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Yours to Keep

Als Buch hier erhältlich:

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Manchmal ist ein Zuhause kein Ort, sondern eine Person

Seit Scarlett von ihrer Mutter einen Berg an Schulden geerbt hat, lebt sie in ihrem Auto auf den Straßen von Los Angeles. Um ihre Wohnsituation geheim zu halten, lässt sie niemanden an sich heran, zu groß ist die Angst vor Zurückweisung. Bis eines Tages der angehende Schriftsteller Will in dem Diner, in dem sie arbeitet, auftaucht. Will kämpft nicht nur gegen eine ausgewachsene Schreibblockade, sondern auch um ein Date mit ihr. Also schlägt Scarlett ihm einen Deal vor: Eine Geschichte von ihm für eine Antwort auf eine persönliche Frage von ihr. Durch das Spiel kommen die beiden sich schnell näher und Scarletts Vorhaben, jeden Menschen von sich fernzuhalten, gerät ins Wanken. Bis sie etwas über Will erfährt, das ihr den Boden unter den Füßen zu entziehen droht …


  • Erscheinungstag: 27.12.2024
  • Seitenanzahl: 416
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704464
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Martin.
Dafür, dass Du seit über elf Jahren mein Zuhause bist.

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser Geschichte.

Euer Team von reverie

Playlist

Beautiful Things – Benson Boone

No Roots – Alice Merton

Home – AVEC

This Lonely Night – KY.

Living In The City – Rhys Lewis

Alone – Rhys Lewis

To Build a Home – The Cinematic Orchestra, Patrick Watson

Writing’s On The Wall – Sam Smith

Love Me Like You Do – Ellie Goulding

Yellow – Coldplay

Unwritten – Natasha Bedingfield

Heaven – Niall Horan

Levitating – Dua Lipa

Counting Stars – OneRepublic

Zuhause – Fynn Kliemann

Call you home – Kelvin Jones

Prolog

Scarlett

Ich blase meinen warmen Atem zwischen meine gefalteten Hände. Der grob gehäkelte rote Baumwollstoff meiner Handschuhe bietet schon seit Stunden keinen wirklichen Schutz mehr vor der alles durchdringenden Kälte. Das Licht der Straßenlaterne lässt die Eiskristalle, die sich auf der Frontscheibe gebildet haben, glitzern. Nur mit Mühe kann ich meine Finger davon abhalten, nach dem Autoschlüssel zu greifen, der im Zündschloss steckt und mir Wärme für meine vor Kälte starren Glieder verspricht. Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass es sechs Uhr am Abend ist. Mit anderen Worten zu früh, um den Wagen für die Nacht aufzuheizen. Oder zumindest lange genug, bis ich in meinem Schlafsack weggedämmert bin und mich in meinen Träumen an wärmere Orte flüchten kann.

Unruhig rutsche ich auf dem Fahrersitz von rechts nach links. Stampfe mit meinen Füßen, die in dicken Wollsocken und Stiefeln stecken und trotzdem eiskalt sind, auf den Fahrzeugboden, bis der Wagen ins Schwanken gerät wie ein Segelboot auf dem Ozean. Es hat keinen Sinn! Wenn ich im Auto sitzen bleibe, werden meine zu tiefgefrorenen Chicken Nuggets mutierten Finger und Zehen heute Nacht nicht mehr warm. Und damit schwindet gleichzeitig die Hoffnung auf ein paar Stunden Schlaf, auf ein paar Stunden fernab der Realität.

Mit steifen Fingern öffne ich die Fahrertür und komme ungelenk auf die Beine. Vielleicht sollte ich noch einmal zurück zur Shoppingmall gehen. Mich auf einem der Stühle zusammenrollen und die Wärme der Heizungsluft in meine Muskeln aufsaugen. Doch so gern ich auch Zeit in dem riesigen Einkaufskomplex verbringe, sorgt es jedes Mal dafür, dass sich ein Knoten in meinen Eingeweiden bildet. Zur Weihnachtszeit herrscht auf den Gängen und in den Geschäften ein buntes Treiben. Menschen mit prall gefüllten Papiertüten eilen an den weihnachtlich dekorierten Schaufenstern vorbei. Lichterketten hängen von der Kuppeldecke bis hinab ins Erdgeschoss. Der Duft nach gebrannten Mandeln und Tannennadeln hängt in der Luft und lässt sowohl mein Herz als auch meinen Magen gleichermaßen vor Sehnsucht schmerzen.

Energisch schüttele ich den Kopf und hüpfe auf der Stelle, um meinen Kreislauf in Schwung zu bringen. Nachdem ich beinahe eine Stunde lang bewegungslos auf dem Fahrersitz meines Hondas verharrt habe, fühlen sich meine Gelenke steif an; meine rechte Pobacke ist eingeschlafen und kribbelt unangenehm. Eisiger Wind bläst mir ins Gesicht, und ich ziehe die Mütze so tief in die Stirn, bis meine Wimpern beim Blinzeln über die Baumwolle schaben.

Vielleicht kurbelt ein kleiner Sprint meinen Kreislauf wieder an. Ich lasse meinen Blick über den Gehweg gleiten. Es handelt sich um eine ruhige Seitenstraße in einem der äußeren Stadtbezirke Seattles. Ich habe meinen Wagen am Straßenrand geparkt und im Vorbeifahren gesehen, dass ich bei Weitem nicht die Einzige bin, die hier ihr Lager für die Nacht aufzuschlagen gedenkt. Ein bis zur Decke vollgestopfter Toyota parkt direkt hinter mir. Der Fahrer ist unter den vielen Schichten an Pullovern und Jacken kaum auszumachen. Doch ab und an bewegt sich der Klamottenberg und bestätigt mir, dass in diesem Auto wirklich jemand lebt.

Ich schlage den Kragen meines Mantels hoch und stecke meinen Schal noch einmal fest, um dem eisigen Wind keine Angriffsfläche zu bieten. Dann nehme ich einen tiefen Atemzug. Die klirrende Kälte sticht in meiner Luftröhre. Ich visiere die Mülltonne am Ende der Straße an und wechsle vom Stand aus direkt in den Sprint. Die ersten Meter sind holprig, und ich stolpere beinahe über meine eigenen Füße. Doch nach kurzer Zeit habe ich meinen Rhythmus gefunden und ramme abwechselnd meine Schuhsohlen auf den Asphalt. Der Hall meiner Schritte jagt durch die ansonsten stille Straße und vermischt sich mit meinem keuchenden Atem.

Schlitternd und mit rasendem Herzen komme ich eine Handbreit vor dem Mülleimer zum Stehen. Das Blut rauscht in meinen Ohren, mein Gesicht prickelt, als hätten sich feinste Nadelspitzen in meine Haut gegraben. Gleichzeitig kann ich zum ersten Mal seit einer Stunde meinen großen Zeh spüren. Er pocht und kribbelt, nachdem er so unverhofft mit Leben geflutet wurde. Ich stemme meine Hände in die Seiten und sauge angestrengt Sauerstoff in meine Lunge. Verdammt, ich sollte wirklich mehr Sport machen. Bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei würde ich vermutlich den Kürzeren ziehen. Nicht dass ich es darauf anlege. Aber man weiß ja nie. Immerhin gehöre ich jetzt zu den anderen. Zu der Gruppe Menschen, die man grundsätzlich erst mal nicht als Opfer, sondern als potenzielle Täter einstuft.

Das Geräusch von aneinanderschlagenden behandschuhten Handflächen dringt an mein Ohr. Irritiert drehe ich meinen Kopf nach rechts, um die Quelle zu identifizieren. Zwei in dicke Jacken gehüllte Gestalten sitzen keine hundert Meter von mir entfernt auf Holzkisten und applaudieren mir. Ihre Gesichter werden vom Flackern eines Lagerfeuers erleuchtet. Schatten huschen über ihre Körper, rote Flammen züngeln zwischen ihnen empor. Ich bemerke erst, dass sich meine Füße wie von selbst auf das Feuer zubewegen, als mich nur noch wenige Schritte von den beiden trennen.

»Und, hast du sie abgehängt?«, fragt der Mann, der zu meiner Rechten sitzt, und grinst mich an.

Obwohl der Ausdruck auf seinem Gesicht freundlich ist, spüre ich ein unruhiges Kribbeln in meinem Bauch. Immerhin wird uns als Kindern nicht grundlos eingetrichtert, uns von Fremden fernzuhalten. Für das weibliche Geschlecht gilt diese Regel leider viel zu häufig auch im Erwachsenenalter noch.

