke konnten unmöglich nur Minuten gewesen sein –, bis sie endlich seinem Befehl Folge leistete und sich beruhigte. Noch immer mit jedem Atemzug bebend, schloss sie die Augen. Stumm wartete er ab, ließ ihr Zeit, sich zu sammeln. Wenn sie noch einmal zu weinen begann, wäre er hilflos.

„Gibt es … irgendetwas, das ich tun kann, um dir zu helfen?“, fragte er zögerlich. Wie lange war es her, dass er irgendjemandem Trost angeboten hatte? Er konnte sich nicht entsinnen und war sich nicht einmal sicher, warum er es jetzt tat.

Flatternd hoben sich ihre Lider. Keinerlei Vorwurf lag in den feuchten Tiefen ihrer Augen. Keine Angst. Nur Mitleid und Neugier. „Musstest du vielen Menschen Leid zufügen?“, fragte sie. „Um dein Zuhause zu verteidigen, meine ich?“

Zuerst reagierte er nicht. Es gefiel ihm, dass sie das Beste von ihm glauben wollte, doch seine Ehre verlangte von ihm, dass er sie warnte, statt zuzulassen, dass sie sich irgendwelchen Illusionen über einen Mann hingab, der er nie gewesen war. Und auch nie sein würde. „Spar dir dein Mitleid, Grace. Du machst dir etwas vor, wenn du glaubst, man hätte mich je zu irgendetwas gezwungen. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen und handle aus freiem Willen. Immer.“

„Das ist keine Antwort auf meine Frage“, beharrte sie.

Er zuckte die Achseln.

„Es gibt Alternativen. Du könntest mit den Leuten reden, kommunizieren.“

Sie versucht, mich zu retten, begriff er erschüttert. Sie wusste nichts über ihn, weder über seine Prinzipien noch über seine Vergangenheit oder auch nur, woran er glaubte, und trotzdem versuchte sie, seine Seele zu retten. Wie … außergewöhnlich.

Frauen hatten entweder Angst vor ihm oder sie wollten ihn, wenn sie es wagten, sich eine Bestie in ihr Bett zu holen. Mehr als das boten sie ihm niemals an. Und mehr hatte er auch nie gewollt. Bei Grace ertappte er sich dabei, dass er alles begehrte, was sie zu geben hatte. Sie weckte Bedürfnisse, von denen er nicht einmal gewusst hatte, dass sie in ihm schlummerten.

Eine so tiefe Sehnsucht einzugestehen, und sei es nur sich selbst gegenüber, war gefährlich. Bloß dass ihm das plötzlich gleichgültig war. Alles außer diesem Moment, dieser Frau, dieser Sehnsucht schien auf einmal völlig nebensächlich. Es spielte keine Rolle, dass sie den Nebel durchschritten hatte. Es spielte keine Rolle, dass er einen Schwur zu erfüllen hatte.

Es spielte keine Rolle.

Sein Blick wanderte zu ihren Lippen. So exotisch, so herrlich einladend. Er sehnte sich danach, sie sanft mit seinen zu streifen oder seine ungestüm darauf zu pressen. Noch nie hatte er jemanden geküsst, hatte kein Interesse daran gehabt, es auszuprobieren. Doch in diesem Augenblick war das Bedürfnis, sich in dieser berauschenden Begegnung zweier Lippenpaare zu verlieren, stärker als jede Macht, die ihm je begegnet war.

Eine einzige Warnung sprach er aus. Nur eine. „Steh auf, oder ich küsse dich“, erklärte er rau.

Ihr fiel die Kinnlade herunter. „Dann geh runter von mir, damit ich aufstehen kann!“

Er erhob sich, und rasch tat sie es ihm gleich. Sie standen einander gegenüber, Feinde, gefangen in dem Moment. Doch obwohl sie sich von ihm gelöst hatte, war sein Verlangen nach ihr keineswegs geringer geworden. „Ich werde dich küssen“, sagte er. Eigentlich war es als Vorbereitung gemeint gewesen, doch aus seinem Mund klang es mehr wie eine Warnung.

„Du hast gesagt, das würdest du nicht, wenn ich aufstehe“, keuchte sie.

„Ich hab’s mir anders überlegt“, entgegnete er.

„Das geht nicht. Auf keinen Fall.“

„Oh doch.“

Ihr Blick huschte von seinen Augen zu seinem Mund, und sie leckte sich die Lippen genau so, wie er sie lecken wollte. Als sie wieder hochschaute, begegnete er ihrem Blick, hielt sie gefangen in der funkensprühenden Glut seiner Augen. Ihre Pupillen weiteten sich, bis das Schwarz das strahlende Türkisblau beinahe verschlungen hatte.

Er umfing sie wieder mit seinen Armen und zog sie zurück auf den Boden. „Schenkst du mir deinen Mund?“, fragte er.

Eine knisternde Pause.

Ich will es, dachte Grace benommen. Ich will, dass er mich küsst. Ob es nun das Feuer seiner Begierde war, das sich in sie eingebrannt hatte, oder ob es ihr eigenes Verlangen war: Sie wollte ihn schmecken.

Ihre Blicke trafen sich, und sie holte scharf Luft. Solche Begierde. Sengend. Hatte je ein Mann sie, Grace Carlyle, so angesehen? Mit einer solchen Sehnsucht im Blick, als wäre sie ein unermesslicher Schatz, den es zu genießen galt?

Die Welt um sie herum verblasste, und sie sah nur noch diesen sexy Mann. Verspürte nur noch das Bedürfnis, ihm etwas von sich zu schenken – und etwas von ihm zu bekommen. Er ist die leibhaftige sexuelle Erfüllung, dachte sie bei sich, dabei gefährlicher als eine geladene Waffe und doch so sanft und zärtlich wie ein Wolkenbett. Ich bin wirklich süchtig nach Gefahr. Sie liebte die Widersprüche in ihm. War er ein Ungeheuer oder ein Lamm – und welches von beiden begehrte sie mehr?

„Ich sollte dich nicht küssen wollen“, hauchte sie.

„Aber du willst es.“

„Ja.“

„Ja“, wiederholte Darius. Mehr Ermunterung brauchte er nicht. Er streifte ihre Lippen mit seinen, einmal, zweimal. Augenblicklich öffnete sie sich ihm, und er ließ die Zunge in ihren Mund gleiten. Sie stöhnte. Er stöhnte. Ihre Arme strichen an seiner Brust empor und legten sich um seinen Hals. Instinktiv vertiefte er den Kuss, nippte und leckte und knabberte an ihrem Mund, genau, wie er es sich ausgemalt hatte. Genau, wie er es wollte, ohne sich darum zu scheren, ob er es richtig machte.

Ihre Zungen drängten immer wieder aneinander und zogen sich zurück, anfangs langsam, dann mit zunehmender Heftigkeit, bis sie so ungezähmt miteinander tobten wie ein mitternächtlicher Sturm. Es wurde wild. Es wurde die Art Kuss, von der er insgeheim geträumt hatte, die Art Kuss, bei der sich selbst der stärkste Mann völlig vergaß – und dankbar dafür war. Ihre Beine schlangen sich um ihn, zogen ihn näher, und er schmiegte sich an ihren Körper, der so herrlich mit seinem harmonierte und weich war, wo er hart war.

