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Zum Glück gelaufen – Meine Reise auf dem Jakobsweg

Als Buch hier erhältlich:

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Über ein Leben in Schrittgeschwindigkeit und die Stolpersteine der Liebe – eine etwas andere Hommage an den bekanntesten aller Pilgerwege, den Jakobsweg

»Ich hingegen möchte die Sonne aufgehen sehen, denn mit dem Ende eines Kapitels, fängt doch erst ein neues an – und meins soll hier beginnen.«

Nach einer Beziehungskrise muss Andrea sich entscheiden: Gehen oder bleiben? Entschlossen, eine Antwort zu finden, lässt sie Berlin, ihre Freunde und Familie hinter sich und begibt sich auf das große Abenteuer Pilgerreise.

Immer wieder stößt die unerfahrene Wanderin dabei an ihre körperlichen Grenzen. Auch die erhofften Erkenntnisse bleiben aus. Doch Andrea läuft weiter, und erkennt, dass es vor allem die Begegnungen mit anderen Pilgern sind, die sie weiterbringen.

Mit jedem Schritt durch die beeindruckende, wunderschöne und mitunter herausfordernde Landschaft lässt sie die Vergangenheit hinter sich. Sie erkennt, dass es kein Zurück in ihr altes Leben gibt, doch eine wirkliche Entscheidung zu treffen, fällt ihr schwer. Dann trifft sie auf Benny. Und alles nimmt einen ganz anderen Lauf ...



»Mit der Zunge fahre ich mir immer wieder vergnügt über die salzigen Lippen. Dieser Ort, hier draußen am Ende der Welt, wo es nicht mehr weitergeht, bringt eine ganz besondere Melancholie mit sich. Er ist mystisch. Ganz anders als Santiago. Santiagos Mystik liegt in der besonderen Bedeutung des Ankommens, Finisterres hingegen in der Tatsache, dass es nichts Endlicheres zu geben scheint, als diesen Ort.«

»Ich sitze sicher eine gute Stunde oder länger hier auf meinem schroffen Felsen und blicke auf das graue, dunkle Meer unter mir. Gelegentlich schaffen es ein paar Sonnenstrahlen durch die dichte Wolkendecke und färben das Meer an der Stelle, wo sie auf seine Oberfläche treffen, in ein leuchtendes Türkis. Es ist unbeschreiblich, wie glücklich ich in diesem Moment bin. Ich sitze mit nichts hier am Meer, aber mich erfüllt ein ganz warmes Gefühl, ein Gefühl und eine Überzeugung, dass alles, was bis hierhin passiert ist, richtig war. Nie hätte auch nur irgendetwas davon nicht passieren sollen.«

800 Kilometer in ein neues Leben


  • Erscheinungstag: 26.04.2022
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000236
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Benny,
meinen Mann, den ich nie suchte
und ohne den ich jetzt nicht mehr sein könnte,

und für Johannes,
den Freund, den ich nie wollte
und der zu einem der wichtigsten Wegbegleiter
meines Caminos wurde.

AUFBRUCH

»Ich muss das jetzt machen.
Ich muss jetzt meinen eigenen Weg gehen.«

Berlin (8. September)

Ich stehe vor dem Küchentisch, auf dem all meine Sachen liegen, die ich gleich in den großen limonengrünen Rucksack stopfen werde, und gehe noch einmal akribisch die Packliste durch. Daniel steht mit einer Dose Cola in der Hand an den Türrahmen gelehnt hinter mir. Er beobachtet jeden meiner Handgriffe. »Du musst nicht gehen«, sagt er leise. »Doch. Ich muss«, antworte ich ihm, ohne aufzuschauen, »und ich will.«

Als ich am Abend aus dem Bad ins Schlafzimmer komme, liegt Daniel schon im Bett. Das Licht ist aus, aber ich erkenne seine Silhouette unter der Daunendecke. Eigentlich sollten wir nicht mehr im selben Bett schlafen, aber wir tun es trotzdem. Zwischen uns klafft diese Lücke, eine selbst auferlegte emotionale Distanz, um sich vor dem anderen zu schützen. Wenn ich nachts aufwache und feststelle, dass wir doch dicht an dicht nebeneinanderliegen, rücke ich erschrocken von ihm ab, schlinge meine Bettdecke fest um mich und taste hilfesuchend nach der Bettkante. Nur um mich zu vergewissern, dass sie noch da ist. Nur um mich zu vergewissern, dass es einen Weg aus diesem Bett hinaus gibt. Wir waren uns einst so nah, aber jetzt ist da dieser anscheinend unüberwindliche Graben zwischen uns. Vorsichtig, um Daniel nicht zu wecken, steige ich ins Bett, schlinge die Decke fest um mich herum und lehne mich an das hohe Kopfteil. Nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, beobachte ich den neben mir liegenden Daniel. Er schläft nicht, liegt mit offenen Augen da, mir den Rücken zugewandt, damit ich nicht sehe, dass er noch wach ist. Vielleicht, um nicht mit mir reden zu müssen? Ich streiche ihm sanft über den Kopf, aber er reagiert nicht.

»Ich muss das jetzt machen. Ich muss jetzt meinen eigenen Weg gehen.«

»Ich weiß. Aber wenn du jetzt gehst, kommst du vielleicht nicht mehr zu mir zurück«, antwortet er jetzt mit geschlossenen Augen, fast reglos.

»Nein, vielleicht nicht.«

BEGINN EINER REISE

»Das Wichtigste ist,
dass du ehrlich zu dir selbst bist.
Stehe zu dem, was du denkst,
und stehe auch dafür ein, denn das macht dich aus.«

Saint-Jean-Pied-de-Port (9. September)

»Die Passagiere des Flugs AF4357 nach Toulouse werden gebeten, zum Gate B37 zu kommen.« Klick! Es ist, als hätte die Flughafenmitarbeiterin einen Telefonhörer aufgelegt und wir alle hätten am anderen Ende der Leitung gewartet. Die Stimme wiederholt die Ansage noch einmal auf Französisch. Klick! Wieder aufgelegt. »Ich glaube, ich muss gehen«, sage ich zu Daniel, der mir erwartungsvoll gegenübersteht. Meinen Rucksack habe ich bereits am Gepäckschalter aufgegeben. Nur mit meiner alten blauen Gürteltasche aus den Neunzigern in der Hand fühle ich mich nackt – als würde etwas fehlen. Zum Beispiel eine große Handtasche, wie ich sie üblicherweise trage. Statt dieser hänge ich mir nun das Eastpak-Täschchen über die rechte Schulter und trete auf Daniel zu, nehme ihn in den Arm. Er steht einfach da und lässt es über sich ergehen. Ich löse die Umarmung. Dicht an dicht stehen wir voreinander. Ich kann seinen warmen Atem auf meinem Gesicht spüren. Die Mundwinkel verziehe ich zu dem Versuch eines Lächelns. Als ich mich zum Gehen wende, wirft Daniel beide Arme um meine Schultern: »Ach, komm her«, sagt er, wie er es zu einem alten Kumpel sagen würde, und drückt mich zum Abschied. Einige Minuten lang hält er mich so, drückt mich fester und fester. Ich streiche ihm über den Rücken und dann, obwohl ich das eigentlich gar nicht will, küssen wir uns – seit Langem mal wieder und zum letzten Mal vor meiner Reise. Seine Lippen sind ganz weich, genauso wie seine Hamsterbäckchen. Der Kuss hat nichts Leidenschaftliches, nichts Inniges, aber etwas Vertrautes. Er lockert die Umarmung, und ich trete ein paar Schritte zurück: »Mach’s gut«, sage ich. »Pass auf dich auf«, antwortet Daniel. Als ich mich schon umgedreht habe und einige Meter weit gegangen bin, ruft er mir ganz untypisch für sich hinterher: »Ich liebe dich!« Ich gehe weiter, als hätte ich es nicht gehört. Will mich nicht umdrehen, will ihm keine Regung zeigen. Die Worte aber lassen mich innerlich erstarren. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er sie in der gesamten Zeit unserer Beziehung je laut gesagt hätte. Sie wurden höchstens auf Geburtstags- oder Weihnachtskarten geschrieben – doch meist stand dort »Hab dich lieb!« oder, wenn große Gefühle im Spiel waren, »Lieb dich!« Und nun sagt er diese Worte. Nun, da wir kein Paar mehr sind, will er mich nicht verlieren. Jetzt nicht mehr.

Im Minibus vom Flughafen Toulouse zum Bahnhof Matabiau fahren wir an vielen kleinen das Stadtbild schmückenden Boutiquen, Brasserien und Cafés vorbei und kreuzen zweimal die Garonne. Es ist Anfang September, und der Fluss trägt nur sehr wenig Wasser. Ob es wohl ein heißer Sommer war? Die Stadt selbst aber ist üppig grün, überall sehe ich kleine Garten- und Parkanlagen. Die Menschen auf den Straßen stammen anscheinend aus allen Ecken und Enden dieser Welt. Als wir an einer Ampel warten, überquert eine Gruppe indischer oder pakistanischer Geschäftsmänner vor uns die Straße. Sie tragen dunkle Anzüge und Krawatten und auf dem Kopf bunte Turbane in den prächtigsten Farben. Der zähe Verkehr führt uns dann weiter an einem kleinen bemoosten Kanal entlang, der gut ein Nebenarm der Garonne sein könnte. Er sieht romantisch aus.