»Ich fürchte, nur temporär«, erwidere ich daher kurz angebunden und vergrabe meine Hände tief in den Taschen meiner Jacke.

»Setz dich doch zu uns.« Der andere Mann deutet auf eine unbesetzte Holzkiste.

Ich zögere. Obwohl ich noch mindestens zehn Schritte entfernt bin, spüre ich die Ausläufer des Lagerfeuers auf meiner Haut. Jede Zelle meines Körpers zieht mich in die Richtung der prasselnden Wärme. Gleichzeitig ermahnt mich meine Vernunft, dass ich die beiden Männer nicht kenne.

»Keine Angst, wir tun dir nichts«, sagt der Typ, der als Erster das Wort an mich gerichtet hat, so als hätte er meine Gedanken gelesen. »Ich bin Kyle, und das da drüben ist mein Kumpel Caleb«, fügt er hinzu und deutet zuerst auf sich und dann auf seinen Freund.

Dieser nickt mir zu und schenkt mir ein offenes Lächeln, unter dem ich mich augenblicklich entspanne. Vielleicht ist es an der Zeit, meine anerzogene Skepsis gegenüber obdachlosen Menschen aufzugeben. Schließlich habe ich erst vor Kurzem am eigenen Leib erfahren, wie schnell man auf der Straße landen kann. Und damit fühle ich mich diesen beiden Männern aktuell näher als jedem Besucher der Mall, dem ich heute begegnet bin.

»Danke, das ist nett von euch. Ich heiße Scar.« Vorsichtig lasse ich mich auf der Holzkiste nieder und rutsche so nah wie möglich an das Feuer heran.

Ich stöhne leise auf, als die sengende Hitze meine Wangen streift und ein Prickeln bis in meine Haarspitzen sendet.

»Der Winter in Seattle ist ziemlich scheiße, was?«, sagt Kyle und grinst mich vielsagend an.

Ich nicke und würde am liebsten in das Feuer hineinkriechen.

»Caleb und ich wollen uns morgen auf den Weg in Richtung Kalifornien machen, da sind die Winter deutlich milder. Falls du dich anschließen möchtest?«, fügt er hinzu.

Augenblicklich versteife ich mich. Wieso fragen sie eine Wildfremde, ob sie mit ihnen einen Roadtrip machen will? Das geht für meinen Geschmack eindeutig über belanglosen Small Talk hinaus.

»Du wohnst in dem Honda Civic, oder?«, fragt Caleb und nickt in Richtung der Straßenecke, um die ich gerade eben gebogen bin.

Trotz der Hitze des Feuers rieselt ein eiskalter Schauer über meinen Rücken. Woher weiß er das?

»Danke für das Angebot, aber ich werde vorerst in Seattle bleiben. Ich habe einen Job in einem Café in Downtown«, sage ich und weiche bewusst seiner Frage nach meinem Schlafplatz aus.

Caleb wechselt einen schnellen Blick mit Kyle, und wieder spüre ich, wie sich Kälte in mir breitmacht. Etwas in mir – Instinkt? – gefällt überhaupt nicht, in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickelt.

Langsam erhebe ich mich, um den beiden Männern meine Panik nicht zu zeigen, und strecke ein letztes Mal meine Finger den Flammen entgegen. Der schwere Geruch von verbranntem Holz sticht mir in die Nase. Ein Scheit lässt ein bedrohliches Knacken hören, als es unter der Intensität des Feuers nachgibt und zerbirst.

»Ich gehe dann mal wieder. Danke für eure Gastfreundschaft. Und viel Erfolg in Kalifornien.« Ich hebe meine rechte Hand zum Abschied, während ich gleichzeitig einen Schritt vom Feuer wegtrete.

»Bleib doch noch ein bisschen.« Kyle steht ebenfalls auf, was mich dazu veranlasst, weiter zurückzuweichen.

»Ich muss jetzt wirklich gehen. Ich habe die Frühschicht im Café und muss zeitig raus. Aber es war nett, euch kennenzulernen«, sage ich, ohne es zu meinen.

Als Caleb mit einem Ruck ebenfalls auf die Füße kommt, setzt mein Überlebensinstinkt ein. Ich mache auf dem Absatz kehrt und renne über den Gehweg zurück zu der Straßenecke, hinter der mein Auto wartet. Beim Abbiegen bin ich so schnell, dass ich beinahe mit dem am Straßenrand geparkten Range Rover zusammenstoße. Im letzten Augenblick kann ich meinen Körper nach links reißen und stolpere weiter über den viel zu leeren Gehweg. Die Lichter in den Fabrikgebäuden, die die Straße zu beiden Seiten säumen, sind erloschen. Niemand, der meine abgehackten Atemzüge und das panische Klatschen meiner Schuhsohlen auf dem Asphalt hört.

»Wo willst du denn hin? Du brauchst doch nicht vor uns wegzulaufen«, höre ich Calebs Stimme viel zu nah in meinem Rücken.

Der Klang ihrer Schritte wird mit jeder Sekunde lauter, während mein Herz immer hektischer schlägt. Mein rostroter Honda taucht in meinem Sichtfeld auf, und ich weine beinahe vor Erleichterung. Ich beschleunige mein Tempo. Zwinge meine Beine, so schnell zu laufen wie nie zuvor. Ignoriere das Brennen meiner Muskeln, die sich gegen die Behandlung wehren. In meinem Kopf ist für nichts anderes Platz als für diese alles verschlingende Panik.

Dann erreiche ich das Auto. Ich zerre an dem Türgriff, und ein Ruck geht durch meinen Arm, als ich auf Widerstand stoße. Fuck! Fuck! Fuck!

Natürlich habe ich den Wagen vorhin abgeschlossen. Wie konnte ich dieses überlebenswichtige Detail vergessen? Hektisch suche ich in meinen Jackentaschen nach dem Autoschlüssel. Die Schritte meiner Verfolger hallen in meinen Ohren wider. Sie dröhnen so laut, dass mein Körper unter den Schwingungen zu taumeln beginnt. Als stünde ich zu nah an einem Verstärker, gerät mein Herzschlag vollkommen aus dem Takt. Meine Hände zittern mittlerweile unkontrolliert, und Tränen laufen mir über die Wangen.

Endlich schließe ich die Finger um ein flaches Stück Metall. Im nächsten Augenblick stecke ich den Schlüssel ins Schloss und reiße die Fahrertür auf. Ich falle auf den Sitz und taste blind nach dem Türgriff, um sie zuzuziehen. Ich schaffe es, sie bis auf zehn Zentimeter zu mir heranzuziehen, bevor ich auf Widerstand stoße und mir der Plastikgriff mit solcher Gewalt aus den Händen gerissen wird, dass ich beinahe mit dem Gesicht voran auf dem Asphalt lande.

Kyle lehnt im Türrahmen und sieht auf mich herab. In seinen Augen blitzt etwas Dunkles auf. Ein spöttisches Lächeln verzieht seine Mundwinkel zu einer Fratze. Ich sauge tief Luft in meine Lunge, doch der Schrei, der sich in meiner Brust bildet, findet niemals den Weg nach draußen. Kyle legt die behandschuhte Hand über meine Lippen und erstickt jeden Ton. Der Stoff seines Handschuhs fühlt sich rau und zerschlissen an auf meiner Haut. Ein muffiger Geruch geht von ihm aus, der mich an eine Mischung aus Alkohol, Motoröl und Schweiß erinnert. Mir dreht sich der Magen um.

»Na, na, wir wollen doch nicht unnötig Aufmerksamkeit auf uns ziehen.« Er hebt den Zeigefinger seiner freien Hand warnend vor seine Lippen und blickt mich mit Kälte in den Augen an.

Ich bin zu geschockt, um meinen Kopf zu einem Nicken zu bewegen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Caleb die Tür zur Rückbank öffnet und eine Umzugskiste nach der anderen hinaus auf den Gehweg zerrt. Alles in mir will schreien, als er die Kisten nacheinander aufreißt und den Inhalt auf der Sitzbank verteilt. Fotos aus einem früheren Leben fliegen durch den Innenraum des Wagens. Besteck und Teller fallen klirrend und scheppernd in den Fußraum. Caleb greift in meine Kleiderkiste und wirft T-Shirts, Pullover, Jeans und Unterwäsche wie Konfetti durch die Luft. Saure Galle steigt meine Kehle empor, und ich muss gegen den Reflex ankämpfen, zu würgen.

»Bitte nicht«, wispere ich, doch meine Worte versickern im Stoff von Kyles Handschuh.

