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Zwischen Wahrheit und Lüge

hier erhältlich:

Die Handschellen schließen sich noch am Flughafen um Isabelle Bornellis Handgelenke. »Mordverdacht« lautet der Haftgrund. Jack Swyteck, Miamis Strafverteidiger für die besonders schwerwiegenden Fälle und Highschoolfreund von Isas Ehemann Keith, übernimmt den Fall. Zwar beteuert Keith ihm gegenüber Isas Unschuld - doch was weiß der alte Freund eigentlich über die Vergangenheit seiner Frau? Warum verließ sie die USA damals so kurzfristig? Jack sieht sich einer Mandantin gegenüber, die stetig auf dem schmalen Grat zwischen Wahrheit und Lüge wandelt. Bis zuletzt ist ihm nicht klar, ob sie Täter oder Opfer ist. Oder beides.

»Ein Justizthriller der Superlative.«
Mainhattan Kurier

»Eines seiner besten Bücher. Grippando beginnt mit einem Knall und lässt nicht nach.«
Kirkus Review

»Gewichtig-einfallsreicher Thriller.«
ekz Bibliotheksservice


  • Erscheinungstag: 04.06.2018
  • Aus der Serie: Ein Jack Swyteck Roman
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677783
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Tiffany, in Liebe.
Auf ewig.

KAPITEL 1

»Unsere Kleine hat eindeutig deine Haare«, sagte Keith.

Isabelle Bornelli schenkte ihrem Ehemann ein erschöpftes Lächeln. Sie saßen seit zweiundzwanzig Stunden in einem Flugzeug von Hongkong nach Miami. Die Sitze der ersten Klasse einer Boeing 777 sind in einer 1-2-1-Formation aufgereiht. Isa und Keith wurden durch einen Gang getrennt. Links von Isa saß ihre gemeinsame fünfjährige Tochter Melany, in tiefen Schlaf versunken, den Kopf auf Isas Schoß, das Gesicht hinter Wellen aus seidigem, kastanienbraunem Haar verborgen.

»Es ist ein starkes Gen«, antwortete Isa.

Isa war eine wunderschöne Brünette, die ungern auf die Schönheitswettbewerbe ihrer Kindheit zurückblickte; doch im Alter von sechs Jahren von einer der erfolgreichsten Schönheitsakademien in Caracas entdeckt zu werden, hatte den Eifer in ihrer Mutter entfacht, Isa zu einem der begehrten »Miss«-Titel zu führen. In einem Land, dessen unvergleichliche Anzahl von »Miss Universe«-Gewinnerinnen eine Quelle seines Nationalstolzes war, waren Schönheitswettbewerbe nicht nur das Ticket armer Mädchen raus aus dem Barrio: Sie waren eine Chance auf ein besseres Leben für die ganze Familie. Doch nicht für die Bornellis. Isas Vater verabscheute Schönheitswettbewerbe und unterstützte die revolutionäre Meinung – wie der damalige Präsident Hugo Chávez es ausdrückte –, dass Schönheitsoperationen »monströs« waren. Am Ende war es Felipe Bornellis treue Unterstützung des Chávez-Regimes, mit der er die Familie aus einem zerbröckelnden Apartment in den kargen Hügeln westlich von Caracas herausholte. Isa war elf, als ihr Vater einen Diplomatenposten beim Generalkonsul der Bolivarischen Republik Venezuela in Miami zugesprochen bekam. Isa erhielt eine erstklassige Ausbildung an Miamis renommiertester International Middleschool. Und was noch besser war: Es gelang ihr, den Po-Implantaten mit zwölf, der chirurgischen Darmverkürzung mit sechzehn, einem auf die Zunge genähten Netz, welches Essen so schmerzvoll machte, dass es zur Tortur wurde, und all den anderen extremen Maßnahmen auszuweichen, mit denen die »Miss-Fabriken« die Mädchen ermunterten, ihre Jagd auf das aufrechtzuerhalten, was andere Leute als »perfekt« definierten.

Isa schob eine Locke zur Seite, die über Melanys Gesicht gefallen war, und ein Hauch von Traurigkeit legte sich auf das Lächeln einer Mutter. Dieses wunderschöne Haar verbarg außerdem die Hightech-Gerätschaft, die es Melany ermöglichte, zu hören.

»Zeit aufzuwachen, Schätzchen«, sagte Isa.

Melany hatte sich seit ihrem kurzen und einzigen Stopp in San Francisco kaum gerührt, wodurch Isa niemanden zum Sprechen gehabt hatte. Keith war Leiter der Vermögensverwaltung der Hongkonger Filiale der International Bank of Switzerland, IBS, und er hatte den gesamten Flug an seinem Laptop verbracht, es sei denn, er hatte etwas gegessen oder gedöst. Isa hatte überhaupt nicht geschlafen; das hier war kein Familienausflug.

Melany war nicht hörgeschädigt auf die Welt gekommen. Als die IBS Keith den Posten in Hongkong angeboten hatte, war Melany wie die meisten anderen zweiundzwanzig Monate alten Züricher Mädchen gewesen – was bedeutete, dass sie noch nicht ihre ganze Batterie an Impfungen gegen die Haemophilus influenzae Typ B erhalten hatte. »Hib« war allerdings nicht in Hongkongs Kinder-Immunisierungsprogramm enthalten. Zwei Monate vor ihrem dritten Geburtstag bekam Melany eine bakterielle Meningitis, ausgelöst durch Hib. Die Ärzte gaben ihr eine Überlebenschance von neunzig Prozent, was in der Theorie gut klang, bis Isa an die letzten zehn Personen dachte, denen sie Hallo gesagt hatte, und sich vorstellte, einer von ihnen wäre tot. Wochen später, als Melanys Zustand sich zu bessern begann, warnten die Ärzte vor einem Risiko von zwanzig Prozent, dass Langzeitschäden zurückbleiben könnten – alles Mögliche, von einem Hirnschaden bis zu einer Lebererkrankung, von Hörverlust bis zur Amputation einer Gliedmaße. Bis zu ihrem vierten Geburtstag war sicher und bestätigt, dass Melany am unglücklichen Ende des Spektrums gelandet war: Die Infektion hatte die winzigen, haargleichen Zellen in ihrer Hörschnecke zerstört und sie auf beiden Ohren nahezu vollständig taub zurückgelassen. Sie konnte nicht einmal Geräusche über 95 Dezibel hören – weder Rasenmäher noch Bohrmaschine, nicht einmal einen Presslufthammer.

Externe Hörhilfen waren nutzlos. Ihre einzige Hoffnung bestand in einem beidseitigen Cochlea-Implantat – einem winzigen mechanischen Gerät, das den Hörnerv stimuliert. Melanys Operation war ein Erfolg – für eine Weile. Sechs Monate nach Beginn von Melanys Gehör-Reha ging irgendetwas in ihrem rechten Ohr schief. Der Arzt in Hongkong versicherte ihnen, dass er es reparieren könne, aber Isa ging keine Risiken ein. Ein zweiter Fehlschlag würde zu einer weiteren Verknöcherung der Hörschnecke führen und Melany auf einem Ohr dauerhaft taub werden lassen, ohne jede weitere Chance auf ein Implantat. Im März flog Isa ihre Tochter nach Miami, für eine Einschätzung des Chirurgen, der als Pionier der Cochlea-Implantat-Chirurgie am Jackson Memorial Krankenhaus arbeitete. Er machte Operation Nummer eins rückgängig und schickte Melany bis zur vollständigen Heilung nach Hause. Jetzt, im April, nachdem das Risiko einer Infektion vorüber war, flogen sie zurück für Operation Nummer zwei.

»Wir landen in Kürze«, erklärte die Flugbegleiterin. »Sie müssen Ihre Tochter jetzt anschnallen.«

Isa schaltete Melanys Audio-Prozessor ein. Normalerweise schlief sie nicht mit dem Gerät, aber es war auch keine große Sache, wenn sie es tat. Die einzigen außenliegenden Teile waren das Mikrofon und der Sprachprozessor, der hinter dem Ohr lag wie ein Hörgerät, sowie ein Transmitter, der am Kopf direkt hinter dem Ohr getragen wurde.

»Wach auf, Liebling.«

Melany öffnete blinzelnd die Augen, und Isa stieß die angehaltene Luft aus. Seit die Sache mit dem rechten Ohrimplantat schiefgelaufen war, war immerzu ein Gefühl der Erleichterung greifbar, wenn Isa die Bestätigung bekam, dass das linke noch funktionierte – dass Melanys Gehirn den Klang der Stimme ihrer Mutter vernehmen konnte, selbst wenn sie sie nicht im traditionellen Sinne »hörte«.

Melany setzte sich auf, noch immer halb schlafend, legte ihre Arme um Isas Hals und kuschelte sich an ihre Schulter. Isa warf erneut einen Blick zu ihrem Ehemann. Er tippte auf seinem Smartphone herum.

»Was tust du gerade?«, fragte Isa.

»Ich informiere Jack, dass wir pünktlich landen.«

Jack Swyteck war Keiths Freund aus der Highschool. Er holte sie am Flughafen ab.

»Du kannst keine Nachrichten aus einem Flugzeug schicken.«

»Ehrlich gesagt kann ich das doch. Ich habe genau einen Balken.«

»Ich meinte, dass es nicht erlaubt ist.«

Der Boden vibrierte unter ihren Füßen, gefolgt vom hydraulischen Surren des Fahrwerks. Die Flugbegleiterin kam zurück. »Anschnallen, bitte. Und, Sir: kein Handy.«

»Tut mir leid«, gab Keith zurück.

Isa hob Melany hoch und bugsierte sie in ihren Sitz. »Um Himmels willen, Keith. Deinetwegen werden wir noch verhaftet.«

Keith steckte sein Smartphone weg und griff dann über den Gang, um Isas Hand zu halten. »Liebling, du bist gestresst. Es wird alles gut werden. Ich verspreche es.«

»Was wird gut werden?«, fragte Melany.

Sie hatte den ersten Teil des Gesprächs ihrer Eltern verpasst – den Teil, der vornehmlich auf der Seite ihres rechten Ohrs stattgefunden hatte, dem Ohr, das repariert werden musste.

