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Wenn der Hunger erwacht

hier erhältlich:

Der erste Band von Rhyannon Byrds faszinierend sinnlicher Fantasy-Saga: Als Ian Buchanan das Medium Molly trifft, erwacht ein unstillbarer Hunger in ihm!

Ian Buchanan hat das Unbekannte immer gefürchtet - die tiefe undurchdringliche Dunkelheit, die in seinem Inneren lebt. Aber er hat beschlossen, ein "normales" Leben zu führen, die beunruhigenden Träume zu ignorieren, in denen er sich seinem wildesten Verlangen hingibt. Bis ihn das Medium Molly Stratton aufspürt und erklärt, seine erotischen Albträume zu teilen - als Beweis zeigt sie ihm die Spuren seiner Zähne an ihrem Hals. Außerdem behauptet sie, Nachrichten von Ians toter Mutter zu empfangen: Ein Feind ist nah. Und die Kreatur in Ians Inneren wird erwachen. Eine Kreatur mit einem unstillbaren Hunger …


  • Erscheinungstag: 01.04.2011
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862780402
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Es wird noch Zeit sein, es wird noch Zeit sein.

Das passende Gesicht aufzusetzen für die Gesichter, denen du begegnest.

T.S. Eliot

Henning, Colorado, Freitagnachmittag

Diese Frau würde nichts als Ärger bedeuten.

Das war Ian Buchanan schon in der Sekunde klar, als er sie zum ersten Mal erblickte. Sie entstieg einem ziemlich mitgenommenen, von Staub bedeckten dunkelblauen Mietwagen. Er legte seinen Hammer hin und wusste es, während er beobachtete, wie sie auf ihn zukam. Vorsichtig bahnte sie sich ihren Weg durch das chaotische Gelände der Baustelle; ihre schmale Gestalt wurde dabei von der hinter ihr stehenden, drückend heißen Nachmittagssonne mit einem brennenden orangefarbenen Glühen umgeben.

Und gleich die ersten Worte, die aus diesem geschwungenen roten Mund kamen – die Lippen glänzten süß, die Stimme war sanft, aber mit einer gewissen rauen Heiserkeit, sehr sexy –, bestätigten alle seine Befürchtungen.

„Mr. Buchanan, mein Name ist Molly Stratton, und ich bin gekommen, um Ihnen … nun ja, ich weiß, das klingt völlig verrückt, aber Ihre Mutter Elaina hat mich gebeten, Sie zu finden.“

Sie lachte nicht, während sie das von sich gab. Lächelte nicht einmal. Sie blickte bloß mit den größten braunen Augen zu ihm auf, die er je gesehen hatte. Und wartete.

„Was Sie nicht sagen.“ Er ignorierte ihre kleine ausgestreckte Hand, schob sich die Sonnenbrille hoch ins Haar, griff nach der Bierflasche und nahm einen tiefen Schluck von seinem Coors. Der Glasrand der langhalsigen Flasche fühlte sich an seinen vom Schweiß salzigen Lippen kühl an, das Bier sogar noch kühler, als es langsam seine ausgetrocknete Kehle hinunterrann. Sie sah zu, wie er trank, die dunklen Augen auf seinen auf- und niederfahrenden Adamsapfel gerichtet. Ihre grazilen, von den Staubpartikeln wie mit Sommersprossen gefleckten Wangenknochen glühten leicht, die vollen Lippen waren ein ganz klein wenig geöffnet. Tief in Ians Bauch zog sich etwas zusammen. Das Blut floss ihm schwerer durch die Adern.

Na sicher, nichts als Ärger, schon klar.

Irritiert über sich selbst wegen dieser unmittelbaren Reaktion auf eine Frau, stellte er die Flasche mit deutlich vernehmbarem Aufschlag auf die Klappe der bejahrten Kühlbox und bekam aus den Augenwinkeln mit, wie sie bei dem lauten Geräusch zusammenzuckte.

Sie war nervös – und offenkundig völlig verrückt. Entweder das, oder sie war eine erbärmliche Betrügerin, die glaubte, ihn ganz leicht reinlegen zu können.

„Dann erzählen Sie mal, Schönheit“, ließ er gedehnt hören, wobei er gerade ausreichend Spott in seine tiefe Stimme legte. „Reden Sie öfter mit den Toten, oder ist das heute zufällig mein Glückstag?“

Sie strich sich eine Locke ihres windzerzausten Haars hinters linke Ohr und hielt seinem Blick stand, ohne im Geringsten mit diesen langen dicken Wimpern über dem dunklen Zimtbraun ihrer Augen zu zucken. „Das tue ich tatsächlich. Wie oft, liegt allerdings an ihnen … nicht an mir.“

Ian starrte sie bloß an, während diese merkwürdigen Worte durch sein Hirn hallten. Sie stand kaum einen Meter von ihm entfernt und blickte ihn auf eine gewisse Art an, die jeden Mann fesseln konnte; gleichzeitig schüchtern und direkt. Der heftige Wind, der von den Bergen Colorados herunterfegte, ruinierte ihre schulterlangen honigblonden Locken und wehte einen verführerischen Duft in seine Nase – und etwas Heißes rauschte durch sein Blut, wie ein inneres Brennen. Selbst ganz tief in seinem Inneren, in jenen vergessenen Regionen, wo alles immer ganz kühl und ruhig blieb … sogar leblos – wo nichts und niemand ihn noch berühren konnte –, spürte er einen unbehaglichen Funken aufflammenden Interesses.

Schnell klappte Ian die Sonnenbrille runter auf die Augen, ergriff den Hammer und machte sich wieder an die Arbeit, um die Mauer abzustützen, die er soeben errichtet hatte. Er sah sie nicht mehr an, aber er spürte sie noch, eine ganz feine Anspannung, die mit schnellem bebendem Rhythmus zwischen ihren Körpern hin und her vibrierte.

Was zum Teufel war das?

„Ich weiß, das klingt, als wäre es unmöglich“, fügte sie hinzu, „aber es ist die Wahrheit.“

Aber sicher, ganz bestimmt.

„Für Leute wie Sie, Miss Stratton, muss es doch Medikamente geben, oder?“, fragte er mit dick aufgetragenem Sarkasmus, entschlossen, einfach alles zu ignorieren … die Hitze … diese verwirrenden Schweißperlen, die unter der feuchten Baumwolle seines T-Shirts sein Rückgrat hinunterrannen. Ganz zu schweigen von dem unwillkommenen sexuellen Begehren, das kämpferisch in seinem Magen rumorte. „Was haben Sie denn angestellt, mal ‘ne Dosis ausgelassen?“

„Ich habe weder eine Psychose noch Realitätsverlust.“ Sie seufzte, klang erschöpft. Sogar lustlos. „Und ich bin auch nicht hinter Ihrem Geld her, oder …“

„Na prima“, lachte er und blickte sie mit schiefem Grinsen durch die dunkle Brille an, „ich hab nämlich keins. Ob Sie’s glauben oder nicht, aber ich hab mein letztes Geld für unsere hellseherischen Freunde verschleudert.“

Sie runzelte die Stirn, aber die Entschlossenheit verlieh ihren zarten Gesichtszügen einen Anschein von Härte, obwohl er instinktiv wusste, dass sie alles andere als hart war. Verrückt? Offensichtlich. Aber da war auch etwas Weiches und Verletzliches an ihr, das ihn unglaublich faszinierte.

Mensch, was war er mal wieder bescheuert.

