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Wie man einen Tiger fängt

Als Buch hier erhältlich:

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Die Magie des Geschichtenerzählens

Als Lily mit ihrer Familie zu ihrer Halmoni zieht, ihrer kranken Großmutter, taucht auf einmal ein Tiger auf. Ein sprechender Tiger. Ein magischer Tiger. Der Tiger aus Halmonis koreanischen Märchen. Nur Lily kann ihn sehen. Er behauptet, dass Halmoni vor vielen Jahren Geschichten gestohlen und sie in Gläser gesperrt hat. Und er schlägt Lily einen Handel vor: Wenn sie die Geschichten zurückholt, wird ihre Großmutter wieder gesund. Das Angebot klingt verlockend, doch wenn Lily eines weiß, dann, dass man magischen Tigern niemals trauen sollte …

„Tae Keller ist eine Autorin, von der ich unbedingt mehr lesen möchte!“ - Bettina Stiebel, DEIN SPIEGEL

»Eine mythische Geschichte, in der ganz viel Lebensweisheit steckt und die sensibel schwere Themen wie Mut, Freundschaft, Liebe, Unsterblichkeit, Tod und das Loslassen aufgreift. Für nachdenkliche Kinder ab elf Jahren und ihre Eltern.« Neue Presse, 10.09.2021

»Ein Buch, das mich überrascht, fasziniert, getröstet und begeistert hat.« »Keller erzählt poetisch, immer weise, anrührend und an keiner Stelle schwer.« Birgit Franz, Eselsohr, 01.2022


  • Erscheinungstag: 24.08.2021
  • Seitenanzahl: 350
  • Altersempfehlung: 11
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748850496

Leseprobe

KAPITEL 1

Ich kann mich unsichtbar machen.

Das ist eine Superkraft oder zumindest eine geheime Kraft. Aber nicht so wie im Film – ich bin keine Superheldin oder so. Helden sind die Stars, die den Tag retten. Ich … verschwinde einfach.

Zuerst wusste ich nicht, dass ich diese Magie besitze. Ich habe nur gemerkt, dass die Lehrer meinen Namen vergessen und andere Kinder nicht mit mir spielen wollen, und einmal, gegen Ende der Vierten, hat ein Junge kopfschüttelnd zu mir gesagt: »Hey, wo kommst du denn her? Dich hab ich hier noch nie gesehen.«

Damals habe ich diese Unsichtbarkeit gehasst. Aber jetzt weiß ich, dass es an meiner Magie liegt.

Sam, meine große Schwester, bestreitet das – in ihren Augen ist es keine Superkraft, sondern einfach Schüchternheit. Aber Sam kann auch ganz schön gemein sein.

Dabei ist diese Kraft manchmal sehr nützlich. Zum Beispiel wenn Mom und Sam streiten. So wie jetzt.

Ich hülle mich in meine Unsichtbarkeit und lehne meine Stirn ans Autofenster, schaue zu, wie die Regentropfen an der Scheibe unseres alten Kombis herunterlaufen.

»Halt lieber an«, sagt Sam zu Mom.

Oder eigentlich sagt sie es zu ihrem Handy, weil sie gar nicht hochschaut. Sie sitzt auf dem Beifahrersitz, die Füße gegen das Handschuhfach gestemmt, die Knie an die Brust gezogen – ihr ganzer Körper wickelt sich um das leuchtende Display.

Mom seufzt. »Also bitte. Wir müssen nicht anhalten. Das ist nur ein bisschen Regen.« Aber sie lässt die Scheibenwischer schneller laufen und tippt auf die Bremse, bis wir nur noch im Schneckentempo weiterrollen.

Der Regen fing an, sobald wir die Grenze zum Staat Washington überschritten hatten, und es wird immer schlimmer. Wir kriechen am handgemalten Ortsschild mit der Aufschrift Sunbeam vorbei. Willkommen in Halmonis Kaff. Der Name ist ein Witz, denn Sunbeam ist ein wahres Regenloch.

Sam schmatzt mit ihren schwarz geschminkten Lippen. »Kay.«

Das ist alles. Nur drei Buchstaben.

Sie tippt auf ihrem Display herum, schickt Wortblasen und Emojis an alle ihre Freundinnen zu Hause.

Was wohl in diesen Nachrichten steht? Manchmal, wenn ich mich lasse, stelle ich mir vor, dass sie mir schreibt.

»Sam, es wäre schön, wenn du das alles hier mal etwas positiver sehen könntest.« Mom stößt ihre Brille so wütend die Nase hoch, als wäre die an allem schuld.

»Das kann jetzt nicht dein Ernst sein!« Sam schaut von ihrem Handy auf – endlich – und funkelt Mom böse an.

So fängt es immer an. Ihre Auseinandersetzungen sind laut und explosiv. Sie verheizen sich gegenseitig.

Ich hüte mich dazwischenzugehen. Ich drücke meine Fingerspitze an die regennasse Fensterscheibe und ziehe eine Linie zwischen den Tropfen, als wollte ich die Punkte miteinander verbinden. Meine Augenlider werden schwer. Ich bin so an diese Streitereien gewöhnt, dass es fast wie ein Wiegenlied für mich ist.

»Dir ist aber schon klar, wie unmöglich das alles von dir ist? Ich meine, das ist so was von nicht okay …«

»Sam.« Mom verkrampft sich komplett – ihre Schultern sind steif, ihre Nackenmuskeln angespannt.

Ich halte den Atem an, denke: unsichtbar, unsichtbar, unsichtbar.

»Nein, im Ernst«, giftet Sam weiter. »Nur weil dir plötzlich einfällt, dass du mehr Zeit mit Halmoni verbringen willst, heißt das noch lange nicht, dass du unser ganzes Leben auf den Kopf stellen musst. Ich hatte Pläne für diesen Sommer – was dir natürlich völlig egal ist. Du hast uns noch nicht mal rechtzeitig vorgewarnt.«

In diesem Punkt muss ich Sam recht geben. Mom hat uns erst vor zwei Wochen gesagt, dass wir für immer von Kalifornien wegziehen. Und ich werde mein Zuhause dort auch vermissen. Meine Schule, die Sonne, die Sandstrände – so anders als die raue Felsenküste von Sunbeam.