Keith fing einen sanften Kuss von seinen Lippen mit der Faust auf und reichte ihn über den Gang an Isa weiter, die ihn auf Melanys Stirn platzierte. Das brachte sie zum Lächeln.

»Alles, meine Süße«, antwortete Keith. »Wirklich alles wird wieder absolut gut.«

Jack Swyteck lenkte den dreirädrigen Baby-Jogger durch das überfüllte International Terminal am MIA, dem Miami International Airport. Seine Frau beeilte sich, um mit ihm Schritt zu halten, und die zweijährige Riley quietschte vor Vergnügen, als der Kinderwagen im Zickzack um die Passagiere fuhr wie ein Testwagen um Hütchen.

»Hey, Lewis Hamilton, kannst du etwas langsamer machen, bitte?«, sagte Andie.

»Wir sind zu spät«, entgegnete er.

Sie waren immer zu spät. Es war ein unabänderlicher Grundsatz des Elterndaseins, dass die Menge an Zeug, die Papa Sherpa bei jedem noch so kleinen Trip mit dem Auto aus dem Haus schleppte, im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu Größe und Gewicht des Nachwuchses stand. Es war ebenso gut belegt, dass ganz egal, wie gut die Reise geplant war, es einfach unmöglich war, das letztendliche Ziel zu erreichen, ohne zum Auto zurückkehren zu müssen, um ein Stofftier, eine Kuscheldecke, einen klebrigen Becher oder irgendeine andere Sache zu holen, die, naturgemäß, genau die Sache war, ohne die Riley in genau diesem Augenblick nicht leben konnte.

Ein Mitarbeiter der Transportsicherheitsbehörde TSA stoppte sie am Sicherheitsschalter am Ende des Terminals. Weiter konnten sie nicht. Sie hatten das Flughafenäquivalent zur Samtkordel erreicht: ein Absperrband aus Nylon, das zwischen zwei Pfosten gespannt war. Jack suchte nach einer Stelle, die einen freien Blick auf die Ausgangstüren der US-Zollabfertigung bot, und dort warteten sie.

»Meinst du, du erkennst ihn?«, fragte Andie.

Jack hatte Keith Ingraham seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen, und es würde das erste Mal sein, dass sie die Frau und Tochter des jeweils anderen kennenlernten.

»Ja, aber nur, weil ich sein Foto auf der Webseite der IBS nachgeschlagen habe.«

»Sieht er anders aus?«

»Sieht noch genauso aus, abgesehen von seinem rasierten Schädel.«

»Das ist ein ziemlicher Unterschied.«

»Eigentlich nicht. Sein Haaransatz wich schon im Abschlussjahr unserer Highschool nach hinten. Ich schätze, irgendwann hat er einfach das Handtuch geschmissen. Sieht gut bei ihm aus. Wie ein junger Bruce Willis.«

Riley machte ein ungewöhnliches Geräusch in ihrem Kinderwagen. Sie imitierte das ältere Paar neben ihr, das Chinesisch sprach. Andie entschuldigte sich auf Mandarin – sie hatte ein paar Grundkenntnisse auf einem ihrer Undercover-Einsätze gelernt – und sprach dann weiter.

»Warum habt ihr zwei euch aus den Augen verloren?«

»Die übliche Geschichte, vermute ich. Keith ist in Miami geblieben und hat Business an der Universität von Miami studiert. Ich bin fürs Jurastudium weggegangen. Als ich wieder nach Miami zurückkam, hat er an der Wall Street für Sherman & McKenzie gearbeitet.«

»Während du also mit einem Minimalbudget gelebt und beim Freedom Institute Todeskandidaten verteidigt hast, hat dein alter Kumpel Keith bei S&M mit vollen Händen Geld gescheffelt.«

»Die Abkürzung lautet ›SherMac‹. Niemals ›S&M‹.«

»Witzig, aber als ich am Höhepunkt der großen Rezession siebzig Stunden die Woche Hypothekenbetrug untersucht habe, haben die meisten bei uns im Bureau den Laden und seine aufgeblähten Bilanzaufstellungen immer nur ›S&M‹ genannt: Schummeln und Mauscheln.«

Das war einer der vielen interessanten Aspekte daran, als Strafverteidiger mit einem FBI-Agenten verheiratet zu sein: Man erlebte eine überraschende Enthüllung nach der nächsten, welche Freunde dicht genug an Andie Henning und den langen Arm des Gesetzes herangekommen waren, um sich zu verbrennen, und dann doch, anders als Ikarus, heil genug davonkamen, um noch weiterzufliegen.

»Jetzt ist Keith ja bei der IBS«, sagte Jack.

»Ah, SS&M – Schweizer Schummeln und Mauscheln.«

»So viel Zynismus«, erwiderte er mit einem Lächeln.

Ein gleichmäßiger Strom reisemüder Passagiere kam aus der Abfertigung. Freunde und Familienmitglieder voller Vorfreude warteten zusammen mit Jack und begrüßten ihre Lieben mit Umarmungen, Lächeln und Freudentränen, während sie auf die andere Seite des Absperrbandes gingen. Jack behielt ein Auge auf dem Ausgang. Und endlich – selbst vom anderen Ende des langen Korridors aus erkannte er ihn augenblicklich.

»Da sind sie«, informierte er Andie.

Keith erwiderte Jacks Winken, als er und seine Familie näher kamen. Keith schob einen voll beladenen Gepäckwagen. Seine Frau und Tochter gingen Hand in Hand neben ihm.

»Wow«, sagte Andie. »Wenn seine Frau nach einem Flug um den halben Globus noch so aussieht, hat dein alter Kumpel sich eine wunderschöne Frau geangelt.«

Andie war nicht der eifersüchtige Typ, auch wenn Jack noch immer verwundert über die Art und Weise war, mit der Frauen andere Frauen bewerteten. Wenngleich er genau dasselbe gedacht hatte.

Der große Augenblick war eine typisch männliche Wiedervereinigung: gegenseitiges Rückenklopfen und Umarmungen, die keine richtigen Umarmungen waren, gefolgt von Jacks Beharren, dass er beim Tragen des Handgepäcks behilflich sein würde – ein Tauziehen, das, vorhersehbarerweise, damit endete, dass Keith die kleineren Taschen oben auf den schon völlig überladenen Gepäckwagen stapelte und versicherte: »Ich mach das schon.« Die Erwachsenen hatten die Vorstellungsrunde zur Hälfte geschafft, als Riley aus ihrer Karre krabbelte, um Hallo zu sagen. Sie wollte vom Fleck weg Melanys neue beste Freundin sein. Melany war etwas zurückhaltender oder vielleicht nur erschöpft.

Jack setzte Riley zurück in die Karre, und sie wollten gerade aufbrechen, als zwei Polizisten sich näherten. Jack erkannte die Uniformen des Miami-Dade Police Departments. Der Größere der beiden sprach.

»Isabelle Bornelli?«, fragte er.

Ihre Karawane blieb stehen, bevor sie richtig gestartet war. Das Lächeln erlosch, und ein plötzliches Unwohlsein befiel die Gruppe.

»Ja«, antwortete sie.

»Sie sind verhaftet.«

Der zweite MDPD-Officer ging auf Isa zu und fesselte mit präzisen Bewegungen ihre Hände hinter dem Rücken mit Handschellen zusammen. Sie wehrte sich nicht.

»Whoa«, sagte Keith. »Was geht hier vor?«

Der verhaftende Polizist verlas Isa ihre allseits bekannten Rechte, aber Keith sprach weiter. »Das ist verrückt. Hören Sie, wenn es hier um die SMS geht, die ich aus dem Flugzeug gesendet habe, ich …«

»Keith, hör auf zu reden«, mahnte Jack mit fester Stimme, als er in den Strafverteidiger-Modus schaltete.

»Nein, ich muss wissen, worum es hier geht.«

»Keith, hör auf das, was ich dir sage«, mahnte Jack.

Keith drängte weiter. »Wofür wird meine Frau verhaftet?«

Die Miene des Polizisten blieb steinern. »Mord.«

»Was!?«

»Sie wird verhaftet wegen des Mordes an Gabriel Sosa«, sagte der Officer.

Die nächsten Worte taumelten Keith aus dem Mund. »Was … wie? Ich … wir kennen niemanden namens …«

»Keith, ich meine das sehr ernst«, knurrte Jack. »Hör sofort auf zu reden. Isa, beantworte keine Fragen, und sprich mit der Polizei über gar nichts. Sag nur, dass du mit deinem Anwalt sprechen willst. Verstehst du das?«

Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war purer Schrecken, aber sie nickte.

»Mommy, wohin gehst du?«, fragte Melany mit sorgenvoller Stimme.

»Geben Sie ihr dreißig Sekunden mit ihrer Tochter«, bat Jack die Polizisten, und sie taten es. Isa ging runter auf ein Knie und versuchte, Melany die Situation zu erklären. Eine Traube Schaulustiger hatte sich versammelt und formte einen groben Halbkreis auf der zugänglichen Seite des TSA-Absperrbands. Jack trat einen halben Schritt näher an den Officer heran und sprach laut genug, um verstanden, aber nicht belauscht zu werden.

»Ich bin Anwalt«, erklärte Jack.

»Sind Sie ihr Anwalt?«, fragte der Officer.

»Er ist es jetzt«, antwortete Keith.

»Ich möchte den Haftbefehl sehen.«

Der Officer reichte Jack eine Kopie. Es war bloß eine Seite, wie üblich, wenig mehr als ein Hinweis auf die entsprechenden Passagen des Strafgesetzbuchs sowie ein Zitat des Beschlusses des Richters, wonach, basierend auf der eidesstattlichen Versicherung eines MDPD-Detectives, hinreichender Verdacht bestünde, dass Isa Bornelli das angeführte Verbrechen begangen habe. Alle weiteren Details stünden in der zugrundeliegenden eidesstattlichen Versicherung des Detectives, die Jack sich vom Gericht oder der Staatsanwaltschaft besorgen müsste.

»Gehen wir, Ma’am«, sagte der Officer.

Isa versuchte instinktiv, ihre Tochter zu umarmen, doch die Handschellen ließen das nicht zu. Sie kämpfte mit den Tränen, als sie Melany auf die Wange küsste, und ihre Knie zitterten, als sie sich erhob.