„Hören Sie, mir ist klar, das alles muss Ihnen wie ein schlechter Scherz vorkommen, aber es liegt mir völlig fern, hier bei Ihnen eine Masche abzuziehen“, sagte sie leise, während sie nervös am untersten Knopf ihres Hemds herumspielte, direkt über dem Gürtel ihrer Jeans. „Ich habe es wirklich weder auf Ihr Geld noch auf sonst etwas abgesehen. Ich bitte Sie lediglich darum, sich anzuhören, was ich Ihnen zu sagen habe.“

„Tja, sehen Sie“, erwiderte er mit der typischen gedehnten Sprechweise des geborenen Südstaatlers, „das Problem ist bloß, ich bin nun mal ein solcher Arsch, dass ich nicht einmal dazu bereit bin.“ Er zeigte mit dem Hammer auf ihren Wagen, um klarzumachen, dass sie verschwinden sollte. Und zwar jetzt gleich. Bevor er schwach werden und vergessen könnte, wieso es gar keine gute Idee wäre, mit ihr ins Bett zu steigen. „Also, wieso schieben Sie Ihren verrückten kleinen Hintern nicht endlich aus Henning heraus, zurück dahin, wo immer Sie hergekommen sind.“

In ihrer Brust grummelte leise Verärgerung, worüber er trotz allem grinsen musste. Die Erkenntnis, dass dieses unschuldig wirkende Mädchen Temperament besaß, war durchaus erfrischend. Er ertappte sich bei der Frage, wie sie wohl aussehen mochte, wenn dieses leidenschaftliche Temperament ernsthaft in ihr loderte.

Der Schweiß, der ihm plötzlich auf die Stirn trat, hatte mit der Hitze, die in Wellen von dem glühenden Erdboden aufstieg, überhaupt nichts zu tun – sondern mit dieser geballten Ladung Weiblichkeit, die da vor ihm stand. Es war seine eigene Schuld, aber er hatte einfach schon zu lange keine Frau mehr gehabt. Kendra Wilcox interessierte ihn eigentlich überhaupt nicht mehr, aber jetzt wäre er bestimmt nicht so scharf gewesen, wenn er das einfach ignoriert und sie Anfang der Woche besucht hätte. Der Sex wäre dann mal wieder für eine Weile in den Hintergrund gerutscht und er hätte jetzt vielleicht nicht so stark auf dieses komische kleine Weibchen reagiert, das da vor ihm stand und von Gesprächen mit dem Geist seiner Mutter faselte.

„Hören Sie, Mr. Buchanan. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, diese ganze Sache einfach zu vergessen, dann würde ich das tun, glauben Sie mir. Aber unglücklicherweise gibt es diese Möglichkeit nicht. Ich habe keine andere Wahl, als zu erledigen, was ich zu erledigen habe, ganz egal, ob Sie sich nun wie ein arroganter Wichser oder wie ein Gentleman aufführen.“

Ian steckte sich einen Nagel in den Mund, drehte ihn zwischen den Lippen hin und her und hob eine Braue. „Sehr zum Leidwesen meiner Mutter habe ich mir aus dieser ganzen Südstaaten-Gentleman-Höflichkeit nie viel gemacht. Das fing schon an jenem schicksalsschweren Nachmittag im Kindergarten an, als ich einen Frosch in Sally Simpsons Schlüpfer steckte“, teilte er ihr mit und hämmerte den Nagel in die Wand. In seinem strahlenden Lächeln steckte keinerlei Bedauern über diese frühe Missetat; er zog ein diabolisches Vergnügen daraus, bei ihr auf die richtigen Knöpfe zu drücken. „Und seitdem bin ich kein Stück besser geworden.“

„Und Sie hören sich an, als wären Sie bemerkenswert stolz auf diese Tatsache.“ Ihre Stimme klang ein wenig herausfordernd, was das ärgerliche Begehren in seinen Eingeweiden noch verstärkte. Er hätte sich mit dem Hammer beinahe auf den Daumen gehauen. „Durch und durch ein Rebell.“

„Was Sie nun wirklich nicht überraschen sollte“, murmelte er leise. „Wenn Sie so viel mit meiner Mutter schwatzen, dann hat sie Sie doch bestimmt gewarnt, dass ich nun mal ein verfluchter Dickschädel bin. Sie verschwenden bloß Ihre Zeit, Molly.“

Sie blinzelte und wirkte merkwürdig überrascht, weil er sie mit dem Vornamen ansprach. Verflucht, wenn er bloß nicht wieder diese seltsame Anziehungskraft spüren würde, wie ein Elektroschock in der Luft zwischen ihnen. Das war ein viel zu intimes Gefühl. Er wusste selbst nicht, wieso er ihren Vornamen benutzt hatte, aber auf seinen Lippen hatte es sich unbestreitbar gut angefühlt.

„Mir war schon klar, dass Sie nicht besonders kooperativ sein würden, dazu hat sie mir genug erzählt“, antwortete Molly nach einer kurzen Pause. Der Wind wurde stärker. Unter dem weichen Stoff ihres schlichten weißen Hemds traten zwei reizende, runde und hochstehende Brüste hervor. „Dass Sie so reagieren würden, davor hat sie mich auch gewarnt.“

Durch die dunklen Gläser konnte sie Ians scharfen Blick nicht wahrnehmen, eine ebenso heftige Erwiderung schluckte er jedoch hinunter. Es war eigenartig, aber je mehr sie ihm zusetzte, desto stärker war sein Verlangen.

„Also, wir können uns einfach jetzt gleich unterhalten“, erhöhte sie fest entschlossen den Druck, sein Schweigen ausnutzend, „oder ich schleiche Tag und Nacht hinter Ihnen her, bis Sie endlich aufgeben und sich anhören, was ich zu sagen habe. Ihre Mutter wird mir keine Ruhe lassen, solange Sie dazu nicht bereit sind.“

Ian stützte sein ganzes Gewicht auf den einen Arm, hielt den Hammer in der anderen Hand und musterte sie. Musterte sie auf eine Art, wie ein Boxer seinen nächsten Gegner abschätzt. Sie klang völlig selbstsicher, aber ihre Körpersprache verriet etwas anderes. Die kleinen Einzelheiten fielen ihm auf, zum Beispiel wie sie ständig über ihre Unterlippe leckte, wie ihre linke Hand sich dauernd zur Faust ballte und wieder entkrampfte, während die rechte den Lederriemen ihrer Handtasche umklammerte, als sei er ein Rettungsseil. Das alles erzählte eine ganz andere Geschichte. Weiße Handknöchel. Verkrampftes Rückgrat. An ihrem blassen Hals war der flatternde Puls deutlich zu erkennen. Nervosität? Oder Angst? Oder sexuelle Erregung?

Was immer es sein mochte, Ian war plötzlich ganz gefesselt vom intimen Anblick ihrer pulsierenden Halsschlagader unter dieser weichen makellosen Haut. Sie wirkte so zart, so zerbrechlich, als könnte er ganz leicht seine Zähne darin versenken und tiefe Abdrücke hinterlassen. Ihr Blut schmecken. Dies alles war den Träumen, die er manchmal hatte, so verdammt nahe, dass er sich vor Angst beinahe in die Hose machte.

„Selbst wenn wahr wäre, was Sie da sagen und was ich nicht eine Sekunde lang glaube – was könnte meine Mutter denn von mir wollen?“, stieß er tief aus seiner Brust hervor; jeder Sarkasmus und Witz waren aus seinen Worten entwichen. „Sie ist jetzt seit fünf Monaten tot, und in den letzten sechzehn Jahren ihres Lebens haben wir kein Wort miteinander gewechselt. Sich jetzt plötzlich versöhnen zu wollen, das kommt mir ein bisschen spät vor.“

„Elaina bedauert zutiefst, all diese Jahre vergeudet zu haben.“ Mollys Gesichtsausdruck war derart ernsthaft, dass er überzeugt war, sie glaubte ihren eigenen Blödsinn wirklich. Lieber Gott, die war tatsächlich vollkommen durchgeknallt. „Trotzdem hat sie Kontakt mit mir aufgenommen, denn sie möchte unbedingt, dass Sie über bestimmte Dinge informiert werden. Sehr wichtige Dinge, die sie Ihnen hätte erklären sollen, als sie noch die Zeit dazu hatte. Aber zunächst …“ Sie unterbrach sich, und bei dem Blick in ihre großen braunen Augen hätte er am liebsten die Hand nach ihr ausgestreckt und – zum Teufel, Ian hatte nicht den blassesten Schimmer, was er dann getan hätte. Zum Glück musste er das auch nicht herausfinden, denn sie räusperte sich, fuhr sich ein weiteres Mal nervös mit der Zunge über die Unterlippe, und sagte leise: „Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber jemand, der Ihnen sehr nahesteht, befindet sich in großer Gefahr.“

Oh, Mist. Was für ein krankhaftes Spiel wollte diese Kuh mit ihm spielen? Was immer es sein mochte, ihm reichte es jetzt.