Wie ich so auf dem Boden des Toulouser Bahnhofs an eine Schaufensterscheibe gelehnt sitze, mit meinem immer noch viel zu heißen Kaffee in der Hand, sichte ich meinen ersten Pilger. Mein Herz macht vor Aufregung einen Hüpfer. Der alte Mann mit seinem weißen langen Bart, einem Tirolerhut und braunen Lederhosen erinnert mich an Heidis Großvater, den Alm-Öhi. Ich hätte ihn nicht in Südfrankreich, sondern eher in den Alpen vermutet. Er steht, die Augen geschlossen und den Kopf auf die Hände gestützt, die seinen riesigen Wanderstab umklammern, leicht vor- und zurückschwankend in einer Ecke des Bahnhofs. Ob er wohl schläft?

Eine Stunde später bin ich endlich im Zug. Es geht mit dem TGV 8510 nach Bordeaux, von dort nach Bayonne und anschließend mit einem Bummelzug durch die Berge weiter bis Saint-Jean-Pied-de-Port, meinem heutigen Ziel und dem morgigen Startpunkt meiner Wanderung. Es tut gut, jetzt weiterzukommen. Ich warte nicht gerne, erst recht nicht an einem Bahnhof, an dem ich nicht viel machen kann. Die Fahrt aber genieße ich sehr, schaue mir die am Fenster schnell vorbeifliegende Gegend an. Nie zuvor war ich in diesem Teil Frankreichs. Hier stehen Palmen direkt neben Nadelbäumen. Die Häuser sehen aus wie in Spanien. Allerdings sind die Frauen eleganter gekleidet, sehr adrett, in feinen Stoffen und hochhackigen Schuhen. Die Haare sind locker zusammengebunden. Perfektion in casual, unnatürlich natürlich. Gerade hier in Frankreich, dem Land der Mode und des Stils, komme ich mir in meinem bunt karierten Wanderhemd, der braunen Wanderhose, an der man die untere Hälfte der Hosenbeine mittels Reißverschluss abtrennen kann, um schnell und einfach statt langer eben kurze Hosen zu tragen, und der ziemlich lächerlichen, aber doch unglaublich praktischen blauen Eastpak-Gürteltasche auf meinem Schoß albern und modisch absolut deplatziert vor. So oder so ähnlich stelle ich mir einen Bauerntrampel vor. Ja, ich glaube, ich entspreche momentan genau meiner Vorstellung eines Trampels.

Beim Einstieg in den Zug in Bayonne erkenne ich schon an den vielen Pilgern auf den Sitzplätzen, dass ich hier richtig bin. Einer von ihnen ist definitiv deutsch – er hält ein kleines gelbes Wörterbuch in der linken Hand und liest darin: »Spanisch«, steht auf dem Einband. Der Pilger hinter dem Büchlein ist etwa in meinem Alter. Mit seiner Halskette, dem welligen blonden Haar und dem sonnengebräunten Teint sieht er aus wie ein kalifornischer Surferboy aus Venice Beach. Neben ihm auf dem Sitz liegt ein hübscher beigefarbener Havannahut. Auf seinem leuchtend blauen T-Shirt prangt ein Logo in Form einer Welle. Er trägt Bermudas und blau-weiße Havaianas. Irgendwie fehlt ihm nur noch der Longdrink in der Hand oder das Surfbrett unterm Arm. Ein anderer Passagier hier im Zug ist Italiener, er hat gerade jemandem am Telefon erzählt, dass er die nächsten Monate als Pilger unterwegs sein werde. Ein Weiterer könnte Franzose sein, das kann ich aber nicht mit Sicherheit sagen. Er spricht sehr gut Französisch und sieht exakt aus wie François Hollande – lediglich mit einem dickeren Bauch, brauner Gürteltasche und dunkelgrünem Trekkingrucksack. Lustig! Was wohl der französische Präsident sagen würde, wenn er sich so sehen könnte? Falls ich ihm auf dem Weg noch einmal begegnen sollte, werde ich ihn nach einem gemeinsamen Foto fragen! Mir gegenüber sitzt eine etwas fülligere Mittdreißigerin in roter North-Face-Jacke, kurzer Wanderhose und mit einem blauen Stirnband. Sie lächelt mir ein paarmal zu und kramt dann ihr Buch aus der Tasche. Ein Krimi. Auf Deutsch. Also noch eine Landsfrau. Allerdings hätte ich mir das auch schon anhand der Jacke denken können. Ich schaue schnell wieder auf. Nicht dass sie mitbekommt, dass ich den Titel ihres Buches gelesen habe: Auf Unterhaltungen mit Deutschen habe ich so gar keine Lust momentan. Das ist schließlich meine Reise, und ich mag jetzt nicht erklären, wieso, weshalb, warum ich sie antrete oder irgendetwas sonst – weder dem Kalifornientyp noch Miss Molly Moppel. Der Zug fährt los. Auf zur letzten Etappe für heute!

Wir fahren quer durch die Pyrenäen, besser gesagt, durch die Pyrénées-Atlantiques – auf jeden Fall mitten durch viele Berge, hinauf und hinunter. Es ruckelt wie bei der Harzer Schmalspurbahn, mit der unzählige Touristen den Brocken, den höchsten Berg Mitteldeutschlands, erklimmen. Die Landschaft ist gebirgstypisch. Saftige grüne Wiesen werden von hohen Bäumen, drahtigem Gestrüpp, kargen Felsen, kleinen Wasserfällen und Bächen abgelöst. Parallel zu einem reißenden Fluss, dessen glasklares Wasser sich seinen Weg durch das Bergmassiv bahnt, fahren wir vorbei an tiefen Schluchten und steilen Abhängen. Noch im Mai habe ich aus dem Flugzeug auf diese gewaltigen Berge hinuntergeschaut und gedacht: »Irgendwann einmal!« Jetzt bahne ich mir meinen Weg mitten zwischen ihnen hindurch. Ich bin meiner kleinen Reise also tatsächlich schon ein ganzes Stück näher gekommen. Aber beim Anblick dieser majestätischen Berge und hohen Gipfel drängt sich mir die Frage auf, wie ich kleiner, schwacher und zudem noch unglaublich untrainierter Mensch dieses Gebirge bezwingen soll. Ein flaues Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit. Ich weiß es nicht. Aber ich werde es sehen … morgen!

Vom Bahnhof in Saint-Jean-Pied-de-Port bis zu meiner Herberge sind es nur wenige Hundert Meter. Es ist bereits dunkel und die schmalen Gassen im Ort sind nur noch schemenhaft zu erkennen. Als ich dann das alte steinerne Gebäude betrete, strömt mir ein intensiver Duft von Fichtennadeln und Zedernholz entgegen – wie in einer finnischen Sauna. Sofort fühle ich mich wohl. Viele Schlafplätze gibt es in der Auberge du Pèlerin nicht. Zwei Zimmer mit jeweils vier Doppelstockbetten, also für insgesamt sechzehn Pilger. Ich hoffe, die wollen nicht alle gleichzeitig morgen früh um 6:30 Uhr aufstehen und unter die Dusche. Apropos Dusche: Unter der war ich direkt nach meiner Ankunft auch schon … brr … Fußpilzalarm hoch zehn. Der Boden der Duschen ist eine Zumutung, und es kostete mich arge Überwindung, die Kabine zu betreten. Sehnsuchtsvoll dachte ich an die Havaianas des Surferboys. Ich hätte wirklich unbedingt Flipflops oder Badelatschen mitnehmen sollen. Auf der Packliste der Jakobusgesellschaft hatte also nicht grundlos hinter dem Punkt Badelatschen ein dickes Ausrufezeichen gestanden, aber ich hatte nur an das geringstmögliche Gewicht gedacht und die Latschen zu Hause gelassen. Immerhin gibt es warmes Wasser. Das wird es nicht überall auf dem Weg geben.

Ich mache es mir auf meinem Hochbett bequem und begutachte meine Fußsohlen. Unter dem mittleren Zeh hat sie sich versteckt: meine erste Blase. Wie sollen diese zartbesaiteten Stadtfüßchen, die zumeist in schicken Pumps oder bequemen Sneakers stecken, 800 Kilometer laufen, wenn sie nicht einmal einen Tag Fliegen und Bahnfahren in neuen Schuhen überstehen? Zugegeben, es ist auch reichlich dämlich, neue, noch nie getragene Schuhe mit auf eine Wanderreise zu nehmen – auch wenn diese nur für die Nachmittage gedacht sind. Dafür habe ich heute aber schon weitaus mehr Kilometer zurückgelegt, als ich auf dem gesamten Camino gehen werde, und das an einem einzigen Tag. Von Berlin nach Saint-Jean sind es über Toulouse und Bayonne etwa 1.600 Kilometer. Zufrieden kuschle ich mich in meinen Schlafsack. Im Pilgerbüro habe ich mir vor dem Einchecken in die Herberge noch schnell meinen ersten Stempel ins Credencial, meinen Pilgerausweis, geben lassen. Damit ist es offiziell: Ich bin Pilgerin.