„Darius“, stieß sie heiser und atemlos hervor.

Seinen Namen von ihren Lippen zu hören war die pure Glückseligkeit.

„Darius“, wiederholte sie. „Schmeckt gut.“

„Gut“, raunte er mit brechender Stimme.

Mitgerissen vom selben Sturm wie er, rieb sie sich kühn an der Härte seiner Erektion. Rieb sich überall an ihm. In ihre Erregung mischte sich Erstaunen, als könne sie kaum glauben, was sie da tat, war jedoch nicht in der Lage, damit aufzuhören. „Das kann nicht real sein“, murmelte sie. „Ich meine, du fühlst dich zu gut an. So gut.“

„Und du schmeckst wie …“ Darius tauchte die Zunge erneut in ihren Mund. Ja, er schmeckte sie. Schmeckte sie wahrhaftig. Sie war süß und spritzig zugleich, unwiderstehlich warm. Ein Aroma, so vielschichtig wie ein gut gereifter Wein. Hatte er je etwas so Köstliches geschmeckt? „Ambrosia“, brachte er heraus. „Du schmeckst wie Ambrosia.“

Er schob eine Hand in ihr Haar, genoss die weiche Textur. Mit der anderen Hand strich er über ihre Schulter, über die Erhebung ihrer Brust, weiter hinab über ihre Rippen bis zu ihrem Oberschenkel. Bebend schlang sie ihm die Beine fester um die Taille. Er schob die Hand wieder hoch und begann von Neuem. Tief aus ihrer Kehle ertönte ein Laut wie ein Schnurren.

Er fragte sich, wie sie in genau diesem Augenblick aussehen mochte, wollte ihre Augen sehen, während er sich ausgiebig mit ihr beschäftigte, ihr Lust verschaffte, wie er es noch bei keiner anderen Frau getan hatte. Die Vorstellung, sie zu beobachten, ihr zuzusehen, wie sie sich ihm hingab, war ihm so neu wie der Wunsch, sie zu küssen, doch das Bedürfnis ließ sich nicht ignorieren. Er riss sich los von ihrem Mund, unterbrach den Kuss – zweifellos das Schwierigste, was er je getan hatte – und richtete sich ein wenig auf.

Sein Atem ging schnell und flach, und als er auf sie hinabblickte, spannte sich sein Kiefer an. Mit geschlossenen Augen lag sie da, die geschwollenen Lippen leicht geöffnet. In einer erotisch zerzausten Mähne lag ihr das feuerrote Haar ums Gesicht. Ihre Wangen schimmerten rosig, und ihre Brust hob und senkte sich unter ihren schnellen Atemzügen.

Sie wollte ihn genauso verzweifelt wie er sie. Bei dieser Erkenntnis wurde er noch härter. Wahrscheinlich spürte sie dieselbe hoffnungslose Faszination und unwiderstehliche Anziehung wie er. Eine Anziehung, die er nicht verstand. Seine Seele war zu schwarz, ihre zu hell. Sie hätten einander verabscheuen sollen. Hätten sich weit weg voneinander wünschen sollen.

Er hätte ihren Tod wollen sollen.

Doch das tat er nicht.

Langsam öffnete sie die Augen. Ihre zarte Zungenspitze fuhr über ihre Lippen und hinterließ eine schimmernde Spur darauf. Wie weich und zerbrechlich sie war. Wie überwältigend schön.

„Ich hab noch nicht genug von dir“, verkündete sie mit einem verführerischen Lächeln.

Er gab keine Antwort. War nicht in der Lage dazu. Seine Stimmbänder waren wie belegt, als sich in seiner Brust etwas zusammenzog, eiskalt und sengend zugleich. Zuneigung. Ich hätte sie nicht küssen sollen. Er fuhr hoch, sodass er rittlings über ihr kniete.

Wie hatte er etwas wie das hier geschehen lassen können, obwohl er doch wusste, dass er sie auslöschen musste?

Er war es, der den Tod verdiente.

„Darius?“, fragte sie verunsichert.

Schwer senkten sich Schuldgefühle auf seine Schultern, doch er schob sie von sich. Nicht einmal Schuld durfte er empfinden, wenn er überleben wollte.

Unter seinem Blick verwandelte ihre Miene sich in Verwirrung, und vorsichtig stützte sie sich auf die Ellbogen. Sinnlich zerzaust fielen ihr die langen roten Locken um die Schultern und berührten sie an all den Stellen, die er selbst berühren wollte. Das Oberteil war ihr von einer porzellanhellen Schulter gerutscht.

Das Schweigen zwischen ihnen lud sich auf. Bitter lächelnd benetzte er zwei Finger und fuhr ihr über die vollen Lippen, sodass sein Speichel die Schwellung milderte und jede Spur von seiner Eroberung verschwinden ließ. Sie überraschte ihn, indem sie seine Finger in den Mund saugte, genau, wie er es vorhin mit ihrem Finger gemacht hatte. Als er ihre heiße Zungenspitze spürte, spannte sich jeder Muskel in seinem Leib erwartungsvoll an. Zischend holte er Luft und zog seine Hand weg.

„Darius?“, wiederholte sie, und ihre Verwirrung wuchs sichtlich.

Er war hergekommen, um sie zu verhören, doch sobald er sie gesehen, sie berührt, sie gekostet hatte, waren alle Fragen verschwunden. Er hatte es zwar geschafft, ihr eine oder zwei zu stellen, doch der Drang, einen Hauch ihres unschuldigen Geschmacks zu erhaschen, war so übermächtig gewesen, dass er nur allzu schnell vergessen hatte, wozu er hier war.

Er hatte Javar vergessen. Hatte Atlantis vergessen.

Noch einmal würde ihm das nicht passieren.

Hätte er sie nur als falsche Schlange entlarven können, dann hätte er sie hier und jetzt töten und sie aus seinen Gedanken verbannen können. Doch so, wie die Dinge standen, war er sich nicht sicher, ob er es über sich bringen könnte, ihr auch nur ein Haar zu krümmen. Der Gedanke brachte ihn aus dem Konzept, ließ ihm keine Ruhe und weckte in ihm den Drang, die Götter aus tiefster Kehle zu verfluchen. Wenn er in seiner Pflicht versagte, würde er damit seinen Schwur brechen und seine Ehre verwirken. Aber ihr ein Leid zuzufügen würde den letzten Rest seiner Menschlichkeit auslöschen.

Was sollte er nur tun?

Innerlich völlig zerrissen, sprang er auf. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, und es kostete ihn all seine Kraft, sich umzudrehen und zur Tür zu stapfen. Dort hielt er kurz inne. „Versuch nicht, noch einmal zu fliehen“, befahl er, ohne sie anzusehen. Wenn er sich ihr zuwandte, würde ihn womöglich die Kraft verlassen, die er benötigte, um sie hier zurückzulassen. „Es wird dir nicht gefallen, was sonst geschieht.“

„Wohin gehst du? Wann kommst du wieder?“

„Denk an meine Worte.“ Das massive Elfenbein glitt für ihn auf und er trat in den Aufenthaltsraum. Die Tür schloss sich automatisch, ohne den geringsten Laut, und versperrte ihm den Blick auf Graces gefährliche Schönheit.