Ich denke nur einfach nicht daran.

»Ich dachte, ihr freut euch, wenn ihr mit eurer Großmutter zusammen sein könnt«, sagt Mom scharf. Der Regen ist noch stärker geworden und nimmt ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Ihre Finger umklammern das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten. Bei diesem Wetter fahren wir alle nicht gern Auto, seit Dad gestorben ist.

Ich konzentriere mich auf das Lenkrad und kneife die Augen leicht zusammen, während ich im Stillen gute Gedanken aussende, so wie ich es von Halmoni gelernt habe.

»Lenk jetzt nicht ab.« Sam zerrt an der einzelnen weißen Strähne in ihrem schwarzen Haar. Sie ist immer noch sauer, aber schon etwas abgekühlt. »Ich bin gern mit Halmoni zusammen, das weißt du genau. Nur eben nicht hier. Ich will einfach nicht hier sein.«

Halmoni hat uns immer in Kalifornien besucht. In Sunbeam waren wir seit meinem siebten Geburtstag nicht mehr. Ich spähe durch die Windschutzscheibe. Die Landschaft, die an uns vorbeigleitet, ist friedlich. Graue Steinhäuser, grünes Gras, graue Restaurants, grüner Wald. Die Farben von Sunbeam verschwimmen ineinander – Grau, Grün, Grau, Grün – und dann, plötzlich: Orange, Schwarz.

Ich richte mich auf, versuche, die neuen Farben einzuordnen.

Ein Tier, das mitten auf der Straße liegt.

Eine riesige Katze. Reglos, den Kopf auf den Pfoten.

Nein. Keine Katze. Ein Tiger.

Der Tiger hebt den Kopf, als wir näher kommen. Er muss aus einem Zirkus oder Zoo ausgebrochen sein. Und wahrscheinlich ist er verletzt. Warum sollte er sonst im strömenden Regen auf der Straße liegen?

Eine instinktive Angst krampft mir den Magen zusammen, und mir wird schlecht. Reiseübelkeit. Aber egal. Wenn ein Tier verletzt ist, müssen wir ihm helfen.

»Mom.« Ich unterbreche den Streit der beiden, werfe mich nach vorne. »Ich glaube … ähm … da ist …«

Jetzt, von Nahem, sieht der Tiger nicht verletzt aus. Er gähnt, entblößt seine scharfen, blendend weißen Zähne. Dann steht er auf, langsam, immer nur eine Klaue, eine Pfote, ein Bein auf einmal.

»Schluss jetzt.« Moms Stimme klingt angespannt, ihr Ärger wegen Sam überträgt sich auf mich, was unfair ist, aber nach der achtstündigen Autofahrt hat sie einfach keine Nerven mehr. »Alle beide. Bitte. Ich muss mich aufs Fahren konzentrieren.«

Ich beiße mir in die Wange. Was redet sie da? Mom muss die Riesenkatze doch sehen. Auch wenn sie die ganze Zeit von Sam abgelenkt ist.

»Mom«, murmle ich und warte darauf, dass sie auf die Bremse tritt. Macht sie aber nicht.

Das Problem mit meiner Unsichtbarkeit ist, dass sie sich manchmal nicht schnell genug verflüchtigt. Es dauert eine Weile, bis die Leute mich wieder wahrnehmen – von zuhören ganz zu schweigen.

Zuhören. Das hier ist kein Tiger wie die im Zoo. Er ist riesig, so groß wie unser Auto. Das Orange in seinem Fell glüht förmlich, und das Schwarz ist so finster wie eine mondlose Nacht.

Ein Tiger, der in Halmonis Geschichten gehört.

Ich beuge mich vor, bis mir der Sicherheitsgurt in die Rippen schneidet. Mom und Sam streiten immer noch. Aber ihre Worte verebben zu einem leisen Dröhnen, weil ich ganz auf den …

Der Tiger hebt seinen gewaltigen Kopf – und schaut mich an. Er sieht mich.

Das große Katzentier zieht eine Augenbraue hoch, als wollte es mich herausfordern.

Ich schnappe nach Luft, stolpere über meine eigene Zunge. »Mom … halt«, stoße ich hervor.

Mom redet weiter auf Sam ein, also rufe ich, lauter diesmal: »HALT

Endlich nimmt Mom mich wahr. Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrt sie mich im Rückspiegel an. »Lily? Was ist los?«

Sie bremst nicht, hält nicht an. Wir fahren weiter.

Näher …

Immer näher …

Und näher …

Ich kann nicht atmen, weil wir bereits viel zu dicht dran sind.

Ein dumpfer Schlag ertönt unter uns, und ich kneife die Augen zu. Meine Schläfen pochen. Meine Ohren dröhnen. Wir haben ihn überfahren.

Aber wir rollen weiter.

Als ich die Augen wieder öffne, fällt mein Blick auf Sam, die vorne sitzt, die Arme verschränkt, ihr Smartphone vor ihren Füßen. »Tot«, verkündet sie. »Schluss, aus.«

Mein Herz tobt wie ein wildes Tier in meiner Brust, während ich die Straße absuche, nach dem Horror Ausschau halte, den ich nicht sehen möchte.

Aber da ist nichts.

Mom presst ihre Kiefer zusammen. »Sam, bitte wirf nicht dein teures Smartphone herum.«

Ich starre sie verwirrt an. War dieser dumpfe Schlag etwa nur Sams Handy? Aber dann …

Ich drehe mich nach dem Tiger um, sehe jedoch nur Regen und Straße. Die Riesenkatze ist verschwunden.

»Lily?« Mom bremst den Wagen noch mehr ab. »Ist dir schlecht? Soll ich anhalten?«

Ich lasse meinen Blick ein zweites Mal über die Straße huschen, aber wieder nichts. »Nein, alles gut«, sage ich.