Roncesvalles (10. September)

Wie erwartet stehen heute Morgen alle etwa zur gleichen Zeit auf. Das Frühstück, bestehend aus getoastetem Brot mit Butter und Marmelade, einem Orangensaft und Kaffee ohne Ende, gibt es unten in einem kleinen rustikalen Aufenthaltsraum. Auch hier duftet es nach Fichtenholz wie in einer finnischen Sauna. Eine junge Asiatin mit kantiger Brille und Pink-Floyd-T-Shirt geht mit einer altweißen Porzellankanne herum und schenkt Saft nach. Sie versteht kaum Englisch, doch mit Händen und Füßen, Mimik, Gestik und einer Mischung einzelner englischer und französischer Wörter verständigen wir uns, und ich erfahre, dass sie hier in Frankreich eine Art freiwilliges soziales Jahr absolviert. Ihre Möglichkeit, ein wenig von der Welt zu sehen. Außerdem liebt sie die französische Sprache und hat schon viel gelernt. Ich bekomme leider nicht heraus, woher sie genau kommt. »Asia!«, sagt sie immerzu, und wenn ich nochmals nachfrage, antwortet sie auf Französisch: »Je vis maintenant en France!«, und lächelt mich erwartungsvoll an. Ich gebe auf und lächle resigniert zurück.

Nach dem Frühstück gehe ich noch kurz in den kleinen der Herberge angeschlossenen Garten hinaus. Es ist früh am Morgen, die Sonne kommt langsam hinter den Wolken hervor, und am Horizont kann ich bereits einen Streifen blauen Himmels erhaschen. Das Gras ist feucht vom Tau und duftet wunderbar frisch. An einigen Blumen, die aussehen wie Hyazinthen, hängen vereinzelt Wassertropfen, in denen sich das aufkommende Tageslicht glitzernd spiegelt. Ich atme einige Male ganz bewusst tief ein und schaue auf das Panorama der Pyrenäengipfel vor mir. Dann also dort oben hinauf.

Aus dem Schlafsaal hole ich meinen Rucksack. Außer einem jungen Pärchen ist niemand mehr hier. Ich glaube, die zwei sind Polen. Sie dürften in meinem Alter sein und sind sehr freundlich. Gestern Abend kamen wir gleichzeitig in der Herberge an. Das rothaarige, hübsche Mädchen wirkt ein wenig schüchtern auf mich. Sie lächelt häufig in meine Richtung, blickt dann aber immer wieder schnell zu Boden, sobald ich ihren Blick erwidere. Er hingegen ist äußerst aufgeschlossen. Als ich meine Schuhe perfekt geschnürt und meinen Rucksack geschultert habe, verabschiede ich mich von den beiden. »Buen Camino!«, ruft er. Wow! Mein erstes »Buen Camino« auf dem Jakobsweg. Ich gebe es strahlend zurück. Jetzt kann die Reise wirklich beginnen.

Gegenüber der Herberge befindet sich ein kleines Geschäft, ein Pilgerausstatter, bei dem ich mir Hut und Wanderstab kaufe. Zum Glück haben sie schon geöffnet. Im Pilgerbüro gestern Nacht hatte mir der ältere Herr, der mir auch den ersten Stempel in mein Credencial gedrückt hat, versichert, dass ich sterben, mindestens aber unter der heißen sengenden Sonne der Pyrenäen zusammenbrechen würde, wenn ich keinen Hut mit ordentlicher Krempe tragen würde. Es gäbe dort nirgends Unterstand, ohne Hut sei ich also verloren. Ich gehe mal davon aus, dass er die Situation ein klein wenig dramatisiert hatte, will aber dennoch ungern ohne Kopfbedeckung losziehen. In dem kleinen Geschäft finde ich relativ schnell einen hübschen Hut, der mir gefällt. Beim Stab dauert die Suche dann schon etwas länger. Die Verkäuferin versucht die ganze Zeit, mich zu einem Paar Teleskopstöcke zu überreden. Die möchte ich aber nicht. Ich bin hier als Pilgerin, nicht als Bergsteigerin. Also kaufe ich mir einen ganz einfachen hübschen Holzstock mit einer eingeritzten Jakobsmuschel am oberen Ende. Sie wirkt enttäuscht, vielleicht hatte sie sich mehr von meinem Einkauf erhofft, verkauft mir dann aber doch – wenn auch etwas resigniert – das, was ich haben will. Ich überlege kurz, ob der ältere Herr aus dem Pilgerbüro eventuell der Ehemann, Schwager oder Bruder der Verkäuferin sei und ihr mit seinem angsteinflößenden »Ohne Hut bist du hier verloren, mein Kind« nur zu ein bisschen Umsatz verhelfen wollte. Schnell verwerfe ich den Gedanken aber wieder, denn gegen einen Sonnenbrand wird mich das Indiana-Jones-Teil allemal schützen, und das allein ist den Kauf wert. Den Hut binde ich vorerst an meinem Rucksack fest, schaue mich noch einmal vor dem Geschäft um und wandere rechts die Anhöhe hinauf, schnurstracks dem Weg folgend. Es ist 8:00 Uhr.

Saint-Jean ist ein romantisches mittelalterliches Städtchen, bestehend aus bunten urigen Fachwerkhäusern, mit blumengeschmückten Balkonen, die die alte Kopfsteinpflasterstraße säumen. Über der Stadt mit ihren rund 1.400 Einwohnern thront erhaben das Château de Mendiguren, ein 1191 erbautes Schloss, das später zur Zitadelle umgebaut wurde.

Nach kurzer Zeit komme ich an ein steinernes Tor, das mir den Weg hinaus aus dem Ort weist. In meinem Reiseführer heißt es, die Porte d’Espagna sei das Tor zu den Pyrenäen. Voller Bewunderung bleibe ich stehen. Als ich nähertrete und mir das am Stein angebrachte bronzene Schild genauer ansehe, stutze ich: »La Porte Saint-Jacques« steht darauf geschrieben, »UNESCO World Heritage 1998«. Eigentlich sollte dieses Tor doch Porte d’Espagna heißen – ist das vielleicht die freie französische Übersetzung? Angeblich mögen sich die beiden Nachbarn hier an der Grenze nicht besonders, aber ist das Grund genug, gleich das ganze Tor umzubenennen, nur damit nichts auf Spanien hindeutet? Ich laufe noch ein gutes Stück weiter den Berg hinauf, genieße die Aussicht, grüße die Menschen, die an mir vorüberziehen, wundere mich aber doch immer mehr. Kein einziger Pilger ist mir bisher begegnet. Nicht einen habe ich gesehen, seit ich das Pilgerbüro in Saint-Jean passiert habe. Vielleicht sollte ich umkehren und nach dem Weg fragen? Allzu weit bin ich schließlich noch nicht gelaufen, und wegweisende Muschelzeichen habe ich auch noch nicht entdecken können. Ich bin hoffentlich nicht die Einzige, die den Weg nicht kennt.

Also laufe ich zurück in die Stadt, muss mir aber nicht einmal die Blöße geben und nachfragen, wo der Jakobsweg entlangführt. Eine Gruppe von Pilgern zieht munter entgegen der Richtung, aus der ich gerade gekommen war. Auch vor ihnen laufen Pilger – einzeln, als Paar, in Grüppchen. Es ist wirklich typisch. Da gibt es nur zwei Richtungen, und ich entscheide mich prompt für die falsche. Im Gehen schlage ich den Reiseführer auf. Ein aufmerksamer Blick hinein hätte vorab genügt, um nicht mit dem ersten Schritt als Pilger in die verkehrte Richtung zu laufen. Dort steht: »Gehen Sie bergab durch die Rue de la Citadelle.« Bergab! Als ich an der tatsächlichen Porte d’Espagna ankomme, ist mein Ärger schon wieder verflogen, denn nun öffnet sich auch mir das Tor zu den Pyrenäen.