Jack reichte Keith eine Visitenkarte und sagte ihm, dass er sie in Isas Vordertasche stecken solle, was er auch tat. »Da steht meine Handynummer drauf«, erklärte ihr Jack. »Wir folgen Ihnen ins …«

Jack stoppte. Er wollte das Wort »Untersuchungsgefängnis« nicht vor den Kindern in den Mund nehmen. »Dorthin, wo man Sie hinbringt«, sagte er. »Aber rufen Sie mich an, falls Sie sprechen müssen, bevor wir dort sind.«

Isa antwortete nichts; sie sah aus wie betäubt. Keith wollte gerade für eine letzte Umarmung zu ihr gehen, doch Melany begann zu weinen, also ging er stattdessen zu ihr und nahm sie auf den Arm.

»Ist in Ordnung, Baby. Mommy geht nur für ein nettes Gespräch mit den freundlichen Polizisten mit«, erklärte er ihr mit einer Stimme, die nicht einmal Riley getäuscht hätte, geschweige denn eine Fünfjährige.

Die Polizisten brachten Isa weg, aber nicht in Richtung Hauptausgang des Terminals. Sie zogen sich auf die andere Seite des Absperrbandes zurück, und ein TSA-Agent eskortierte sie durch den Sicherheitsbereich, was es ihrem Anwalt und sogar ihrem Ehemann unmöglich machte, ihnen zu folgen.

»Wir lieben dich!«, rief Keith ihr hinterher, und sprach damit auch für Melany.

Isa schaute über ihre Schulter zurück, während die Polizisten sie weiter und weiter von ihrer Familie fortbrachten. Jack beobachtete sehr genau ihren Gesichtsausdruck und warf dann einen kurzen Blick hinüber zu Keith, bevor er wieder zu Isa sah. Ihr Blick konzentrierte sich ganz auf Keith, doch Jack konnte ihr einen kurzen Augenkontakt abringen, bevor sie wieder wegschaute.

Jack teilte seine Gedanken nicht mit Keith, doch von seiner Position aus gab es keinen Zweifel an dem, was Isa ihrem Ehemann ohne Worte mitgeteilt hatte:

Sie kannte Gabriel Sosa. Isa wusste genau, worum es hier ging.

KAPITEL 2

Jack und Keith eilten zu seinem Wagen im Flamingo-Parkhaus. Andie stellte sich für ein Taxi an und brachte die Mädchen in ihr Haus auf Key Biscane.

Jack telefonierte über die Freisprechanlage, während er in Richtung Flughafenausgang fuhr. Die Geschäftszeit war bereits um, also rief er Abe Beckham zu Hause an. Abe war der leitende Prozessanwalt im Büro der Staatsanwaltschaft des Miami-Dade-Countys, einer von etlichen Anklägern, an die man sich in einem Fall von Mord wenden konnte. Er war nicht direkt ein Freund, aber Jack hatte zwei Mordprozesse gegen ihn geführt, und zwischen ihnen herrschte gegenseitiger Respekt.

»Tut mir leid, nicht mein Fall«, sagte Abe. »Der gehört Sylvia Hunt.«

»Sylvia kenne ich nicht.«

»Ich lasse sie wissen, dass Sie sie sprechen wollen.«

»Ich muss so schnell wie möglich mit ihr sprechen. Heute Abend, um genau zu sein.«

»Ich sehe, was ich tun kann.«

Jack dankte ihm und unterbrach die Verbindung. Es gab mehr als eine Route zum Untersuchungsgefängnis, doch die abendliche Rushhour war vorbei, also fuhr Jack auf den Dolphin Expressway.

»Glaubst du, die Staatsanwältin ruft dich an?«, fragte Keith.

Jack behielt den Blick auf der Straße. »Wenn wir in den nächsten fünf Minuten nichts von ihr hören, werde ich sie anrufen.«

Keith stieß einen schweren Seufzer aus. »Nun, so hatte ich dir meine Frau jedenfalls nicht vorstellen wollen.«

Jack hätte ein Freund sein und ihn schlicht und ergreifend beschwichtigen können, doch er war mental im Anwaltsmodus. »Wie gut kennst du sie, Keith?«

»Wir sind seit sechs Jahren verheiratet. Was für eine Frage soll das sein?«

»Ich fragte nicht, wie lange. Ich fragte, wie gut. Wie lange arbeitest du in der Woche für gewöhnlich? Siebzig, achtzig Stunden?«

»Wir verbringen gemeinsam Zeit.«

Gemeinsam: Code für nicht genug. »Du bist viel unterwegs, vermute ich.«

»Einmal die Woche nach Zürich. Alle paar Wochen nach Singapur oder Tokio, je nachdem, wo wir das Asien-Privatvermögen-Meeting haben. Dann gibt es noch die Gelegenheitstrips – Akquisitionen, Events bei hochklassigen Kunden; solche Dinge.«

»Also bist du im Durchschnitt … was? Drei Nächte die Woche zu Hause?«

»Manchmal vier. Wenn du andeuten willst, dass ich die Frau nicht wirklich kenne, die ich geheiratet habe, und sich herausstellt, dass sie eine Mörderin ist, dann bist du völlig verrückt geworden.«

»Ich stelle nur die Fragen, die ich stellen muss. Hat Isa irgendwelche Vorstrafen?«

»Nein.«

»Bist du sicher?«

»Ich habe sie nie überprüfen lassen, falls das deine Frage ist.«

»Was weißt du über ihre Familie?«

»Ihre Mutter starb, bevor ich Isa kennenlernte. Ihr Vater lebt in Caracas – zumindest ist das der Stand, den ich habe. Ich habe ihn nie getroffen. Er und Isa haben keinen Kontakt. Isa wollte ihn nicht einmal zu unserer Hochzeit einladen.«

»Warum nicht?«

»Politik. Er war ein alter Kumpel von Chávez, als Isa noch jung war. Ich will ihr keine Worte in den Mund legen und behaupten, dass sie rebelliert, aber hätte die Tochter eines Parteibuchbesitzers der Vereinigten Sozialistischen Partei einen größeren Kapitalisten heiraten können als den Vermögensmanager einer Schweizer Bank?«

Es hatte eine Zeit gegeben, in der Jack, ein junger Strafverteidiger, der Insassen des Todestrakts vertrat, nicht mehr mit Harry Swyteck gesprochen hatte, dem »Law and Order«-Gouverneur, der mehr Todesurteile unterzeichnet hatte als jeder seiner Vorgänger in Floridas Geschichte. Jack hatte den Leuten ebenfalls immer erzählt, es ginge um Politik; doch es ging niemals nur um Politik.

»Ich denke, ich kenne das Gefühl«, sagte Jack.

»Diese ganze Sache muss ein Irrtum sein«, sagte Keith. »Isa hat seit Jahren keinen Fuß nach Miami gesetzt. Sie hat die Universität hier nach ihrem ersten Jahr verlassen und ihren Abschluss in Zürich gemacht. Sie hat an ihrer Doktorarbeit in Psychologie gearbeitet, als ich sie kennenlernte.«

»Isa hat einen Doktortitel?«, fragte Jack, und klang überraschter, als es seine Absicht gewesen war.

»Noch nicht. Das ruht, seit Melany geboren wurde. Ehrlich gesagt, ruht so ziemlich alles, seit die Probleme mit dem Ohr angefangen haben. Das ist Isas Vollzeitbeschäftigung.«

Jack lenkte den Wagen auf die rechte Spur der Schnellstraße und nahm die Ausfahrt an der Twelfth Street. Sein Handy klingelte, als sie an der roten Ampel am Ende der Rampe warteten. Es war Sylvia Hunt. Sie war nicht bereit, viel am Telefon zu sagen, wollte Jack aber per E-Mail eine Kopie der eidesstattlichen Aussage zukommen lassen, die den Haftbefehl ermöglicht hatte, was im Grunde alles war, was Jack sich wünschte. Eine Frage jedoch wollte er sofort beantwortet haben:

»Wann wurde Gabriel Sosa ermordet?«

»Vor zwölf Jahren, diesen Monat«, antwortete Hunt. »Siebzehnter April, um genau zu sein.«

»Also war das ein bisher ungelöster Fall?«

»Ja.«

»Ich nehme an, es gibt irgendeinen neuen Beweis, der Isa Bornelli mutmaßlich mit dem Verbrechen in Verbindung bringt?«

»Ja. Das steht in der eidesstattlichen Aussage, die für den hinreichenden Tatverdacht gesorgt hat.«

»Sie können mir nicht einfach sagen, was es ist?«

»Ich bereite mich auf eine Aufhebungsanhörung in einem anderen Fall vor. Ich bin im Augenblick nicht auf Ms. Bornelli konzentriert und möchte mir nicht vorwerfen lassen, irgendetwas falsch wiederzugeben. Lesen Sie die Eidesstattliche, und dann bin ich gerne bereit, einen Termin zu vereinbaren, damit wir uns zusammensetzen und das besprechen können.«

Einige Ankläger gingen lieber auf Nummer sicher, vor allem bei Strafverteidigern, mit denen sie nie zuvor zu tun gehabt hatten.

»Sie schicken die E-Mail jetzt los?«, fragte Jack.

»Sobald wir auflegen.«

»Okay. Eine letzte kurze Frage. Mir ist aufgefallen, dass der Haftbefehl Mord mit besonderen Umständen aufführt. Was sind das für besondere Umstände?«

»Entführung und Folter.«

Die Ampel wurde grün. Dasselbe galt für Keiths Gesicht.

»Mit ›Entführung‹ meinen Sie, um Lösegeld zu erpressen?«, fragte Jack.

»Ich muss jetzt wirklich zurück zu meinem anderen Fall. Lesen Sie die Eidesstattliche, bitte.«

Jack bedankte sich bei der Staatsanwältin, legte auf und fädelte sich in den Verkehr Richtung Justizgebäude ein. Keith sah aus, als wäre ihm wirklich übel.

»Alles in Ordnung?«, fragte Jack.