Mom lächelt erleichtert. Ich bin nie schwierig. Ich mache keinen Ärger. »Halt noch ein bisschen durch. Wir sind bald bei Halmoni.«

Ich nicke, versuche, normal zu sein. Als ob nichts wäre. Obwohl mein Herz wilde Saltos schlägt. Ich kann Mom nichts von dem Tiger sagen. Sie würde glauben, dass ich dehydriert bin oder Fieber habe.

Und vielleicht stimmt das auch. Ich drücke meine Handfläche an meine Stirn, kann aber nichts feststellen. Vielleicht werde ich wirklich krank. Oder vielleicht bin ich einfach kurz eingeschlafen.

Ich meine, wie soll das möglich sein? Ein riesiger Tiger, der mitten auf der Straße auftaucht – und dann spurlos verschwindet.

Ich schüttle den Kopf. Ganz gleich, ob der Tiger echt war oder ob ich ihn nur geträumt habe oder den Verstand verliere, ich muss es auf jeden Fall Halmoni erzählen. Sie hört mir zu. Und wird mir helfen.

Halmoni wird wissen, was zu tun ist.

KAPITEL 2

Halmonis Geschichten beginnen alle gleich, mit der koreanischen Version von »Es war einmal …«

Vor langer, langer Zeit, als Tiger noch aufrecht gingen wie Menschen …

Zu Hause in Kalifornien haben Sam und ich uns diese magischen Worte immer zugeflüstert, wenn wir wussten, dass Halmoni uns bald besuchen würde. Und jedes Mal lief mir dabei ein Schauer über den Rücken.

Wir zählten die Tage bis zu ihrer Ankunft, konnten kaum den ersten Abend erwarten, an dem wir zu ihr ins Gästezimmer laufen und uns unter ihre Decke kuscheln konnten, eine rechts, eine links, wie zwei Buchdeckel.

»Halmoni«, flüsterte ich dann, »erzählst du uns eine Geschichte?«

Halmoni lächelte, zog uns in ihre Arme und in ihre magische Welt. »Welche Geschichte?«

Unsere Antwort war immer dieselbe. Unsere absolute Lieblingsgeschichte.

»Die von Onni«, sagte Sam. Große Schwester.

»Und Eggi«, fügte ich hinzu. Kleine Schwester. Eigentlich heißt das Baby. »Die Tigergeschichte.«

Die Geschichte war etwas Besonderes für uns, als blitze ein großes Geheimnis hinter den Worten hervor.

»Dann fangt sie mir«, sagte Halmoni, und wir streckten die Arme in die Luft und ballten die Fäuste, als würden wir Sterne vom Himmel pflücken.

Auch das gibt es nur bei Halmoni – die Vorstellung, dass die Sterne Geschichten in sich bergen.

Halmoni wartete dann eine Weile, ließ die Sekunden anschwellen, und wir lauschten auf unseren Herzschlag und bettelten lauthals um die Geschichte. Schließlich holte sie Luft und erzählte uns vom Tiger.

Aber der Tiger in ihren Geschichten ist ein gefährliches, heimtückisches Raubtier. Der Tiger auf der Straße kam mir ganz anders vor. Er wollte uns nicht auffressen, ganz sicher nicht – aber ich hätte schwören können, dass er etwas von mir wollte.

Was das sein könnte, werde ich wohl nie erfahren, weil der Tiger sich nicht mehr blicken lässt, als wir langsam weiter durch Sunbeam rollen. Endlich taucht Halmonis Haus vor uns auf. Ein kleines Cottage am Ortsrand, das auf einer Anhöhe steht, umgeben von Wald. Direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite, ist die Gemeindebücherei.

Mom biegt in die lang gezogene Auffahrt ein, und wir kriechen knirschend über den Kies nach oben.

Kaum hat sie den Motor abgestellt, legt sie ihren Kopf aufs Lenkrad und seufzt. Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment einschlafen. Aber dann holt sie Luft und setzt sich auf.

»In Ordnung«, sagt sie, schlingt den Arm um ihre Kopfstütze und dreht sich um, sodass sie uns beide ansehen kann. Sie klebt ein Lächeln in ihr Gesicht, gibt sich betont fröhlich, um den ganzen Streit und Stress auf der Fahrt hierher wegzuwischen.

»Schlechte Nachrichten, Mädchen: Ich hab die Regenschirme in Kalifornien gelassen.« Sie grinst uns an, haha-ups-wie-komisch-aber-auch. »Das heißt, wir müssen rennen.«

Ich starre zu Halmonis Haus hinauf. Es hat etwas Magisches, wie es dort oben thront, mit dem fast schwarzen Efeu, der über die verwitterten Backsteinwände kriecht, den Fenstern, die im Licht blitzen, und natürlich den ungefähr eine Million Stufen, die zu ihrer Haustür hinaufführen.

Ganz anders jedenfalls als unsere helle cremeweiße Wohnung in Kalifornien in einem brandneuen Gebäude. Mit Aufzug.

»Was? In dem Regen sollen wir die Treppe raufrennen?« Sam sieht so entgeistert aus, als hätte Mom von ihr verlangt, kopfüber in eine Wanne voll Schneckenschleim zu springen.

Mom ringt sich erneut ein Lächeln ab. »Das bisschen Regen kann uns doch nichts anhaben, oder, Lily?«

Meine Antwort ist einfach: Nein, natürlich nicht. Ich will ins Haus und Halmoni über den Tiger aushorchen. Aber einfache Fragen, geschweige denn Antworten, gibt es nicht in unserer Familie. Das ist eine Falle. Mom will, dass ich Partei ergreife.

Ich zucke die Schultern.

So leicht lässt sie mich nicht davonkommen. »Oder, Lily? Sag schon!« Ihr Lächeln verrutscht, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Sie hat Ringe unter den Augen und eine tiefe Falte auf der Stirn.