Nach drei Stunden strammen Laufens mache ich meine erste Pause. Ich liege hoch über den Wolken auf einer saftigen, grünen, vom Tau noch etwas feuchten Wiese und schaue auf die vielen kleinen Berggipfel um mich herum, die durch die dicke Wolkendecke lugen. Die Gipfel wirken in ihren flauschigen, weißgoldenen Schäfchenwolken wie in Zuckerwatte gepackt. Es ist kaum zu glauben: Ich befinde mich wirklich über den Wolken! Ich ziehe die Fleecejacke aus, genieße die warmen Sonnenstrahlen auf meiner bleichen Haut und verschränke die Hände hinter dem Kopf. Aus dem Deckfach meines limonengrünen Rucksacks zaubere ich flink die getrockneten Apfelringe, die ich aus Deutschland mitgebracht habe. Gierig reiße ich die Tüte auf und genehmige mir gleich drei süße Kalorienbomben. Die klebrigen Finger wische ich im Gras ab. In der Ferne läuten Kuhglocken. Etwas abseits entdecke ich den deutschen Surferboy aus dem gestrigen Zug nach Saint-Jean. Auch er liegt in der Sonne im Gras, den Kopf auf seinem Rucksack, vor sich das Spanischwörterbuch. Ich beachte ihn nicht weiter, drehe mein Gesicht wieder dem blauen Himmel zu und schließe die Augen. Meine erste kleine Auszeit im Einklang mit der Natur wird kurz von meinem Handy unterbrochen, das ich als Tagebuch, Fotoapparat, Taschenlampe, Uhr, Kalender und Notfalltelefon mithabe. Eine SMS von meinem Netzanbieter: »Willkommen in Spanien!«

Die Landschaft um mich herum ist unglaublich schön. Sie erinnert mich an die Alpenwanderungen meiner Kindheit: halb abgegraste Weiden mit Pferden, Kühen und vor allem Schafen, so weit das Auge reicht. Immer wieder komme ich auch an rustikalen Bauernhäusern vorbei, und aus einiger Entfernung heben die baskischen Landwirte ihre Hand zum freundlichen Gruß, ich winke freudig zurück. Auf einer Anhöhe muss ich mir meinen Weg quer durch eine Herde starker Hirtenpferde – vermutlich Criollos oder Pottok-Ponys – bahnen. Es sind etwa fünfzehn an der Zahl, die gut vierzig Schafe hüten. Die Kleinpferde haben zwar nur ein Stockmaß von höchstens 1,40 Meter, aber trotzdem flößen sie mir gehörig Respekt ein, wie sie dort so stämmig und muskulös dastehen. Ein besonders robustes Pferd mit auffallend kurzem Hals, dafür aber einer umso längeren blonden Mähne kommt ein paar Schritte auf mich zu. Ich bleibe stehen und halte ihm meine ausgestreckte, flache Hand entgegen. Die feuchten Nüstern und widerspenstigen Barthaare kitzeln auf meiner Haut. Nach kurzem Schnuppern bleckt mein Gegenüber unter lautem Wiehern seine Zähne, und ich verstehe es als Aufforderung, weitergehen zu dürfen. Wachsam beobachten mich die restlichen Tiere, während ich mitten durch ihre Schafe stapfe, die ziemlich gemütlich vor mir Reißaus nehmen.

Die Sonne brennt mir auf den Pelz. Unter meinem Wanderhut fange ich an zu schwitzen und bekomme langsam, aber sicher Durst. Meine Wasserflasche ist schon seit geraumer Zeit leer, aber gerade jetzt liegt natürlich kein Brunnen oder Bauernhof auf meinem Weg, an dem ich die Flasche wieder auffüllen könnte. Erst nach 6 weiteren Kilometern entdecke ich am Wegrand einen kleinen weißen Transporter, vor dem ein riesiger Tapeziertisch aufgebaut ist. Ein Foodtruck. Auf der Wiese davor sitzen und liegen einige Pilger im Gras. Hinter dem langen Tisch steht ein Mann. Er stellt sich mir als François vor, verkauft hart gekochte Eier, Joghurt, Äpfel, Bananen, Orangensaft, Kaffee und Wasser: alles, was das Pilgerherz begehrt und was der Pilgerkörper nötig hat. Ich kaufe ein Wasser, um meinen Durst zu löschen, und einen Saft wegen des Geschmacks. François fragt mich, aus welchem Land ich komme. »Deutschland«, antworte ich, während mir das große Plakat an der Seite des Lieferwagens auffällt. Darauf ist eine Strichliste mit bestimmt vierzig Nationen zu sehen. Alle, die vorbeigehen, fragt François nach ihrer Herkunft und jedes Mal wird hinter der entsprechenden Nation ein Strich gesetzt, oder es kommt ein weiteres Land auf die Liste. Die meisten Pilger kommen mit Abstand aus Frankreich. »Das ist hier immer so«, erklärt François, »denn die Pilger aus anderen Ländern kommen meist erst in Burgos oder León hinzu, und die Spanier beginnen den Weg so oder so erst in Sarria, denn offiziell kommt es nur auf die letzten 100 Kilometer an.« Das seien aber keine richtigen Pilger für ihn. Ein echter Pilger starte, François zufolge, auf jeden Fall in Saint-Jean – sonst hätte man ja die Pyrenäen gar nicht bezwingen müssen: »Das geht doch nicht.« Er selbst sei den Weg schon dreimal gegangen: einmal nach einer Scheidung, ein weiteres Mal vor einer Scheidung und zuletzt aus Langeweile, weil er keine Frau mehr zu Hause hatte, über die er sich hätte aufregen können. An zweiter Stelle auf François’ Liste stehen übrigens die USA, dicht gefolgt von Spanien. So viel zu: »Die Spanier laufen sowieso erst ab Sarria.«

Nach etwa sieben Stunden der Wanderung komme ich endlich in dem kleinen baskischen Dorf Roncesvalles – Französisch: Roncevaux – an. In der letzten Viertelstunde, die sich im Vergleich zum gesamten restlichen Tag unfassbar gezogen hatte, habe ich den Ort herbeigesehnt, als wäre er ein Ziel, auf das ich seit Monaten, wenn nicht gar seit Jahren hingearbeitet hätte. Ich konnte an nichts anderes mehr denken als an ein Bett oder eine Möglichkeit, die Beine hochzulegen, und daran, um Himmels willen bitte, bitte endlich anzukommen. Kaum einen Schritt konnte ich noch gehen. Und auch jetzt, nach dem Einchecken in der Herberge, die sich in Roncesvalles mit ihren hundert Betten verteilt auf zwei Stockwerke in einem hinter alter Fassade versteckten Neubau befindet, tut jeder Schritt weh.

Der Abstieg in das baskische Dorf war für mich als anscheinend unerfahrenste Wanderin des gesamten Camino schlimmer, als ich es mir je hätte vorstellen können. Ein paar Kilometer vor dem Zielort haben Pilger die Möglichkeit, entweder eine gepflasterte Teerstraße in großen Serpentinen hinabzuschreiten oder den direkten Weg durch den Wald zu wählen. Dieser, so steht es in meinem Reiseführer, sei nur den erfahrensten und fittesten Pilgern zu empfehlen und dürfe nicht ohne Wanderstöcke beschritten werden. Gut, ich war weder erfahren noch fit, aber ich hatte ja einen Wanderstock – und so schlimm konnte das Ganze doch wirklich nicht sein. Ha, denkste! Dieser Weg war der pure Wahnsinn und erinnerte mich mit seiner Steile eher an eine Kletterpartie in den bayerischen Voralpen als an einen hübschen Waldweg. Manchmal schlitterte ich auf dem Laub, das zuhauf auf dem feuchten Boden lag, viele Meter hinab und wusste nicht, wie und wo ich mich festhalten sollte. Es brachte auch nichts, den Pilgerstab vor mir in die Erde zu rammen, um so zum Stehen zu kommen. Ich rutschte einfach weiter und hatte zu allem Überfluss dann auch noch den Wanderstock im Bauch. So schlitterte ich von Baum zu Baum, landete irgendwann auf meinem Hintern, versuchte anschließend seitwärts- und rückwärtszugehen, landete dabei aber auf dem Bauch und rief irgendwann laut fragend Richtung Himmel, was das denn eigentlich solle. Und dann, nach etwa einem halben Kilometer, wurde es plötzlich ebener, das Laufen angenehmer, mein schmerzender Fußrücken entspannte sich, und der belaubte Waldweg endete. Aus dem dichten Wald hervortretend, blickte ich auf Roncesvalles. Klein, niedlich, mittelalterlich, vor allem aber: lang herbeigesehnt. Das friedlich daliegende Dörfchen erinnerte mich an Saint-Jean, nur war es noch kleiner und weniger romantisch. Romantik hin oder her, in diesem Moment war mir das vollkommen egal. Ich wollte nur noch in die Herberge. Ein altes Kloster sollte es sein, doch als ich bei diesem ankam, war das große Holztor verschlossen. Vielleicht hatten sie noch nicht geöffnet? Ein anderer Pilger, ein kleiner Italiener mit rosafarbenem Wandershirt und Indiana-Jones-Hut suchte ebenfalls einen Eingang in das Kloster. »Is this the albergue?«, fragte er mich. Wir entdeckten noch ein anderes großes Gebäude ein paar Meter weiter, also versuchten wir es dort. Und Tatsache, das Kloster war im Laufe der Zeit zu klein für die Massen an Pilgern geworden und konnte sie nicht mehr unterbringen. So wurde kurzerhand ein anderes altes Gebäude aus- und ein Neubau angebaut: mehr Betten, mehr Pilger, mehr Einnahmen. Und hier war ich nun. Als ich mein Bett zugewiesen bekomme, lege ich mich erst einmal fünfzehn Minuten ungeduscht hinein und versuche meine Beine zu entspannen. Der Moment fühlt sich schon himmlisch an.