Dieser wirft lediglich einen Blick über seine Schulter zu seinem Komplizen, der mittlerweile die letzte Box geöffnet hat und sich durch Notizbücher, Kugelschreiber und anderen Krimskrams wühlt. Er stößt ein frustriertes Schnauben aus und schüttelt knapp den Kopf.

Kyle wendet sich wieder mir zu. Ein harter Ausdruck füllt seine braunen Augen, als er auf mich herabblickt.

»Wo hast du deine Wertsachen?«, fragt er leise. Mit der linken Hand fährt er durch mein Haar, beinahe zärtlich.

Eine neue Welle der Übelkeit ballt sich in meinem Magen zusammen. Selbst wenn ich nicht vor Angst erstarrt wäre, würde ich es ihm nicht verraten. Seine Hand vergräbt er in meinen schulterlangen rotblonden Haaren und reißt meinen Kopf mit einem harten Ruck in den Nacken. Ein Schrei schraubt sich meine Kehle empor, wird jedoch von seinem Handschuh verschluckt. Tränen bilden sich in meinen Augenwinkeln. Meine Kopfhaut brennt wie Feuer, und der Schmerz gräbt sich wie Speerspitzen in meinen Schädel.

»Wir können das hier auf die nette Tour machen oder …« Er vollendet seinen Satz nicht, doch das dunkle Funkeln ist in seine Augen zurückgekehrt. Es ist ein Versprechen, dass ich es bereuen werde, sollte ich mich ihm widersetzen.

Mein Blick schnellt wie von selbst hinüber zum Handschuhfach. Sofort zwinge ich meine Aufmerksamkeit zurück zu Kyle und hoffe, dass er das Flackern nicht bemerkt hat.

Ich hoffe vergebens.

Ein triumphierendes Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus, als er Caleb zuruft: »Komm nach vorne. Ich glaube, die Kleine hat ihr Zeug in der Ablage versteckt.«

Tief in meinem Inneren schreie ich. Brülle ihnen jedes Schimpfwort entgegen, das mir einfällt. Es sind erstaunlich viele. Trotzdem muss ich hilflos mitansehen, wie Caleb sich auf den Beifahrersitz fallen lässt und die Klappe des Fachs öffnet.

»Jackpot.« Er pfeift durch die Zähne, als er hineingreift und mein Tablet herauszieht.

Ich winde mich in Kyles Griff, doch der packt mein Haar nur noch fester, was mir erneut Tränen in die Augen treibt. Sein Kopf schwebt nur wenige Zentimeter vor meinem, als er sich weiter ins Innere des Wagens lehnt, um besser sehen zu können, was sein Freund gefunden hat. Der Geruch von ungewaschenen Haaren in Kombination mit dem Rauch des Lagerfeuers lässt mich erneut würgen.

In der Zwischenzeit zieht Caleb die kleine Rolle aus Geldscheinen aus dem hintersten Teil des Fachs. Es sind fünfhundert Dollar. Für mich ein halbes Vermögen. Für jeden verdammten Dollar habe ich hart geschuftet. Habe mir dumme Sprüche von Gästen anhören müssen. Habe stundenlang Teller hin und her getragen. Habe mir Blasen gelaufen. Ich habe jeden Dollar gespart, den ich verdient habe. An den meisten Tagen bin ich mit einem Knurren im Magen schlafen gegangen, um das Geld nicht antasten zu müssen. Und jetzt steckt Caleb es einfach in seine Jackentasche, ein breites Grinsen auf den Lippen.

Als er ein weiteres Mal in das Fach greift und die kleine Holzschatulle hervorzieht, wird mir schlecht. Meine Sicht verschwimmt, das Blut pulsiert in meinen Adern und rauscht in meinen Ohren. Ohnmächtig muss ich zusehen, wie er den Riegel zur Seite schiebt und den mit Ranken und Blumen verzierten Deckel aufklappt. Einen Herzschlag später baumelt eine Perlenkette zwischen seinen Fingern herab. Mit der anderen Hand greift er erneut hinein und zieht den grazilen Rubinring mit goldener Fassung hervor. Hass kocht so heiß in meinen Adern, dass ich fürchte, er wird mich jeden Augenblick versengen. Sie können von mir aus mein Tablet mitnehmen. Sie können mein Bargeld einstecken. Aber nicht den Schmuck meiner Mutter. Das Einzige, was mir von ihr geblieben ist.

Mein Körper reagiert instinktiv, und ich lasse meinen Kopf ein Stückchen weiter in den Nacken sinken. Kyles Griff lockert sich. Ich nutze den Moment und reiße mich mit einer ruckartigen Bewegung los. Mein Schädel trifft sein Kinn mit voller Wucht, und er keucht vor Schmerz auf. Er löst die Finger von meinem Mund, und ich versenke meine Zähne in dem Stoff seines Handschuhs, bis ich seinen Handballen spüre. Er schreit auf und taumelt zurück. Ich versetze ihm einen Tritt in den Bauch, der ihn mit dem Hintern voran auf den Gehweg befördert, und endlich bin ich frei.

Als Nächstes wende ich mich Caleb zu. Blanker Hass pulsiert durch meine Adern und muss sich in meinem Blick widerspiegeln. Zumindest zuckt Caleb vor mir zurück und will aus dem Auto flüchten, doch ich werfe mich über die Mittelkonsole und erwische ihn am Ärmel. Ich zerre an seiner Hand und bekomme einen Teil der Perlenkette zu fassen. Caleb lässt jedoch nicht los, und in der nächsten Sekunde falle ich nach hinten, als die Schnur nachgibt und zerreißt. Perlen schießen wie Flipperkugeln in einem Spielautomaten durch das Innere des Wagens. Verursachen ein klackerndes Geräusch, als sie auf das Plastik der Armatur treffen.

Entsetzt starre ich auf die Schnur zwischen meinen Fingern, an der eben noch die Perlen gehangen haben. Ein Schrei entkommt meinen Lippen. Er klingt wie der eines angeschossenen Tiers. Mit fahrigen Bewegungen versuche ich die Perlen aus dem Fußraum einzusammeln. Zu spät merke ich, dass Kyle sich in der Zwischenzeit aufgerappelt hat. Er packt mich von hinten an der Taille und zerrt mich zurück auf den Fahrersitz.

»Du kleine Schlampe!«, zischt er, bevor er mit der bloßen Hand ausholt und mir eine schallende Ohrfeige verpasst.

Mein Kopf wird nach rechts geschleudert. Die Stelle, die Bekanntschaft mit Kyles Handfläche gemacht hat, prickelt wie nach einem Zusammenstoß mit einem verärgerten Bienenschwarm. Der Schmerz nimmt mir für einen Moment den Atem. Blind reiße ich meine Arme in die Luft und versuche, Kyle wegzustoßen, doch ich treffe lediglich die kalte Nachtluft. Dann ist seine Hand plötzlich in meinem Nacken, und im nächsten Moment knallt meine Stirn mit voller Wucht gegen das Lenkrad. Grelle Blitze flammen am Rand meines Bewusstseins auf, bevor meine Welt in Schwärze versinkt.

Kapitel 1

16 Monate später

Scarlett

Es ist bereits kurz nach zehn Uhr am Morgen, als ich mich zum ersten Mal seit Schichtbeginn auf den Hocker hinter dem Tresen fallen lassen kann. Mit einem unterdrückten Stöhnen schlüpfe ich aus den schlichten schwarzen Ballerinas und wackele mit den Zehen. Zwischen sieben und zehn Uhr am Morgen herrscht in dem Diner ein Betrieb wie in der Ankunftshalle eines Flughafens. Der Strom an Gästen hat drei Stunden lang nicht nachgelassen. Normalerweise freue ich mich über den hohen Durchlauf, da ich so in kurzer Zeit eine ansehnliche Summe an Trinkgeld zusammenbekomme. Doch heute war es wie ein Ritt auf einem vollkommen wild gewordenen Bullen, der versucht hat, mich mit aller Gewalt niederzuringen.

Als meine Kollegin Tammy mich heute früh auf der Fahrt zu Patty’s Pies angerufen hat, um mir mitzuteilen, dass sie es nicht ins Restaurant schafft, weil der Kindergarten wegen eines akuten Windpockenausbruchs geschlossen ist und sie so kurzfristig keinen Babysitter auftreiben konnte, habe ich ihr noch großspurig versichert, dass ich den Laden die paar Stunden, bis unsere Kollegin Sandy auftaucht, allein schaukeln könnte. Zu sagen, dass ich mich überschätzt habe, wäre eine Untertreibung. Gleichzeitig die Laufkundschaft und die Gäste vor Ort bedienen zu müssen, hat mich wünschen lassen, über mindestens zwei Klone zu verfügen. Oder tierische Helfer in Form von Mäusen und Vögeln wie in Disneys Cinderella. Wobei die Anwesenheit von Nagetieren im Diner vermutlich zu einem Besuch des Gesundheitsamts führen würde.