Grace blieb sitzen, wo sie war, bebend vor … Schmerz? Er hatte sie doch gewollt, oder etwa nicht? Wenn ja, warum hatte er sie dann hier sitzen lassen, schwindelnd von der Intensität dieses Kusses?

Warum hatte er sie überhaupt verlassen?

Unbeeindruckt war er davonmarschiert, beinahe kaltblütig, als hätten sie nichts weiter getan, als sich über das Wetter zu unterhalten. Humorlos lachte sie auf.

Hatte er nur mit ihr gespielt? Nur einen Weg gesucht, sie zu manipulieren, während sie nach ihm gelechzt, in der Dekadenz, der Wildheit und der köstlichen Begierde gebadet hatte? Um die Antworten zu bekommen, von denen er anscheinend glaubte, sie würde sie zurückhalten?

Vielleicht ist es besser so, dass er gegangen ist, dachte sie wütend. Er war ein bekennender Mörder, doch wäre er geblieben, hätte sie ihm und sich die Klamotten vom Leib gerissen und dann gleich hier auf dem Fußboden mit ihm geschlafen.

Während jenes kurzen Moments in seinen Armen hatte sie sich endlich vollständig gefühlt, und dieses Gefühl hatte sie erhalten wollen.

Dieser Hunger, den er in ihr weckte … Er war zu intensiv, um real zu sein, doch zu real, um ihn zu leugnen.

Unter Darius’ kalter, unantastbarer Maske hatte sie ein Feuer in ihm lodern zu sehen geglaubt, ein zärtliches Feuer, das sanft leckte, statt sinnlos zu verzehren. Als er sie so leidenschaftlich angesehen und verkündet hatte: „Ich will dich küssen“, war sie sich so sicher gewesen, dass dieses Feuer existierte, gleich unter seiner Haut brodelte.

Wann immer er in der Nähe war, schrien ihre lange unterdrückten Hormone auf und versicherten ihr, jeder intime Kontakt mit ihm würde wild und verrucht sein. Auf genau die Art, von der sie mittlerweile seit Jahren träumte. Die Art, von der sie in Liebesromanen las und danach im Bett lag und sich wünschte, es läge ein Mann neben ihr.

Es reicht! Du musst einen Weg hier rausfinden. Vergiss Darius und seine Küsse.

Auch wenn alles in ihr angesichts einer so frevelhaften Vorstellung protestierte, schob Grace den Kuss in die hinterste Ecke ihres Bewusstseins. Dann fischte sie das Medaillon aus ihrer Tasche und legte es sich um den Hals, wo es hingehörte. Ha! Nimm das, Darius.

Sie sprang auf und drehte sich im Kreis, in der Hoffnung, bei einer zweiten Musterung seiner Gemächer einen Ausweg zu entdecken. Eine verborgene Tür, einen Sensor, irgendetwas. Als sie nur dieselben Wände erblickte wie zuvor, ohne jede Lücke in den Schnitzereien, fluchte sie leise. Wie konnte Darius hier ein- und ausgehen, ohne auch nur ein Wort zu sagen oder irgendetwas zu berühren?

Höchstwahrscheinlich durch Magie.

Überrascht blinzelte sie, als ihr klar wurde, mit welcher Leichtigkeit sie das in Erwägung zog. Magie. Gestern hätte sie jeden in die Psychiatrie einweisen lassen, der behauptet hätte, Zaubersprüche und dergleichen seien real. Mittlerweile wusste sie es besser. Sie konnte eine Sprache sprechen, die sie nie gelernt hatte.

Da sie selbst keine magischen Kräfte besaß, beschloss sie, sich gegen die Tür zu werfen. Sie betete, sie würde sich nichts brechen, während sie sich für den Aufprall rüstete.

Einmal durchatmen, noch einmal. Sie warf sich nach vorn.

Doch der Aufprall blieb aus.

Die Tür glitt geradewegs auf.

Beinahe wäre sie über die eigenen Füße gestolpert, es gelang ihr jedoch, ihren Schwung abzubremsen. Als sie zum Stehen kam, warf sie der Tür einen finsteren Blick zu. Hätte sie es nicht besser gewusst, sie hätte geschworen, das Ding sei lebendig und quäle sie mit Absicht. Es gab keinen Grund, warum sie sich diesmal so mühelos hätte öffnen sollen. Keinen Grund außer dem Medaillon … Ihre Augen wurden groß, und sie betastete das warme Metall um ihren Hals. Natürlich. Es musste eine Art Schlüssel sein, wie ein Bewegungsmelder. Das erklärte, warum Darius nicht gewollt hatte, dass sie es behielt.

Ich kann fliehen, dachte sie aufgeregt. Aufmerksam musterte sie ihre neue Umgebung. Sie befand sich nicht in dem Korridor, mit dem sie gerechnet hatte. Stattdessen war sie in einer Art Badezimmer. Es gab eine lavendelfarbene Chaiselongue, auf der sich perlengesäumte Satinkissen reihten, und in eine steinerne Einfassung war ein großer Pool eingelassen. Von der Decke hingen zahllose Bahnen durchscheinenden Stoffs. Der Traum eines jeden Inneneinrichters.

In jeder der anderen drei Ecken befand sich ein Torbogen, der irgendwo anders hinführte. Grace überlegte, welche Richtung sie nehmen sollte. Schließlich holte sie tief Luft und rannte in den mittleren Durchgang. Während sie durch den Korridor rannte, erkannte sie, dass die Mauern über und über mit Juwelen besetzt waren. Rubine und Saphire, Topas und Smaragd, und zwischen den Edelsteinen spannten sich fein ziselierte goldene Fäden.

In dem kleinen Korridor waren genug Reichtümer verbaut, um ein ganzes Land zu ernähren. Selbst der uneigennützigste Mensch auf Erden hätte Schwierigkeiten, einer solchen Verlockung zu widerstehen. Und genau davor schützte Darius sein Reich, wurde ihr klar: vor der Gier der modernen Gesellschaft. Aus genau diesem Grund tötete er.

Bei all dem offensichtlichen Reichtum rechnete sie mit Bediensteten oder Wachen, doch sie blieb allein, während sie rannte und rannte und rannte. Sie bemerkte ein Licht am Ende des Korridors – und nein, die Ironie daran ging nicht an ihr vorbei. Keuchend vor Anstrengung steuerte sie auf das Licht zu. Es mochte zwar kein aufregendes Leben sein, das sie daheim erwartete, aber wenigstens hatte sie eins. Sie hatte ihre Mutter, ihre Tante Sophie und Alex. Hier hatte sie nur Angst.

Und Darius’ Küsse.

Ärgerlich verzog sie das Gesicht bei der berauschenden Erregung, die die Erinnerung mit sich brachte: seine Lippen auf ihren, seine Zunge, die ihren Mund eroberte. Sein Körper, der sich an ihren presste.

Aufs Neue verloren in Gedanken an einen so seelenversengenden Kuss hörte sie die gereizten Männerstimmen erst, als es zu spät war. Ein Tisch voller Waffen huschte durch ihr Blickfeld, bevor Grace abrupt zum Stehen kam. Um ihre Knöchel flog Sand auf. Ihr fiel die Kinnlade herunter, und der Magen rutschte ihr in die Kniekehlen.

Oh mein Gott.

Sie war Darius entkommen, nur um anderen Kriegern von seinem Kaliber in die Arme zu laufen.