Die Doppelstockbetten sind diesmal nicht aus Holz, sondern klapprige gefängnisgrüne Metallgestelle. Nichts duftet hier nach Kiefer oder Fichte. Beim Einlass im Erdgeschoss des Gebäudes bekommen alle einen Kopfkissen- und einen Deckenbezug, einen Stempel ins Credencial sowie eine Einweisung, wie man sich zu benehmen habe. Während ich mich ein wenig ausruhe, kommen auch die anderen Pilger in unserem kleinen Vierbettabteil an. Durch Trennwände, die ebenso gefängnisgrün wie die Betten sind, wurden kleine Schlafkojen gebildet, in denen sich je zwei Doppelstockbetten gegenüberstehen. Zudem hat jeder noch einen Spind wie in einem Schwimmbad, um den eigenen Rucksack wegschließen zu können. Auf der unteren Etage meines Bettes schläft Kevin aus Wales. Er hat einen wahnsinnig coolen britisch-walisischen Akzent, lange, graue Kotletten und den dazu passenden verfilzten grauen Bart. Er dürfte etwa sechzig Jahre alt sein, und wir unterhalten uns angeregt – wie kann es auch anders sein – über unsere quälenden Fußschmerzen. Anschließend lerne ich Chris kennen, der den Weg gemeinsam mit seiner Mutter läuft. Er ist sechzehn, lebt in Alaska und sieht seine Mutter aufgrund der Trennung der Eltern nicht allzu häufig, hat aber ein unsagbar enges Verhältnis zu ihr. Sie ist oft mit einem seiner beiden älteren Brüder auf Wanderschaft und wollte diesen Weg schon lange gehen. Dieses Mal hatte sich ihr Jüngster dazu entschlossen, sie zu begleiten. Beide sind überaus liebe, kommunikative Menschen, und sie gehen so freundschaftlich miteinander um, wie ich es selten zwischen Eltern und Kindern gesehen habe. Als Letztes stößt eine niederländische Nervensäge zu uns – er ist laut, erzählt uns gleich, wie einfach die heutige Etappe gewesen sei, dass er keinerlei Probleme beim Laufen gehabt habe, er irgendein großer Manager von Beruf und schon überall auf der Welt herumgekommen sei. Zu mir sagt er gleich: »Du bist Schwedin. Oder Deutsche. Wie heißt du?« Von der Frage überrascht, antworte ich nur mit meinem Namen. »Dann bist du Deutsch. Schwedinnen haben hübschere Namen. Die heißen Greta oder Agatha.« Ähm … Ja, danke, und er heißt wahrscheinlich Joop, Hendrik oder Bram. Später unter der Dusche frage ich mich, wie er so viel in so kurzer Zeit hatte erzählen können.

Das Pilgermenü ist okay. Nichts Besonderes, aber für 10 Euro ist es durchaus gut und mit drei Gängen vor allem reichlich. Zunächst darf man zwischen Pasta und Suppe wählen. Ich entscheide mich für Ersteres, was ich sicherlich nie wieder tun werde, solange ich die Wahl habe. Ich bin eben nicht in Italien. Die Pasta ist labberig und weich, fast schon zerkocht. Die undefinierbare Soße besteht aus einer Menge Öl, einigen Tomaten, so etwas wie faserigen Fleischresten und Kapern. Auch beim Hauptgang hat man die Wahl: Fisch oder Fleisch. Bei mir gibt es Forelle, dazu eine Handvoll Pommes. Der Fisch schmeckt fantastisch. Die Fleischesser bekommen je ein riesiges Schnitzel und ebenfalls Pommes. Dodge und Sylwia, mit denen ich an einem Tisch sitze, sind begeistert. Es ist das freundliche polnische Pärchen, das gestern Abend gleichzeitig mit mir in der Auberge du Pèlerin angekommen war und mich heute Morgen mit meinem ersten »Buen Camino« verabschiedet hatte. Als Vierter am Tisch sitzt ein nordkoreanischer ehemaliger Offizier. Er erzählt uns, dass er seinen Rückflug bereits gebucht habe. Ohne einen Nachweis über den Rückflug hätte Diktator Kim Jong-un den pensionierten Offizier nicht aus dem Land gelassen. Am 17. Oktober geht es von Madrid aus zurück nach Sunan, dem Flughafen der nordkoreanischen Hauptstadt Pjöngjang. Dodge fragt etwas genauer nach, und es stellt sich heraus, dass unser nordkoreanischer Freund die Vorgehensweise seines Landes durchaus gerechtfertigt findet. Irgendwie müsse man ja die eigene Existenz sichern, und wenn man dies nicht tue, erginge es Nordkorea bald wie einst der DDR. Man dürfe nicht zulassen, dass ein Land einfach ausgelöscht werde, nur weil es an Patriotismus fehle. Nordkorea dürfe so etwas nicht passieren, da sei sich das Volk einig. Wir anderen drei blicken uns etwas verdutzt an, bevor wir uns unserem Nachtisch, einem unangenehm süßen Bananenjoghurt, widmen, um danach gemeinsam auf den Jakobsweg und das gute Essen am Ende eines anstrengenden Tages anzustoßen.

Inzwischen ist es 20:35 Uhr, und ich liege im Bett. Zu Hause bin ich selten vor Mitternacht im Bett und falls doch, lese ich noch mindestens so lange, bis mir entweder die Augen zufallen oder das Buch auf meiner Nase landet. Heute bin ich einfach erledigt und muss mich zusammenreißen, um noch ein paar sinnvolle Sätze in mein Tagebuch zu schreiben. Und auch auf die Gefahr hin, als Jammerlappen zu gelten: Ich habe jeglichen körperlichen Schmerz, den ein Mensch haben kann, heute mindestens einmal durchlebt. Schultern, Nacken und Rücken tun von der Last des Rucksacks weh. Die Knie schmerzen vom Bergabgehen, selbst wenn ich sie ganz ruhig halte und jede unnötige Bewegung vermeide. Ich muss sie in jedem Fall ein klein wenig anwinkeln, um sie irgendwie zu entspannen. Die Schienbeinschmerzen aber sind am schlimmsten. Es fühlt sich an, als hätte ich überall blaue Flecke. Die Muskeln im Po ziehen, und die Oberschenkel brennen bei jedem Schritt wie Feuer. Es melden sich Muskeln, von denen ich bisher nicht einmal geahnt hatte, dass sie überhaupt existieren. Zwischenzeitlich hatte ich ein Stechen in der Brust, fiese Seitenstiche und merkwürdigerweise sogar Zahnschmerzen. Die Füße tun natürlich auch weh, gar keine Frage, aber sie schmerzen lange nicht so sehr wie die Beine. Das soll es nun aber gewesen sein mit dem Gejammer. Wenn ich den Tag Revue passieren lasse, fallen mir zwei Punkte besonders auf: Ich habe weniger Zeit benötigt, als ich für die Strecke eingeplant hatte, habe aber dennoch viel mehr Eindrücke allein an meinem ersten Tag auf dem Camino gewonnen, als ich je gedacht hätte.

Zubiri (11. September)

Um 6:00 Uhr morgens unliebsam geweckt zu werden, indem das Licht angemacht wird und eine keifende Stimme »¡Buenos dìas!« krakeelt, ist nur bedingt angenehm. Die spinnen doch in ihrer Herberge! So »bueno« wird der Tag jetzt ganz sicher nicht mehr. Schlafsäcke werden raschelnd zusammengerollt, Handtücher ausgeschüttelt, Reißverschlüsse auf- und wieder zugezogen. Hier und da fallen Teleskopstöcke oder Trinkflaschen zu Boden, Schuhe sowie Schmutzwäsche werden knisternd in Plastiktüten verpackt, Kamera- und Handyladegeräte aus den Steckdosen gezogen. Das alles passiert möglichst leise, und dennoch ist es für all jene, die noch schlafen wollen, eine Geräuschkulisse wie auf einer Großbaustelle in Berlin-Mitte. Begleitet wird das von einem monotonen Hintergrundrauschen: dem Flüstern der Pilger, die sich voneinander verabschieden oder sich gegenseitig ein »Buen Camino« wünschen. Ich krieche weiter in meinen Schlafsack hinein, ziehe das Kopfteil tief ins Gesicht und versuche händeringend, noch einmal einzuschlafen, aber es will mir nicht gelingen. Nachdem ich noch zwanzig Minuten lang mit offenen Augen in meinem Hochbett liege und dem Schlafsaaltrubel lausche, stehe auch ich resigniert auf und füge mich meinem Schicksal.

Mit dem allgemeinen Gewusel laufe ich um 7:00 Uhr ganz gemächlich los, denn es ist draußen noch stockfinster. Da ich den Weg so oder so nicht einmal erahnen kann, laufe ich einfach vorsichtig der Masse an Pilgern hinterher, die gleichzeitig mit mir aufgebrochen ist. So kann ich mich wenigstens schon mal nicht alleine verlaufen. Chris aus Alaska ist zusammen mit seiner Mom Laura und Kevin aus Wales ein paar Minuten vor mir gegangen. Die niederländische Nervensäge habe ich heute Morgen gar nicht mehr gesehen. Gestern hat er uns erzählt, er müsse sehr früh aufstehen, da er bis nach Larrasoaña laufen wolle, was noch ein paar Kilometer hinter meinem heutigen Ziel liegt: Zubiri.

Auf der kleinen Terrasse einer süßen Bar in Burguete, neben der örtlichen Kirche, entdecke ich Kevin, Chris und Laura. Der Tisch vor ihnen ist mit einem reichhaltigen Frühstück gedeckt. Ich winke ihnen, und sie geben mir zu verstehen, dass ich mich an den vierten noch freien Platz setzen solle. Der Einladung komme ich gerne nach, allein schon, um noch einmal Kevins tollen Akzent zu hören, aber auch, um in guter Gesellschaft endlich meinen knurrenden Magen zu füllen.