„Für den Fall, dass Sie irgendwas nicht mitbekommen haben sollten, Miss Stratton, werde ich es noch einmal schön langsam und deutlich für Sie wiederholen. Ich finde so eine Scheiße nicht lustig.“ Jedes einzelne Wort kam mit beißender Präzision über seine Lippen, seine tiefe Stimme klang hart und unnachgiebig, und als er die Brille abnahm und sie aus zusammengekniffenen Augen anstarrte, war sein Gesichtsausdruck sogar noch härter. „Und ich habe es schon damals überhaupt nicht lustig gefunden, als meine bescheuerte Mutter ihre Psychofritzen-Freunde an mir, meinem kleinen Bruder und meiner Schwester vorbeiparadieren ließ und uns dauernd in einen emotionalen Schwitzkasten nehmen wollte. Das ist jetzt die letzte Warnung: Steigen Sie wieder in diesen armseligen winzigen Mietwagen da und hauen Sie ab, zum Teufel.“

Molly verschränkte die Arme vor der Brust, als wolle sie sich damit vor seinem Zornesausbruch schützen, aber sie wich keinen Zentimeter zurück. „Glauben Sie mir, Mr. Buchanan. Ian. Mir macht das kein bisschen mehr Spaß als Ihnen, aber ich habe gegenüber Ihrer Mutter ein Versprechen abgegeben, und das werde ich halten. Ich weiß, sie hat Fehler gemacht, aber jetzt versucht sie, bestimmte Sachen wiedergutzumachen. Und wenn Sie nicht auf sie hören wollen – nicht auf mich hören wollen –, nicht auf uns hören wollen … dann wird es ganz sicher jemandem schlecht ergehen. Das spüre ich einfach.“

Warum in Gottes Namen muss ich immer auf Frauen fliegen, die einen an der Klatsche haben? verfluchte er sich leise selbst und fuhr sich so heftig durchs Haar, dass die Kopfhaut schmerzte. Muss mir in den verdammten Genen liegen.

Das war einer der Gründe, warum er Kendra nicht endgültig in die Wüste schickte – die schlichte Tatsache, dass sie so ganz anders war als die Frauen, mit denen er sich normalerweise einließ. Diese toughe Buchhalterin ließ sich irgendwelchen Blödsinn genauso wenig bieten wie Ian selbst, beide kriegten voneinander, was sie wollten, obwohl ihre gelegentlichen Treffen so ein nagendes Gefühl in seinem Bauch hinterließen. So eine innere Kälte. So ein … Begehren nach etwas anderem.

Sicher, das war nicht besonders toll – aber er hatte gelernt, damit zu leben.

„Wie ich sagte, meine Mutter ist vor fünf Monaten gestorben. Und jetzt verschwinden Sie von meinem Grundstück. Das hier ist Privatbesitz, den Sie unbefugt betreten.“

Er konnte sehen, wie ihre Lippen hart wurden. Dann straffte sie ihre grazilen schmalen Schultern, voller Entschlossenheit in jedem Winkel ihres weichen, weiblichen Körpers. „Nein.“

Ian legte den Hammer hin und erhob sich zu seiner vollen Größe, in der Erwartung, sie würde sich endlich umdrehen und schnellstmöglich verschwinden. Er war über eins neunzig groß und breit gebaut und besaß genug Muskeln, dass die meisten Leute sich lieber nicht mit ihm einlassen wollten. Mit seinem finstersten Gesichtsausdruck hielt er ihrem Blick stand, Feindseligkeit und Wildheit in den Augen. Als er endlich sprach, hatten seine Worte einen tiefen, rauen Klang, von dem er sich sofortige Resultate versprach.

„Nein? Wie soll ich das verstehen?“

Wie sollte er das verstehen? Sie hatte selber nicht die geringste Ahnung.

Du bist wahnsinnig, Molly. Eindeutig verrückt.

Wie soll man auch erklären, dass es nicht nur Geister gibt, sondern auch das reine, markerschütternde Böse?

Wie soll man die Existenz der Hölle auf Erden erklären … oder die Tatsache, dass im Verborgenen tatsächlich Monster lauern?

Dass einen ständig irgendetwas von hinten beobachtet?

Dass wir, die Menschen, nicht länger allein sind?

Wie soll man jemandem verständlich machen, dass seinem ganzen Leben, seiner Welt ein Umbruch bevorsteht und dass danach alles nie wieder so sein wird wie zuvor?

Molly wusste es nicht – sie hatte keine Antworten auf diese Fragen. Sie war nur der Überbringer schlechter Nachrichten, nicht ihr Ursprung, und ihr fiel das alte Sprichwort ein: Der Überbringer schlechter Nachrichten wird als Erster geköpft.

Genau das traute sie diesem Ian Buchanan zu. Sie fühlte sich wie betäubt, und sie wusste auch, wieso. Es war beschämend, aber die schiere physische Präsenz dieses Mannes ließ sie kaum noch klar denken. Er war … sie suchte nach einem passenden Wort für diese anziehende, harte und kantige männliche Kraft und Arroganz, fand aber keins. Elaina hatte sie davor gewarnt, dass er äußerst misstrauisch sein würde, aber sie hatte nicht erwähnt, wie verbittert er war. Oder wie gut aussehend. Trotz seiner groben Ungehobeltheit war der Kerl ein wandelndes und sprechendes Musterexemplar der verborgenen Fantasie jeder Frau vom „Bad Boy“.

Schön, dunkel und verlockend war er genau das, was Molly sich immer unter einem richtigen Mann vorgestellt hatte; aber sie war noch nie einem begegnet. Harte, kantige Gesichtszüge. Tiefschwarzes Haar, dicht, gesund und vom Wind zerzaust. Und diese Augen, vom abgrundtiefen Blau des Ozeans. Sie attraktiv zu nennen, wäre der blanke Hohn. In ihnen loderte ein Feuer. Eine gefährliche Intensität, die sie innerlich erschauern ließ. Ihr den Atem raubte. Als ob die Luft um sie herum ein Eigenleben hätte, knisternd vor Elektrizität.

Das ist alles hundsmiserabel, Molly. Krieg dich endlich in den Griff.

„Ich kann Ihnen keinen Beweis vorlegen, Ian“, sagte sie, und die Verzweiflung in ihren Worten war für sie selbst kaum zu ertragen. „Aber wenn Sie mich nicht anhören und mir nicht helfen wollen, dann wird jemand sterben. Und zwar jemand, der Ihnen sehr am Herzen liegt.“

„Ich habe keine Ahnung, was Sie hier abziehen, aber es wird nicht funktionieren. Jeder, der mich kennt, wird Ihnen sagen, dass es keinen Menschen gibt, der mich auch nur einen Scheiß kümmert. Kein Mensch, außer mir selbst.“

„Das glaube ich Ihnen nicht“, widersprach sie. „Nicht nach alldem, was mir Ihre Mutter über Sie erzählt hat.“

Er lächelte kühl. Offensichtlich glaubte er kein Wort von dem, was sie sagte. „Wenn Sie einen Trottel für irgendein fruchtloses Unterfangen suchen, versuchen Sie’s bei einem anderen Spinner, aber lassen mich damit in Ruhe. Schauen Sie doch mal bei unserem hiesigen Sheriff vorbei. Ich kann Ihnen garantieren, dass der bei Ihrem Anblick aus den Latschen kippt, Schätzchen. Sie sind genau der Typ, auf den der heilige Riley fliegt. Er wird ganz begeistert sein, Ihnen dabei zu helfen, die Welt zu retten.“

„Verflucht noch mal, hier geht es nicht um …“

Als er an ihr vorbeigehen wollte, griff sie nach seinem Arm, merkte aber sofort, dass das ein Fehler war. Er blickte zu ihr herab, das wütende Blau seiner Augen, so feindselig und gewalttätig und seltsam erregend, schien sie zu durchdringen.