»Entführung und Folter? Ernsthaft? Das ist ein beschissener Albtraum.«

Jack wollte die Angelegenheit nicht schlimmer machen, als sie ohnehin schon war, doch er brauchte Antworten. »Wo war Isa diesen Monat vor zwölf Jahren?«

Keith Keith holte noch einmal tief Luft. »Sie war Studentin.«

»Wo?«

Jack schaute in Keiths Richtung, doch der starrte durch die Windschutzscheibe, wie hypnotisiert von der Kette roter Rücklichter vor ihnen. »Hier. An der Universität von Miami.«

Sie fuhren schweigend weiter. Keiner von ihnen musste aussprechen, dass der kürzeste Weg aus dem Schlamassel – das wasserdichte Alibi, dass Isa seit dem College überhaupt nicht mehr in den USA gewesen war – sich bereits in Luft aufgelöst hatte.

KAPITEL 3

Das Gerichtsgebäude war dunkel, doch die Lichter im Untersuchungsgefängnis auf der anderen Straßenseite – die Lucky Thirteenth Street, wie man sie nannte – brannten noch. Jack parkte auf dem Geschworenen-Parkplatz, der jetzt nach Ende des Verhandlungstages leer war. Es war nach acht Uhr, als er und Keith durch den Besuchereingang im Erdgeschoss schritten.

Das mehrstöckige Gebäude, in dem die Angeklagten während ihres Prozesses untergebracht waren, lag nördlich der Innenstadt von Miami und beherbergte 170 Insassen, die auf ihre Verhandlung warteten, wegen Anklagen, die das gesamte juristische Spektrum von Verkehrsvergehen bis hin zu Mord abdeckten. Männer und Frauen waren auf unterschiedlichen Etagen untergebracht, doch es galten für beide dieselben Besuchsregeln. Familienbesuche erlaubten keinerlei Körperkontakt, und Besuche außerhalb der normalen Zeiten wurden nur mit einem Gerichtsbeschluss genehmigt.

»Wollen Sie sagen, ich darf meine Frau nicht sehen?«, fragte Keith.

Sie waren im Eingangsbereich und standen auf der Besucherseite der Glasscheibe am Schalter, an dem die Gäste sich eintragen konnten. Die Vollzugsbeamtin antwortete aus dem Inneren der Kabine und sprach in ein Schwanenhalsmikrofon: »Besuchszeiten für die weiblichen Insassen sind donnerstags und samstags, siebzehn Uhr dreißig bis einundzwanzig Uhr fünfzehn«, erklärte sie.

Keith blinzelte, und Jack konnte beinahe den Nebel des Jetlags sehen, der ihn umwehte. »Heute ist Dienstag«, erklärte Jack.

»Ich komme den ganzen Weg aus Hongkong«, sagte Keith. »Es muss doch Ausnahmen geben.«

»Nur für Anwälte und Kautionsagenten«, erklärte die Beamtin.

»Wie schnell kann ich ein Kautionsagent werden?«, fragte er, aber Jack wusste, dass er es nicht ernst meinte – jedenfalls nicht völlig.

Jack beugte sich dichter an das Glas und besprach mit der Beamtin einen Anwaltsbesuch. Ein kurzer Check am Computer bestätigte, dass man Isa bereits erkennungsdienstlich behandelt und ins System aufgenommen hatte und dass Jack Swyteck als ihre Rechtsberatung eingetragen war. Isa saß in einer vorläufigen Arrestzelle und wartete darauf, dass ihr ein Bett zugeteilt wurde. Jack und Keith nahmen im Warteraum Platz. Nach etwa fünfzehn Minuten eskortierte ein Wärter Jack in das Besprechungszimmer für Anwaltsgespräche, in dem Isa ihn erwartete.

Jack trat ein. Der Wärter schloss die Tür und verriegelte sie von außen, sodass Jack und seine neueste Mandantin alleine waren.

Isa saß an einem kleinen Tisch, noch immer in der Kleidung, die sie auf dem Flug von Hongkong getragen hatte. Sie stand auf, um Jack zu begrüßen, als er näher kam.

»Danke, dass Sie gekommen sind.«

»Ich bin froh, dass ich helfen kann.«

Sie sank wieder auf ihren Stuhl, und Jack setzte sich ihr gegenüber auf die andere Seite des Tisches. Sie waren von fensterlosen, gelb gestrichenen Betonschalenwänden umgeben. Helles Neonlicht verlieh dem Raum die gemütliche Atmosphäre einer Werkstatt.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Jack.

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich funktioniere irgendwie. Es ist alles ziemlich surreal.«

»Verständlich.«

Sie verschränkte die Arme, als wäre ihr kalt, doch vermutlich war es die gesamte Erfahrung, die ihr Unwohlsein bereitete – ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Jack ein alter Freund ihres Ehemanns war. Keith hatte erwähnt, dass das weniger als perfekte Umstände für ein Wiedersehen waren, und für Isa musste es sich noch unangenehmer anfühlen. Jack beschloss, die Sache direkt anzusprechen.

»Hören Sie, ich möchte nicht, dass Sie sich dazu verpflichtet fühlen, mich als Ihren Anwalt zu engagieren. Das ist zufällig mein Beruf, was kurzfristig sehr praktisch ist. Aber die Wahl des Anwalts ist eine sehr persönliche Entscheidung.«

»Danke, dass Sie das sagen.«

»Ich bin bereit, Ihnen so lange zu helfen, wie Sie meine Hilfe möchten. Aber sobald wir die ganzen einleitenden Angelegenheiten abgehakt haben, kann ich Ihnen eine kurze Liste mit erstklassigen Strafverteidigern geben, die Sie sich anschauen können, damit Sie selbst eine Entscheidung treffen können.«

»Keith hat mir alles über Sie erzählt und über die Arbeit, die Sie am Freedom Institute geleistet haben. Sie klingen ziemlich erstklassig für mich.«

Das Freedom Institute, an dem Jack seine Karriere direkt nach dem Jura-Abschluss begonnen hatte, war sein Einstieg in die Welt der Mordprozesse gewesen. »Darüber können wir später noch sprechen. Für den Augenblick kümmern wir uns um das drängendste Problem. Ich habe einige Fragen. Aber zuerst: Gibt es irgendetwas, das Sie mich fragen möchten?«

»Wie geht es Melany?«

»Ihr geht es gut. Andie hat sie mit unserer Tochter zu uns nach Hause geholt.«

»Sagen Sie Keith, dass es in Ordnung ist, wenn Melany ihren Audioprozessor auch beim Schlafen tragen will. Wenn sie in einem fremden Haus übernachtet, fühlt sie sich vielleicht verloren, wenn sie nicht auf beiden Ohren hören kann.«

»Das werde ich ihm bestimmt sagen. Er ist hier, im Warteraum.« Jack erklärte die Einschränkungen für Familienbesuch.

»Donnerstags und samstags? Ich werde Donnerstag doch bestimmt gar nicht mehr hier sein, oder?«

Jack zögerte eine Spur zu lange.

»Ich muss meine Familie sehen«, erklärte Isa, »und ich kann meine Tochter nicht hierher bringen. Wie schnell können Sie mich rausholen?«

»Lassen Sie mich erklären, wie das Prozedere vonstatten geht. Die Anklageerhebung ist Ihr erster Auftritt vor Gericht. Das wird nicht vor morgen passieren. Sie werden mit allen anderen Beschuldigten zusammengeworfen, etwa ab neun Uhr dreißig.«

»Ich muss die Nacht also hier verbringen?«

»Ja.«

Isa atmete ein und aus, als fände sie sich damit ab. »In Ordnung. Damit komme ich klar. Und dann komme ich raus?«

»Ich werde versuchen, die Staatsanwaltschaft dazu zu bewegen, dem zuzustimmen.«

»Glauben Sie, dass der Staatsanwalt das tun wird?«

»Die Staatsanwältin«, korrigierte Jack. »Bisher habe ich nur einmal mit ihr telefoniert. Sie hat versprochen, mir eine Kopie der Aussage des MDPD-Detectives zu schicken, die als Beweis gegen Sie vorliegt. Ich musste mein Handy am Besuchereingang zurücklassen, aber vor zwanzig Minuten hatte ich noch keine E-Mail erhalten. Falls sie noch nicht eingetroffen ist, wenn ich mein Handy abhole, wende ich mich an ihre Vorgesetzte.«

»Das klingt nach keinem guten Start. Was ist, wenn die Staatsanwältin nicht zustimmt, mich gehen zu lassen? Wird der Richter mich gehen lassen?«

Sie hatte den ersten Brocken schlechter Nachrichten nicht gut weggesteckt, und Jack versuchte, behutsam zu sein.

»Die vorherrschende Rechtsmeinung sieht bei einem Mordfall die Aussetzung der Haft gegen Kaution nicht vor. Das heißt, es wäre nur in einem Ausnahmefall möglich.«

Es war, als hätte Jack ihr gegen die Brust geschlagen. Sie schaute weg und dann wieder in seine Richtung. »Ich kann nicht hierbleiben. Melany hat am Freitag ihre Operation.«

»Das könnten wir zu unserem Vorteil nutzen.«

»Es geht nicht darum, ob wir das benutzen können. Sie ist fünf Jahre alt. Sie kann nicht ohne ihre Mommy gehen.«

»Tut mir leid. Was ich sagen wollte, war, dass wir hier eine Situation haben, in der mildernde Umstände für Ihre Entlassung sprechen.«

»Ja«, sagte sie, »jede Menge mildernde Umstände. Angefangen mit der Tatsache, dass ich es nicht getan habe. Ich habe Gabriel Sosa nicht umgebracht.«

»Ich bekomme nicht immer die Antwort auf diese Frage von meinen Mandanten. Sie beeinflusst definitiv nicht meine Entscheidung, einen Fall anzunehmen. Alles, was ich möchte, ist die Wahrheit.«

»Das ist die Wahrheit. Ich habe ihn nicht getötet.«

Jack antwortete nicht sofort. Er ließ ihr einen Augenblick, mit ihrer Beteuerung »der Wahrheit« zu leben, um ihr Verhalten einschätzen zu können. Es war nicht direkt ein Lügendetektortest, aber er bemerkte, dass sie kein Bedürfnis verspürte, das Schweigen mit Geplapper zu füllen.