So sieht Mom sonst nicht aus. Sie ist immer perfekt gestylt, jedes Härchen an seinem Platz, alles makellos in Ordnung.

»Nein, ’türlich nicht«, murmle ich.

Sam zuckt zusammen, als hätte ich ihr einen Tritt gegeben.

»Na also, dann wäre das ja geklärt.« Erleichtert legt Mom eine Hand auf den Türgriff. »Achtung, fertig …«

Sie reißt die Tür auf, stürzt hinaus und rennt los, noch bevor die Tür hinter ihr zugefallen ist. Sie ist sofort tropfnass, und sie bewegt sich nicht schnell, obwohl sie sich total verausgabt, die Fäuste geballt, den Kopf eingezogen und tief geduckt wie ein wilder Stier, der auf Halmonis Haus losgeht.

»Das sieht so bescheuert aus«, sagt Sam.

Und ich muss ihr insgeheim zustimmen, auch wenn es nicht besonders nett von ihr ist.

Mom lässt ohne ersichtlichen Grund ihre Arme kreisen, und ich pruste los. Sam lacht mit. Wir sehen einander an, und eine Sekunde lang sind wir zwei Schwestern, die sich über ihre peinliche Mutter lustig machen.

Ich möchte diesen Moment gern an mich drücken und bis in alle Ewigkeit ausdehnen.

Aber Sam wendet sich ab, schnappt sich ihr Handy samt Ladekabel vom Boden und stopft beides in ihren BH, damit es trocken bleibt. »Okay, dann mal los«, sagt sie.

Ich würde gern antworten: Nein, bitte bleib noch. Aber natürlich nicke ich, und wir springen aus dem Wagen.

Einen solchen Sturzregen habe ich noch nie erlebt. Prasselnd, kalt – viel zu kalt für Juli –, und noch bevor wir an der Treppe sind, quietschen meine Schuhe vor Nässe und meine Jeans wird feucht und schwer.

Sam japst beim Laufen, ich ebenso. Weil es so komisch und gleichzeitig so schrecklich ist. Meine Augen brennen vom Wasser, ich sehe fast nichts mehr, aber die eisige Regendusche macht mich wach.

Meine Lunge platzt beinahe, und mein Herz rast, als wir die oberste Stufe erreichen.

Mom wartet vor der Tür auf uns, was wahrscheinlich nett gemeint ist, aber irgendwie merkwürdig. Warum schließt sie die Tür nicht einfach auf und geht rein?

Stirnrunzelnd schaut sie uns an und schüttelt den Kopf. »Halmoni macht nicht auf«, sagt sie. »Sie ist nicht da.«

KAPITEL 3

»Was soll das heißen, sie ist nicht da?«, flüstere ich. Einen Moment lang steigt Panik in mir auf: Hat der Tiger sie aufgefressen? Aber ich zwinge mich, ruhig zu bleiben.

Mom seufzt. »Ich weiß nicht. Keine Ahnung.«

Ich kann nicht erkennen, ob sie besorgt oder wütend ist – der Regen strömt ihr über die Augen und den Mund, verwischt ihre Züge. Wenn ich nur wüsste, was in ihr vorgeht, damit ich weiß, woran ich mich halten kann.

Sam drückt vergeblich die Messingklinke herunter. Die bockige Tür bleibt zu. »Also das …« Sam starrt Mom an, dann mich. Mit ihren angeklatschten Haaren und den schwarzen Streifen von ihrem verschmierten Eyeliner auf den Wangen sieht sie aus wie ein nasser Tiger. »Heißt das, wir müssen hier warten? Im Regen? Wer weiß, wie lange?«

Mom wischt ihre Brille an ihrem nassen T-Shirt ab, was natürlich nicht viel nützt. »Nein. Glaub nicht. Moment mal.« Sie reckt einen Finger in die Luft, dann läuft sie um das Haus.

»Wo will sie hin?«, frage ich. Ich halte meine Hände über den Kopf wie ein schützendes Dach, aber das hilft nicht viel. »Wo ist Halmoni?«

Sam antwortet nicht. Wir schauen Mom nach, die unter dem Wohnzimmerfenster stehen bleibt. Sie klopft seitlich an die Scheibe, lässt ihre Hände über den Fenstersims gleiten, dann donnert sie eine Faust direkt unter das Glas.

»Ich glaub’s ja nicht«, knurrt Sam voll triefendem Sarkasmus.

Mom stößt das Fenster auf. Sie wirft uns einen Blick zu, zieht sich hinauf und purzelt kopfüber ins Haus hinein.

»Ups«, hauche ich. So was hat Mom noch nie gemacht – jedenfalls nicht in meiner Gegenwart.

Sam schüttelt den Kopf. »Ja, genau – ups. Wahrscheinlich hat sie das als Teenager immer so gemacht.« Meine Schwester sieht mich an, als wüsste sie nicht, ob sie lachen oder den Kopf schütteln soll, und ich weiß genau, was in ihr vorgeht. Mom als Teenager, der Gedanke ist zugleich absurd und irgendwie unheimlich. Mir geht es einfach nicht in den Kopf, dass sie schon vor uns existiert hat.

Aber Sam lächelt, und mein Herz beruhigt sich. »Wahrscheinlich hat sie sich abends durchs Fenster rausgeschlichen, wenn sie zu einer Party wollte oder so.«

Ich nicke. Wenn Sam gut gelaunt ist, leuchtet ihr rundes Gesicht und sie sieht wieder aus wie meine Schwester von früher. Ich rücke ein bisschen näher, nur ganz leicht, damit sie nichts merkt.

Naserümpfend fügt sie hinzu: »Oder vielleicht hat sie sich heimlich mit Jungs getroffen.«

»Aber sie hatte doch Dad. Ich glaub nicht, dass sie vor ihm mit anderen Jungs ausgegangen ist.« Ich kann mir meine Mom nur mit Dad zusammen vorstellen und mit keinem anderen. Eigentlich kann ich sie mir überhaupt nicht mit einem Mann vorstellen, weil ich mich an Dad nicht mehr erinnere.