Die Worte sprudelten aus ihrem Mund, ohne dass ihr Gehirn beteiligt war. „Sie sagte, wenn die Finsternis ruft …“

Ian verkrampfte sich so plötzlich, dass ihr die Stimme versagte. Aber sie wusste, sie hatte einen Nerv getroffen. Seine Muskeln unter ihrer Hand waren heiß und stahlhart – der Bizeps starr vor Wut … und vor etwas, für das sie keine Worte hatte. Tief durchatmend, wiederholte Molly die Worte, die Elaina ihr aufgetragen hatte. „Ihre Mutter sagte, wenn die Finsternis ruft, dann werden Sie Bescheid wissen. Dann werden Sie herausfinden …“

„Nein.“ Seine Lippen bewegte sich fast nicht, als er die Wörter hervorstieß. „Unter keinen Umständen.“

In stummem Flehen starrte Molly zu ihm auf und versuchte, sich nicht in diesen fiebernden blauen Augen zu verlieren. „Sie möchte, dass ich es Ihnen erkläre, Ian. Ich soll Ihnen all das erklären, was sie Ihnen damals hätte erzählen sollen. Die Warnungen, die sie Ihnen hätte geben müssen, bevor Sie von zu Hause weggingen. Ich bitte Sie, hören Sie mir doch einfach nur zu!“

„Sie finden ja sicher Ihren Weg zurück“, knurrte er und riss sich mit geradezu lächerlicher Leichtigkeit von ihr los. „Und lassen Sie mich verdammt noch mal in Ruhe.“

Eine Sekunde später knallte er schon die Tür seines Kleinlasters zu, jagte den Motor hoch und ließ sie einfach in der Staubwolke stehen, die die Reifen aufwirbelten.

Als er einen letzten Blick in den Rückspiegel warf, stand sie immer noch reglos da, ganz allein … Molly sah einfach nur zu, wie er versuchte, vor etwas zu flüchten, dem er doch nicht ausweichen konnte. Das wusste sie genau.

Denn es war eine der elementaren Wahrheiten des Universums. Auf jeden Tag würde eine Nacht folgen. Auf jeden Frühling ein Sommer. Immer würde jedes Leben mit dem Tod enden. Und so sehr man es auch versucht, man kann niemals vor etwas davonlaufen, das bereits Teil von einem ist. Diese Lektion hatte sie selbst unter Qualen lernen müssen.

Ob er ihr nun glaubte oder nicht … sie anhörte oder nicht … eins wusste Molly mit absoluter, unwiderlegbarer Sicherheit: Ian Buchanan war schließlich von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt worden.

2. KAPITEL

Zur Mitternachtsstunde

Kendra Wilcox’ Mutter hatte sie immer davor gewarnt, sich mit fremden Männern einzulassen. Besonders mit attraktiven Männern. Zu schön, um wahr zu sein. Aber dieser Fremde, den sie in der Bar getroffen hatte, der war nun mal die beste Gelegenheit, endlich über Ian Buchanan hinwegzukommen, und zwar ein für alle Mal. Den würde sie auf keinen Fall zurückweisen.

Stundenlang hatte sie gewartet, aber Ian war nicht aufgetaucht zu ihrem üblichen fröhlichen Bettscharmützel am Freitag in der Nacht. Und jetzt war sie sauer genug, um jede Rücksicht auf ihn über Bord zu werfen. Nicht, dass sie sich überhaupt irgendwas aus Ian Buchanan machte, versicherte sie sich stumm, wohl wissend, dass es eine Lüge war. Dieses verfluchte Schwein hatte sich irgendwie an ihren Barrieren vorbeigemogelt, und sie wusste von Anfang an, dass sie am Ende leiden würde. Mist, sie litt ja jetzt schon.

Also brauchte sie das jetzt. Und zwar heute Nacht. Sie musste sich Ian aus dem Verstand vögeln, aus welchem Grunde sie nun mit runtergekurbeltem Fenster die Straße hinunterraste, während der Mitternachtswind ihr durchs Haar pfiff… und zwar im Wagen eines anderen Mannes.

Dieser große und verflucht attraktive Blonde würde die perfekte Kur für ihre Schmerzen sein. Und wenn Ian hinterher davon erfuhr, umso besser. Sein himmelschreiendes Ego konnte wirklich mal eine Delle vertragen. Oder zwei.

Kendra wandte sich dem Fremden auf dem Fahrersitz zu, lächelte ihn an und erinnerte sich, wie er sie in der Bar gefragt hatte, ob sie gern mitkommen würde, hinaus ins Mondlicht, unter den Sternenhimmel, wo sie schreien konnte so laut sie wollte, wenn sie kam – und er hatte ihr versprochen, sie würde kommen, heftiger und öfter als je zuvor in ihrem Leben. Es würde Ian nur recht geschehen, wenn sich ein anderer Mann ihrer sexuellen Begierden annahm. Sie konnte nur hoffen, dass er wirklich hielt, was er versprochen hatte.

Ein paar Meilen außerhalb der Stadt bogen sie auf eine Wiese mit hohem Gras und stoppten. Er kam um den Wagen herum zu ihrer Tür, ergriff ihre Hand und führte sie hinaus ins offene frische Grün. Sie fühlte sich wild und verdorben wie die Nacht, die vielen Tequila, die sie vorhin zusammen mit ihm in der Bar heruntergestürzt hatte, machten ihren Kopf ganz schummrig. Ihr Mund war ausgetrocknet.

Der große blonde Adonis lächelte sie an, seine eisblauen Augen glänzten hell und köstlich verrucht im silbernen Mondlicht, in das ihre Körper getaucht waren. Ihre Nase nahm den fruchtbaren Duft des Waldes, des feuchten Rasens unter ihren Füßen und seiner maskulinen Wärme voller Erregung auf. Seine Haut war so heiß, fast als hätte er Fieber, seine Hand brannte an ihrer Schulter.

„Magst du es grob, Kendra?“

„Oh ja“, lallte sie und streckte ihm ihre Brust entgegen, damit er ihre Brustwarzen deutlich unter dem dünnen Stoff ihres Tank Tops erkennen konnte. „Je gröber, desto besser.“

Ein tiefes Lachen kam aus seiner Brust. Er packte das dünne Top, riss es entzwei, und sie japste nach Luft. Dann beugte er sich vor und umschloss eine nackte Brustwarze mit der elektrisierenden Hitze seiner Lippen. Zwischen ihren Beinen wurde es warm und feucht und bereit für das süße Spiel. Oh ja, dieser Bursche würde eine süße Rache für Buchanan sein. Sie hoffte, er würde der ganzen Stadt von heute Nacht erzählen. Hoffte, Ian würde brühwarm mitkriegen, wie wild sie diesen tollen Fremden im diesigen Mondlicht zugeritten hatte.

Seine Zähne naschten an ihrer Haut, ließen sie erschauern, und sie wollte seinen Namen ausrufen … aber da war nur Leere in ihrem Hirn.

Ach du Scheiße! Sie konnte sich nicht an seinen Namen erinnern! Der Gedanke kam Kendra plötzlich zum Brüllen komisch vor, sie ließ ein unpassendes Kichern hören, was ihn, an ihrer Brust, zum Grinsen brachte. Oh Mann … ihre Mutter wäre sicher begeistert, wenn sie wüsste, dass da ein Mann, an dessen Name sie sich nicht erinnern konnte, gerade seine heißen Lippen auf ihre nackte Haut presste, sich von ihren Brüsten nach oben zu ihrem Hals küsste.