Also habe ich den Vormittag damit verbracht, wie eine Irre durch den Laden zu rennen, während ich parallel kannenweise Kaffee in die braunen To-go-Becher gefüllt habe. Liz, die heute in der Küche aushilft, war immerhin so gnädig, die ständig leere Kanne nachzufüllen und die Kuchen, für die Patty’s Pies berühmt ist, bereits stückweise in Papiertüten zu packen.

Mittlerweile hat der Strom an Menschen endlich nachgelassen. Die arbeitende Bevölkerung hat sich, mit Kaffee und Kuchen bewaffnet, ihren Aufgaben des Tages gewidmet. Meine Fußsohlen schmerzen schon bei dem Gedanken daran, dass ich weitere sechs Stunden in den Ballerinas verbringen muss. Davon zwei, in denen ich auf mich allein gestellt sein werde. Ein kurzer Blick auf mein Handy verrät mir, dass Sandy es nicht vor zwölf Uhr ins Diner schafft.

Ich nehme einen Schluck von meinem zwischen fünf Bestellungen kalt gewordenen Kaffee und verziehe das Gesicht. Mein Magen gibt ein rumpelndes Geräusch von sich. Wie so oft bin ich ohne Frühstück bei der Arbeit erschienen und habe vor lauter Stress keinen Bissen zu mir nehmen können. Jetzt schwappt die bittere Flüssigkeit in meinem leeren Magen auf und ab. Hoffnungsvoll stecke ich meinen Kopf durch die Durchreiche zur Küche und entdecke Liz, die ein paar Schritte entfernt Kartoffeln schält.

»Hast du irgendwas zu essen für mich?«, frage ich und setze eine leidende Miene auf.

»Du kannst eins von den Croissants da drüben haben, die sind von gestern übrig.« Sie deutet mit einem Nicken auf die Arbeitsplatte neben sich, auf der ein Körbchen steht. Mit dem Ellenbogen versetzt sie ihm einen Stoß, sodass es über das glatte Metall in meine Richtung schlittert. Bevor die wertvolle Fracht über die Tischkante auf den Boden segeln kann, strecke ich schnell meine Hand durch die Öffnung und halte sie auf.

»Danke, du rettest mein Leben!«, sage ich an Liz gewandt, während ich mir eines der Croissants angle.

»Das ist reiner Selbstschutz. Wenn du tot umfällst, muss ich deinen Job auch noch übernehmen.« Liz grinst mich an, und ich strecke ihr die Zunge heraus, bevor ich in das Croissant beiße.

Der Blätterteig ist etwas trocken, doch das intensive Aroma nach Butter lässt meine Geschmacksknospen trotzdem vor Freude Salsa tanzen. Ich spüle den Bissen mit einem Schluck Kaffee herunter und widme mich dann wieder der Arbeit.

Wie eine Schafhirtin lasse ich meinen Blick über meine Herde beziehungsweise die Gäste schweifen. Patty’s Pies ist einer dieser typischen Diner, wie man sie überall in Amerika finden kann. Mit Nischen, die aus zwei Sitzbänken mit rot-weiß gestreiftem Kunstlederüberzug und einem verchromten Tisch bestehen, auf dem jeweils ein Serviettenspender im Retrolook, eine große gläserne Zuckerdose und je eine überdimensionale rote und gelbe Plastiktube mit Ketchup und Senf auf ihren Einsatz warten. Im Fenster neben der Eingangstür hängt ein Neonschild in Kuchenform, das blinkend verkündet, dass wir die besten Pies in L. A. haben.

Auf einem der Drehstühle am Tresen sitzt ein älterer Mann tief über sein Kreuzworträtsel gebeugt. Neben ihm steht eine Tasse Kaffee, aus der Dampfschwaden aufsteigen. Mein Blick wandert weiter zu zwei Frauen, die Anfang dreißig sind und es sich im hinteren Bereich des Diners gemütlich gemacht haben. Sie nippen an ihren Gläsern, in denen sich zuckerfreier Eistee befindet. Vor einer halben Stunde haben sie ihr Frühstück beendet und sind seitdem in ihr Gespräch vertieft. Ihr Lachen schallt in regelmäßigen Abständen zu mir herüber. Direkt neben der Tür sitzt ein Mann mit Trucker-Cap an einem Zweiertisch und schaufelt sich eine Gabel Rührei mit Bacon nach der anderen in den Mund. Seine Tasse Kaffee ist zu zwei Dritteln gefüllt. Er ist somit ebenfalls für den Moment versorgt.

Zuletzt lasse ich meinen Blick zu meiner Rechten gleiten. Diesen Bereich übernimmt sonst Tammy. Nur der Tisch in der Ecke ist besetzt. Ein Hinterkopf mit kurzen schwarz gelockten Haaren ragt über die knallig roten Sitzpolster.

Hemingway.

So haben wir den jungen Mann getauft, der fast jeden Tag im Diner auftaucht und sich an den immer selben Platz setzt. Für gewöhnlich kreuzt er gegen halb zehn auf, wenn der erste Ansturm nachgelassen hat, und verlässt das Restaurant erst kurz vor Abend wieder. In der Zeit trinkt er literweise Kaffee und isst vormittags und nachmittags jeweils ein Stück Pie.

Ich frage mich, ob wir auf unsere Servietten nicht eine Warnung schreiben sollten. Vorsicht, übermäßiger Verzehr kann zu Diabetes und einem frühen Ableben führen.

Da ich heute Morgen im Stress war, habe ich seine Bestellung so schnell ausgeliefert, dass ich kaum auf ihn geachtet habe. Er ist einfach in dem Meer aus Gesichtern untergegangen, die ich bedient habe. Dabei habe ich in den letzten Monaten viele Minuten – mittlerweile sind es vermutlich schon Stunden – damit zugebracht, auf seinen Hinterkopf zu starren und mir mit Tammy Geschichten über ihn auszudenken. Er hat stets einen Laptop, den er jedoch nur gelegentlich aufklappt, und ein Notizbuch dabei. Vielleicht ist er ein berühmter Schriftsteller? Vielleicht schreibt er Liebesbriefe an seine Freundin, die auf einem anderen Kontinent lebt? Meine heißeste Theorie ist die, dass er ein Trickbetrüger ist, der Briefe an ältere alleinstehende Damen schreibt, in denen er sich als ihr lang verschollener Enkel ausgibt, der ihre Hilfe in Form einer Überweisung braucht. Catfishing vom Feinsten.

Mit einer vollen Kaffeekanne bewaffnet, schreite ich langsam den Gang hinab auf seinen Tisch zu. Er sitzt wie immer über sein Notizbuch gebeugt da, den Kopf in die rechte Hand gestützt. Überall auf der Tischplatte liegen zerknäulte Blätter aus dem linierten Heft herum. Verschmierte Tinte zieht sich über seinen Handballen bis zu seinem Gelenk. Der Anblick bringt mich zum Schmunzeln. Er sieht aus wie der Inbegriff eines zerstreuten Schriftstellers.

»Darf ich dir nachschenken?«, frage ich und deute auf seine leere Tasse.

Er hebt den Kopf und schaut mich mit einem entrückten Ausdruck in den kastanienbraunen Augen an. Offensichtlich war er so in seine Notizen versunken, dass er mich nicht hat kommen hören. Sein verwirrter Blick verrät mir, dass ihm meine Frage ebenfalls entgangen ist.

»Ich wollte nur wissen, ob du noch etwas Koffein gebrauchen kannst«, kläre ich ihn mit einem Schmunzeln auf.

Augenblicklich erwacht er zum Leben, so als hätte allein die Nennung des Getränks eine energetisierende Wirkung auf ihn.

»Ja, bitte. Und dazu hätte ich gern …«

»Ein Stück Apfelkuchen?«, vervollständige ich seine übliche Bestellung.

Seine Hand, mit der er den leeren Becher zu mir geschoben hat, verharrt in der Bewegung. Er betrachtet mich eingehend, während er bestätigend nickt. »Woher wusstest du das?«, fragt er mit einer Mischung aus Neugier und Irritation in der Stimme.