»In Ordnung. Wenn das der Weg ist, den Sie einschlagen wollen, dann müssen wir ihn bis ans Ende gehen. Wissen Sie, wer ihn umgebracht hat?«

»Nein.«

»Gehen wir noch etwas weiter zurück, ganz bis zum Anfang. Nennen Sie es die Intuition eines Anwalts, aber als die Polizei Sie am Flughafen weggebracht hat, hatte ich den Eindruck, dass Sie den Namen Gabriel Sosa vorher schon gehört hatten.«

»M-hm.«

»Also erzählen Sie es mir: Wer ist Gabriel Sosa? Oder wer war er?«

Sie atmete tief durch. »Ein Junge, den ich am College kannte.«

»Wir gut kannten Sie ihn?«

»Nicht so gut, wie ich geglaubt hatte.«

»Was meinen Sie damit?«

Sie zögerte, und Jack war sich sicher, dass sie ihm gleich etwas erzählen würde, das sie nicht einmal ihrem Ehemann je erzählt hatte.

»Er hat mich vergewaltigt«, sagte sie.

Jack hatte einen Punkt in seiner Karriere erreicht, an dem er wirklich überzeugt davon war, schon alles gehört zu haben. Und dann kam so etwas.

»Es tut mir leid, Isa. Aber ich fürchte, Sie werden mir alles darüber erzählen müssen.«

KAPITEL 4

»Ich möchte bitte telefonieren«, sagte Isa dem Wärter.

Das Treffen mit Jack hatte bis halb zehn Uhr abends gedauert. Er hatte sie davor gewarnt, dass die Untersuchungshaft überfüllt sein würde, was erklärte, dass sie immer noch auf ein Bett wartete. Er hatte ihr außerdem erklärt, dass eine Anklage wegen Mordes eine Zelle in Haftschutzstufe Eins mit sich brachte, dem Hochsicherheitstrakt. Sie würde am Tag eine Stunde zum Duschen und zum Sitzen im Tagesraum haben. Sie hatte Zugriff auf Bücher vom Bibliothekswagen, die sie mit zurück in ihre Zelle nehmen konnte, aber Insassen der Stufe Eins hatten keinen Zugriff auf Fernseher oder Computer. Und was am wichtigsten war: Sie konnte R-Gespräche vom Gefängnistelefon aus führen. Ein Wärter eskortierte Isa von ihrer Zelle zum Gefängnistelefon, und Isa stellte sich am Ende der Schlange an. Wenigstens ein halbes Dutzend Häftlinge waren vor ihr dran, je nachdem wie viele von ihnen noch einen weiteren Platz für einen Freund oder Zellengenossen frei hielten. Alles, was Isa tun konnte, war warten. Ein bisschen mehr Zeit, um sich ihre Worte zu überlegen, war vielleicht eine gute Sache. Sie musste und wollte mit Melany sprechen – falls sie um diese Uhrzeit noch wach war –, aber sie wusste noch immer nicht, wie sie das alles erklären sollte. Isa versuchte, sich etwas im Kopf zurechtzulegen, aber es war schwer, sich zu konzentrieren. Seit dem Augenblick, als die Polizisten sie am Flughafen weggebracht hatten, fühlte sie sich wie losgelöst von der Realität. Keine Uhr. Kein Handy. Sprechen verboten. Am wenigsten gefiel ihr die Art, wie der Wärter sie ansah. Es war nicht das erste Mal, dass ein Mann sie mit den Augen ausgezogen hatte, aber in dieser Situation, in der sie buchstäblich seine Gefangene war, war es besonders gruselig.

»Ich gehe nirgendwohin«, sagte sie ihm. »Sie müssen hier nicht mit mir warten.«

Der Wärter schien zu verstehen, was sie meinte. Er schätzte kurz ihre Wartezeit ein und sagte dann: »Ich bin in einer Stunde zurück.«

Sechsundfünfzig Minuten verstrichen. Der Wärter war noch nicht zurückgekehrt, und Isa wartete noch immer in der Schlange. Der Tag lastete schwer auf ihr. Sie hätte in einem Kingsize-Bett im Luxushotel liegen und ihren Jetlag ausschlafen sollen. Stattdessen war sie gezwungen gewesen, endlose Zeitspannen unerklärlichen Wartens zu ertragen, unterbrochen von hektischen Schüben sinnloser Aktivität, die von nichts anderem motiviert zu sein schienen als den persönlichen Launen der Wachleute. Etliche Treppen hoch und wieder runter. Hinein in verschiedene Zellen und wieder hinaus. Man hatte ihr Handschellen angelegt und wieder abgenommen und wieder angelegt. Die Durchsuchung ihres Körpers hatte sich als besonders einprägsam erwiesen.

»Hey, benutzt du das Telefon oder nicht?«, fragte die Gefangene hinter ihr.

Isa öffnete die Augen. Sie wäre beinahe im Stehen eingeschlafen. Endlich war sie dran. Sie ging zum Telefon und ihre Hand zitterte, als sie die Nummer von Jacks Zuhause wählte.

Bitte, jemand muss rangehen.

Beim vierten Klingeln hörte sie Jack, der Hallo sagte. Er wollte gerade das Telefon an Keith weiterreichen, als Isa ihn stoppte.

»Haben Sie es ihm erzählt?« Am Ende ihres Treffens hatte sie Jack gebeten, Keith alles zu erzählen.

»Habe ich.«

»Also weiß er, dass ich …«

»Isa, Stopp«, unterbrach Jack. »Erinnern Sie sich, was ich über Gefängnistelefone gesagt habe.«

Jack hatte ihr überzeugende Beispiele von Männern und Frauen gegeben, die sich, im übertragenen Sinne, aus den Telefonleitungen einen Strick gedreht hatten. Das Schild an der Wand – ALLE ANRUFE WERDEN VON DER STRAFVERFOLGUNGSBEHÖRDE ÜBERWACHT – verstärkte seine Worte. Sie hatte strikten Befehl, weder Gabriel Sosa noch den sexuellen Übergriff noch irgendetwas anderes über ihren Fall zu besprechen.

»Ich verstehe«, sagte Isa. »Kennt Keith die Regeln?«

»Ja, wir haben sie besprochen. Er wartet darauf, mit Ihnen zu reden. Lassen Sie mich ihn holen.«

Es brauchte nur ein paar Sekunden, bis Keith ans Telefon kam, doch es schien viel länger zu dauern, bis er endlich etwas sagte.

»Ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll, Liebling.«

»Das kann ich mir vorstellen«, antwortete sie.

»Ich verstehe einfach nicht, weshalb du mir nie etwas davon erzählt hast.«

Es war klar, dass er von der Vergewaltigung sprach. »Keith, du weißt, dass wir darüber im Augenblick nicht sprechen können. Mach diesen Anruf nicht schwerer, als er ohnehin schon ist.«

»Tut mir leid. Das war nicht meine Absicht.«

»Ist in Ordnung«, sagte sie, und sprach dann das Thema an, das sie wirklich beschäftigte. »Ich mache mir Sorgen um Melany.«

»Das brauchst du nicht. Ihr geht es ziemlich gut. Sie hat die ganze Zeit mit Jacks und Andies Tochter gespielt, bis sie ins Bett musste.«

»Melany schläft?«

»Nein. Ich meinte Riley. Melany hat auf dem Flug so tief geschlafen, dass sie mindestens bis Mitternacht wach sein wird. Warte, ich hole sie.«

Isa packte das Telefon fester. Das Warten erschien ihr viel länger, als es in Wirklichkeit dauerte. Sie hoffte, dass sie stark genug war, um das durchzustehen.

»Hi, Mommy.«

Die zarte Stimme – sie brachte Isa beinahe um. »Hi, Baby. Hast du heute eine neue Freundin gefunden?«

»Ja. Wann sehe ich dich wieder?«

Eine zweite, beinahe tödliche Wunde. »Schon bald. Ist Riley nett?«

»Ja, sie ist wirklich nett. Schläfst du heute Nacht hier?«

»Nein, meine Süße. Heute Nacht nicht.«

»Warum nicht?«

»Heute Nacht kann ich nicht.«

»Warum nicht?«

Isa kämpfte mit sich und schalt sich im Stillen dafür, sich keine Antwort überlegt zu haben. »Heute ist deine Nacht mit Daddy.«

Melany antwortete nicht. Aus der Leitung drang gedämpftes Schluchzen. Isa schloss die Augen und öffnete sie dann. Sie versuchte, den Schlag zu dämpfen. »Nicht weinen, großes Mädchen. Bitte weine nicht.«

Sie konnte Keith im Hintergrund hören, wie er Melany versicherte, dass alles gut werden würde.

»Gute Nacht, Mommy. Ich hab dich lieb.«

Das war genug, um Isa zum Weinen zu bringen, aber sie tat es nicht. »Ich hab dich auch lieb.«

Keith nahm das Telefon wieder an sich. »Bist du in Ordnung?«

»Ganz und gar nicht«, antwortete Isa.

Er gab ihr einen Moment. »Also, ich würde dem nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Es geht ihr wirklich gut. Ich glaube, sie ist einfach nur müde.«

Sie wusste, dass Keith versuchte sie zu trösten, aber es half nicht. »Bist du morgen bei meiner Anklageverlesung?«, fragte sie.

»Natürlich.«

»Jack sagte, ich werde Sträflingskleidung tragen. Bring Melany nicht mit.«

»Nein, das verstehe ich.«

»Und achte darauf, was im Fernsehen läuft, wenn sie im Zimmer ist. Jack meinte, der Fall könnte die Medien interessieren. Ich will nicht, dass Melany etwas davon sieht.«

»Ehrlich gesagt, ich wusste nicht, ob ich es sagen sollte, aber es gab einen kurzen Beitrag in den Abendnachrichten.«

Natürlich gab es das. Ehemalige Studentin aus Miami verhaftet wegen Mordes an ihrem Vergewaltiger. So eine knackige Schlagzeile konnte viral gehen. »Ich kann nicht glauben, dass mir das alles geschieht.«

»Mach dir keine Sorgen um Dinge, die du nicht kontrollieren kannst. Das ist Jacks Aufgabe.«

Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Sie hoffte, dass sie seine Worte richtig interpretierte, aber es schien, als wolle er ihr sagen: »Ich glaube an dich, ich weiß, dass du unschuldig bist.«

Die Frau, die nach ihr dran war, grunzte etwas in der Art, dass Isas Zeit um wäre. Isa wusste nicht, dass es ein Zeitlimit gab, aber die Frau war gebaut wie ein Boxchampion, und sie wollte nicht, dass ihre erste Nacht im Gefängnis damit endete, dass man ihr die Seele aus dem Leib prügelte.