„Sag mir, wie sehr du es brauchst“, flüsterte er und biss in ihre Schulter, dass ihr Blut raste.

Als Antwort griff sie nach der Ausbuchtung in seiner Jeans, und er ließ ein leises Lachen hören.

„Fleh mich an, Schätzchen. Ich liebe es, wenn eine Frau mich darum anfleht.“ Sein Atem glitt über ihre Kehle, seine Hände umfassten ihren Hintern, seine Finger bearbeiteten sie durch die Jeans. „Fleh mich an, dich zum Schreien zu bringen.“

„Bitte“, keuchte sie, den Kopf zurückgelehnt, damit er besser an ihren Hals käme. Das plötzliche Warnlicht in ihren Gedanken, dass irgendetwas nicht ganz stimmte … das ignorierte sie einfach.

Einfach mitmachen, Kendra. Er lässt dich vergessen. Alles vergessen. Ian … vergessen.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, drückte er seine Stirn gegen ihre und flüsterte: „Keine Angst, Kendra. Wenn ich heute Nacht mit dir fertig bin, wird für Buchanan nichts mehr übrig sein.“

Sie hob den Kopf, um ihn anzusehen, und mit einem Mal blieb ihr die Luft weg. Irgendwas an seinem Gesicht schien … das konnte sie nicht sagen. Anders zu sein. Sie blinzelte mit schweren Lidern, wollte ihn wieder klar und deutlich sehen, aber ihre Augen spielten nicht mit. Er hob eine Hand, umfasste ihre Wange, sein Daumen strich zärtlich … so unfassbar zärtlich über ihren Mundwinkel. Sie spürte nichts mehr außer seiner Berührung. Es war eine ehrerbietige Berührung. Wie die eines Anbeters – und plötzlich wurde ihr klar, dass Ian sie in all der Zeit noch nie so berührt hatte. Als wäre sie für ihn etwas ganz Besonderes. Ihre Unterlippe zitterte. Sie seufzte, sie zerfloss, ganz verloren in der glühenden Hitze des Blickes dieses Fremden.

Und dann lächelte er.

Der Schwung seiner Lippen war so unglaublich schön, dass ihre Tequila-umnebelten Gedanken eine Weile brauchten, bis sie realisierte, was er da gerade gesagt hatte.

Buchanan! Was zum …? Woher konnte dieser Fremde – dieser Neuling hier oben in den Bergen – überhaupt etwas von ihr und Ian wissen?

„Woher …“

„Sch …“, wisperte er und drückte seine Hand auf ihren Mund. „Für Fragen haben wir jetzt keine Zeit.“

Er gab ein raues Lachen von sich, und Kendra beobachtete voller Entsetzen, wie sein Gesicht sich unter der Haut neu zusammenzusetzen schien. Ein Plopp war zu hören, dann ein Klacken, dann das erschreckende Geräusch eines wieder einschnappenden Gelenks.

Voller Panik wollte sie wegrennen, aber sie stolperte. Sofort war er auf ihr, das Gewicht seiner Muskeln drückte sie in den feuchten Boden.

„Das ist ein Mädchen für mich“, murmelte er vor sich hin, schleuderte sie auf den Rücken und hielt ihre Hände über ihrem Kopf mit einer Leichtigkeit fest, die sie ebenso einschüchterte wie entsetzte. Aus weit aufgerissenen, brennenden Augen sah sie seinem entstellten Gesicht an, was er vorhatte, und ein erstickter Ton entrang sich ihrer Kehle. Ein trockener Schrei, irgendwo zwischen einem Schluchzen und einem Wimmern. „Keine Zeit für Spielchen“, flüsterte er. „Nur noch Zeit zu sterben.“

Und er meinte es todernst.

Alles was danach geschah, nahm sie nur noch bruchstückhaft wahr – das Bewusstsein zerschmettert von Entsetzen und Unglauben und unbeschreiblichem Schmerz. Sie wollte schreien, aber dazu war ihr Verstand zu benommen. Sie wollte sich wehren, aber ihr Körper lag einfach nur da auf dem mit Blut getränkten Boden, zerbrochen und schwach.

Sie wollte dieses Schwein in Stücke reißen, genauso wie er sie in Stücke riss – und wusste doch, wie hoffnungslos der Gedanke war.

Er hatte sie aufgeschlitzt; tiefe Schnitte in ihrem Bauch … ihrer Brust? Sie hatte keine Ahnung; es tat überall weh. Sogar tief in ihr drin, als er brutal in sie eindrang. Alles verblasste – das Leuchten der Sterne am Himmel, das Zirpen der Grashüpfer, der volle Pinienduft der Bäume – bis es zu einem Nichts verstümmelte. Nichts – außer den unendlichen Wellen von Schmerz, durch die alles schwarz und hässlich wurde.

Sie dachte an Ian, und ihr wurde klar, wie dumm sie gewesen war.

Aber ihr letzter Gedanke, als er seine Zähne tief in ihren Hals grub, galt ihrer Mutter: Hatte sie also doch recht gehabt.

Dann dachte Kendra Wilcox nichts mehr.

3. KAPITEL

Samstag, drei Uhr morgens

Ian träumte von zu Hause. Als er jung war. Träumte vom tiefen Süden im Spätherbst. Es war derselbe merkwürdige Traum, den er immer hatte, seit er mit sechzehn von zu Hause fortgelaufen war. Er hockte mit seiner kleinen Familie vor einem knisternden Ofen. Das Abendessen köchelte vor sich hin und füllte das verwitterte Haus mit dem Duft von Bohnen und Maisbrot, während der junge Riley auf dem abgenutzten Teppich lümmelte und die kleine Saige auf dem Schoß ihrer Mutter saß und um eine weitere Geschichte über ihre Vorfahren bettelte.

„Vor vielen, vielen Jahren“, hob seine Mutter murmelnd an, „bevor dieses Land überhaupt entdeckt worden war, wandelten unsere Vorfahren auf dieser Erde, aber sie waren nicht wie wir …“

„Sie waren Merrick, nicht wahr?“, unterbrach Saige und hopste vor Aufregung beinahe auf und ab.

„Ja, Süße“, antwortete seine Mutter lächelnd, „das waren sie ganz bestimmt.“

„Und sie waren die Allergrößten, oder?“, ergänzte sein Bruder grinsend.

Seine Mutter zwinkerte Riley zu. „Das waren sie.“

„Bis der Casus sie alle massakriert hat“, warf Ian trocken ein, der vor dem Ofen auf dem Boden hockte. Er schlang seine dünnen Ärmchen um seine aufgeschürften Knie; seine Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen, von dem seine Mutter immer sagte, es wäre viel zu verächtlich für einen Zwölfjährigen.

„Das stimmt nicht!“, protestierte Saige und streckte ihm die Zunge raus.

„Ach ja? Und wieso, glaubst du, sind sie dann alle tot?“

„Aber sie sind doch gar nicht alle tot“, sagte seine Mutter leise, und alle drei drehten die Köpfe zu ihr, mit großen, neugierigen und unsicheren Augen. Das war eine seltsame Wendung; bisher hatten ihre Geschichten diese Richtung noch nie eingeschlagen. Nicht ein einziges Mal, in all den zahllosen Wiederholungen.

„Was meinst du damit, sie sind nicht alle tot?“, fragte er ruhig, obwohl seine Worte kämpferisch und scharf die Stille des Hauses durchdrangen. Als ein Holzklotz im Ofen knackte, das feuchte Holz platzte, musste er den Drang unterdrücken, zusammenzuzucken.