Sams Leuchten erlischt abrupt, und ich weiß, dass ich ins Fettnäpfchen getreten bin. Sie presst die Kiefer zusammen, dreht sich weg. »Du bist so was von naiv«, murmelt sie.

An Dad zu denken bedeutet für Sam etwas anderes als für mich. Meine Schwester ist alt genug, um sich an ihn zu erinnern. Sie war sieben, als er bei dem Autounfall gestorben ist. Ich erst vier.

»Sam …«, fange ich an, weiß aber dann nicht weiter.

Früher konnte ich immer mit ihr reden. Ich habe ihr alles erzählt. Wäre das hier vor ein, zwei Jahren passiert, dann hätte ich gesagt: SAM, ICH HABE EINEN TIGER AUF DER STRASSE GESEHEN. Ich hätte es ihr praktisch ins Ohr geschrien, weil ich sonst vor Aufregung geplatzt wäre.

»Ich habe gerade …«, versuche ich es noch mal. Aber dann quietscht das Schloss auf der anderen Seite der Tür, Mom lässt den Riegel zurückgleiten und öffnet uns.

»Schnell, rein mit euch«, drängt sie, obwohl wir wohl kaum noch nasser werden können.

Wir gehen hinein, hinterlassen wässrige Fußspuren im Eingang und riesige Pfützen auf den Holzdielen.

Halmonis Haus sieht aus wie etwas Altvertrautes. Wohnzimmer und Küche kuscheln sich um einen violetten Esstisch und einen Kamin, der nicht funktioniert. Eine alte Standuhr tickt in der gegenüberliegenden Ecke des Wohnzimmers.

Auf dem Kaminsims steht ein Foto von Mom, flankiert von zwei steinernen Löwen, die Wohlstand in ihr Leben bringen sollen. Auf der anderen Seite bewacht ein Frosch ein Foto von Sam und mir – er ist der Hüter unseres Glücks. Und alles ist voller Kräuterbüschel und Räucherstäbchen, die in Körben von der Decke hängen oder in Schalen auf der Küchentheke stehen, um schlechte Energien zu vertreiben.

Ich nehme die Atmosphäre in mich auf, den Geruch nach Buchweizennudeln, Salbei und Waschmittel, und fühle mich sofort zu Hause.

Sam offenbar nicht. Sie steht da, die Arme vor der Brust verschränkt, und runzelt die Stirn. »Ähm«, murrt sie. »Was ist das hier?«

Ich folge ihrem Blick zum anderen Ende des Wohnzimmers, das an Halmonis Schlafzimmer angrenzt, dann zum Badezimmer und zu den beiden Treppen: Die eine führt zum Dachboden hinauf, die andere in den Keller hinunter. Von der Kellertür ist allerdings nichts zu sehen – ein Turm aus verzierten koreanischen Kisten und Pappkartons stapelt sich dort wie eine Barrikade.

Mom schüttelt den Kopf. »Das ist merkwürdig, oder? Warum macht sie so was?« Sie kaut an ihrem Daumennagel und schaut sich um. Eine Sekunde lang erhasche ich die Besorgtheit in ihrem Blick.

Meine ursprüngliche Freude erlischt. Das ist wirklich komisch. Völlig fehl am Platz. Und Halmoni ist nicht da.

Etwas Kaltes, Dunkles breitet sich in meinem Magen aus. »Wo ist Halmoni?«, frage ich.

Mom sieht mich an, und ihr Gesicht wird weicher. »Ach, keine Sorge, sie ist sicher nur einkaufen oder besucht Freunde. Du kennst sie doch.« Sie wirft mir ein Lächeln zu, das zugleich traurig und hoffnungsvoll ist. »Freust du dich, dass wir hier sind, Lily?«

Da stimmt etwas nicht. Etwas, das sie mir nicht sagen will. Ich würde sie gern danach fragen, möchte aber nicht, dass ihr Lächeln erlischt, also nicke ich nur.

Mom öffnet den Mund, um etwas hinzuzufügen, als mich ein Frösteln erfasst, das mich bis auf die Knochen erschauern lässt.

Erschrocken blinzelt Mom uns an, als hätte sie vergessen, wie nass wir sind. »Ach ja, richtig. Einen Moment, ich suche uns schnell was Trockenes zum Anziehen.« Unsere Koffer sind noch im Auto, und keine von uns hat Lust, sich ein zweites Mal durch den Regen zu kämpfen, also geht Mom durch den Flur in Halmonis Zimmer.

Die Arme mit Handtüchern und Seidenpyjamas von Halmoni beladen, taucht sie wieder auf, und ich nehme uns zwei vom Stapel herunter. Der blassorange Pyjama schimmert und schillert wie ein Sonnenuntergang in meinen Händen. Sogar Halmonis Nachtwäsche ist schön.

»Ich drehe die Heizung auf«, sagt Mom. »Wartet hier.«

Aber natürlich wartet Sam nicht. Sobald Mom wieder in Halmonis Zimmer verschwunden ist, schlängelt sie sich an den Kisten und Kartons vorbei und geht schnurstracks in unser Dachzimmer hinauf. Ihre Schuhe hinterlassen riesige Pfützen im Flur und auf der Treppe.

Ich zögere, obwohl ich ihr gern nachgehen würde. Aber ich will nicht die kleine Eggi sein, die immer hinter ihrer Onni hertrottet, egal wohin. Am Ende folge ich ihr natürlich trotzdem.

Der Raum unter dem Dach ist knarzig-gemütlich mit spitz zulaufender Decke, einem holzgerahmten Ganzkörperspiegel und zwei Betten mit verblichenen Überdecken. Wenn Sam und ich früher bei Halmoni waren, haben wir als Erstes die Betten zusammengeschoben und uns aneinandergekuschelt, um uns im Dunkeln Geschichten zu erzählen.

Jetzt stehen die Betten an den beiden gegenüberliegenden Wänden des Raums, mit einem breiten Fenster dazwischen.