6. KAPITEL

Grace stand am Rand einer riesigen Arena aus weißem Stein und Marmor, die an ein restauriertes römisches Kolosseum erinnerte. Nur die Decke störte die Illusion – die gleiche Art kristallener Kuppel, die auch den Rest des … Gebäudes? Schlosses? überspannte.

Die Arena hatte die Länge eines Fußballfeldes. In der Luft lag der Geruch von Schweiß und Staub, das Ergebnis von mehreren Männern, die offensichtlich versuchten, einander mit den Schwertern, die sie schwangen, auszulöschen. Ihre Rufe und dumpfen Kampfeslaute mischten sich in das Klirren von Metall auf Metall, bei dem sie am liebsten zusammengezuckt wäre. Noch hatte niemand Grace bemerkt.

Ihr hämmerte das Herz in der Brust, und hastig fuhr sie herum, um zurück in dem Korridor zu verschwinden. Als sie noch einen Krieger entdeckte, der soeben am anderen Ende den Gang betrat, huschte sie beiseite, außer Sichtweite. Hatte er sie gesehen? Sie wusste es nicht; sie wusste nur, dass der nächstgelegene Ausgang versperrt war. Der nächstgelegene Ausgang ist versperrt!

„Beruhige dich“, flüsterte sie. Sie würde einfach zwei Minuten warten. Sicher würde der Gang dann frei sein; für einen so kurzen Zeitraum konnte sie doch bestimmt unentdeckt hierbleiben. Dann würde sie fliehen. Ein Kinderspiel.

Bitte lass es ein Kinderspiel sein.

„Wer hat dir das Kämpfen beigebracht, Kendrick?“, fauchte einer der Männer. Er war der Größte unter den Anwesenden, mit breiten Schultern und muskelbepackt. Das helle Haar hatte er sich zu einem tief sitzenden Pferdeschwanz zurückgebunden, der ihm gegen die Wange flog, als er seinen Gegner zu Boden stieß. „Deine Schwester?“

Der Kerl namens Kendrick sprang wieder auf, das Schwert kampfbereit erhoben. Er trug die gleiche Uniform wie die anderen: schwarze Lederhose und schwarzes Oberteil. Er war unverkennbar der Jüngste. „Vielleicht war es ja deine Schwester“, grollte er. „Nachdem ich es ihr besorgt hatte, versteht sich.“

Grace fiel die Kinnlade herunter, als für einen Augenblick grüne Schuppen auf dem Gesicht des anderen Mannes erschienen. Als sie blinzelte, waren sie wieder verschwunden.

Der große Blonde steckte sein Schwert in die Scheide und breitete die Arme aus. Herausfordernd bedeutete er Kendrick mit einer Handbewegung, auf ihn loszugehen. „Wenn ich eine Schwester hätte, würde ich dich auf der Stelle umbringen. Da dem nicht so ist, werde ich dir einfach nur die Aufmüpfigkeit aus dem Leib prügeln.“

Ein weiterer Mann trat zwischen die beiden Streithähne. Er hatte braunes Haar und überraschend traurige Gesichtszüge. Anders als die anderen war er nicht bewaffnet. „Das reicht“, sagte er. „Wir sind hier unter Freunden, nicht unter Feinden.“

„Halt die Klappe, Renard“, mischte sich ein junger Mann in die Diskussion ein, der kaum älter schien als Kendrick. Er richtete die Spitze seines Schwertes auf die Brust des Traurigen. Einige feuchte Strähnen seines braunen Haars klebten ihm an den Schläfen und rahmten das Drachentattoo ein, das sich von seinem Kiefer aufwärts zog. „Es wird Zeit, dass du und die anderen begreifen, dass ihr nicht unfehlbar seid.“

Renard verengte die goldenen Augen. „Nimm die Waffe runter, Grünschnabel, oder ich schlitze dich gleich hier auf.“

Der „Grünschnabel“ erbleichte und tat, wie ihm geheißen.

Vorsichtig wich Grace einen Schritt zurück. Atmen, befahl sie sich. Einfach weiteratmen. Die Männer würden einander umbringen. Das Gute daran war: Wenn sie tot waren, könnten sie Grace nicht mehr von der Flucht abhalten.

„Kluge Entscheidung“, kommentierte ein anderer Mann. Dieser hatte rotblondes Haar und ein atemberaubend schönes Gesicht, ein verstörender Kontrast zu der Tatsache, dass er gerade eine zweischneidige Axt polierte. In seinen goldenen Augen glomm trockene Erheiterung. „Renard hat schon Männer für weniger getötet. Er weiß genau, wo er zustechen muss; wie er sie tagelang bluten und leiden lassen kann, bevor er ihnen endlich die Gnade des Todes gewährt.“

Bei seinen Worten trat Grace kalter Schweiß auf die Stirn. Sie schob sich einen weiteren Schritt zurück.

„Er versucht doch bloß, dir Angst einzujagen“, stieß einer der Jüngeren gepresst hervor. „Hör nicht auf ihn.“

„Ich hoffe, ihr bringt euch gegenseitig um.“ Der hitzige Ausbruch kam von einem schwarzhaarigen Krieger, der seine Waffe in den Boden rammte. „Ich hab euer Gejammer wirklich satt.“

„Gejammer?“, ertönte es aus der Gruppe. „Und das aus deinem Mund, Tagart.“

Diesen Moment wählte Kendrick, um sich auf den großen Blonden zu stürzen. Brüllend stürzten die beiden Männer zu Boden, und die Fäuste flogen nur so. Sämtliche Anwesenden zögerten nur einen winzigen Moment, bevor sie sich ebenfalls ins Getümmel stürzten. Und so seltsam es auch war: Sie alle schienen zu lächeln.

Rasch warf Grace einen Blick in den Korridor. Leer. Die Erleichterung ließ ihre Knie weich werden. Wachsam behielt sie die Prügelei im Auge und wich wieder ein Stück zurück … dann noch eins … und noch eins.

Und stieß geradewegs gegen den Waffentisch.

Mit einem lauten Klirren fielen die verschiedenen Waffen zu Boden.

Dann … Stille.

Die Männer hielten inne und fuhren zu ihr herum. Innerhalb weniger Sekunden huschten die unterschiedlichsten Ausdrücke über ihre blutigen, zerschundenen Gesichter: Schock, dann Freude, dann Gier. Ihr stockte der Atem. Hastig rannte sie hinter den Tisch. Ein Stück Holz würde diese Männer nicht aufhalten, so viel war ihr klar, aber die Barriere zwischen ihr und ihnen verlieh ihr wenigstens etwas Mut. Sie versuchte, eins der Schwerter aufzuheben, doch es war zu schwer.

Plötzlich drängte sich von hinten eine Wand an sie. Eine äußerst lebendige, unverrückbare Wand.

„Du spielst also gerne mit dem Schwert eines Mannes, ja?“

Starke Männerarme schlangen sich um ihre Taille – und es waren nicht die von Darius. Die Haut dieses Mannes war dunkler, seine Hände nicht ganz so groß. Vor allem aber löste er nicht jene Woge der Erregung aus, die Darius in ihr weckte. In der Umarmung dieses Mannes empfand sie nichts als Angst.