Die schmalen Brauen ihrer Mutter hoben sich zur von Sorgenfalten bedeckten Stirn. „Habe ich je gesagt, sie wären tot?“

„Aber wenn sie nicht tot sind“, seine Augen waren schmal vor Misstrauen, „wo sind sie denn dann?“

„Direkt vor deiner Nase“, erklärte sie mit einem Lächeln, bei dem ihm ganz schlecht wurde. Sie hielt seinem Blick stand, ihre Mundwinkel verzogen sich nur ein ganzes kleines bisschen – das tiefe Blau ihrer Augen wurde von einem seltsamen Glühen erwärmt. „Und eines Tages, wenn das Dunkle nach dir ruft“, flüsterte sie so leise, dass er ihre Worte kaum verstehen konnte, „wenn du es in deinen Knochen spüren kannst, durch deine Venen rasen fühlst, in deinem Herzschlag – wenn deine Träume nicht mehr dir selbst gehören, Ian –, dann wirst du ihm begegnen.“

Gefangen in diesem beklemmenden Traum starrte Ian seine Mutter an, bis das Traumbild undeutlich wurde, der Umriss ihres Körpers vor der undurchdringlichen Finsternis kaum noch zu erkennen war. Er wusste, was als Nächstes passieren würde – aber er konnte einfach nicht verhindern, dass dieser ständig wiederkehrende Traum sich in einen blutigen Albtraum verwandelte. In seiner Brust hob ein wildes, ungezähmtes Grollen an, das ihm in der Kehle wehtat, der ganze Körper schmerzte, jeder Muskel verkrampfte sich in qualvoller Anspannung.

Er wälzte sich unter der schweißdurchtränkten Decke hin und her, wollte den erdrückenden Schlaf von sich werfen, aber es gelang ihm nicht, als ob der Traum seinen Körper gefangen hielt wie warmer feuchter Zement, der um ihn herum kalt und hart wurde. Wütend knirschte er mit den Zähnen, aber der Traum ging immer weiter, wie ein Film in Endlosschleife.

Jetzt veränderte sich der Traum … zog ihn immer tiefer hinab … in dunklere, trügerischere Gewässer, Gefahr lauerte in den schlammigen Tiefen unter seinen Füßen. Verschwunden war das Heim seiner Kindheit, mitsamt seiner Mutter, seiner sommersprossigen Schwester Saige und seinem dürren, nervtötenden Bruder Riley. Jetzt füllte der reife Duft des Waldes seinen Kopf, feuchte Nachtluft war um ihn herum, beklemmend und düster und viel zu nah. Mitternächtliche Schwärze lastete schwer auf ihm, sein Magen zog sich vor Anspannung immer mehr zusammen … und dann konnte er es sehen. Das flackernde Glimmen eines Lagerfeuers in einiger Entfernung, die zuckenden Flammen durch die unheilvolle Dunkelheit kaum erkennbar. Wind kam auf, er brachte einen satten, provozierenden Geruch von Paarung mit sich, gleichzeitig wurde die unnatürliche Stille des Waldes plötzlich vom düster pulsierenden Rhythmus einer Musik erfüllt.

Er stand schweigend und reglos da und war sich des langsamen, schweren Hämmerns seines Herzens voll bewusst, des intensiven Brodelns seines Blutes, das durch seinen verkrampften, starren Körper raste. Seine Hände verkrümmten sich, die Fingerspitzen brannten wie heiße Nägel auf seiner Haut, ungezügelter Heißhunger schwappte wie eine mächtige Welle durch ihn hindurch und konzentrierte sich auf sein Geschlecht. Er holte tief Luft und spürte, wie sein Körper auf irgendeine aberwitzige metaphysische Art geradezu aufbrach und sich irgendetwas ganz tief aus seinem Inneren in ihm breitmachte, unter seiner fiebrigen Haut zum Leben erwachte. Etwas, das sich in dem Netz der Finsternis um ihn herum wie zu Hause fühlte. Alle seine Sinne wurden schärfer, räuberisch, sein Körper stärker, die Muskeln schwollen unter der brennenden Haut an, und primitive, animalische Gelüste verlangten ihr Recht.

Sein Körper antwortete auf den lockenden Ruf des Dunklen.

Plötzlich war er nackt und spürte warmen Wind auf der Haut. Spürte feuchte Luft in der Lunge, fruchtbaren Boden unter den Füßen, viel zu viele Gerüche stürmten auf ihn ein. Die Einzelheiten überwältigten ihn, kämpften um die Vorherrschaft in seinem Gehirn, bis ein bestimmter Drang alles andere überwand und dominierte.

Der Trieb zu jagen.

Die Nase in den Wind gereckt, schnüffelte er nach dem, was er begehrte, damit er es jagen und reißen konnte. Seine Nüstern blähten sich auf, sein geschärfter Verstand verarbeitete rasend schnell all die sinnlichen Geruchsinformationen, und dann entdeckte er es.

Ja, fauchte die Kreatur, die in ihm steckte, mit tierischer Befriedigung. Genau da.

Die Veränderung seines Wesens war beinahe vollständig. Irgendein Teil von ihm kämpfte dagegen an, aber das erbarmungslose Verlangen war stärker. Explosionsartig stürmte er los, die Lunge bebte, seine Beine besaßen eine übernatürliche Kraft. Er raste durch dichtes Gestrüpp, Blätter und Zweige schlugen ihm ins Gesicht, auf Arme und Beine und hinterließen blutige Kratzer … und er wusste genau, was jetzt passieren würde.

Diesen Albtraum hatte er jetzt schon seit Wochen. Und jedes Mal zerriss er etwas in ihm, schnitt ein bisschen tiefer in ihn ein.

Nein!, brüllte Ian aus den dunkelsten Tiefen seiner bewusstlosen Psyche, während der Traum weiterging und jede Sekunde ihn noch mehr anekelte als die letzte. Verdammt noch mal! Nein! Wach auf! Aufwachen, du Idiot! Wach auf!

Aber er schaffte es nicht. Nein, die finstere Gier in seinen Eingeweiden war einfach zu stark, wollte es zu sehr – brauchte es unbedingt –, und ein hässliches, perverses Gefühl bemächtigte sich seiner Gedanken. Scham. Bitter, widerlich und überwältigend. Aber die sündigen Gelüste waren trotzdem zu stark, um etwas dagegen tun zu können.

Es war hier irgendwo, und er musste es unbedingt kriegen.

Ian drosch im Schlaf auf das durchweichte Bettlaken ein, schweißgebadet und schmerzverzerrt wollte er sich aus der verfluchten Umklammerung dieses Albtraums befreien. Aber seine Klauen hielten ihn eisern in ihrer Gewalt. Genau wie bei all den anderen Träumen. Er sah sich selbst, wie er aus dem Unterholz brach und mitten hinein in eine Gruppe Zigeuner stürmte, die um das Lagerfeuer tanzten. Er sah das schnelle, sinnliche Herumwirbeln der Tänzerinnen um die lodernden Flammen, die bunten Stoffe ihrer Röcke flatterten im Wind, während sie ihre wilden Locken schüttelten. In den dunklen Ecken des Lagers wälzten sich ekstatische Paare, und der satte, moschusartige Geruch von Sex erfüllte die Luft, als die pulsierende Musik lauter wurde. Die Tänzerinnen bewegten sich immer schneller um das Feuer herum, klatschten in die Hände und stampften mit den Füßen, sangen und lachten in ihrem wüsten Gelage.

Und unter der Musik summte jetzt ein leiser, unheimlicher Sprechgesang. Tief und heiser klang es wie Merrick … Merrick … Merrick.

Sie wussten, dass er hier war. Dunkle schlehenartige Augen glitten zärtlich über ihn hinweg, rubinrote Lippen verzogen sich katzenhaft zu einem einladenden Lächeln. Er konnte nicht widerstehen. Er griff nach der ersten, die es wagte, ihm tanzend zu nahe zu kommen, und riss sie gleich an Ort und Stelle zu Boden, ohne sich um die sengenden Blicke der anderen zu kümmern.

Ihre Kleider waren in wenigen Sekunden zerfetzt. Dann nahm er sie genauso wie in jedem Traum, er spreizte ihre langen Beine, drang durch die schlüpfrige Pforte ein, die ebenholzschwarzen Locken darüber glitzerten vor Feuchtigkeit, und er rammte sie förmlich in den harten Waldboden.