Sam reißt ihre nassen Kleider herunter, verschmiert ihre Wimperntusche auf dem sauberen Handtuch und zieht den Pyjama mit den schwarzen Pailletten an. Dann wirft sie sich auf ihr Bett. Die Matratze empfängt sie mit einem Ächzen, und sie greift hinter das Bettgestell, um ihr Handy an der Steckdose anzuschließen, bevor sie sich zu mir umdreht. »Was machst du hier? Du sollst doch unten warten.«

Sam tut immer so, als ob Moms Befehle nur für mich gelten. Das ärgert mich, auch wenn ich mittlerweile dran gewöhnt bin.

Ich seufze und trockne mich ab, bevor ich in den orangefarbenen Pyjama schlüpfe. Der weiche, warme Stoff jagt mir wohlige Schauer durch den Körper und löst die Kälte in meinen Knochen auf. Ich atme ein, um Halmonis wunderbaren Milchgeruch in mich einzusaugen, aber der Pyjama riecht nur ganz leicht nach Seife.

Sam runzelt die Stirn, wartet noch immer darauf, dass ich gehe, aber ich setze mich auf mein Bett.

»Findest du es nicht auch irgendwie unheimlich?«, sage ich, während ich die Bettdecke hochhebe und dabei sorgfältig Sams Blick ausweiche. »Halmoni ist verschwunden und dieses ganze Zeug blockiert den Kellereingang und … und einfach die ganze Atmosphäre? Als ob etwas nicht stimmt?«

»Also, erstens ist Halmoni nicht verschwunden. Sie ist nur weg. Warum musst du immer so theatralisch sein? Und zweitens, ja. Die Atmosphäre ist merkwürdig. Aber Halmonis Haus fühlt sich immer so an.« Sams Handy leuchtet neben ihr auf, so als würde es sich strecken, nachdem es gerade von einem kleinen Nickerchen erwacht ist. Sam schnappt es und schaut auf das Blinken, mich nimmt sie nur noch halb wahr. »Weißt du noch, wie wir letztes Mal hierhergezogen sind?«

»Ja, schon.« Nach Dads Tod haben wir drei Jahre hier gelebt. Ich bin in Kalifornien geboren, aber meine ersten Erinnerungen sind wie dieses Haus geformt.

Sam scrollt sich durch ihr Handy, und ich erwarte keine Antwort von ihr, aber dann lässt sie es fallen und schaut hoch. »Anfangs war es schön hier, weil Halmoni uns getröstet hat, wenn wir traurig waren, und weil sie Mom geholfen hat. Aber Halmoni hat immer so seltsame Dinge gemacht, ohne etwas zu erklären. Sie ist voller Geheimnisse. Das ganze Haus ist voller Geheimnisse.«

Ich nage an meiner Unterlippe. »Zum Beispiel?«

Sam verdreht die Augen. »Weiß nicht. Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass wir jetzt hier sind statt in Kalifornien, und das ist schrecklich. Ich hasse das hier.«

Sams Worte lassen mich zusammenzucken. »Sag das nicht«, bitte ich sie.

Sam und ich waren früher gern hier, jedenfalls in meiner Erinnerung.

Natürlich waren wir traurig wegen Dad, aber es war nicht alles schlecht. Wir haben uns im Dachzimmer Geschichten erzählt, wir haben Reiskuchen in der Küche gegessen und Fantasiewelten im Keller erschaffen. Wir waren zusammen.

Ich würde sie gern fragen: Weißt du das nicht mehr?

Aber Sam kommt mir zuvor: »Das ist einfach nicht in Ordnung, Lily. Mom will bei Halmoni sein, was ja auch nett von ihr ist und alles, aber uns hat sie nicht gefragt. Wir hatten nicht mal genug Zeit, um Abschied zu nehmen. Du musst doch auch sauer sein, oder? Also wenigstens ein bisschen?«

Ehrlich gesagt, ja, bin ich. Ein kleines bisschen. Aber ich freue mich auch, bei Halmoni zu sein.

Ich räuspere mich. Hole Luft. Schlucke. »Ich glaube … also vielleicht solltest du einfach netter zu Mom sein.« Meine Handflächen werden feucht und schwitzig. Das ist gefährliches Terrain. Normalerweise gehe ich jedem Konflikt mit Sam aus dem Weg. Wir sind Schwestern, und Schwestern müssen zusammenhalten.

Sam verdreht wieder die Augen. »Also ehrlich, Lily! Wie kannst du sie auch noch verteidigen?«

»Es ist nur … also ich …« Moms Blick vorhin geht mir nicht aus dem Kopf. Sie kam mir so zerbrechlich vor, als wir unten nach Halmoni gesucht haben. Nicht so, wie eine Mutter sein sollte. Ich weiß nicht, warum Sam das nicht gemerkt hat.

»Du was …?« Sam starrt mich an und seufzt, als ich nicht antworte. »Spuck’s aus, Lily. Du musst nicht immer so still sein. So ein typisches BAM. Das macht mir Gänsehaut.«

BAM ist ihre Abkürzung für »braves asiatisches Mädchen«. Das übliche Klischee eben. Oder Vorurteil. Und Sam will diesem Klischee auf keinen Fall entsprechen, deshalb läuft sie mit schwarz geschminkten Lippen und einer weiß gefärbten Strähne in ihrem dunklen Haar herum und sprudelt einfach alles heraus, was ihr in den Kopf kommt.

Ich protestiere: Ich will doch nur helfen. Ich frage: Siehst du nicht, wie viel Mühe sie sich gibt? Und: Ich verstehe nicht, warum du so sauer auf mich bist.

Aber natürlich sage ich nichts davon, weil mir die Worte im Hals stecken bleiben. Sam ist immer so wütend, und alles, was ich sage, bringt sie noch mehr auf die Palme.