Heute soll der Weg nicht so beschwerlich werden. Einzig und allein der Abstieg nach Zubiri sei etwas anspruchsvoller, koste einiges an Kraft und Energie, so erzählen mir die anderen. Ich bin gespannt auf das, was mich erwartet. Die Zeit ist inzwischen weit vorangeschritten, die Sonne strahlt mir mitten ins Gesicht, sodass ich die Augen zusammenkneifen muss, um meine Gegenüber zu erkennen. Alles um mich herum leuchtet in diesem morgendlichen hellen Goldton. Es ist Zeit aufzubrechen. Mit einem herzlichen »Buen Camino!« verabschiede ich mich von meinen Mitpilgern und mache mich auf den Weg. Allein. Nur ich, mein Wanderstab, der Hut und mein limonengrüner Rucksack. Unter einem Baum auf dem Kirchvorplatz sitzt die niederländische Nervensäge. Er sieht oder erkennt mich nicht, aber ich denke belustigt bei mir: »Der ist aber weit gekommen, dafür dass er so früh aufgebrochen ist.«

Der Weg ist wunderschön und auch gar nicht schwierig zu gehen. Er führt mich über Kuhweiden, durch gelbe Kornfelder und saftige, dunkelgrüne Wiesen, mitten zwischen Schafen und Pferden hindurch. Es geht vorbei an vielen kleinen Flussläufen, durch Waldstücke, an deren Rändern Beerensträucher die Wege zieren, welche die größten Brombeeren tragen, die ich je gesehen habe. Sie sind riesig, tiefschwarz mit einem leichten rötlichen Schimmer, wenn ich sie in die Sonne halte, und sie sind unfassbar saftig. Meine rechte Hand ist ganz klebrig von dem süßen Brombeersaft, der immer wieder darüberläuft und den ich versuche mit der Zunge abzulecken. Die Steigungen sind nicht besonders anspruchsvoll, das Wetter den ganzen Vormittag und Mittag über angenehm warm, aber nicht heiß. Immer wieder komme ich auch durch kleine baskische Dörfer.

Nach dem letzten Dorf, Lizoàin, und somit zwei Dritteln meiner heutigen Etappe muss ich ein letztes Mal einen Anstieg bewältigen. Allerdings bin ich einen solchen Anstieg wahrlich noch nie gelaufen, oder besser: dicht über den Boden gebeugt gekrochen. Anfangs hatte ich noch versucht, diesen Berg in Richtung Erro-Pass halbwegs aufrecht hinaufzukommen, dabei hatte ich aber das Gefühl, rückwärts wieder hinunterzufallen, weil er so steil war. Natürlich denken sich nun alle erfahrenen Wanderer, das sei vollkommener Blödsinn, aber ich musste wirklich mit der Nase fast den Weg streifen, damit mich mein limonengrüner schwerer Freund auf dem Rücken nicht nach hinten zog und umriss. Auf dem Alto de Erro angekommen, einem grün bewachsenen Plateau, mache ich eine Pause, fülle meine Wasserflasche auf und lasse mich an einem Kilometerstein im Schatten niedersinken. Viele Pilger sitzen hier. Manche von ihnen wirken kraftlos, der Schweiß rinnt ihnen über die Stirn und die roten Gesichter. Einige Pilger haben ihre Wanderschuhe ausgezogen und die heißen, brennenden Füße aus den dicken Socken befreit. Andere hingegen sind quicklebendig, hüpfen auf der Wiese umher, ohne dass man ihnen auch nur die geringste Erschöpfung ansehen würde. Mich aber sieht man wahrscheinlich schon von Weitem. Mit meinem hochrot leuchtenden Kopf könnte man mich fälschlicherweise mit einer Ampel verwechseln. Hätte ich aber zu dem Zeitpunkt gewusst, was noch kommen sollte, hätte ich mich definitiv nicht schon jetzt im Selbstmitleid gesuhlt.

Nach meiner kleinen Pause ist der Abstieg nach Zubiri die reinste Farce. Im Reiseführer steht hierzu: »Nach dem Haus, was einst Herberge war, wird der bisher angenehme Abstieg anstrengend.« Wovon bitte spricht der Autor? Ich bin verzweifelt, komme mir komplett verhöhnt vor von diesem Büchlein in meiner Hand. Am liebsten würde ich es weit in den Wald hineinpfeffern. Angenehm? Was zur Hölle ist hier angenehm? Ich kann nicht mehr laufen, und wo zur Hölle – ja Hölle, schon wieder Hölle – ist dieses verdammte Haus, das zum Kuhstall umfunktioniert wurde und früher Herberge gewesen sein soll? Wie soll dieser Weg noch anstrengender werden? Ich bin drauf und dran, den Reiseführer anzuschreien und die Seiten herauszureißen, projiziere meinen Schmerz und die damit verbundene Wut auf eben diesen Gegenstand, weil ich nicht weiß, wen ich sonst dafür verantwortlich machen sollte. Ich bin stinksauer, habe aber weit und breit kein Ventil für meinen Ärger. Dabei muss diese negative Energie dringend aus mir heraus. Aber wie? Ich kann nicht einmal mehr losheulen, so viel Anstrengung kostet mich das Gehen. Irgendwann setze ich mich einfach auf einen alten umgefallenen Baumstamm am Wegrand im Gras. Ich laufe nicht weiter. Selbst wenn ich wollte, ich könnte gar nicht. Meine Füße wollen nicht mehr, und mein linkes Fußgelenk schmerzt stärker denn je. Ich bleibe einfach sitzen, mindestens bis morgen früh, vielleicht aber auch länger. Vielleicht so lange, bis ich zu Stein werde, zu einer der Pilgerstatuen, mit denen sich die Menschen immer fotografieren, wobei die Inschrift unter meinem wohl eher »Antipilger« lauten sollte. Da das aber nicht passieren wird, werde ich wohl für alle Ewigkeit hier sitzen bleiben.

Inzwischen schießen mir vor lauter Verzweiflung doch die Tränen in die Augen. Ich weiß nicht mehr weiter. Hier sitzen bleiben kann ich nicht. Ich bin weder ausgerüstet für eine Nacht im Freien, noch könnte ich mir eine solche Niederlage jemals eingestehen oder gar verzeihen.

Zwei ältere deutsche Pilger kommen des Weges und unterhalten sich, so wie es der Deutsche normalerweise gern bei einem großen Bier tut: lautstark, sodass man sie bereits von Weitem hört – über ihr bisheriges Leben, wo, wie lang und vor allem wie hart sie geschuftet haben und dass man von der Minirente heute gar nicht mehr leben könne, weil der Staat das Geld nur in »die Ausländer« pumpe. Die beiden pausieren an meinem Baumstamm, beäugen mich kurz, um herauszufinden, ob vielleicht die Möglichkeit bestehen könnte, ich sei auch Deutsche und unterhalten sich demonstrativ deutlich sprechend in meine Richtung weiter. Ich widme mich, möglichst desinteressiert dreinblickend, meiner fast leeren Wasserflasche. Den Reiseführer lasse ich unauffällig in meiner Bauchtasche verschwinden. Dann lächle ich einem der beiden Männer kurz zu, lege den Kopf auf die Knie und schließe die Augen, so als würde ich nicht verstehen, wovon sie sprechen. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen, denke ich mir. Auf dass die mich bloß nicht anquatschen. Ich will mich auf meiner Flucht aus dem eigenen Land weder mit diesen beiden herumnörgelnden Deutschen unterhalten noch mit überhaupt irgendwem.

So lange die beiden neben mir stehen und vor sich hin meckern, hebe ich den Kopf nicht mehr von den Knien und schalte auf Durchzug. Aber wenn man jedes Wort versteht, ist es gar nicht so einfach, so zu tun, als würde man dem Gespräch nicht folgen können. Die beiden schimpfen derweil weiter über die schwachsinnige Idee einer Europäischen Union, für die jetzt ihre hart erarbeiteten Rentengelder draufgingen, und über die Spanier, die selbst schuld an der Pleite ihres Landes seien, wenn sie jeden Tag Siesta machten. Als Spanier könne man nicht erwarten, dass sie als Urlauber auch noch freundlich zu ihnen seien, und genau das wolle einer der beiden denen jetzt auf die harte Tour beibringen, schließlich würden sie es anders eh nicht verstehen. Zwei wirklich sympathische Großväter, denke ich mir. Gerade als ich meinen Entschluss weiterzugehen gefasst habe – lieber habe ich Schmerzen in den Beinen, als mir das Gerede noch eine Minute länger anzuhören –, packen die beiden ihre Wasserflaschen weg, nehmen ihre Teleskopstöcke in die Hände und laufen los. Ich lasse sie stillschweigend ziehen, gehe aber nach einigen Minuten und in sicherem Abstand hinterher. Die zwei haben mich mit ihrem Rumgejammer darüber, wie schlecht die Welt ihnen gegenüber sei, unglaublich motiviert. Ja, mir tun die Beine weh, und ja, ich habe keine Lust mehr zu laufen, und ja, mein Reiseführer ist wohl nicht auf dem neusten Stand – aber das alles würde sich auch nicht ändern, wenn ich miesepetrig und voller Selbstmitleid wie ein Häufchen Elend auf diesem Baumstamm sitzen bliebe. Ich will endlich ankommen. Je früher ich in Zubiri bin, desto eher kann ich frisch geduscht die Beine hochlegen, mich ausruhen und den Rest des wunderschönen, sonnigen, warmen Tages genießen. Also los!