»Weil es jetzt …« Ich blicke hinüber zu der großen Wanduhr, die halb elf anzeigt. »… schon nach zehn ist und du noch nicht deinen morgendlichen Zuckerschub geordert hast.«

Er blinzelt ein paarmal und scheint nicht recht zu wissen, was er von meiner Antwort halten soll.

Augenblicklich bereue ich meinen lockeren Ton, immerhin ist er ein Kunde. Im Gegensatz zu Tammy habe ich bisher noch nie ein Wort mit ihm gewechselt und kann absolut nicht einschätzen, was für ein Typ Mensch er ist. Gemessen an dem silbrig glänzenden Apple MacBook auf dem Tisch und dem schlichten, aber hochwertig aussehenden Material seiner Kleidung könnte er auch einer dieser reichen Schnösel sein, die auf unbedeutende Kellnerinnen, wie ich eine bin, herabsehen und Wert auf förmlichen Abstand legen.

»Ich kann sonst auch gern später noch mal kommen«, rudere ich zurück, während ich so schnell den Kaffee in seiner Tasse nachfülle, dass ein paar Spritzer auf der Tischplatte landen.

Doch der junge Mann schüttelt den Kopf, ein Lächeln breitet sich langsam auf seinen vollen Lippen aus.

»Kuchen klingt prima. Danke.«

Erleichtert erwidere ich sein Lächeln und flüchte in Richtung des Tresens, bevor noch mehr unüberlegte Worte aus mir heraussprudeln. Offenkundig fehlt mir die tägliche Kabbelei mit Tammy. Anders kann ich es mir nicht erklären, weshalb ich das Gespräch mit dem Fremden gesucht habe.

Als ich ein paar Minuten später mit einem extragroßen Stück Kuchen an seinen Tisch zurückkehre, hat der junge Mann das Notizbuch zugeklappt und blickt mir stattdessen entgegen. Er betrachtet mich eingehend, so als würde er mich heute zum allerersten Mal wahrnehmen. Dabei arbeite ich seit drei Monaten in diesem Diner, und bis auf wenige Ausnahmen war Hemingway jeden Tag hier. Ein bisschen beneide ich ihn um die Fähigkeit, vollkommen zwischen seinen Zeilen zu versinken und die Außenwelt komplett zu vergessen. Seit ich auf der Straße lebe, kann ich mir diesen Luxus der Unachtsamkeit nicht mehr erlauben.

»Lass es dir schmecken.« Ich stelle den Teller vor ihm auf dem Tisch ab und will schon auf dem Absatz kehrtmachen, als mich seine Stimme aufhält.

»Arbeitest du schon länger hier?«, fragt er und schenkt dem Apfelkuchen keinerlei Beachtung, mir dafür viel zu viel.

»Warum willst du das wissen?« Obwohl es eine harmlose Frage ist, fahren meine Schutzmauern wie von selbst nach oben. Wie immer, wenn mir jemand eine auch nur ansatzweise persönliche Frage stellt.

»Du weißt, dass ich jeden Morgen ein Stück Kuchen bestelle. Aber ich bin mir sicher, dass es mir aufgefallen wäre, wenn du diejenige gewesen wärst, die mir die letzten schätzungsweise neunzig Portionen serviert hätte.« Ein verschmitztes Funkeln blitzt in seinen Augen auf.

Obwohl ich die Anmachversuche, die inflationär gestiegen sind, seitdem ich als Kellnerin arbeite, mittlerweile nicht mehr zählen kann, zaubert mir das Kompliment, das er geschickt in seine Worte verwoben hat, ein Lächeln auf die Lippen.

Ich lasse meinen Blick an ihm auf und ab wandern. Die Morgensonne, die durch die Fensterfront scheint, verleiht seiner hellbraunen Haut einen bronzefarbenen Teint. Über seine Wangen erstreckt sich ein Dreitagebart bis hinab zu seinem Kinn und umrahmt seine vollen Lippen. Seine warmen braunen Augen funkeln nur so vor Leben. Er trägt ein aufgeknöpftes Jeanshemd über einem schlichten weißen Shirt mit V-Ausschnitt, das den Blick auf eine definierte, aber nicht übertrieben trainierte Brustmuskulatur freigibt.

»Ich würde eher darauf tippen, dass es mindestens hundert Stücke Kuchen waren«, erwidere ich grinsend, bevor ich nachlege: »Aber bilde dir lieber nichts darauf ein, dass ich deine Essgewohnheiten so gut kenne. Wir Kellnerinnen tauschen uns aus. Besonders über die Stammgäste, bei denen wir uns Sorgen machen, dass sie irgendwann an Diabetes erkranken könnten.«

Sein Lächeln verrutscht kurz, und erneut frage ich mich, wieso es mir so leichtfällt, mich mit ihm zu unterhalten. So leicht, dass ich erneut eine Grenze überschritten habe. Doch dann platzt ein lautes Lachen aus ihm heraus. Es klingt dunkel und warm wie eine Tasse heiße Schokolade.

»Was soll ich sagen, süße Kuchen sind meine Schwachstelle.« Er schenkt dem Stück Apfelkuchen einen so liebevollen Blick, dass ich schmunzeln muss.

»Wenn du noch mehr Kaffee zum Nachspülen brauchst, weißt du ja, wo du mich findest«, verabschiede ich mich von ihm.

Auf dem Weg zurück zum Tresen ertappe ich mich dabei, dass das Schmunzeln noch immer an meinen Lippen hängt wie klebriger Zuckerguss. Der kurze Austausch mit Hemingway war eine viel zu schöne Ablenkung von meiner sonst so stressigen und monotonen Arbeit. Doch viel zu schnell warten neue Bestellungen auf mich, und mir bleibt keine Zeit, einen weiteren Gedanken an den Mann mit den kastanienbraunen Augen zu verschwenden. Was vermutlich auch besser ist.

***

Als ich das nächste Mal auf die Uhr sehe, ist es bereits halb zwölf. Bevor gleich die zweite Rushhour des Tages startet, sollte ich sichergehen, dass alle bereits anwesenden Gäste versorgt und glücklich sind. Ich weiß nicht, wieso mein Blick als Erstes nach rechts hinten an den Ecktisch wandert. Genauso wenig weiß ich, wieso sich ein Lächeln auf meinen Lippen ausbreitet, als ich Hemingway entdecke, der mit seiner leeren Kaffeetasse in der Luft herumwedelt und offenkundig versucht, meine Aufmerksamkeit zu erlangen. Mit der Kaffeekanne in der Hand gehe ich zu ihm.

»Ich weiß nicht, ob ich mir mehr Sorgen um deinen Zucker- oder deinen Kaffeekonsum machen sollte«, ziehe ich ihn auf.

»Das zählt beides zur Nervennahrung«, erwidert er und macht eine ausladende Geste, die das Notizbuch und das Meer aus zusammengeknäulten Seiten umfasst, das die Tischplatte flutet.

Damit liefert er mir die perfekte Vorlage, um das Geheimnis, was er hier tagtäglich fabriziert, ein für alle Mal zu lüften. Tammy wird morgen große Augen machen, wenn ich ihr von den Ergebnissen meiner investigativen Recherche berichte. Mit der freien Hand angle ich nach der Papierkugel, die mir am nächsten ist. »Und wie läuft es bisher so mit dem Bestseller, Ernest?«

»Sagen wir es mal so, aktuell sind die Chancen, dass ich Diabetes bekomme, deutlich höher, als dass ich einen Bestseller schreibe«, sagt er trocken. »Aber wieso nennst du mich Ernest?«, schiebt er hinterher und hebt eine Augenbraue.

»Na, Ernest wie Ernest Hemingway«, erkläre ich. Als er mich lediglich mit schief gelegtem Kopf ansieht, führe ich aus: »Ich habe dich gerade mit einem der größten Schriftsteller Amerikas verglichen. Du darfst dich ruhig geschmeichelt fühlen.«

Erkenntnis blitzt in seinen Augen auf und mischt sich mit Belustigung. »Soweit ich weiß, hat der sich immer nur in Bars herumgetrieben und literweise Whiskey getrunken.«

»Und ich dachte schon, deine Kaffee- und Kuchensucht sei bedenklich.«

Er rollt mit den Augen, doch dann gleitet sein Blick zurück zu dem aufgeschlagenen Notizbuch. Ein Stift liegt quer über zwei blütenreinen Seiten. Die Unbeschwertheit verschwindet aus seinen Zügen und macht Schwermut Platz.