„Nimm sofort deine Hände weg“, befahl sie ruhig und applaudierte sich im Geiste dafür. „Sonst wirst du es bereuen.“

„Glaubst du wirklich, ich würde es bereuen? Oder es eher weiterhin in vollen Zügen genießen?“

„Wen hast du da, Brand?“, fragte einer der Krieger.

„Das wollen wir doch gleich mal herausfinden“, antwortete der Mann hinter ihr. Seine raue Stimme an ihrem Ohr verdunkelte sich zu einem anzüglichen Raunen. „Was machst du hier, hm?“, fragte er. „Frauen sind in diesem Palast nicht gestattet, und schon gar nicht in der Trainingsarena.“

Sie schluckte. „Ich … ich … Darius hat …“

Unvermittelt spürte sie, wie er sich anspannte. „Darius hat dich geschickt?“

„Ja“, antwortete sie und betete, dass diese Aussage den Mann so verängstigen würde, dass er sie freiließe. „Ja, das hat er.“

Ein dunkles Lachen stieg aus seiner Brust empor. „Dann hat er also doch meinen Rat befolgt. Damit wir ihn nicht ärgern, hat unser Anführer uns eine Hure geschickt. Damit hätte ich nicht gerechnet. Vor allem hätte ich nicht damit gerechnet, dass er so rasch handelt.“

In ihrem Kopf blieb nur ein einziger Teil seiner Rede hängen. Eine Hure? Hure! Wenn sie glaubten, man würde Grace bezahlen, damit sie Sex mit ihnen hatte, dann würden sie jeglichen Widerstand ihrerseits als Teil eines Spiels verstehen. Sie erschauerte.

„Schon so aufgeregt, kleine Hure?“ Wieder lachte er. „Ich auch.“

Sie setzte dieselbe Technik ein wie bei Darius und trat dem Kerl mit voller Wucht auf den Fuß, bevor sie ihm den Ellbogen in die Magengrube stieß. Keuchend lockerte er seinen Griff. Sie drehte sich um, holte mit der Faust aus und schlug zu. Ihre Knöchel trafen auf seinen Kiefer. Durch den Aufprall flog sein Kopf zur Seite, und die sandfarbenen Zöpfe flogen um sein Gesicht. Aufheulend ließ er sie los.

Endlich frei, versuchte sie zu flüchten. Doch die anderen Krieger hatten sie bereits eingekreist und machten jedes Fortkommen unmöglich. Das Herz rutschte ihr in die Hose. Jeglicher Blutdurst, dessen Zeuge sie gerade noch gewesen war, schien verschwunden – da war nur noch Lust.

Einer der Männer zeigte auf Brand. „Ich glaube, sie mag dich nicht, Brand“, stellte er lachend fest. „Wollen wir wetten, dass sie mich mag?“

„Niemand von uns kann dich leiden, Madox. Warum sollte sie es tun?“

„Warum überlässt du sie nicht mir? Ich weiß, wie man mit Frauen umgeht.“

„Ja, aber weißt du auch, wie man sie vernascht?“

Rundum ertönte Gelächter.

Sie vernaschen? Guter Gott. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und erfasste ihren ganzen Körper.

Brand rieb sich den Kiefer und lächelte sie amüsiert an. „Hast du ein paar Freundinnen mitgebracht, kleine Hure? Ich glaube nicht, dass ich dich mit den anderen teilen will.“

Während er sprach, zogen „die anderen“ den Kreis um sie langsam enger. Sie fühlte sich wie ein Stück Fleisch, umgeben von Verhungernden.

„Ich will sie zuerst“, erklärte der Krieger mit den breitesten Schultern.

„Du kriegst sie aber nicht zuerst. Du schuldest mir noch einen Gefallen, und den fordere ich jetzt ein. Sie gehört mir. Du kannst sie haben, wenn ich mit ihr fertig bin.“

„Ihr könnt beide die Klappe halten“, schaltete sich der Schönste aus der Gruppe ein – derjenige, der eben noch seine Axt poliert hatte. „Ich habe da so eine Ahnung, dass die kleine Hure mich zuerst will. Frauen lieben dieses Gesicht.“

„Nein, tu ich nicht, und nein, du kannst mich nicht zuerst haben“, verkündete Grace. „Niemand kann mich haben. Ich bin keine Hure!“

Der Mann mit dem Tattoo am Kiefer grinste sie anzüglich an. „Wenn du nicht mit uns ins Bett willst, kannst du auch unser Abendessen sein.“

Sie keuchte auf und drehte sich im Kreis, um den ausgestreckten Händen der Männer zu entgehen. Droh ihnen, mach ihnen Angst. „Ich schmecke sauer“, platzte sie heraus. „Man hat mir mal gesagt, dass ich schlimmes Sodbrennen auslöse.“

Die Krieger grinsten nur noch breiter.

„Sodbrennen ist eine ernste Angelegenheit. Davon kann man Speiseröhrenkrebs kriegen. Die Magenschleimhaut kann sich dabei zersetzen!“

Unaufhaltsam kamen sie näher.

„Ich gehöre Darius“, stieß sie hervor. Mittlerweile griff sie nach jedem Strohhalm, den ihr Gehirn ihr noch reichte.

Alle Krieger erstarrten.

„Was hast du gesagt?“, fragte Brand und bedachte sie mit einem bedrohlichen Blick.

Sie schluckte. Vielleicht war es keine so gute Idee gewesen, Darius als ihren Liebhaber zu bezeichnen. Womöglich hatte er eine Frau – warum wollte sie auf einmal irgendetwas zerstören? –, und diese Männer könnten die Brüder der besagten Frau sein. „Ich, äh, hab gesagt, ich gehöre Darius?“ Die Worte kamen mehr als Frage denn als Feststellung aus ihrem Mund.

„Das ist unmöglich.“ Der Ausdruck auf Brands Gesicht verwandelte sich in eine beängstigend finstere Miene, und sein Blick schien sie zu durchbohren, anders zu betrachten, als er es zuvor getan hatte. „Eine Frau wie dich würde unser König nicht als die Seine beanspruchen.“

Eine Frau wie sie? König? War sie in den Augen dieser Männer etwa gut genug, um für sie die Hure zu spielen, aber nicht gut genug, um zu ihrem kostbaren Anführer Darius zu gehören? Also, das war jetzt wirklich beleidigend.

Natürlich war das völlig irrational, das wusste sie. Sie schob es auf ihre durcheinandergebrachten Gefühle. Schließlich hatte sie heute bereits das volle Programm durchlaufen, und sie hatte keinen Einfluss mehr darauf. Emotional war sie schon immer gewesen, aber normalerweise wusste sie ihre Gefühle zu kontrollieren.

„Ist er verheiratet?“, verlangte sie zu wissen.

„Nein.“

„Dann liegst du falsch“, erklärte sie, ohne sich mit der Erleichterung zu beschäftigen, die sie empfand. „Eine Frau wie mich würde er mit offenen Armen empfangen. Tatsächlich wartet er in diesem Augenblick auf mich. Ich mache mich lieber auf den Weg. Ihr wisst, wie wütend er wird, wenn sich jemand verspätet.“ Sie lachte nervös.

Brand ließ sie nicht vorbei. Stattdessen musterte er sie weiterhin mit einer beunruhigenden Intensität. Wonach suchte er? Und was sah er?