Ian umklammerte das Laken mit den Fäusten, bis der Stoff zerriss, den ganzen Körper auf der Matratze durchgedrückt, sein ganzes Gewicht ruhte einzig und allein auf seinem Kopf und seinen Fersen – und in seinem Traum gruben sich seine Hände in die Erde, mit heißem Blick versenkte er sich in das keuchende dunkelhaarige Mädchen. Er nahm sie mit einer Brutalität, die ihn selbst schockierte, aber trotzdem konnte er nicht tief genug vordringen, es war, als ob er etwas von ihr wollte, das sie nicht geben konnte. Die Begierde raste durch seine Venen, wildes Knurren drang aus seiner Kehle, animalisch und räuberisch, aber sie hatte gar keine Angst vor ihm. Scharfe Nägel zerkratzten seine Haut, ihr wollüstiger Körper bäumte sich unter ihm auf, stöhnend flehte sie nach mehr, mehr – während die anderen um sie herumstanden und sie anfeuerten. Die Musik wurde lauter … anschwellend mit jedem pulsierenden Rhythmus, bis sein Schädel davon dröhnte.

Wie auf der Suche wollte er noch tiefer in ihr williges Fleisch eindringen … wohl wissend, dass seine Größe ihr wehtat, aber er konnte einfach nicht finden, wonach ihn verlangte. Wütend fletschte er die Zähne, riss den Kopf hoch, ein tierisches Brüllen kam aus seiner Brust, der verzweifelte Schrei schnitt durch die Musik und das raue Gelächter. Er kniff die Augen zusammen, die Sehnen an seinem Hals traten hervor, an seinen Schläfen hämmerte es. Sein Herz schlug wild, als wolle es explodieren … immer stärker und stärker und stärker. Und dann fühlte er es.

Irgendetwas … war anders. Etwas, das in seinen fürchterlichsten Albträumen bisher noch nicht vorgekommen war.

Eine Hand berührte ganz leicht, fast schüchtern seine Brust, direkt über dem qualvollen Schlag seines Herzens. Ian hielt inne, wurde sich bewusst, dass der Körper unter ihm sich ganz köstlich verändert hatte, sein harter Schwanz steckte tief in einer engen heißen Höhle, die ihn so fest umschmiegte, dass es beinahe wehtat.

Er schluckte, seine Augen brannten vor Schweiß, als er den Kopf senkte und die Frau anstarrte, die jetzt unter ihm lag. Die Zigeunerin war weg, an ihre Stelle war eine kleine hübsche Blondine getreten, die mit großen braunen Augen zu ihm aufblickte.

Zur Hölle. Sie war es. Molly. In seiner Brust rastete etwas aus, alles zog sich in ihm zusammen. Er wagte nicht zu atmen oder zu blinzeln oder zu sprechen, aus lauter Angst, er könnte den Bann brechen und sie verlieren. Das konnte er nicht zulassen. Nein, auf einmal war es das Wichtigste auf der Welt, diesen Traum mit aller Macht festzuhalten.

Diese Frau festzuhalten.

Während ihm das Blut in den Ohren rauschte, sorgte Ian dafür, dass jeder Zentimeter von ihm tief in ihr vergraben war, sein Schaft an ihrer heiß pulsierenden Perle rieb. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck und Überraschung und jenem verschleierten Schmerz, der nur im Blick jener Frauen lag, die gerade gründlich genommen wurden. Ein seltsamer, verführerischer Schmerz, durch die Lust noch verstärkt. Ihre Lippen öffneten sich, und er las von ihnen das Wort ab, das ihr stumm aus dem Mund kam.

„Ian.“

Sie wusste es. Sie wusste, wer er war. Wusste, dass er es war, der in sie eindrang, sie an den Boden pfählte.

Er hätte sie gern angelächelt, ihr mit seinen mit Schmutz bedeckten Händen übers Gesicht und über ihre pulsierende Halsschlagader gestrichen, er hätte ihr gern gesagt, dass alles in Ordnung war und er ihr nicht wehtun würde, aber er brachte die Worte nicht hervor. Sein Blut raste, sein heißer Körper troff vor Schweiß, und ihm war klar, dass sein Blick wild und barbarisch wirken musste. Was sich seiner bemächtigt hatte, war zu intensiv und zu brutal, um es verbergen zu können – es hatte die dürre Fassade der Zivilisation, die er normalerweise aufrechterhalten konnte, schlichtweg beiseitegefegt.

Keuchend blickte sie zu ihm auf, ihre blasse Haut glänzte rötlich. Ohne jeden Zweifel war sie die reine Unschuld. Nicht unbedingt noch Jungfrau, aber … nahe dran. Was immer sie bisher für Erfahrungen mit Männern gemacht haben mochte, es war alles sehr beschränkt, kurz, flüchtig gewesen.

Das würde sich nun ändern.

Er ließ sie nicht aus den Augen, zog sich zurück, drang wieder ein. Allein das hätte ihm schon einen Orgasmus beschert – aber um keinen Preis der Welt wollte er das zulassen. Er musste es auskosten – sie auskosten. Es in die Länge ziehen, alles aus ihr herausholen, was sie geben konnte. Es von ihr verlangen, sie zum Wahnsinn treiben. Sie sollte schreien und sich an ihm festklammern und heulen vor Glück, wenn er fertig mit ihr war. Er wollte sie in Stücke reißen und dann wieder neu zusammensetzen.

Ian drückte sich mit seinen muskulösen Armen hoch, setzte sich auf die Knie und blickte herab auf die Stelle, wo sein Körper mit ihrem verschmolz.

„Sieh es dir an“, knurrte er.

Sie erschauerte und senkte ihren Blick, trotz der tiefen Lust, die ihr in den Augen stand, war ihr Erschrecken unverkennbar. Sie war so eng, und er war zu groß, viel zu groß, um einfach hineinzugleiten, egal wie feucht sie war. Es bedurfte kräftiger Stöße, der Klagelaut ihrer Lust ließ ihn rot sehen.

Mit rauem Grunzen beugte Ian seinen Oberkörper zu ihr herab, er musste unbedingt die harten Spitzen ihrer samtenen Brustwarzen an seiner Haut spüren, musste sie ganz bedecken, sie besitzen … und dann merkte er plötzlich, dass sie ganz allein in diesem Wald waren. Die Musik, die Zigeuner, das wilde Fest, alles war verschwunden – an die Stelle dieser aufpeitschenden Geräusche waren ihre heiseren Schreie und der feuchte, satte Klang ihrer sich vereinigenden Körper getreten. Er schob sie mit den Hüften über den Boden, verlangend, besitzergreifend, alles brach aus ihm heraus, was er sonst tief in sich verschloss, in sich versteckte – und dann geschah das Unfassbare.

Fast betäubt beobachtete er, wie sich die feuchte, seidene Schönheit ihrer Lippen zu einem glühenden Lächeln verzog, das sie von innen erleuchtete, und irgendetwas ungeheuer Kraftvolles und Furchterregendes durchzuckte ihn. Er vergaß jede Beherrschung, ließ alle Grenzen hinter sich, umfasste ihren Schenkel mit einer Hand, riss ihr Bein in die Höhe, drang tiefer und tiefer ein, riss mit der anderen, zur Faust geballten Hand ihren Kopf an den Haaren zur Seite. Sie schluchzte, doch es klang mehr nach Lust und Erwartung als nach Schmerz. Sein Zahnfleisch brannte, als seine Reißzähne sich in ihrer ganzen schrecklichen Länge daraus befreiten.

Sie schrie auf, versteifte sich unter ihm, aber er konnte sich nicht mehr bremsen. Er vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge, blies feuchte Lusttropfen an ihre Kehle, und versenkte gierig seine Zähne in ihrem Hals. Molly kreischte und zappelte unter ihm, doch er biss nur stärker zu, seine Ekstase und Glückseligkeit waren heiß und überwältigend und sündig.