»Ich wünschte, jedes Problem ließe sich mit einem Stück Kuchen und einer Tasse Kaffee lösen.« Er gibt ein Seufzen von sich, das so verzweifelt klingt, dass ich ihm augenblicklich ein weiteres Stück Kuchen bringen möchte, um ihn zu trösten.

»Schreibblockade?«, frage ich.

»Eher eine ausgewachsene Lebenskrise.« Er fährt sich mit der Hand über die kurz geschorenen Haare.

»Bist du dafür nicht noch etwas zu jung?«

»Für eine existenzialistische Krise ist es nie zu früh«, erwidert er mit so viel Theatralik in der Stimme, dass ich grinsen muss.

»Okay, das hast du doch jetzt nur gesagt, um mich mit deinem prätentiösen Vokabular zu beeindrucken.«

Zwei Sekunden lang starrt er mich mit leicht geöffnetem Mund an, dann lacht er laut auf. »Touché! Meine Freunde nennen mich übrigens Will.«

»Wie William Shakespeare?« Mein rechter Mundwinkel zuckt verdächtig.

»Ich glaube, mein Vater hat sich eher von Wilhelm dem Eroberer inspirieren lassen.« Er verzieht das Gesicht.

»Dann bleibe ich bei Hemingway. Besser eine liebenswerte Schnapsnase als einen blutrünstigen Eroberer als Vorbild.« Ich schenke grinsend Kaffee in seine leere Tasse.

»Und mit wem habe ich das Vergnügen?« Sein Blick gleitet zu meiner rechten Brust, an der mein Namensschild befestigt ist. »Candy? Du arbeitest in einem Kuchenladen und heißt wirklich Candy?« Er sieht mich derart ungläubig an, dass ein blubberndes Lachen meine Kehle emporsteigt.

»Nein, meine Mutter hat mir keinen Stripperinnennamen verpasst. Das ist – wie sagt man in der Schriftstellerwelt? – mein Pseudonym.« Ich blicke ihn fragend an, und er nickt.

»Was muss ich tun, damit du mir deinen richtigen Namen verrätst?« Die Eindringlichkeit, mit der er mich mustert, lässt meine Gedanken für einen Moment stillstehen. Gefährliches Terrain, Scarlett!

Dann bemerke ich aus dem Augenwinkel, wie der Typ mit der Truckermütze seine Kaffeetasse hebt und auffordernd in meine Richtung schwenkt.

»Mein richtiger Name gegen eine Geschichte von dir«, sage ich aus einem Impuls heraus und greife nach der Kaffeekanne, die ich während unseres Gesprächs auf dem Tisch abgestellt habe.

»Was?! Das ist nicht fair. Ich habe dir gerade offenbart, dass ich in der schlimmsten Schreibblockade seit Menschengedenken stecke, und du forderst eine Geschichte, als wäre es nicht mehr als ein Kaugummi!« Er zeigt anklagend auf den Haufen zerknüllten Papiers vor sich.

Ich zucke mit den Schultern. »Dann sieh es als Ansporn.«

Damit drehe ich mich um und gehe mit beschwingten Schritten zu dem Gast mit der leeren Kaffeetasse.

Kapitel 2

Scarlett

Gegen zwölf Uhr startet pünktlich zu Beginn unseres Mittagsangebots die zweite Rushhour des Tages. Sandy kommt zusammen mit den ersten Gästen durch die Tür, und vor Erleichterung umarme ich sie, als sie hinter den Tresen tritt.

»Gott sei Dank bist du da!« Ich seufze erleichtert. »Meine Füße killen mich jetzt schon.«

Sie tätschelt mir mitfühlend den Arm. »Entschuldige, Scar, aber ich konnte leider nicht früher. Mein Wagen war noch in der Werkstatt.«

Routiniert bindet sie die weiße Schürze im Rücken zusammen und streicht den Stoff über dem rot-weiß gestreiften Rock in Glockenform glatt. Dann öffnet sie den obersten Knopf der eng anliegenden ärmellosen weißen Bluse und richtet den goldenen Anhänger in Herzform an ihrem Dekolleté. Bis auf die Kette sind unsere Outfits identisch. Tammy hat sich schon mehrfach beim Manager Tony über die Arbeitskleidung beschwert. Sie ist der Meinung, dass der ausgestellte Rock ihre ohnehin leicht füllige Hüfte nur noch voluminöser erscheinen lässt und manche Gäste damit förmlich zu unangebrachten Kommentaren einlädt.

Ich bin zwar selbst kein Fan des Outfits, aber insgeheim bin ich froh, dass wir die Klamotten gestellt bekommen. Ich besitze nicht mehr als sieben T-Shirts, zwei Pullover, ein Kleid für besondere Anlässe – auch wenn es von solchen im letzten Jahr wenige bis gar keine gab –, eine Jacke und zwei Hosen. Durch die Uniform komme ich wenigstens nicht in die unangenehme Situation, meinen Kolleginnen erklären zu müssen, warum ich jede Woche dieselben Sachen trage. Ich möchte nicht, dass sie mich voller Missbilligung ansehen oder, noch schlimmer, voller Mitleid.

Die nächsten anderthalb Stunden verbringen Sandy und ich damit, immer wieder zwischen den Tischen und der Küche hin und her zu laufen. Unser täglich wechselndes Mittagsmenü ist beliebt, und so wird jeder frei gewordene Tisch sofort von den nächsten Gästen besetzt. Trotzdem erwische ich mich immer wieder dabei, wie ich meinen Blick zu dem Tisch hinten rechts in der Ecke schweifen lasse. Die meiste Zeit erkenne ich nur Wills Hinterkopf, doch ab und zu sieht er über seine Schulter und erwischt mich beim Starren. Jedes Mal verzieht er sein Gesicht zu einer verzweifelten Grimasse und formt mit den Lippen das Wort Bitte. Aber ich bleibe hart und schüttle nur grinsend den Kopf, bevor ich mich wieder auf meine Arbeit konzentriere.

Als die letzten Mittagsgäste gegen halb drei endlich das Restaurant verlassen, werfe ich mich Sandy gegenüber auf einen der Barhocker. Tony sieht es nicht gern, wenn wir es uns vor dem Tresen gemütlich machen, aber erstens ist Tony nicht da, und zweitens schmerzen meine Knöchel so sehr, dass ich keine Sekunde länger stehen kann. Ich schnappe mir eine der Pommes frites, die Sandy aus der Küche stibitzt hat, und versenke sie in meinem Mund. In einvernehmlichem Schweigen essen wir die knusprig frittierten Köstlichkeiten, bis die Glocke in meinem Rücken das Eintreffen neuer Kunden ankündigt.

»Lass nur, ich mache das schon«, sagt Sandy, als ich mich soeben mit einem Seufzen vom Barhocker hieven will.

»Danke«, sage ich und stecke mir gleich darauf zwei Pommes auf einmal in den Mund.

»Ich danke dir«, erwidert Sandy und grinst mich verschlagen an. Dann zieht sie den Ausschnitt ihrer Bluse ein Stückchen tiefer, setzt ihr strahlendstes Lächeln auf und wirft ihre blond gefärbte Mähne über die Schultern zurück.

Ich beobachte, wie sie auf die Neuankömmlinge zusteuert, und muss grinsen. Es sind drei Typen der Sorte California Surferboy. Die Haare in den Farben Hellblond bis Karamell sind vom Salzwasser leicht verfilzt und hängen wirr in ihre von der Sonne gebräunten Gesichter. Ich höre Sandys glockenhelles Lachen, als sie sich über irgendetwas, das einer der Typen gerade gesagt hat, köstlich zu amüsieren scheint.

Schmunzelnd wende ich mich wieder meinem fettigen Mittagessen zu und verdrücke die letzten Pommes. Mein Magen, der den ganzen Tag nicht viel mehr als Kaffee und ein Croissant bekommen hat, gibt ein zufriedenes Schnurren von sich. Ich lecke mir gründlich die Reste von Fett und Salz von den Fingern. Vielleicht sollte ich mir zum Nachtisch noch einen Apfel aus der Küche stibitzen. Ich meine, mich zu erinnern, mal irgendwo etwas darüber gelesen zu haben, dass man am Tag mindestens fünf Portionen Obst und Gemüse zu sich nehmen soll. Immerhin habe ich heute Kartoffeln gegessen. Das bisschen Frittierfett hat den Vitaminen bestimmt nichts anhaben können, oder?