Plötzlich grinste er, ein Grinsen, das sein gesamtes Gesicht aufleuchten ließ. Er sah extrem gut aus, aber er war nicht Darius. „Ich glaube, sie sagt die Wahrheit, Männer“, sagte er. „Seht euch das Liebesmal an ihrem Hals an.“

Blitzschnell hob Grace die Hand an den Hals. Ihre Wangen wurden warm. Hatte Darius ihr einen Knutschfleck gemacht? Zuerst war sie geschockt, dann erfüllte sie eine unerwartete, unerwünschte und lächerliche Woge der Freude. Sie hatte noch nie einen Knutschfleck gehabt.

Was ist denn los mit mir? Abrupt setzte sie sich in Bewegung und schob sich unsanft an Brand und den anderen vorbei. Sie ließen sie widerstandslos passieren. Gehetzt rannte sie den Korridor entlang, fest damit rechnend, sie würden sie verfolgen. Doch es waren keine weiteren Schritte zu hören, und mit einem raschen Blick über die Schulter stellte sie fest, dass sie allein war. Als sie die Weggabelung in dem Badezimmer erreichte, steuerte sie den linken Torbogen an. Eine salzige Brise wehte ihr entgegen. Sie betete, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Das hatte sie nicht.

Sie fand sich in einem weiträumigen Speisesaal wieder. Darius war dort. Er saß an einem riesigen Tisch, die Augen auf die Fensterwand gegenüber gerichtet, als sei er tief in Gedanken. Eine schwere Aura der Traurigkeit umgab ihn. Er wirkte so verloren und allein. Grace war auf einmal unfähig, sich zu bewegen.

Er musste sie gespürt oder gerochen haben oder irgendetwas, denn auf einmal richtete sich sein Blick auf sie, und seine Augen weiteten sich voller Überraschung, um dann vor Zorn schmal zu werden. „Grace.“

„Bleib, wo du bist“, warnte sie.

Aus seiner Kehle brach ein tiefes Grollen hervor, und er sprang auf, wie ein Panther kurz vor dem Angriff. Und wie ein Panther schwang er sich über den Tisch und kam direkt auf sie zu. Panisch blickte sie sich um. Neben ihr stand ein Ziertisch, dekoriert mit einer Unzahl zerbrechlicher Gegenstände. Sie fegte alle zu Boden, sodass Vasen und Schalen zersprangen und Glasscherben in alle Richtungen flogen. Vielleicht würde ihn das aufhalten, vielleicht auch nicht. Sie wartete nicht, um es herauszufinden, sondern fuhr auf dem Absatz herum und ergriff die Flucht.

Mit wild klopfendem Herzen fegte sie um die Ecke und in den letzten Torbogen hinein. Sie musste nicht zurückblicken, um zu wissen, dass Darius unerbittlich näher kam. Seine Schritte hallten in ihren Ohren wider. Sein wütender Blick versengte ihren Rücken.

Am Ende des Korridors erspähte sie eine abwärts führende Wendeltreppe. Sie beschleunigte ihr Tempo. Wie nah war sie dem Sieg? Wie nah der Niederlage?

„Komm sofort zurück, Grace“, rief er.

Ihre einzige Antwort war ihr flacher Atem.

„Ich werde dich suchen. Ich gebe keine Ruhe, bis ich dich gefunden habe.“

„Ich hab deine Drohungen satt“, fauchte sie ihn über die Schulter hinweg an.

„Keine Drohungen mehr“, versprach er.

„Es spielt sowieso keine Rolle mehr.“ Schneller und schneller rannte sie die Stufen hinab.

„Du verstehst nicht.“

Der Eingang zu einer Höhle tauchte am Ende der Treppe auf. Und dort gleich vor ihr wogte der Nebel, rief nach ihr, lockte sie. Zu Hause, rief alles in ihr. Fast zu Hause.

„Grace!“

Mit einem letzten Blick in seine Richtung warf sie sich in den Nebel.

Die Welt um sie herum löste sich auf, und sie verlor den Boden unter den Füßen. Schwindel stürzte auf sie ein, Übelkeit regte sich unbehaglich in ihrem Magen. Unaufhörlich fiel sie und drehte sich, so unkontrollierbar, so heftig, dass ihr das Drachenmedaillon vom Hals rutschte.

Schreiend streckte sie die Hand aus und versuchte, die Kette zu fassen zu kriegen.

„Neeeein!“, rief sie, als das Schmuckstück außer Reichweite glitt. Doch im nächsten Augenblick hatte sie das Medaillon völlig vergessen. Überall um sie herum blitzten Sterne auf, so hell, so blendend, dass sie die Augen zukneifen musste. Hilflos ruderte sie mit Armen und Beinen; diesmal hatte sie mehr Angst als beim letzten Mal. Was, wenn sie an einem noch entsetzlicheren Ort landete als zuvor? Was, wenn sie überhaupt nirgendwo ankam, sondern in diesem Nichts gefangen blieb?

Ohrenbetäubende Schreie erfüllten die Luft, doch eine tiefe männliche Stimme hob sich von den anderen ab, und sie brüllte unaufhörlich ihren Namen.

7. KAPITEL

Sobald sich nicht mehr alles um sie drehte, kroch Grace durch die Höhle. Warme, feuchte Luft strich über ihre Haut und taute sie von innen wie von außen auf. Einem sanften Lichtschein folgend, gelangte sie bald aus der Höhle hinaus. Die vertrauten Geräusche des Regenwaldes empfingen sie: das Kreischen der Brüllaffen, das unaufhörliche Singen der Insekten und das Rauschen eines Flusses. Zutiefst erleichtert sprang sie auf die Füße. Beinahe hätten ihre Knie unter ihr nachgegeben, doch sie zwang sich loszulaufen, Abstand zwischen sich und diese andere Welt zu bringen.

Während sie rannte, ließ sie den Klangteppich nach und nach hinter sich. Das Sonnenlicht verblasste, bis nur noch eine furchtbare Düsternis herrschte. Dann öffnete der Himmel seine Schleusen, und Regen prasselte auf sie ein, durchtränkte sie. Der heftige Regenschauer und die Dunkelheit zwangen sie, unter einem nahegelegenen Strauch Zuflucht zu suchen. Beeil dich, beeil dich, beeil dich.

Endlich hörte der Regen auf, und sie schoss hoch, rannte aufs Neue durch den Urwald. Knorrige Äste griffen nach ihr, zerkratzten ihr das Gesicht, peitschten über ihre Arme und Beine, spritzten ihr hängen gebliebene Regentropfen in die Augen. Ohne innezuhalten, wischte sie das Wasser weg.

Nach und nach drangen wieder Sonnenstrahlen durch Dickicht und Wolken und erhellten einen trügerischen Pfad zwischen Bäumen, Sträuchern und Felsen. Zweige knackten unter ihren Stiefeln. Alle paar Schritte warf sie ängstlich einen Blick über die Schulter. Hielt ständig Ausschau, befürchtete das Schlimmste.