»Keith, ich muss jetzt Schluss machen«, sagte sie ins Telefon.

»Okay. Hey, wir stehen das durch.«

»Ich weiß.«

»Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch.«

Sie verabschiedeten sich. Isa legte auf, und die nächste Gefangene stieß sie praktisch zu Boden, als sie ans Telefon stürmte. Isa trat beiseite und wartete auf den Wärter. Die »eine Stunde«, nach der er hatte zurückkommen wollen, war schon lange vorbei. Isa konnte nur hoffen, dass sie immer noch Probleme hatten, ein Bett für sie zu finden.

Vielleicht lassen sie mich nach Hause gehen.

Es war eine kurzlebige Hoffnung. Die Rückkehr des Wärters ließ sie augenblicklich platzen.

»Wir haben ein Bett für dich, Herzchen«, sagte er.

Ich bin nicht dein »Herzchen«. Sie dachte es, sprach es jedoch nicht aus.

Isa folgte dem Wärter den langen Korridor hinab. Sie schaute stur geradeaus, den Blick wie einen Laser fokussiert, und vermied jeden Augenkontakt mit jedem, der in den Zellen saß, die sie links und rechts passierten. Am Ende des Zellenblocks öffnete sich summend eine Tür. Sie gingen weiter in den Osttrakt.

»Sie haben Glück«, sagte der Wärter. »Keine Zellen im Ebene-Eins-Bereich, also bleiben Sie heute Nacht hier, bei den Nutten und Fixern.«

Isa antwortete nicht. Sie hatte nicht das Gefühl, Glück zu haben.

Es hieß »Licht aus«, als sie die ihr zugewiesene Zelle erreichten. Isa trat leise ein und achtete darauf, ihre Zellengenossin nicht zu stören, die oben auf der Doppelpritsche schlief, während sie in die untere stieg. Das Bett quietschte, als sie sich hineinlegte. Die Zellentür schloss sich, und dann traf die Realität sie mit voller Wucht.

Ich bin im Gefängnis. Ich bin wirklich im Gefängnis.

Sie fühlte sich eingesperrt in jedem Sinne des Wortes. Ihrem Anwalt zu erzählen, wie sie auf dem College von ihrem Date vergewaltigt worden war, hatte sich ganz und gar nicht als befreiend herausgestellt. Es hatte lediglich eine Vergangenheit aufgewirbelt, die sie jahrelang erfolgreich abgeschottet und verdrängt hatte.

Sie dachte wieder an den Fernsehbericht, den Keith erwähnt hatte. Sie musste nicht fragen, wie schlimm es war. Und sie hatte keinen Zweifel, dass es noch schlimmer werden würde – dass die Geschichte immer weiter ausgeschmückt werden würde, während die Nachricht ihren Weg von Miami nach Hongkong und wieder zurück um den Erdball bis zu ihrer alten Heimat in Caracas nahm. Ihr gesamtes Leben lang hatte Isa gegen Widrigkeiten gekämpft. Eine Mutter, die sie in die Schönheitsakademien gedrängt hatte. Ein Vater, der sie dafür verurteilt hatte.

Und jetzt würde ihr College-Albtraum einen Namen haben, den man auf der ganzen Welt kannte: Gabriel Sosa.

Sie versuchte die Augen zu schließen, doch die unheimliche Stimme der Frau auf der oberen Pritsche erschreckte sie.

»Also, was haste angestellt, um hier zu landen?«

»Nichts«, antwortete Isa, die Stimme kaum ein Piepen.

Die Frau kicherte heiser. »Genau wie wir alle.« Sie ließ ihren Kopf über den Rand der Matratze hängen und sah zu Isa hinab. Ihre langen Dreadlocks baumelten in den Schatten. »Komm schon, Prinzesschen. Mir kannste’s verraten.«

»Wirklich, ich habe gar nichts getan.«

Das Lächeln der Frau versickerte. »Du hältst mich für ’ne Ratte, richtig?«

»Was? Nein, ich …«

»Du meinst, wenn du mir verrätst, was du getan hast, renn ich damit zum Staatsanwalt und handel mir ’nen süßen Deal aus, um meinen eigenen Arsch zu retten.«

»Das habe ich nicht gesagt.« Aber jetzt, wo du es erwähnst …

»Dreckige Schlampe. Rennst rum und schimpfst andere ’ne Ratte. Schlaf besser mit ei’m offenen Auge.«

Isa hielt den Atem an und betete zu Gott, dass die Frau nicht von ihrem Bett heruntersprang, um das Gespräch von Angesicht zu Angesicht fortzuführen – oder noch schlimmer, von Faust zu Angesicht. Die Matratze über ihr bewegte sich nicht, was das Nächstliegende zu einem Gefühl der Erleichterung auslöste, das Isa empfunden hatte, seit sie hier eingetroffen war. Schlaf jedoch stand nicht zur Debatte. Sie lag wach in der Stille des Gefängnisses, lauschte, versuchte sich an das zu gewöhnen, was sie als »normale« Gefängnisgeräusche bezeichnen könnte. Überleben bedeutete die Fähigkeit, jedes Geräusch schnell identifizieren zu können, jede Bewegung, alles, was nicht normal war.

Schlaf mit ei’m offenen Auge.

Ihr gesamtes Erwachsenenleben hatte Isa Geheimnisse gehabt, aber nie zuvor hatte sie es mit einem Rechtssystem zu tun gehabt, das die Absicht verfolgte, ihr Innerstes nach außen zu kehren und es der ganzen Welt zu präsentieren. Es war geradezu furchterregend, und sie konnte die Gefühle kaum im Zaum halten, die sich in ihr aufstauten und darum bettelten, rausgelassen zu werden. Sie war um die Welt geflogen, um bei ihrer Tochter zu sein, wenn Melany sie am dringendsten brauchte. Und jetzt würde sie vielleicht nie wieder bei ihr sein.

Isa kämpfte darum, sie bei sich zu behalten, doch eine Träne fiel in der Dunkelheit. Und dann eine weitere. Die Worte, die sie mit Melany getauscht hatte, hallten in ihrem Kopf wider.

Nicht weinen, großes Mädchen. Bitte weine nicht.

»Heulst du da unten, Prinzesschen?«

Die Stimme ihrer Zellengenossin ließ sie erschaudern. »Nein.«

Plötzlich hingen die Dreadlocks wieder in der Dunkelheit herab, und Isa konnte die Augen ihrer Zellengenossin glänzen sehen. »Doch, klar heulst du.«

»Tu ich nicht«, protestierte sie, doch ihre Stimme brach.

»Oh, armes Prinzesschen. Es war Tayshawn, wegen dem du dir vor Angst in die Hosen machst, richtig?«

»Wer ist Tayshawn?«

»Der Wärter, der dich hergebracht hat. Jeder weiß, dass er auf Latina-Mösen steht.«

Isa wurde es eiskalt. Ihre Instinkte hatten ins Schwarze getroffen. Ich bin nicht dein Herzchen.

»Dir wird nichts passieren, Prinzesschen. Du hast mich als Zellenpartnerin.«

»Was bedeutet das?«

»Das heißt, ich guck nicht weg, wenn Tayshawn hier für irgendeine erlogene Inspektion reinspaziert und dir seinen dicken Schwanz in den Hals schiebt. Wird nicht passieren«, erklärte sie und verschwand wieder auf ihrer Pritsche, um ihr Versprechen in der Dunkelheit zu beenden:

»Heute Nacht zumindest nicht.«

KAPITEL 5

Jack war um fünf Uhr morgens in der Innenstadt von Miami, rechtzeitig für sein erstes Interview mit dem Regionalfernsehen. Es standen vier davon an, und sie alle würden noch vor Isas Anklageverlesung ausgestrahlt werden. Um halb sechs war er verkabelt und am Aufnahmeort.

»Guten Morgen, Miami!«, sagte die herausgeputzte und perfekt blondierte Moderatorin in die Kamera.

Normalerweise würde Jack so früh nicht die Medien ins Boot holen, doch in diesem Fall war es gerechtfertigt. Sylvia Hunt hatte ihm die versprochene E-Mail nie zugeschickt. Jack hatte versucht, die Information an ihr vorbei zu beschaffen, doch die Staatsanwaltschaft rief ihn nicht zurück. Jack war klar, dass die Anklage keinerlei Absicht hegte, die eidesstattliche Aussage mit ihm zu teilen, in der der Mordermittler des MDPD die Beweise darlegte, die den hinreichenden Verdacht bildeten, der zu Isas Verhaftung geführt hatte.

»Neben mir habe ich heute Morgen den in Miami ansässigen Strafverteidiger Jack Swyteck.«

Rechtlich gesehen war die Staatsanwaltschaft nicht dazu verpflichtet, die Aussage zu teilen; die Verteidigung könnte sich eine Kopie aus der Gerichtsakte geben lassen – aber nicht vor neun Uhr morgens, wenn das Büro öffnete. Also musste Jack eine Nachricht an das gesamte Büro der Staatsanwaltschaft schicken: Wenn sie nicht willig waren, die Höflichkeit an den Tag zu legen, die Aussage vor Isas Anklageverlesung zu teilen, dann war es ein Riesenfehler, eine Pressemitteilung herauszugeben, bevor Jack ins Gericht konnte, um sich seine eigene Kopie zu holen.