Die beiden Männer laufen relativ langsam, sodass ich sie schnell eingeholt habe und mein Plan des Abstandhaltens scheitert. Ich spüre die Energie in mir, merke den Schmerz in meinen Gliedern nicht mehr. Also hüpfe ich schon fast den steilen Waldweg hinunter, und die deutschen Pendants der meckernden Waldorf und Statler lassen mich nach kurzer Zeit überholen. »Vielen Dank, die Herren!«, sage ich beherzt und lächle ihnen beim Vorbeiziehen ins Gesicht. Woraufhin der eine verdutzt den anderen fragt: »Hast du das gehört? Die hat doch deutsch gesprochen! Hast du gewusst, dass das eine Deutsche ist?« Das bringt mich zum Schmunzeln. Ja, na klar hat er gewusst, dass ich Deutsche bin. Wir kennen uns schon ewig, das wollte er dir nur nicht erzählen. Die Antwort seines Freundes toppt die Arroganz, die beide vorhin in puncto Spanien an den Tag gelegt haben, nochmals um Längen: »Nein, die ist nicht deutsch, sonst hätte die uns längst angesprochen, die hat uns doch gehört. Vielleicht ist die Holländerin, die sind alle blond und müssen immer damit angeben, deutsch zu sprechen. Kein Wunder, die haben auch keine eigene Sprache«, erwidert er lachend. »Oder sie wollte nicht mit uns sprechen«, entgegnet daraufhin die erste Pappnase. Beinahe bin ich gewillt mich umzudrehen, ihn anzugrinsen, denn das Grinsen bekomme ich so oder so nicht mehr aus dem Gesicht, um diesem windigen Dr. Watson zu seinem genialen Rückschluss zu gratulieren. Aber Mister Besserwisser, der pensionierter Lehrer sein könnte, da er auf alles eine Antwort weiß, ist sich sicher: »Nein, warum das denn? Die kommt auf jeden Fall aus Holland.« Innerlich schüttle ich den Kopf.

Motiviert von meiner kleinen Schandtat, ziehe ich mein Tempo noch weiter an und bin schnellen Schrittes innerhalb von nur zehn Minuten am Waldrand angelangt. Mir entfleucht ein lauter Jubelschrei, und ich renne mit meinem hüpfenden Rucksack auf dem Rücken, den Wanderstab in die Luft schleudernd, zur Puente de la Rabia, der Brücke der Tollwut, über den Río Arga hinein nach Zubiri. Ihr Name geht auf einen alten baskischen Volksglauben zurück: Wer sein Vieh dreimal um den mittleren Pfeiler der Brücke treibt, dessen Herde bleibt ewig von Tollwut verschont. Dafür sorgen angeblich die unter dem Pfeiler befindlichen Reliquien der heiligen Quiteria.

Ich laufe durch das kleine Dörfchen, vorbei an der Pfarrkirche San Martín über den Platz mit dem großen Brunnen, immer weiter, bis zur staatlichen Herberge. Die Übernachtung im Großraum mit Doppelstockbetten kostet mich 4 Euro. Die Duschen haben warmes Wasser, es gibt einen riesigen Garten, durch den Leinen für die Wäsche gespannt sind, einen Gemeinschaftsraum und eine kleine Küche. Im Garten steht sogar eine Tischtennisplatte, die momentan allerdings eher als zusätzliche Sitzgelegenheit genutzt wird. Die wenigsten Pilger haben Tischtenniskellen und – bälle dabei, und ausleihen kann man hier in der Herberge auch keine.

Nachdem ich mir meinen Stempel geholt, mein Übernachtungsgeld gezahlt und mein Bett bezogen habe – es ist schon wieder ein oberes, dabei möchte ich so gerne mal unten schlafen und nicht immer hinauf in mein Bett klettern müssen –, gehe ich duschen, Wäsche waschen und danach auf Erkundungstour durch den Ort. Zubiri ist nicht sonderlich groß, weshalb ich, der Hauptstraße folgend, das Dorf innerhalb von wenigen Minuten in einer Richtung passiert habe. Also heißt es umkehren. Aber auch in die andere Richtung geht es nicht sonderlich weit. Ich komme vorbei an einem kleinen Supermarkt, in Deutschland würde man ihn als Tante-Emma-Laden bezeichnen, einer Apotheke und einem Restaurant, das eher wie die riesige Cafeteria eines großen Unternehmens aussieht. Ich entschließe mich heute gegen ein Pilgermenü und kehre zum Supermarkt zurück, um dort ein paar Kleinigkeiten einzukaufen. Der Laden ist winzig und urig eingerichtet. Hinter einem Tresen mit verschiedenen Wurst- und Käsespezialitäten steht eine etwa vierzigjährige Spanierin. Hinter ihr auf einem dunkelbraunen Stuhl, von dem an einigen Stellen bereits der Lack abgeplatzt ist, sitzt eine alte Señora mit weißen Haaren und Brille, die Augen geschlossen und das Kinn auf ihren Gehstock gestützt. Sie sieht aus wie die spanische Version der Oma aus den Tweety-Comics. Die passende Katze liegt zusammengerollt auf der obersten Treppenstufe, die aller Wahrscheinlichkeit nach ins Lager hinabführt. Vergeblich suche ich Tweetys Vogelkäfig. Von der Spanierin hinter der Theke lasse ich mir ein frisches Bocadillo mit Salami, Paprika und Manchego belegen. Dazu gibt es noch eine Banane, und als Belohnung für die heutige Wanderung gönne ich mir zusätzlich ein Eis.

Als ich am Nachmittag meine Füße versorge und mein linkes Fußgelenk verarzten will, was über dem Spann in Höhe des Sprunggelenks blau angelaufen ist, setzt sich Alex aus Malta zu mir. Er macht mich darauf aufmerksam, dass der Schmerz im Fuß eventuell von der Zunge meiner Schuhe kommen könnte, und zeigt mir eine andere Schnürtechnik, sodass die Stiefel nicht mehr vorne aufs Sprunggelenk drücken. Zudem schenkt er mir noch ein kühlendes Gel mit abschwellender Wirkung und eine Gelenkmanschette, falls es nicht besser werden sollte. Die möchte ich zwar nicht annehmen, aber er versichert mir, dass er sowieso nur noch bis Pamplona laufe und sie von daher nicht mehr brauchen werde. Wenn doch, ist er sich sicher, dass bestimmt jemand in der Nähe sein würde, der ihm mit Manschette, Verband oder etwas Salbe aushelfen könne. Alex läuft den Weg über mehrere Jahre in vielen Einzeletappen, da er nicht genügend Urlaub am Stück nehmen könne. Er ist Mitte vierzig, arbeitet in der Tourismusbranche als Dozent einer Touristikakademie und nebenbei als Animateur in mehreren Hotels auf Malta: »Gute Jobs bekommst du auf unserer Insel nur im Tourismus. Etwas anderes haben wir nicht. Wir leben davon.« Er hat bereits den Camino del Norte bewältigt und ist im vergangenen Jahr vom französischen Le Puy-en-Velay nach Saint Antoine gelaufen. Dieses Mal geht es von dort eben nach Pamplona.

Den Abend verbringe ich mit einer ganz tollen Spanierin. Die dunkelhaarige Marita, deren kastanienbraune Augen beim Lächeln unzählige, liebevolle Fältchen umspielen, muss um die fünfzig sein, ist topfit und hat ein unglaublich fröhliches Gemüt. Sie stellt mich einer Gruppe dreier junger deutscher Männer vor. »Na toll«, denke ich mir, »eigentlich wollte ich doch unentdeckt bleiben.« Aber der Abend ist super. Unter den drei Deutschen befindet sich auch der Surferboy aus dem Zug nach Saint-Jean. Er heißt Flavio und ist gar kein Deutscher, sondern Schweizer. Auch er hat mich wiedererkannt, und wir quatschen lange über unseren bisherigen Weg, vor allem aber Lebensweg. Flavio ist ein äußerst interessanter Mensch: Zweieinhalb Jahre arbeitete er in den USA bei einem Wertstoffunternehmen. Wegen des schlechten Arbeitsklimas unter den Kollegen hatte er eines Tages kurzerhand gekündigt. Als Reaktion darauf wurde ihm prompt das Visum entzogen. Da er dann erst einmal nicht wusste, wohin – denn zurück in die Schweiz zog es ihn nicht –, unternahm er eine kleine Weltreise. Von Florida aus reiste er durch Mittel- und Südamerika, von dort auf die Galapagosinseln, wo er an einem Klimawandelforschungsprojekt teilnahm, und anschließend weiter auf die Osterinseln. Naheliegend, dass Flavio dann auch gleich Neuseeland und Australien mitnahm. Hier arbeitete er für Hilfsprojekte zur Rettung des Great Barrier Reef und engagierte sich bei Initiativen, die sich für Walfangverbote im Pazifik einsetzen. Von dort aus ging es für drei Wochen zurück in die Schweiz, und nun war er hier auf dem Camino.