„Ich werde dich suchen“, hatte Darius gesagt. „Ich gebe keine Ruhe, bis ich dich gefunden habe.“

Wieder warf sie einen Blick über die Schulter … und rannte gegen einen harten Körper. Grace prallte zurück und landete mit einem dumpfen Laut auf dem Hintern. Der Mann, mit dem sie zusammengestoßen war, war kaum größer als sie und stürzte ebenfalls. Atemlos blieb er auf dem Rücken liegen. Kampfbereit war Grace sofort wieder auf den Beinen. Sie war gerade erst einer Horde von Kriegern entkommen und würde sich jetzt nicht gefangen nehmen oder überfallen lassen.

„Hey, hey“, sagte ein anderer Mann, trat über seinen gefallenen Freund und hielt beschwichtigend die schmutzigen Hände in die Höhe. Wasser tropfte vom Schirm seiner Baseballkappe. „Beruhigen Sie sich. Wir tun Ihnen nichts.“

Englisch. Er sprach Englisch. Wie der Mann am Boden war dieser durchschnittlich groß und hatte braunes Haar, braune Augen und gebräunte Haut. Er war dünn, nicht muskelbepackt, und trug ein beiges Leinenhemd. Über der linken Brust war das Argo-Logo eingestickt, ein antikes Schiff, eingerahmt von zwei aufgestellten Speeren. Über dem Schiff war der Name Jason zu lesen.

Jason von den Argonauten, dachte sie mit einem humorlosen innerlichen Lachen.

Auch Alex arbeitete für Argonauts. Sie überlegte, ob Alex je von einem Jason gesprochen hatte, konnte sich aber nicht erinnern. Es spielte keine Rolle. Er arbeitete mit ihrem Bruder zusammen, das war gut genug.

Die Kavallerie ist da.

„Gott sei Dank“, hauchte sie.

„Hoch mit dir, Mitch“, sagte Jason zu dem Gestürzten. „Der Frau ist nichts passiert, und es spricht nicht gerade für dich, wenn das bei dir anders aussieht.“ Er hielt Grace eine Feldflasche entgegen. „Trinken Sie etwas. Langsam. Sie sehen aus, als könnten Sie es gebrauchen.“

Gierig schnappte sie sich die Flasche und trank, so viel ihr Magen halten konnte. Diese Kühle. Diese Frische. Nichts hatte je so herrlich geschmeckt. Abgesehen von Darius, flüsterte ihr Unterbewusstsein. Ihn zu schmecken war mit nichts zu vergleichen.

„Machen Sie langsam“, warnte Jason und griff nach der Flasche. „Sonst müssen Sie sich noch übergeben.“

Am liebsten hätte sie ihn angefaucht, ließ jedoch zu, dass er sein Eigentum wieder an sich nahm. Wasser lief ihr übers Kinn, und sie wischte es mit dem Handrücken fort. „Danke“, keuchte sie. „Und jetzt lassen Sie uns von hier verschwinden.“

„Augenblick“, sagte er und überbrückte den Abstand zwischen ihnen. Er fasste sie beim Handgelenk und fühlte mit zwei Fingern ihren Puls. „Erst mal müssen wir wissen, wer Sie sind und was Sie hier machen. Davon abgesehen sind Sie offensichtlich völlig erschöpft. Sie müssen sich ausruhen.“

„Ausruhen kann ich mich später. Erklären werde ich ebenfalls alles später.“ Sie hatte nicht gesehen, wie Darius den Nebel verlassen hatte, ihn nicht gehört, doch sie würde kein Risiko eingehen. Diese beiden Männer könnte er mit einem bloßen Fingerschnippen umbringen.

Ihre Verzweiflung musste zu Jason durchgedrungen sein, denn mit großen Augen sah sie zu, wie er eine 9-Millimeter-Glock zog. Alex trug immer eine Waffe bei sich, wenn er auf eine Expedition ging, deshalb hätte sie der Anblick nicht beunruhigen sollen, doch das tat er.

„Ist jemand hinter Ihnen her?“, fragte er, ohne sie anzusehen. Dazu war er zu beschäftigt damit, den Wald hinter ihr abzusuchen.

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie und schaute sich beunruhigt um. Was hätte sie in diesem Augenblick für ihre eigene Waffe gegeben. „Ich weiß es nicht.“

„Wie können Sie das nicht wissen?“, fragte er barsch. Dann mäßigte er seinen Ton und fügte hinzu: „Sie sind offensichtlich verängstigt. Falls Sie verfolgt werden, womit haben wir es dann zu tun? Einem Eingeborenen? Einem Tier?“

„E-Eingeborener.“ Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. „Ist da draußen irgendjemand?“

„Nicht, soweit ich sehen kann. Robert“, rief er und durchsuchte noch immer den Wald mit Blicken.

„Hier“, ertönte aus einiger Entfernung eine raue Stimme. Grace konnte den Sprecher nicht sehen und nahm an, dass er zwischen dicken Baumstümpfen und Blattwerk verborgen war.

„Robert ist eine unserer Wachen“, erklärte Jason ihr. An Robert gerichtet rief er: „Irgendwelche Eingeborenen in Sicht?“

„Nein, Sir.“

„Bist du dir sicher?“

„Hundertprozentig.“

Nachdem Jason die Waffe wieder gesichert hatte, steckte er sie zurück in den Bund seiner Jeans. „Niemand ist hinter Ihnen her“, versicherte er Grace. „Entspannen Sie sich.“

„Aber …“

„Selbst wenn da draußen jemand wäre: Wir sind von Spähern umgeben, niemand würde es auch nur in Ihre Nähe schaffen.“

Also war Darius ihr nicht gefolgt. Warum war Darius ihr nicht gefolgt? Die Frage hallte durch ihre Gedanken und verwirrte sie. „Und Sie sind sicher, dass da draußen kein riesiger halb nackter Mann rumläuft?“, fragte sie. „Mit einem Schwert?“

„Einem Schwert?“ Eine dunkle Eindringlichkeit trat in Jasons Blick, als er sie erneut musterte. Hoch schien er vor ihr aufzuragen, größer, als sie gedacht hatte. „Ein Mann mit einem Schwert hat Sie gejagt?“

„Schwert, Speer, ist doch alles dasselbe, oder?“, log sie, ohne zu wissen, weshalb.

Jason entspannte sich. „Hier draußen ist niemand außer meinen Männern“, verkündete er selbstsicher. „Die Stämme hier draußen werden uns keine Schwierigkeiten machen.“

Das ergab keinen Sinn. Darius war so entschlossen gewesen, sie zu kriegen. Warum war er ihr nicht gefolgt? Sie war hin- und hergerissen zwischen Angst und Enttäuschung.

Ihre Gedanken zerstoben, als sie eine Woge des Schwindels erfasste. Schwankend rieb sie sich mit einer Hand die Stirn.

„Wie lange sind Sie schon hier draußen?“, fragte Jason. Er legte ihr einen Parka um die Schultern. „Vielleicht sind Sie von einem Moskito gestochen worden. Sie sind zittrig und rot, und bestimmt haben Sie auch Fieber.“

Malaria? Er glaubte, sie hätte Malaria? Humorlos lachte sie auf. Sie mochte müde und geschwächt sein, aber sie wusste, dass sie keine Malaria hatte. Vor ihrem Flug nach Brasilien hatte sie extra vorbeugende Medikamente genommen.

„Ich bin nicht krank“, sagte sie.