»Mr. Swyteck, Sie haben bereits Dutzende von Mordfällen verhandelt. Erzählen Sie uns ein wenig über das ziemlich unorthodoxe Verhalten der Staatsanwaltschaft gegenüber Ihrer neuesten Mandantin.«

»Wenn ich ehrlich bin, dann hat sich die Anklage als ungewöhnlich schweigsam erwiesen. Ich weiß also praktisch gar nichts über den Fall, mit Ausnahme der Informationen, die die Staatsanwältin freundlicherweise in ihre Pressemitteilung gesetzt hat, die sie gestern kurz vor den Spätnachrichten herausgegeben hat.«

»Nun, wir wissen aus der Pressemitteilung, dass Ihre Mandantin eine einundreißigjährige Frau ist. Im Alter von neunzehn schrieb sie sich an der Universität von Miami ein, und im Frühling ihres ersten Jahres wurde sie das Opfer eines sexuellen Übergriffs. Heute, all die Jahre später, wird sie verhaftet und des Mordes angeklagt, mutmaßlich an dem Mann, der sie vergewaltigt hat. Habe ich alle Anschuldigungen korrekt wiedergegeben?«

»Ja, das ist im Grunde der Vorwurf der Anklage. Und vielen Dank, dass Sie den Namen meiner Mandantin nicht nennen – auch wenn ihr Name in der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft steht.«

»Lassen Sie uns darüber sprechen. Wie ich höre, hat Sie das ziemlich aufgeregt.«

»Offen gestanden bin ich entsetzt.«

»Warum?«

»Die eindeutige Schlussfolgerung der Pressemitteilung ist, dass die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, das Motiv meiner Mandantin für den Mord an Gabriel Sosa sei die Tatsache, dass er sie sexuell misshandelt hat. Wie die meisten Staaten in diesem Land hat Florida ein Opferschutzgesetz, das es den Strafverfolgungsbehörden verbietet, den Namen eines Vergewaltigungsopfers an die Medien weiterzugeben. Der Sinn dahinter besteht darin, sie kein zweites Mal zum Opfer zu machen: erst durch den Übergriff selber und ein zweites Mal, wenn ihre Identität öffentlich bekannt wird. Die Staatsanwaltschaft von Miami hat dieses Gesetz ignoriert und vertritt offensichtlich den Standpunkt, dass ein Vergewaltigungsopfer, dem vorgeworfen wird, seinen Peiniger ermordet zu haben, kein Recht auf einen derartigen Schutz hat.«

»Aber warten Sie kurz: Sollten solche Opferschutzgesetze in dieser Situation denn gültig sein?«

»Meiner Ansicht nach ja. Sehen Sie, meine Mandantin ist an dem Mord, den man ihr vorwirft, so lange unschuldig, bis ihre Schuld bewiesen ist. Das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass sie sexuell angegriffen wurde. Ich mag einer Nachrichtenredaktion nicht vorwerfen, wenn diese in gutem Glauben beschließt, dass ein Opferschutz hier nicht greift. Aber ich denke nicht, dass das Büro der Staatsanwaltschaft den Ton angeben sollte und ihren Namen wenige Stunden nach ihrer Verhaftung in einer Pressemitteilung herausgeben sollte.«

»Dem würde ich zustimmen. Als redaktionelle Anmerkung muss ich unseren Zuschauern gestehen, dass dieser Sender die Identität von Mr. Swytecks Mandantin in den Elf-Uhr-Nachrichten gestern Abend veröffentlicht hat. Wir taten das auf Basis der Informationen der Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft. Ich weiß nicht, wie unsere offizielle Haltung in Zukunft sein wird. Aber aus Prinzip kann ich Ihnen versichern, dass diese Good Morning Miami-Moderatorin ihren Namen definitiv nicht wiederholen wird.

Vielen Dank, dass Sie heute Morgen bei uns waren und Ihren faszinierenden Fall und dieses wichtige Thema mit uns besprochen haben, Mr. Swyteck.«

»Sehr gerne.«

»Als Nächstes: Ein Live-Interview aus dem Mercy Hospital mit der englischen Touristin Ginger Radley, die auf wundersame Weise einen Sturz aus dem zwanzigsten Stock überlebte, nachdem ihr Bungee-Seil, schnapp, einfach durchgerissen ist. Das ist ein Ginger-Schnaps, Miami Style! Gleich, in Good Morning Miami

Jack nahm sein angestecktes Mikrofon ab und verließ das Nachrichten-Set, heilfroh, dass er das nicht tagtäglich als Beruf machen musste.

Sylvia Hunt stand in ihrem Schlafzimmer, starrte auf den Flachbildfernseher an der Wand – und schäumte vor Wut. Jack Swyteck bei Good Morning Miami war etwas, das sie nicht erwartet hatte.

Sylvia Hunt war kein Mensch, der sich von einem Strafverteidiger austricksen ließ. Sie hatte sich ihre Sporen vor Richtern und Geschworenen verdient, als Anklägerin für Verbrechen im Erwachsenenstrafrecht, hatte Sechzig-Stunden-Wochen unter der Aufsicht erfahrener Staatsanwälte geschoben, hatte die astronomische Summe von vierzigtausend Dollar im Jahr verdient. Eine unübertroffene Mischung aus Kompetenz im Gerichtssaal und unermüdlicher Vorbereitung hatten ihr Türen geöffnet, und sie hätte in jede Abteilung gehen können. Sie entschied sich für sexuelle Übergriffe, wo sie mehr Fälle vor Gericht brachte und mehr Verurteilungen erzielte als irgendjemand sonst im Staat Florida. Sie war die jüngste Staatsanwältin im Büro von Miami, die den Titel »Senior Trial Counsel« trug, was sie in einen Eliteclub erhob: zu den wenigen erfahrenen Staatsanwälten, die die Anklage in den umstrittensten und kompliziertesten Mordfällen leiteten. Es war eine Ehre und eine Auszeichnung, die sie sich verdient hatte.

Und ganz sicher hatte sie diesen Fleck auf ihrer Weste nicht verdient.

Sylvia nahm ihr Handy vom Nachttisch. Es war voll geladen, genau wie sie. Es war ihr egal, ob es erst sechs Uhr war. Sie rief ihre Chefin zu Hause an und holte sie aus dem Bett.

»Swyteck macht die Morgenrunde.«

Carmen Benitez hatte die Hälfte ihrer vierten Legislaturperiode als Bundesstaatsanwältin hinter sich. Niemand stellte ihre Hingabe an den Job infrage. Sie arbeitete bis in die Nächte, an Wochenenden und Feiertagen. Anrufe um ein oder zwei Uhr morgens waren kein Problem. Aber sie war nie dafür bekannt gewesen, eine Frühaufsteherin zu sein.

»Zeichnen Sie es mit dem Festplattenrekorder auf«, sagte Benitez. »Ich gehe wieder schlafen.«

»Nein, warten Sie. Wir werden pulverisiert, weil wir den Namen eines Vergewaltigungsopfers in der Pressemitteilung über Isabelle Bornelli gestern Abend herausgegeben haben.«

Die Staatsanwältin zögerte, und Sylvia konnte ihre Irritation durch die Leitung spüren. »Moment mal – das haben wir nicht getan.«

»Doch, haben wir. Ich habe den Sender angerufen, um es zu bestätigen. Sie haben mir eine Kopie der Mitteilung geschickt. Isabelle Bornellis Name steht drin.«

Benitez stöhnte durch die Leitung. »Oh Mann.«

»Ja, ›Oh Mann‹ trifft es gut. Das ist nicht die Version der Pressemitteilung, die ich durchgesehen und freigegeben habe. Ich sagte, dass ihr Name nicht drinstehen soll – nicht, solange die Presse nicht von selbst die Entscheidung trifft und die Katze aus dem Sack lässt.«

»Offensichtlich hat jemand in der Presseabteilung Scheiße gebaut.«

Es war nicht das erste Mal. »Das ist keine sehr befriedigende Erklärung. Unterschätzen Sie das nicht, Carmen. Wir werden einen Riesen-Shitstorm von den Gruppierungen für Opferschutz ernten. Das garantiere ich.«

»Wir werden die Schadenskontrolle besprechen müssen. Wann ist die Anklageverlesung?«

»Halb zehn.«

»Das lässt uns nicht viel Zeit.«

»Ich kann Sie in dreißig Minuten im Büro sehen«, sagte Sylvia.

»Ohhhhh«, erwiderte Carmen. Es war irgendeine Mischung aus einem Gähnen und einem Stöhnen.

»Das verstehe ich als Ja. Wir sehen uns in dreißig Minuten.«

Sylvia legte auf, nahm sich die Fernbedienung und wechselte den Kanal. Da war er wieder, Isas Spitzenanwalt, auf einem anderen Sender: »Ich denke, es ist eine traurige Situation, wenn das Büro der Staatsanwaltschaft derartig gegen den Geist, wenn schon nicht die Paragraphen, des Schutzes von Vergewaltigungsopfern verstößt.«

Sylvia schaltete den Fernseher aus und schnappte sich ihre Handtasche. Ihr Zorn schwelte noch immer, doch als sie in Richtung Tür ging, warf sie einen Blick auf das gerahmte Foto ihrer Eltern, das sie auf ihrer Kommode aufbewahrte. Sie waren Partner in jedem Sinne des Wortes gewesen. Über dreißig Jahre lang verheiratet, und sie hatten sogar ihre eigene Anwaltskanzlei gehabt – Hunt & Hunt –, als Sylvia in Pensacola aufgewachsen war. Sie waren lange genug tot, dass der Schmerz nicht mehr so stark war, und Sylvia gelang ein kleines Lächeln, als sie sich an etwas erinnerte, das ihr Vater stets zu sagen gepflegt hatte, wann immer der gegnerische Anwalt eine Linie überschritt:

»Diesmal sind Sie dem falschen Hund auf den Schwanz getreten, Mr. Swyteck«, sagte sie auf ihrem Weg nach draußen.

KAPITEL 6

Gerichtssaal eins bis fünf des Richard-E.-Gersten-Gerichtsgebäudes war zum Bersten gefüllt.

Anklageverlesungen bei schweren Straftaten begannen jeden Wochentag um neun Uhr. Die Fallliste an diesem Mittwoch beinhaltete auch Isabelle Bornelli und jede Person, die im Miami-Dade-County während der letzten vierundzwanzig Stunden wegen eines Verbrechens verhaftet worden war. Diese tägliche Routine fand in einem weitläufigen, alten Raum mit hohen Decken und einer langen Mahagoni-Brüstung statt, die die öffentlichen Sitzplätze vom institutionalisierten Teil des Justizsystems trennte. Ein junger Hilfsanwalt der Staatsanwaltschaft saß am Tisch des Staates vor einer leeren Geschworenenbank und arbeitete sich durch einen Stapel Akten, eine nach der anderen, immer wenn ein neuer Fall aufgerufen wurde. Jack sah aus der ersten Reihe der öffentlichen Plätze aus zu und wartete darauf, an die Reihe zu kommen, während die Angeklagten-Parade voller bewaffneter Raubüberfälle, betrunkener Autofahrer und anderer Täter ihre Unschuld beteuerte und anschließend entweder auf Kaution freigelassen oder wieder in die Obhut des Staates übergeben wurde. Keith saß links von ihm auf der langen Sitzbank.