Prompt verdreht sie wieder die Augen. »Na egal. Auf jeden Fall schaffst du es immer, mich als die Böse dastehen zu lassen, nur weil ich meine Meinung sage. Du kannst ruhig mal ein bisschen Staub aufwirbeln, finde ich.«

Sam wirbelt schon genug Staub auf, aber das scheint ihr nicht klar zu sein. Wenn ich da auch noch mitmache, ersticken wir darin.

Ich lausche dem Regen, der auf unser Dach trommelt, und lasse meine Hand über die Steppdecke gleiten. »Freust du dich gar nicht, dass wir hier sind? Du magst Halmoni doch.« Oder jedenfalls glaube ich das. Obwohl es in letzter Zeit nicht mehr viel gibt, was Sam gut findet. Außer ihrem Handy vielleicht.

Sie zuckt die Schultern. »Ich meine ja nur. Das Problem ist, dass ich jetzt hier leben muss, ohne Freunde, nur mit meiner Mom und meiner Großmutter. Toll, ehrlich.«

»Und mit deiner Schwester«, sage ich so leise, dass ich mich selbst kaum hören kann. Typisch BAM eben. »Ich bin auch noch da.«

So wie sie mich anfunkelt, liegt ihr bereits eine giftige Antwort auf der Zunge, aber meine Worte bremsen sie, und sie lässt die Schultern sinken.

»Ja«, sagt sie.

Es ist nur ein winziges Wort, aber sie sagt es so sanft, dass mir das Herz aufgeht. Wärme quillt heraus, strömt durch meinen ganzen Körper bis in die Zehen und Fingerspitzen.

»Ja«, wiederhole ich. Fast bin ich so weit, ihr von dem Tiger zu erzählen – auch wenn es vielleicht nur ein Traum, eine Vision oder ein Geist war.

Dann kracht die Tür unten auf. Halmoni ist nach Hause gekommen.

KAPITEL 4

Sie wirft die Tür zu, dass es scheppert, und schreit: »Hallo, Mädchen? Meine Mädchen wieder da, kommen mich besuchen?«

Ihre Stimme hallt bis in unser Dachzimmer hinauf, und ich renne zu ihr hinunter, meine Füße trommeln über die laute Treppe.

Halmoni ist dünner als beim letzten Mal. Ihre farbenprächtige Seidentunika und die weiße Hose sitzen viel lockerer an ihrem Körper. Ihre Ohrgehänge mit den funkelnden Steinen ruhen in der u-förmigen Mulde zwischen ihren Schlüsselbeinen, die tiefer ist als früher.

Trotzdem sieht sie toll aus mit ihren leuchtend roten Lippen, ihrer tiefschwarz gefärbten Dauerwelle. Sie hält vier Einkaufstüten im Arm, die alle bis zum Rand gefüllt sind.

Mom ist bereits an der Tür, in Halmonis Pyjama, und überschüttet sie mit Fragen. »Warum warst du nicht da? Warum bist du nicht ans Telefon gegangen? Hast du vergessen, was ich dir gesagt habe? Dass wir gegen sechs Uhr ankommen? Wir haben draußen vor verschlossener Tür gestanden! Und warum hast du so viel Essen gekauft? Das ist viel zu viel!«

Halmoni lacht nur. »Oh, meine Tochter, sooo naseweis!« Sie drückt Mom ihre Einkaufstüten und ihre imitierte Louis-Vuitton-Tasche in die Hände wie einem Butler.

Mom runzelt die Stirn, aber bevor sie protestieren kann, bemerkt Halmoni mich und breitet die Arme aus.

»Lily Bean!«, sagt sie. Ihr ganzes Gesicht leuchtet auf, und sie sieht so glücklich aus, dass mir die Luft wegbleibt. Ich stürze durch den Flur, um mich in ihre Arme zu werfen und ihre Liebe in mich aufzusaugen.

»Vorsicht.« Mom stellt Halmonis Tüten auf den Küchentisch und verschränkt die Arme. »Wirf deine Halmoni nicht gleich um!«

Halmoni schlingt ihre Arme ganz fest um mich und funkelt Mom über meinen Kopf hinweg an. »Pst, junge Dame. Lily wenigstens liebt mich!«

Mom seufzt. »Ich liebe dich auch. Deshalb sind wir hier.«

Halmoni ignoriert sie, legt ihre Hände auf meine Schultern und lehnt sich zurück, um mich zu begutachten. Schmunzelnd schaut sie auf meinen Pyjama. »Oh, was sehe ich? Du bist kleine Mini-Ich. So hübsch. So glänzend.«

Ich lache. »Glänzend?« Sam hat sich den glamourösen Pailletten-Pyjama geschnappt, nicht ich.

»Wie Sonne«, sagt Halmoni mit einem Augenzwinkern. Meine Großmutter ist der einzige Mensch auf der Welt, bei dem mein Unsichtbarkeitszauber nicht wirkt. Sie sieht mir immer direkt ins Herz.

»Halmoni«, sage ich, und mein Herz gerät ins Stolpern, als ich an den Tiger denke. »Ich muss dir was erzählen.«

Aber dann taucht Sam auf, tappt leise die knarzende Treppe herunter und wartet in der Küchentür.

»Und mein Mond«, sagt Halmoni und geht zu ihr.

Sam wird ganz steif, als Halmoni sie umarmt, aber nach ein paar Sekunden entspannt sie sich, schmiegt sich an sie und atmet ihren Geruch ein. Niemand kann Halmoni widerstehen, so wenig wie der Schwerkraft.

Halmoni weicht zurück und streichelt Sams weiße Haarsträhne. »So hübsch, deine Haare.«

»Nein«, sagt Mom. »Du darfst sie nicht auch noch darin bestärken. Das ist unnatürlich.«

Sam funkelt Mom an, und Halmoni zwirbelt die Strähne um ihre Finger. »Liegt in Familie. Ich habe das auch, als ich klein«, sagt sie und zwinkert Sam und mir zu.

Moms Stimme klingt gepresst. »Eine gebleichte Strähne ist nichts Genetisches.«

Halmoni würdigt sie keines Blickes. »Und so modisch. Sam sieht aus wie Rockstar.«

Sam grinst. Mom holt tief Luft.