„Aber warum sind Sie dann – Sie haben Angst vor uns“, vermutete er. Er grinste. „Von uns haben Sie nichts zu befürchten. Wir sind Amerikaner wie Sie.“

Wieder überrollte sie der Schwindel. Sie zog sich den Parka enger um den Körper und klammerte sich an seine Wärme, während sie das Gleichgewicht langsam zurückerlangte. „Sie arbeiten für Argonauts, richtig?“, fragte sie matt.

„Das stimmt“, antwortete er, und sein Lächeln verschwand. „Woher wissen Sie das?“

„Mein Bruder arbeitet auch da. Alex Carlyle. Ist er hier bei Ihnen?“

„Alex?“, ertönte eine weitere Männerstimme. „Alex Carlyle?“

Grace wandte ihre Aufmerksamkeit … wie hieß er noch mal? Mitch, erinnerte sie sich. Sie wandte sich Mitch zu. „Ja.“

„Sie sind Alex’ Schwester?“, vergewisserte sich Mitch.

„Ganz genau. Wo ist er?“

Mitch war älter als Jason, mit ergrauendem dunklem Haar und leicht wettergegerbten Zügen. Anspannung zeichnete Falten um seine Augen. „Warum sind Sie hier?“, wollte er wissen.

„Sie zuerst. Wo ist mein Bruder?“

Die Männer tauschten einen Blick, und Mitch trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Jason richtete, hob er eine Augenbraue. Er wirkte ruhig und gelassen, doch in seinen Augen lag ein berechnender Glanz.

„Können Sie sich irgendwie identifizieren?“, fragte er.

Sie blinzelte und breitete die Arme aus. „Sehe ich so aus, als hätte ich einen Ausweis dabei?“

Sein Blick glitt über sie und verweilte einen Moment auf ihren Brüsten und Oberschenkeln, auch wenn die unter der tarnfarbenen Regenjacke kaum zu sehen waren. „Nein“, gestand er ein. „Tun Sie nicht.“

Unbehagen breitete sich in ihr aus. Sie war eine einzelne Frau, mehrere Tagesmärsche von der Zivilisation entfernt, in Gesellschaft von Männern, die sie nicht kannte. Sie gehören zu Argonauts, rief sie sich in Erinnerung. Sie arbeiten mit Alex zusammen. Du bist in guten Händen. Mit zittrigen Fingern schob sie sich das feuchte Haar aus dem Gesicht. „Wo ist mein Bruder?“

Mitch seufzte und wischte sich ein Rinnsal von Regenwasser von der Stirn. „Um ehrlich zu sein: Wir wissen es nicht. Deshalb sind wir hier. Um ihn zu finden.“

„Haben Sie ihn gesehen?“, fragte Jason.

Enttäuscht und besorgt rieb Grace sich die Augen. Langsam verschwamm ihre Sicht. „Nein. Hab ich nicht“, sagte sie. „Ich hab schon seit einer ganzen Weile nichts mehr von ihm gehört.“

„Sind Sie deshalb hier? Weil Sie nach ihm suchen?“

Sie nickte, dann presste sie die Fingerspitzen an die Schläfen. Die schlichte Geste weckte einen scharfen, unablässigen Schmerz in ihrem Kopf. Was war nur mit ihr los? Noch während sie sich das fragte, schoss der Schmerz von ihren Schläfen in ihren Bauch. Sie stöhnte. Im nächsten Augenblick fand sie sich vornübergebeugt wieder und übergab sich, und alles in ihr verkrampfte sich rebellierend.

Jason und Mitch sprangen weg von ihr, als wäre sie ansteckend. Als es endlich vorbei war, wischte sie sich mit dem Handrücken den Mund ab und schloss die Augen.

Mitch reichte ihr eine weitere Feldflasche, blieb aber auf Distanz.

„Alles in Ordnung?“, fragte er.

Ihr Magen rumorte noch immer, als sie an dem Wasser nippte. „Nein. Ja“, antwortete sie. „Keine Ahnung.“ Wo zum Teufel war ihr Bruder? „Haben Sie zu Alex’ Team gehört?“

„Nein, aber wir arbeiten mit ihm zusammen. Leider haben wir genau wie Sie schon seit einer Weile nichts mehr von ihm gehört. Er hat sich auf einmal einfach nicht mehr gemeldet.“ Jason hielt inne. „Wie heißen Sie?“

„Grace. Sind Sie gerade erst in Brasilien angekommen?“

„Vor zwei Tagen.“

Die nächste Frage wollte sie nicht stellen, aber es führte kein Weg daran vorbei. „Glauben Sie, da geht etwas nicht mit rechten Dingen zu?“

„Noch nicht“, antwortete Mitch. Er räusperte sich. „Wir haben einen von Alex’ Männern gefunden. Der Mann war ziemlich dehydriert, aber er hat gesagt, Alex hätte ihn zurückgelassen, um einer neuen Spur nachzugehen. Der Mann ist im Augenblick bei uns auf dem Boot und hängt am Tropf.“

„Und wohin hat diese neue Spur ihn geführt?“, fragte sie.

„Wir wissen es nicht.“ Er wandte den Blick ab. „Wissen Sie, wonach Alex gesucht hat? Sein Teamkollege hat irgendwas von, äh, Atlantis gefaselt.“

„Atlantis?“ Sie täuschte Überraschung vor. Dieser Mann arbeitete zwar mit Alex zusammen, nach seinen Worten zu urteilen hatte er allerdings nichts von Alex’ Plänen gewusst. Das bedeutete, ihr Bruder hatte nicht gewollt, dass er davon erfuhr, und Grace würde sich hüten, sie ihm zu verraten. Davon abgesehen: Wie sollte sie etwas so Unglaubliches erklären? „Ich dachte, er wollte die Legende über diese Kriegerinnen belegen. Sie wissen schon, die Amazonen.“

Damit schien er sich zufriedenzugeben und nickte. „Wie lange sind Sie schon hier draußen?“

„Seit Montag.“ Zwei furchtbare Tage, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten.

„Letzten Montag?“, schaltete sich Jason wieder in die Unterhaltung ein. „Sie haben hier draußen ganz allein überlebt – sieben Tage lang?“

„Sieben Tage? Nein, ich bin erst seit zwei Tagen hier.“

„Heute ist Montag, der zwölfte Juni.“

Mit Mühe unterdrückte Grace ein Keuchen und zählte die Tage. Am fünften hatte der Fremdenführer sie in den Dschungel geführt. Zwei Tage lang war sie durch den Regenwald geirrt, bevor sie den Nebel durchschritten hatte. Heute hätte der siebte sein sollen. „Heute ist der zwölfte, sagen Sie?“

„Ganz genau.“

Herr im Himmel, ihr fehlten fünf Tage. Wie konnte das sein? Was, wenn – nein. Augenblicklich schob sie den Gedanken fort.

Doch die Möglichkeit stürzte unaufhaltsam auf sie ein.

Sie stieß den Atem aus. Wären da nicht diese fehlenden Tage, hätte sie die Idee gar nicht erst in Erwägung gezogen. Aber … Was, wenn alles, was sie durchgemacht hatte, nur ihrer Einbildung entsprungen war? Wie eine Fata Morgana in der Wüste? Wie wahrscheinlich war es, dass ein Mann existierte, der ihr durch einen Zauberspruch eine neue Sprache beibringen konnte? Oder ihre Wunden lecken und sie damit heilen?

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