»Mehr Zuschauer hier, als ich erwartet hätte«, merkte Keith an. Er sprach leise, um nicht die siebente Anklageverlesung des Morgens zu stören, die gerade auf der anderen Seite der hüfthohen Absperrung abgehalten wurde.

Beide Seiten, Jack und das Büro der Staatsanwaltschaft, hatten den öffentlichen Aufschrei unterschätzt, der Isas Verhaftung folgte. Interessierte Beobachter füllten etliche Reihen der öffentlichen Sitzplätze. Der Bereich für die Medien war bis zur Kapazitätsgrenze belastet. Die gestrige Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft hatte eine Menge regionales Interesse erregt, aber erst nach Jacks morgendlichen Interviews hatten die Medien wirklich Feuer für den Fall gefangen. Das Internet quoll bereits über vor Tweets, Blogeinträgen und anderem elektronischen Geplapper über die wunderschöne ehemalige Studentin aus Miami, die sich in Hongkong »versteckt gehalten« hatte und schließlich für den Mord an dem jungen Mann verhaftet worden war, der sie auf dem College vergewaltigt hatte.

»Wann sehe ich Isa?«, fragte Keith.

Hoffentlich nicht allzu bald. Ein Anwalt aus dem Freedom Institute stand in der Warteschlange des Gerichtsbüros, um eine Kopie der eidesstattlichen Aussage zu bekommen, die zu schicken Sylvia Hunt sich geweigert hatte, und Jack wollte sie vor der Anklageverlesung haben. »Isa ist Nummer elf im Zeitplan. Der Polizist wird sie hereinbringen, wenn sie an der Reihe ist.«

»Nächster Fall«, verkündete Richter Gonzalez. Er kam schnell voran. Sie waren bei Nummer neun.

Richter Gonzalez war der älteste Richter in den Reihen der Strafgerichtsbarkeit. Einige waren der Ansicht, ihm fehle inzwischen die Ausdauer für langwierige Prozesse, aber er schien noch immer Freude an dem fieberhaften Tempo der Anklageverlesungen zu haben. Es war etliche Monate her, dass Jack zuletzt vor ihm einen Fall verhandelt hatte. Es war der Traum jedes Strafverteidigers gewesen: Die Verhandlung hatte um 9:07 Uhr begonnen und wurde um 9:08 Uhr für beendet erklärt. Die Staatsanwaltschaft hatte die Anklage gegen eine ältere Frau fallengelassen, die Jack an seine eigene abuela erinnert hatte. Sie hatte aus Kuba gestammt und war vor Castros Regime in der ersten Flüchtlingswelle auf einem balsa geflohen, und sie hatte sich nicht beherrschen können, als ein ahnungsloser College-Student ihren Zigarrenladen mit einem T-Shirt betreten hatte, auf dem Che Guevara abgebildet gewesen war. Hätte die Staatsanwaltschaft die Anklage nicht fallengelassen, hätte Richter Gonzalez es getan. Er hätte darauf hingewiesen, dass seine fünfköpfige Familie auf einem selbst gebastelten Floß aus Kuba geflohen war und dass sie hier in Miami waren, nicht in der Volksrepublik Berkeley.

Jack fragte sich, ob Richter Gonzalez irgendetwas von der morgendlichen Berichterstattung gesehen hatte, die erwähnte, dass Isas Vater unter Hugo Chávez gedient hatte, Fidel Castros Protegé. Es war eine Komplikation, die Isa nicht gebrauchen konnte – schon gar nicht vor Richter Gonzalez.

»Fall Nummer siebzehn null-drei null-eins«, rief der Gerichtsdiener. »Der Staat Florida gegen Isabelle Bornelli.«

»Vergewaltigungsopfer haben Rechte!«, rief eine Frau aus der hinteren Reihe.

Richter Gonzalez ließ seinen Hammer auf das Brettchen knallen. »Ich dulde keine Unruhe in meinem Gerichtssaal.«

Schweigen. Es war ein einmaliger Ausbruch gewesen, eindeutig keine koordinierte Aktion. Jack hatte keine Demonstranten auf seinem Weg ins Gerichtsgebäude bemerkt, aber er spürte, dass etwas brodelte. Den Fall mit den Rechten von Vergewaltigungsopfern aufzuladen, konnte sehr leicht nach hinten losgehen, aber Jack hätte nicht seinen Job als Strafverteidiger gemacht, wenn er nicht bereits darüber nachdachte, wie es seiner Mandantin helfen könnte.

Die Seitentür wurde geöffnet, und ein Polizist brachte Isa in den Gerichtssaal.

»Oh mein Gott«, sagte Keith leise, wie im Reflex. Es war das erste Mal, dass er seine Frau in Gefängniskleidung oder Hand- und Fußfesseln sah. Jack erhob sich, trat durch die Schwingtür in der Absperrung und traf seine Mandantin am Tisch der Verteidigung. Isa suchte kurz den Augenkontakt mit Keith, dann sah sie Jack direkt an.

»Jack, Sie müssen mich aus dem Gefängnis holen«, flüsterte sie.

In ihrer Stimme lag Verzweiflung, und Jack hätte deswegen gerne nachgehakt, aber Anklageverlesungen liefen zügig ab, und jetzt war nicht die Zeit dafür.

»Guten Morgen, Ms. Hunt«, sagte Richter Gonzalez mit einem Lächeln. »Ich habe nicht mehr häufig das Vergnügen, Sie bei einer Anklageverlesung zu sehen.«

Der Hilfsanwalt, der die ersten zehn Verlesungen abgehalten hatte, trat beiseite. Sylvia Hunt nahm den vordersten Platz am Tisch der Anklage ein. Für Der Staat gegen Bornelli holten sie die schweren Geschütze heraus.

»Ich mache inzwischen nicht mehr viele Verlesungen«, antwortete sie.

»Nun, es ist immer ein Vergnügen, Sie dabeizuhaben. Das Gleiche gilt für Sie, Mr. Sweet. Verzeihung, Swat …«

»Jack Swyteck für die Verteidigung von Isabelle Bornelli, Euer Ehren.«

Es gab keinen einzigen grauhaarigen Richter in Florida, der nicht wusste, wie man den Namen des ehemaligen Gouverneurs aussprach, und Jack deutete Richter Gonzalez’ geistigen Schluckauf entweder als Anzeichen von Alzheimer oder eine Animosität ihm gegenüber – beides keine allzu guten Vorzeichen für seine Mandantin.

»Guten Morgen, Ihnen beiden. Ms. Hunt, könnte ich das Datum und die Uhrzeit von Ms. Bornellis Verhaftung erfahren?«

»Gestern, etwa gegen neunzehn Uhr zwanzig.«

»Ms. Bornelli, der Zweck dieser Anhörung besteht darin, Sie über gewisse Rechte aufzuklären, die Ihnen zustehen, Sie über die Anklagepunkte zu informieren, die Ihnen im Einklang mit den Gesetzen des Staates Florida vorgeworfen werden, und um zu untersuchen, unter welchen Bedingungen, falls überhaupt, Sie vor der Verhandlung freigelassen werden können. Verstehen Sie das?«

»Ja, Euer Ehren«, antwortete Isa.

»Sie haben das Recht zu schweigen«, sagte der Richter, und zum zweiten Mal in ebenso vielen Tagen lauschte Isa der vollständigen Verlesung ihrer verfassungsmäßigen Rechte. Sie wirkte dabei nicht weniger betäubt als beim ersten Mal, bemerkte Jack.

»Wir verzichten auf die Verlesung der Anklageschrift«, sagte Jack.

»Das ist in Ordnung. Ms. Bornelli, wie bekennen Sie sich?«

»Nicht schuldig, Euer Ehren.«

»So wird es ins Protokoll aufgenommen.« Der Blick des Richters schwenkte zur anderen Seite des Gerichtssaals. »Ms. Hunt, welchen Antrag stellt die Staatsanwaltschaft zur Frage der Kaution?«

»Richter, dank Mr. Swytecks Wirbelwind-Tour durch die Frühstückssendungen heute Morgen sind wir uns sehr wohl seiner Ansicht bewusst, dass die Regeln in diesem Fall anders lauten sollten, da Ms. Bornelli das mutmaßliche Opfer eines sexuellen Übergriffs ist. Wie das Gericht weiß, habe ich erfolgreich in unzähligen Fällen von Sexualverbrechen die Anklage geführt, und ich bin sehr sensibel, wenn es um die Rechte von Opfern in unserem Strafvollzugssystem geht. Doch in diesem Fall ist Ms. Bornelli nicht die Klägerin. Sie ist die Angeklagte – angeklagt des Mordes. Laut Gesetz ist in einem Mordfall die Freilassung auf Kaution ausgeschlossen, solange kein eindeutiger Beweis dafür vorgelegt wird, dass bei der angeklagten Person kein Fluchtrisiko vorliegt. Wir bitten das Gericht dringlichst darum, dem Gesetz Folge zu leisten.«

»Welche Beweise haben Sie dafür, dass die Angeklagte ein Fluchtrisiko birgt?«, fragte der Richter.

Hunt hatte gute Arbeit geleistet, die Sache mit dem Opferschutzgesetz zu entschärfen. Jack erwartete, dass sie sich die Frage des Richters schnappen und damit vorstürmen würde, Richtung Ziellinie, und von Verteidigung auf Angriff umschaltete.

»Ms. Bornelli ist venezolanische Staatsangehörige. Sie zog im Alter von elf Jahren hierher, als ihr Vater einen diplomatischen Posten im Generalkonsulat der Chávez-Regierung bekleidete.«

Richter Gonzalez setzte sich interessiert auf. »Ist das so?«

Jack sträubte sich alles. Es war nicht wirklich eine Frage. Der Richter hätte ebenso gut sagen können: »Das ist alles, was ich hören musste.«

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