Der warme, dicke Strom ihres Blutes füllte ihm den Mund, rann seine Kehle hinab, er schluckte durstig, zerrte mit den Zähnen an der Wunde an ihrem Hals, schwindlig vor Freude über den herzhaften Geschmack. Mehr. Er brauchte noch mehr davon. Er saugte an den beiden kleinen Einstichen und war sich mit jedem Zentimeter seines Körpers bewusst, wie sie in einem markerschütternden Höhepunkt förmlich verglühte und mit aller Macht seine Erektion mit ihrer herrlich nassen Vagina umklammerte.

Er riss seine gefletschten Fänge von ihr los und schrie auf, berauscht von ihrem Geschmack, von dem beschwörenden Anblick des tiefroten Blutes, das ihr von der blassen Kehle tropfte. Sie keuchte atemlos, als er sich erneut hinunterbeugte, die Zunge über ihre Haut gleiten ließ, sich keinen Blutstropfen entgehen ließ. Er hob den Kopf, blickte in ihre benommenen Augen, und zum ersten Mal in seinem Leben war er voll und ganz auf jedes noch so kleine Detail des Körpers der Frau konzentriert, die da unter ihm lag. Ihr rasender Herzschlag an seiner Brust. Das Stoßen ihres süßen Atems und das entzückende Zittern ihrer Hände auf seinem Rücken. Sie war viel zu klein und zart. Aber es fühlte sich einfach zu gut an, und er wollte dieses Gefühl wieder und wieder und wieder spüren.

Schmerzvoll war er sich bewusst, dass er noch nie etwas so Großartiges … so Richtiges gespürt hatte. Niemals konnte sich irgendjemand so gefühlt haben. So wie er jetzt.

Dieser gefährliche, beunruhigende Gedanke ließ Ian erschauern, und schon zog er sich von ihr zurück, verschloss sich, obwohl sie mit taufrisch erröteten Wangen zu ihm aufblinzelte, so wunderschön, dass ihm die Luft wegblieb. Voll plötzlichem Erschrecken sah er, wie diese aufgeworfenen Lippen sich zu einem schüchternen, süßen Lächeln verzogen und ihre Augen aufleuchteten – und das, obwohl er sich gerade wie ein Monster an ihrem Blut gelabt hatte. Eine ekelerregende Furcht vor sich selbst machte sich in ihm breit.

Gefahr! Höchste Alarmstufe! Mach, dass du hier wegkommst, du widerlicher Bastard!

Sie öffnete den Mund, ihre kleinen Hände klammerten sich an ihm fest, und es schien ihm, als würde sie voller Panik seinen Namen schreien, als er ihr entglitt – doch im nächsten Augenblick wachte er mit einem Ruck auf, der ganze Körper schweißgebadet, das Herz hämmerte wie ein Trommelwirbel in seiner Brust.

Er wälzte sich auf dem durchweichten Laken seines zerwühlten Bettes auf die Seite und spürte, wie seine Lippen wieder über seine Zähne glitten. Er versuchte, das keuchende Lufteinziehen unter Kontrolle zu bekommen, damit ihm nicht mehr jeder Atemzug in der Lunge brannte und ihm Tränen in die Augen trieb. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er auf die Ziffern der Digitaluhr auf dem Nachttisch und musste beim Ticken der Sekunden an eine Zeitbombe denken, die leise vor sich hin tickt, bis zur Detonation.

Wenn das Dunkle nach dir ruft, Ian …

Zum Teufel damit! Er hatte im Augenblick nun wirklich genug um die Ohren! Da konnte er das idiotische Gewisper seiner Mutter im Kopf überhaupt nicht brauchen. Nicht, wenn er sowieso schon an der Schwelle zum Wahnsinn stand und kurz davor war, das letzte bisschen Kontrolle auch noch zu verlieren, an dem er sich festhalten konnte.

Voller Verzweiflung atmete er tief durch die Nase ein, um etwas Frisches und Sauberes zu riechen, das die hässlichen Vorstellungen aus seinem Kopf vertrieb. Aber in dem Zimmer hing nur der scharfe und beißende Gestank von Schweiß und Angst. Und dass er Angst hatte, konnte er nicht abstreiten – dass Entsetzen in ihm hämmerte wie ein ohrenbetäubendes Donnergrollen.

Sein Hirn war noch ganz benebelt von diesen Vorstellungen von Blut und Lust, von gewalttätigem Sex und animalischer Gier. Er kämpfte an gegen die Wellen der Erinnerung, konzentrierte sich darauf, wieder Kontrolle über sich selbst zu erlangen, seinen Herzschlag und seine Atmung zu verlangsamen. Und dagegen, wie ein blöder Halbwüchsiger in den letzten Zuckungen eines feuchten Traums das ganze Laken dreckig zu machen.

Verflucht noch mal! Sie war das gewesen! Sie hatte ihm das alles mit ihrem verrückten Gehabe eingeredet. Er wollte nicht einmal daran denken, wie er sich im Traum mit ihr – in ihr gefühlt hatte. Kam gar nicht infrage. Dahin durften seine Gedanken auf keinen Fall schweifen.

Die Sekunden verstrichen, wurden langsam zu Minuten, während er dalag und versuchte, seinen Körper wieder in die Gewalt zu bekommen – und den Drang bekämpfte, den Traum vor seinem inneren Auge noch einmal ablaufen zu lassen, denn das würde ihn zerstören. Nur sie könnte ihn dann noch von dem gefährlichen Abgrund zurückreißen, der sich ihm auftun würde. Er knirschte mit den Zähnen. Begrüßte den plötzlich aufkommenden, dumpf klopfenden Kopfschmerz beinahe – bis ihm klar wurde, dass jemand an die Tür klopfte. So laut und hämmernd wurde das Pochen, dass sich die dünne Holztür beinahe bog wie ein einsames Schilfrohr im Sturm.

Ian rollte sich auf den Rücken und schätzte sein Erscheinungsbild ab. Er war schweißnass, glühte vor Hitze, die Muskeln verkrampft, und ein schiefer Blick an sich herunter führte ihm vor Augen, dass er ganz und gar nicht vorzeigbar war.

Wieder wurde fordernd an die Tür gehämmert. Er schwang die Beine aus dem Bett, fuhr sich mit einer zitternden Hand durchs feuchte Haar und versuchte, das komische Gefühl aus dem Bauch zu vertreiben, das der Traum hinterlassen hatte. Es war vermutlich Riley, der Hilfe brauchte. Schon wieder. Er hatte keine Ahnung, wieso sein Bruder annahm, dass Ian gerne als Ritter in schimmernder Rüstung auftrat, um ihm aus irgendwelchen Notlagen zu helfen. Aber vielleicht war das auch nur Rileys Versuch, ihn im Auge zu behalten, damit er nicht vom rechten Weg abkam.

Puh. Als ob er sich nach der Zeit zurücksehnte, bevor er hier hinauf in die Berge kam. Schönen Dank auch. Er hatte genug davon, dauernd am Abgrund zu leben. Sich Stunde für Stunde, Tag für Tag in Acht nehmen zu müssen. Die ständige Anspannung, sich durch jeden einzelnen Tag aufs Neue kämpfen zu müssen, hatte ihn ausgelaugt. Er hatte nicht das geringste Bedürfnis, so etwas noch einmal zu erleben.

Schnell schnappte er seine Jeans vom Boden auf und tastete sich durch die dunklen Zimmer seines Apartments in der Hoffnung, dass es doch nicht sein Bruder sein möge … oder Kendra. Er hatte am Abend auf ihren Anrufbeantworter gesprochen, wollte sich nur überzeugen, dass es ihr gut ging, nachdem Molly Stratton ihm nachmittags diesen abgefahrenen Mist erzählt hatte.

„Zum Donnerwetter, komme ja gleich!“, rief er, als das Hämmern an der Tür noch lauter und ungeduldiger wurde. Er schlüpfte in seine Jeans, knöpfte den Latz zu und riss die Tür auf.

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