Mit dem Zeigefinger zwischen den Lippen wende ich den Kopf in Richtung des Ecktischs zu meiner Linken und treffe auf ein kastanienbraunes Augenpaar, das mich beobachtet. Wills Blick gleitet hinab zu meinem leicht geöffneten Mund, und das Braun seiner Iris scheint aufzuleuchten wie auflodernde Flammen in einem Kamin. Es ist schon verdammt lange her, dass mich ein Mann auf diese Art angesehen hat, und mir schießt die Hitze in die Wangen.

Ich greife nach der Kaffeekanne, um mich an etwas festzuhalten, und mache mich auf wackeligen Beinen – was definitiv einzig und allein dem Umstand zuzuschreiben ist, dass ich heute bereits einen Halbmarathon zurückgelegt habe – auf den Weg zu seinem Tisch. Während ich durch den Gang auf ihn zugehe, richte ich meinen Blick bewusst nicht auf ihn, sondern auf die anderen Gäste. Es gibt mir Zeit, meine Gedanken zu sortieren und das professionelle Lächeln zurück auf mein Gesicht zu zwingen.

»Und, wie läuft es mit meiner Geschichte?«, frage ich ihn, als ich neben seiner Sitzecke zum Stehen komme.

Er nimmt seine Hand von der Seite des Notizbuchs, auf die er eben etwas geschrieben hat, und gibt damit den Blick frei auf immer neue Satzfragmente, die alle der Reihe nach durchgestrichen wurden. Teilweise sogar zweimal. Als hätte er den Anblick der Worte nicht ertragen.

»Doch so gut?«, necke ich ihn und schenke Kaffee nach.

»Es ist aussichtslos.« Er wirft die Arme theatralisch in die Luft und vergräbt im Anschluss sein Gesicht zwischen den Handflächen.

»Du willst es einfach zu sehr. Du musst die Geschichte zu dir kommen lassen«, sage ich und fühle mich, als würde ich einen Spruch aus einem Abreißkalender zitieren.

Er schnaubt, lässt seine Hände aber sinken. »Sagt ausgerechnet diejenige, die mich mit einer Geschichte erpresst.«

Ich lache leise. Wo er recht hat.

»Warum willst du es eigentlich so sehr? Das Schreiben?« Ich nehme einen der zerknüllten Zettel in die Hand und will ihn entfalten, doch Will entwindet ihn mir, bevor ich auch nur eine Zeile gelesen habe. Seine Fingerspitzen berühren versehentlich meinen Handrücken und hinterlassen ein Prickeln auf meiner Haut.

»Hast du noch nie von etwas geträumt?«, fragt er und knüllt den Zettel zu einem kleinen festen Ball zusammen.

»In letzter Zeit nicht«, sage ich und überrasche nicht nur ihn, sondern auch mich selbst mit meiner Ehrlichkeit. Das Einzige, wovon ich in diesen Tagen träume, ist ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit im Magen. Für mehr reicht es nicht. Alles andere würde mich innerlich nur noch mehr zerreißen.

»Das solltest du aber, Jennifer«, sagt er und streckt mahnend seinen Zeigefinger in die Luft.

»Jennifer?« Ich runzle verständnislos die Stirn.

»War einen Versuch wert.« Er zuckt mit den Schultern. »Dann vielleicht Jane?«

Ich schüttele lachend den Kopf. »Nein und nein. Willst du noch ein Stück Kuchen, oder gibst du dich für heute geschlagen?«, frage ich.

Er seufzt und lässt seinen Blick über die mit herausgerissenen und zusammengeknüllten Zetteln bedeckte Tischplatte gleiten.

»Die heutige Schlacht magst du gewonnen haben, aber den Krieg wirst du verlieren«, sagt er und hebt seinen Kugelschreiber so kämpferisch in die Luft, als hielte er ein Schwert in der Hand.

»Kommt da gerade dein Namensvetter Wilhelm der Eroberer durch?«

»Vielleicht sollte ich heute Abend einen ordentlichen Whiskey trinken, um meinen inneren Hemingway herauszulocken.« Er prostet mir mit der Kaffeetasse zu und leert den Inhalt in einem großen Schluck.

»Bei dem Zug, den du draufhast, könnte dieser Versuch möglicherweise im Krankenhaus enden oder in einer Ausnüchterungszelle. Das kann ich nicht verantworten«, sage ich und nehme ihm die leere Tasse ab. Dieses Mal achte ich sorgsam darauf, seine Finger nicht zu streifen. Das Gespräch mit Will bringt mich stärker durcheinander, als es sollte. Dabei weiß ich doch aus schmerzhafter Erfahrung, wie wichtig es ist, Abstand zu wahren.

»Dann verrate mir doch einfach deinen Namen und erspare uns beiden dieses grausame Schicksal.« Er wirft mir einen Welpenblick zu.

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du zum Dramatisieren neigst? Ich habe schließlich keinen Bestseller von dir gefordert. Ein bisschen mehr, als in einem Glückskeks steht, darf es gern sein, aber ansonsten sind meine Ansprüche nicht besonders hoch. Ich beobachte dich immerhin schon seit Wochen und habe gesehen, wie viele Worte du in der Zeit zu Papier gebracht hast. Und wie viele davon überlebt haben.« Ich zwinkere ihm zu und wende mich, die Sammlung zerknüllter Zettel in der einen Hand, die Kaffeekanne in der anderen, zum Gehen.

»Du hast mich also beobachtet?« Er folgt mir den Gang entlang in Richtung Tresen, und ich beiße mir für diese unbedachte Bemerkung auf die Unterlippe.

Bedächtig stelle ich die Kanne auf der Anrichte ab und lasse die Papierkugeln eine nach der anderen in den Mülleimer fallen, um Zeit zu gewinnen.

»Wir haben dich beobachtet. Meine Kolleginnen und ich«, sage ich, als ich mich wieder zu ihm umdrehe. Seine rechte Augenbraue wandert in die Höhe, und er grinst noch immer etwas zu selbstsicher. »Wir wollten schließlich wissen, ob wir es mit einem potenziellen Bestsellerautor zu tun haben oder mit einem Trickbetrüger.«

»Trickbetrüger?«

»Meine Kollegin Tammy meinte, du könntest die nächste männliche J. K. Rowling sein, die hat den Anfang von Harry Potter immerhin auch auf die Papierservietten eines Cafés gekritzelt. Ich hingegen fand die Theorie, dass du Briefe an ältere Damen schreibst und den Enkeltrick abziehst, deutlich wahrscheinlicher.« Ich zucke mit den Schultern.

»Sehr schmeichelhaft.« Er schneidet eine Grimasse.

»Du hast jederzeit die Möglichkeit, mich von Tammys Theorie zu überzeugen.«

Er seufzt tief, dann zieht er sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche und kramt einen Fünfziger daraus hervor.

»Der Rest ist für Tammy. Dafür, dass sie an mich glaubt.« Er schiebt mir den Schein über die Theke zu, ein freches Grinsen auf den Lippen.

»Hallo?! Wer hat dich heute den ganzen Tag mit Kaffee und Kuchen versorgt und dir auch noch zusätzliche Motivation zum Schreiben gegeben?« Ich stemme in gespielter Entrüstung die Hände in die Seiten.

Sein Lachen ist tief und kehlig.

»Okay, auch wieder wahr. Wenn du mir jetzt deinen Namen verrätst, packe ich noch einen Fünfziger drauf.« Herausfordernd mustert er mich.

Kurz bin ich versucht, auf das Angebot einzugehen. Immerhin kann ich jeden Cent gebrauchen, um den Berg an Schulden zu tilgen, der mir manchmal unbezwingbar vorkommt. Gleichzeitig warnt mich meine innere Stimme davor, zu viel preiszugeben. Zu frisch ist die Erinnerung daran, wie es die letzten Male ausgegangen ist, als jemand hinter mein Geheimnis gekommen ist. Zu frisch ist die Wunde, die das Getuschel hinter vorgehaltenen Händen hinterlassen hat. Zu präsent sind die Blicke, die mich durchbohrt haben. Die Ablehnung und die Geringschätzung, die in ihnen gelegen haben.

»Ciao, Hemingway.« Ich schüttle den Kopf und zwinge ein Grinsen auf meine Lippen, während ich die dreißig Dollar Trinkgeld in meiner Schürze verstaue.

»Einen Versuch war es wert«, murmelt er vor sich hin, bevor er das Portemonnaie wieder in seiner Hosentasche verstaut, seine rechte Hand zum Abschied hebt und sich zum Gehen wendet.