Mom hasst die weiße Strähne, aber Sam lässt sich nicht davon abbringen. Angeblich kann sie nichts für die Farbe – ihr Haar ist an dieser Stelle von selbst weiß geworden, behauptet sie. Es ist ein ewiger Streitpunkt zwischen ihnen.

Halmoni dreht sich stirnrunzelnd zu Mom um. »Warum sind Haare von Mädchen so nass?«

Mom räuspert sich, während sie Halmonis Einkäufe wegräumt. »Das hab ich doch schon gesagt: Sie sind nass, weil wir im Regen draußen stehen mussten. Warum hast du nicht auf uns gewartet, wie du es versprochen hast? Ich musste auf meinen alten Fenstertrick zurückgreifen und hineinklettern … vor den Augen meiner Töchter!«

»Immer durch Fenster.« Halmoni dreht sich zu Sam und mir um und schnalzt mit der Zunge. »Sie geht rein, sie geht raus. Klettert sogar durch Dachfenster. Eure Mom war sehr heimliches Kind. So viel Ärger.«

Mom schnaubt, und Sam und ich wechseln einen Blick. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Mom aus dem Dachfenster geklettert ist – das ist viel zu hoch –, aber Halmoni übertreibt gern, und die Idee ist witzig.

Sam beißt sich auf die Lippe, und auch ich kann mir nur mühsam das Lachen verkneifen.

»Und außerdem sollst du nicht mehr fahren. Erst recht nicht im Regen«, fängt Mom wieder an. »Wenn du frische Lebensmittel brauchst, hättest du warten können, bis ich da bin. Du musst vorsichtiger sein, Mom. Du musst …«

»Tststs«, zischt Halmoni und hält einen Finger hoch. Sam und ich haben mal einen Hundetrainer im Fernsehen gesehen, der mit so einem Zischen aggressive Hunde bändigte.

Mom presst ihre Kiefer aufeinander, dann wechselt sie das Thema. »Und was ist mit dem ganzen Zeug dort? Warum lebst du so?« Sie deutet auf die aufgestapelten Kisten und Kartons vor der Kellertür.

Halmoni zuckt mit den Schultern. »Keller überschwemmt, also sind Sachen hochgekommen.«

Sam zieht eine Augenbraue hoch. »Soll das heißen, dass du das alles alleine hochgetragen hast?«

Halmoni dreht sich mit einem Augenzwinkern zu ihr um. Das ist typisch für sie. Überflüssige Fragen zu beantworten, hält sie nicht für nötig, und ich finde das in Ordnung.

Mom allerdings nicht. »Nein, im Ernst. Hast du das wirklich alles die Treppe raufgetragen? Du hättest stürzen können. Du …« Sie hält inne. »Wo soll ich denn jetzt schlafen?« Als wir das erste Mal bei Halmoni gewohnt haben, hat Mom im Keller geschlafen, eingekeilt zwischen Halmonis ganzem Krempel.

»Du schläfst im Wohnzimmer, auf Couch«, erwidert Halmoni, als wäre das keine große Sache.

Ich warte darauf, dass Mom protestiert, aber sie geht zu den Kartons hinüber. »Also gut, aber lass mich wenigstens das Zeug hier aus dem Weg räumen. Wir schieben es von der Kellertür weg, dann sehe ich mir den Schaden unten mal an. Sam, hilfst du mir?«

Sam starrt sie an.

Mom seufzt. »Lily?«

Ich will zu ihr gehen, aber Halmoni packt mich am Handgelenk und zieht mich zurück. »Nein, nein. Nicht wegtun das.«

Mom blinzelt. »Aber es ist doch im Weg.«

Halmoni schwenkt ihre Arme in der Luft, als wollte sie Moms Ärger fortwedeln. »Nein, nein. Heute kein guter Tag. Wenn ich Kartons wegmache, dann ist Glückstag. Aber heute ist gefährlicher Tag für Geister. Wie müssen anderen Tag nehmen.«

Ein gefährlicher Tag für Geister. Ich schlucke. Ich muss Halmoni unbedingt allein sprechen, um sie nach eventuellen Tigergeistern zu fragen.

»Sachen an ungünstigem Tag wegtun … sehr gefährlich. Und wenn Sachen kaputtgehen …« Halmoni schließt die Augen und schaudert, als dürfe sie sich das gar nicht ausmalen. »Oh, das ist sehr, sehr schlecht.«

Mom sieht aus, als würde sie sich innerlich die Haare raufen.

Sam zieht die Augenbrauen hoch und wirft mir einen Blick zu: Na bitte, da hast du’s. Dann weicht sie in den Gang zurück.

Der Streit ist nicht neu. Mom regt sich immer über Halmonis alte Bräuche auf, die sie unmöglich findet.

Zähneknirschend stößt sie hervor: »Das ist doch lächerlich. Was …«

Aber Halmoni zeigt mit dem Finger auf Mom und schneidet ihr das Wort ab. »Du bist nicht Mutter. Ich bin Mutter. Du stellst jetzt keine Fragen mehr, ja? Du gehst anziehen. Warum bist du in Pyjama?«

Mom öffnet den Mund, um zu protestieren, aber Halmoni klatscht in die Hände. »Ich mache Essen. Lily hilft mir.«

Nicht, dass ich »Hier« schreien würde, aber Halmoni hat eine Art, sich ihre eigene Welt zu schaffen, gegen die man nicht ankommt. Und es macht mir nichts aus, ihr ein bisschen zur Hand zu gehen.

Ich folge ihr zur Küchentheke, und Mom gibt sich vorerst geschlagen, was die Kartons betrifft. Sie schnappt sich Halmonis Regenmantel und stampft aus dem Haus, um unsere Koffer aus dem Auto zu holen.

Sam, die noch in der Tür steht, räuspert sich, und ich drehe mich zu ihr um. Sie zögert, als würde sie auf etwas warten, und ich forme stumm mit den Lippen: Ist schon gut. Geh rauf.

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