Michael aus Stuttgart und der achtzehnjährige Johannes aus München sitzen auch bei uns am Tisch. Johannes ist gerade mit dem Abitur fertig geworden und weiß nicht, welchen Studiengang er wählen soll. Er kann sich nicht zwischen Medizin und Philosophie entscheiden, wobei Letzteres – seinen Eltern zufolge – brotlose Kunst wäre. Solche Probleme können auch nur einen Münchner auf den Camino schicken. Der schlaksige Junge in seinem lila Polohemd wirkt recht arrogant. Schon sein allererster Kommentar mir gegenüber ließ tief blicken: »Ich freue mich über jeden Deutschen, den ich hier treffe. Das sind so vernünftige Menschen.« Da ist er bei mir genau an die Richtige geraten. Er erzählt mir auch, ich hätte mich vorhin zu ihm auf die Bank gesetzt, aber da ich ihn auf Englisch angesprochen hatte, hätte er nicht angenommen, dass ich Deutsche sei: »Obwohl du mir gleich positiv aufgefallen bist. Endlich ein Mensch in meinem Alter.« Ich lache lauthals los und kläre ihn über mein tatsächliches Alter auf. Er scheint darüber etwas enttäuscht zu sein. Ich verabschiede mich von Johannes und Flavio, hole meine Schlafkleidung und meine Zahnbürste und gehe ins Bad. Michael ist schon vor mir schlafen gegangen.

Als ich im Bett liege, kommen zum ersten Mal seit meinem Aufbruch Gedanken an Daniel auf. War es richtig, mich von ihm zu trennen? Gebe ich mit dieser Trennung vielleicht zu viel auf? Doch schnell schiebe ich die Gedanken beiseite. Heute habe ich keinen Kopf mehr dafür. Stattdessen beschließe ich für mich noch zwei ganz wichtige Dinge für die Zeit nach dem Camino: Erstens werde ich nie wieder irgendwohin zu Fuß gehen, sondern künftig immer – und zwar wirklich immer! – das Auto oder Fahrrad nehmen, und zweitens muss ich in Berlin unbedingt Jakobsmuscheln essen gehen: als Wiedergutmachung für meine Qualen. Gute Nacht y hasta mañana!

Pamplona (12. September)

Ich habe mein Handtuch in der Herberge vergessen! Wie kann man nur so doof sein? Ich hatte es extra nicht draußen auf die Wäscheleine gehängt, nachdem ich heute Morgen nochmals duschen war, sondern über das Fußende meines Bettes, um eben genau das zu vermeiden. Immer wenn ich beim Packen von meinem Rucksack aufgesehen habe, fiel mein Blick sofort mahnend auf das Handtuch: »Bloß nicht vergessen!«, sagte ich mir mit einem letzten kurzen Blick auf das gute alte Stück, bevor ich dann doch, mit den Gedanken schon wieder bei der heutigen Strecke, meinen Rucksack geschultert und nach draußen gegangen bin, um meine Wanderschuhe anzuziehen. Dann ging es los, auf nach Pamplona, der Stadt des Stierkampfes. Natürlich ohne Handtuch.

Der Camino begann heute Morgen wieder mit einer orientierungslosen Suche. Selbst schuld, wenn man im Dunkeln, allein und ohne Lampe losläuft, anstatt auf andere Pilger zu warten – dann verläuft man sich entweder zusammen oder folgt den Wissenden. Ich hätte mich wirklich für den Kauf einer Stirnlampe entscheiden sollen, eine sinnvolle Investition. Wer schon einmal über mehrere Tage gewandert ist, weiß sicher, dass so eine Lampe im Ernstfall sogar Leben rettet. Na ja, und eigentlich sagt einem auch der gesunde Menschenverstand, dass es sinnvoll sein könnte, eine Lampe bei sich zu tragen, die mehr kann als die kleine Funzel des Smartphones. Der Lichtkegel ist minimal, eben nur das Licht eines Kamerablitzes, und davon abgesehen kann ich zusehen, wie sich der Akkustand des Telefons alle paar Sekunden dramatisch reduziert.

Auf Zubiris Plaza de la Iglesia entschließe ich mich dann dazu, auf die nächsten vorbeilaufenden Pilger zu warten. Schon nach wenigen Minuten kommt eine junge Frau mit großem blauen Rucksack. Ein knalliger Kontrast zu den feuerroten Haaren. Sie hat Kopfhörer auf den Ohren und einen Trinkhalm im Mund, der über ihre Schulter in den Wassertank ihres Gepäckstücks führt. Anstatt aber weiterzulaufen und mir somit ganz nebenbei die richtige Richtung zu zeigen, läuft sie lediglich ein paar Schritte an mir vorbei, um dann abrupt stehen zu bleiben. Sie kniet sich hin, löst die Schleife ihres rechten Schuhs und bindet sie von Neuem, dann richtet sie sich wieder auf, dreht sich zu mir um, setzt kurz darauf ihren Rucksack ab und kramt in dem oberen Fach, als würde sie etwas suchen. Na toll, jetzt stehen zwei Deppen auf dem Platz vor der Pfarrkirche und wissen nicht, wohin des Weges. Gerade als ich auf sie zugehen und sie ansprechen will, vernehme ich lauter werdende Stimmen. Eine ganze Gruppe junger Spanier und Spanierinnen. Sie lachen und unterhalten sich lautstark, setzen zu einem spanischen Kanon an und überqueren singend den Kirchplatz. Schnell schließe ich mich ihnen an, laufe hinterher, und auch der Rotschopf tut es mir gleich. Als wir um die nächste Ecke biegen, fängt der Trupp lautstark zu jubeln an: »¡Desayuno!«, »Frühstück!«, brüllen sie nacheinander und verschwinden allesamt in einer kleinen Kneipe. Schnell sprinte ich auf die offenstehende Kneipentür zu und frage den letzten der Jungs, bevor er durch sie hindurch huschen kann, ob er den Weg kenne, da ich kein Muschelzeichen entdecken könnte. Verdutzt blickt er mich an, vielleicht wegen meiner blöden Frage, auf dem Jakobsweg nach dem Jakobsweg zu fragen, oder aber, weil ich ihn mit meinem unerwartet schwungvollen Ansprechen überrumpelt habe. »Ich weiß es auch nicht«, entgegnet er achselzuckend. Sie wollen erst einmal frühstücken, um dann gestärkt den Weg zu suchen und in den Tag zu starten. Seine Einladung, ihn und die Gruppe zu begleiten, lehne ich dankend ab. Zum Essen ist es noch viel zu früh, und ich möchte erst ein paar Kilometer laufen, bevor ich mich einem ausgiebigen Frühstück widme. In Larrasoaña, dem nächsten größeren Dorf, soll es laut meinem Reiseführer ein hübsches kleines Café mit Garten geben, in dem ein vortreffliches Frühstück unter Orangenbäumen aufgetischt wird.

Der Rotschopf steht etwa 20 Meter hinter mir, nuckelt an seinem Strohhalm und schaut in der Gegend umher, wobei er die Landschaft bei der noch herrschenden Finsternis eigentlich nur erahnen kann. Hauptsache, interessiert in eine andere Richtung blicken, als würde man irgendein spannendes Naturspektakel beobachten. Was soll’s, ich frage sie trotzdem, ob sie den Weg weiß, mehr als Nein sagen kann sie auch nicht. Und genau das tut sie dann auch. Der Schein trügt nicht, sie hat absolut keinen blassen Schimmer, wo der Weg entlangführt. Wir laufen gemeinsam zurück Richtung Plaza de la Iglesia, um dort nach einem Jakobswegwegweiser zu suchen. Dort treffen wir auf ein spanisches Pärchen Mitte vierzig, das uns tatsächlich den Weg zeigen kann. Wir müssen zurück über die Brücke, die Puente de la Rabia, und von dort ein Stück am Río Arga entlang.

Nachdem meine – unschwer an ihrem Akzent zu erkennen – britische Begleiterin und ich die Brücke überquert haben, beginnt es zu nieseln. Heute gehe ich das allererste Mal bewusst mit einem anderen Pilger zusammen. Ruth, so heißt sie, sieht aus wie der perfekte Mix aus der Ronja Räubertochter meiner Kindheitsvorstellungen und dem Sams. Sie ist klein, und ihre feuerrote Mähne wirkt wild, unzähmbar und abenteuerlich, was die vielen Sommersprossen in ihrem Gesicht noch unterstreichen. Während einer kleinen Rast an einer Waldgabelung treffen wir auf zwei ältere Britinnen, und da wir die Abzweigung nach Larrasoaña und somit zu dem schönen Frühstückslokal verpasst haben, beschließen die drei anderen, gemeinsam weiterzulaufen und bei der nächsten Gelegenheit einzukehren. Ich hingegen lasse mein Frühstück ausfallen, verabschiede mich von den dreien, die bedeutend langsamer unterwegs sind als ich, und laufe voraus.

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