Ich sehe ihm nach, als er den Gang hinabläuft. Die dunkle Jeanshose schmiegt sich eng an seine Rückseite, und obwohl ich nicht starren will, verfolge ich jeden seiner Schritte, bis er an der Tür ankommt. Die Hand bereits an der Klinke, dreht er sich noch einmal zu mir um. Als er meinen Blick bemerkt, blitzt ein wissender Ausdruck in seinen Augen auf, und seine Mundwinkel kräuseln sich. Schnell senke ich den Kopf und sortiere die akkurat ausgerichteten Speisekarten unnötigerweise noch einmal neu.

Erst als mir das leise Klingeln der Glocke über der Tür verrät, dass er das Diner verlassen hat, wage ich es, wieder aufzublicken. Die Schwere, die mich erfasst, schmeckt verdächtig nach Enttäuschung. Möglicherweise habe ich den Schlagabtausch etwas zu sehr genossen. Es fühlt sich an, als hätte ich durch mein Geplänkel mit Will eine Tür geöffnet, die ich besser verschlossen gelassen hätte. Auch wenn er nur etwas derart Unverfängliches wie meinen richtigen Namen wissen wollte, bewege ich mich auf gefährliches Terrain zu. Er macht es mir besorgniserregend leicht, ihn zu mögen. Und das ist keine Option. Auch wenn ich mir in diesem Moment wünsche, es wäre anders.

Kapitel 3

William

»Nur ein paar Seiten, nur eine Handvoll Sätze. Wie schwer kann das bitte sein?!« Frustriert starre ich auf die geraden Linien, die das cremefarbene Papier in regelmäßigen Abständen überziehen und mich zu verspotten scheinen.

Ich hatte gehofft, dass der Ortswechsel meiner Kreativität neuen Schwung verleihen würde. Doch stattdessen sitze ich seit einer Stunde am Esstisch, und das Einzige, was ich in dieser Zeit geschafft habe, ist, ein Käse-Sandwich zu verspeisen. Ich nehme das inzwischen welke Blatt Salat ins Visier, das unsere Köchin Martha mit einer Tomatenscheibe dekorativ auf dem Teller arrangiert hat. Vielleicht könnte ich eine Geschichte aus der Sicht des Salatblatts schreiben. Vom Samen bis hin zum kümmerlichen Ende als verschmähte Dekoration für das Sandwich eines Möchtegernschriftstellers. Eine Tragödie in drei Akten.

»Was meinst du, Queenie?« Ich werfe meiner Katze, die sich der Länge nach auf der Tischplatte ausgestreckt hat, einen fragenden Blick zu.

Sie legt den Kopf leicht schief, und ihre jadegrünen Augen nehmen einen abschätzigen Ausdruck an – vielleicht ist es aber auch bloß die Langeweile. Ihr weißes Gesicht hebt sich leuchtend von der weinroten Tischdecke ab. Nur an den Spitzen ihrer weichen Öhrchen sitzen zwei orangefarbene Tupfer. Ihr flauschiger Bauch ist ebenfalls weiß, von ihrem Rückgrat aus erstreckt sich ein Fellteppich aus verschiedensten Schattierungen von Braun und Orange bis zu ihrer Schwanzspitze.

Ich reiße die Seite aus dem Notizbuch, die mich mit ihren leeren Zeilen zu verhöhnen scheint, und knülle sie zu einem kleinen Ball zusammen. Diesen lege ich auf die Tischdecke und schnippe ihn mit Daumen und Zeigefinger in Richtung meiner Katze. Das Knäuel kommt wenige Millimeter vor ihrer orange-weiß gestreiften Tatze zum Liegen. Queenies Blick wandert zu dem Papierball, bevor sie wieder mich ins Visier nimmt und mich stumm zu fragen scheint, ob ich sie geistig für derart beschränkt halte, dass ich ernsthaft erwarte, sie würde dem Papier hinterherjagen. Als hätte sie nicht erst gestern eine Stunde lang mit dem Schnürsenkel meines Turnschuhs gespielt.

»Tut mir leid, meine Kreativität scheint mich heute auf allen Ebenen verlassen zu haben.« Ich tippe mit dem Ende des Kugelschreibers auf das nächste leere Blatt Papier, als könnte ich damit wie durch Geisterhand Wörter erscheinen lassen.

Meine Katze erhebt sich langsam aus ihrer liegenden Position und streckt sich ausgiebig. Ihren buschigen Schwanz, der an einen Staubwedel erinnert, reckt sie in die Luft. Mit anmutigen Schritten läuft sie über den Tisch und beginnt, sich an meiner Faust zu reiben, mit der ich noch immer den Stift umklammere. Mit ihrer feuchten Nase stupst Queenie meinen Handrücken an und schnurrt.

»Vielleicht hast du recht. Vielleicht habt ihr beide recht, und ich will es zu sehr«, murmle ich und muss an Candys Worte im Diner denken.

Wenn ich es nicht einmal schaffe, für sie ein paar Zeilen zu Papier zu bringen, wie kann ich dann ernsthaft daran glauben, dass es mir gelingen wird, in den nächsten Wochen einen kompletten Roman zu schreiben? Gedankenverloren kraule ich Queenies Köpfchen. Sie streckt mir ihren Hals entgegen und schnurrt genießerisch, als ich sie unterhalb des Kinns mit sanftem Druck massiere. Je länger ich hier sitze und meine Katze streichle, desto entspannter werde ich selbst. Die Anspannung fließt langsam aus meinen Schultern. Meine Gedanken, die ich in den letzten Stunden auf der Suche nach einer genialen Idee – oder irgendeiner Idee – nur so durch die Gegend gepeitscht habe, kommen zur Ruhe. Queenies leises Schnurren ist das einzige Geräusch, das die Stille des Esszimmers durchbricht. Es spricht von so viel Geborgenheit, dass man gar nicht anders kann, als sich ebenfalls wohlzufühlen.

Ich habe den kleinen Fellball aus dem Tierheim geholt, als ich dreizehn Jahre alt war. Es war der Sommer, in dem ich die Einsamkeit in dem Haus, das mein Zuhause sein sollte und es doch nie wirklich gewesen ist, nicht mehr ertrug. Queenie hat mich damals gerettet. Sie war die Einzige in diesem großen und zugleich leeren Haus, die mir ein Gefühl von Geborgenheit geschenkt hat. Ich kann die vielen Abende nicht zählen, an denen sie meine Verlorenheit gespürt und sich an mich geschmiegt hat. Ich habe mein Gesicht in ihrem weichen Fell vergraben und mich an diesem Ort ein kleines bisschen mehr zu Hause gefühlt.

Meine Eltern davon zu überzeugen, eine Katze zu adoptieren, war denkbar leicht. Ich habe sie einfach nicht um Erlaubnis gefragt. Stattdessen habe ich meiner Mutter das Formular vom Tierheim unter die Nase gehalten und ihr erzählt, dass es die Einverständniserklärung für einen Schulausflug sei. Sie hat mir mit einem abwesenden Lächeln auf den Lippen den Kopf getätschelt und unterschrieben. Damals war sie von den ganzen Beruhigungstabletten ständig weggetreten. Es hat eine Woche des gemeinsamen Zusammenlebens gedauert, bis sie bemerkt hat, dass eine Katze eingezogen war.

Mein Vater war schneller. Als er an Queenies erstem Abend in der Villa spät nach Hause kam, stromerte sie gerade durch den Flur. Die beiden haben sich für einen unendlich langen Moment taxiert, bevor sie gleichzeitig, wie in stiller Übereinkunft, den Blick abwandten. Obwohl mein Vater kein Fan von Haustieren egal welcher Art ist, hat er mich damals nur eine einzige Sache gefragt: »Ist sie stubenrein?«

Als ich bejahte, nickte er und wirkte beinahe zufrieden. Er sah mich eindringlich an und sagte mit seiner volltönenden Stimme: »Du bist jetzt für diese Katze verantwortlich. Es wird dir guttun, Verantwortung zu übernehmen. Damit kann man nie früh genug beginnen.« Meinem Vater, der schon von Kindesbeinen an nach Großem gestrebt hat, war immer ein Dorn im Auge, dass ich in dieser Beziehung keinerlei Ambitionen habe erkennen lassen. Ihm missfiel, dass ich meine Nase stets in Bücher steckte und meine Gedanken häufiger in fremden Welten unterwegs waren als in dieser. Vermutlich hoffte er, dass Queenie mich erden und mein Verantwortungsbewusstsein fördern würde. Denn das war seiner Meinung nach unabdingbar, wenn ich in seine Fußstapfen trat. Wenn, nicht falls.

Mein Handy vibriert und lässt mich zusammenzu...

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