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Wenn das Dunkle erwacht

hier erhältlich:

Als Saige Buchanan dem Gestaltwandler Michael Quinn begegnet, erwacht ein gefährlicher Hunger in ihr …
Saige Buchanan reist um die Welt, um die dunkle Vergangenheit ihrer Familie zu erforschen. Sie wird geleitet von einer besonderen Gabe: Sobald sie etwas berührt, erfährt sie dessen Geheimnis. Aber so viel Macht Saige auch über die Dinge hat, so hilflos ist sie gegenüber den Lebenden. Ihre grausamen Feinde verfolgen sie bis in den Dschungel des Amazonas. Da kommt ihr - in einer Stunde höchster Gefahr - ein mysteriöser, unglaublich sexy Gestaltwandler zur Hilfe. Doch wurde Michael Quinn wirklich nur ausgesendet, um sie zu beschützen? Darf sie ihm trauen? Saige ist hin- und hergerissen - und fürchtet, was sie gleichzeitig am meisten begehrt: dass Michael ihren sinnlichen Hunger nährt, wenn die Dunkelheit erwacht …


  • Erscheinungstag: 10.11.2011
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862781249
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

LIEBE LESER,

ich freue mich riesig, Ihnen „Wenn das Dunkle erwacht“ vorlegen zu dürfen, den zweiten Roman meiner neuen PRIMAL INSTINCT-Serie bei MIRA Taschenbuch. Er spielt in einer Welt, wo paranormale Wesen mitten unter einer ahnungslosen Menschheit leben. Die provozierende Trilogie wird mit der Geschichte von Saige Buchanan fortgeführt und dem düsteren, unglaublich attraktiven Gestaltwandler, der ihr Herz verzaubert.

Michael Quinn ist ein Held, der sich weigert, seine Vergangenheit zu vergessen – oder seine Zukunft zu riskieren. Doch in dem Augenblick, in dem er Saige in einer überfüllten Bar in Brasilien erblickt, will er sie haben, und zwar mit einer unerbittlichen Gier, die er unmöglich ignorieren kann. Um zu bekommen, was er unbedingt haben will, muss er nicht nur seine eigenen Dämonen überwinden, sondern auch die der ebenso misstrauischen wie stürmischen Saige Buchanan.

Es ist wunderbar, dass ich Ihnen nun die verrucht verführerische Geschichte von Saige und Michael präsentieren kann, und ich hoffe, sie wird Ihnen gefallen.

Nur das Beste

Rhyannon

1. KAPITEL

Umarme die Gefahr …

Donnerstagabend
Am Amazonas

Falls die Frau gerade versuchte, nicht aufzufallen, hatte sie nicht besonders viel Talent dazu. Im düsteren, überfüllten Inneren des O Diablo Dos Àngels, einer klapprigen barra am Straßenrand der geschäftigen Marktstadt Coroza in Brasilien, wurde Michael Quinn schon nach fünf Sekunden auf sie aufmerksam. Er kämpfte sich seit zwei Tagen durch die stickigen, feuchten Tiefen des Regenwaldes am Amazonas, was man seiner abgerissenen Erscheinung auch ansah. Zwei Tage, die sich eher wie Wochen anfühlten, und jede Stunde zerrte an seinen Nerven, bis er in einer ganz uncharakteristisch miesen Stimmung war, komplett jenseits der Richterskala.

Nicht dass er sonst besonders gut aufgelegt gewesen wäre. Normalerweise … existierte Quinn bloß. Es war Jahre her, seit irgendwer oder irgendwas es geschafft hatte, seine Seele zu berühren oder ihn gar aus seiner geraden, festen Bahn zu werfen – und nun das. Er konnte es selbst nicht erklären, aber seit dem Augenblick, als man ihm ein Foto von Saige Buchanan gegeben hatte, war die kühle Ruhe von ihm abgeglitten wie Wasser, das in einen Abfluss rann. Und an ihre Stelle war eine nervenzerreißende Anspannung getreten.

Die Tatsache, dass Quinn diesen Auftrag gar nicht wollte, ja sogar unerbittlich in seiner Ablehnung gewesen war, machte die ganze Sache noch schlimmer. Und doch war er hier, das durchweichte Hemd klebte ihm an der Haut, der schwere Gestank nach Tabak und Schweiß verursachte Kopfschmerzen, während beim Anblick seiner Beute irgendetwas ungemütlich Scharfes und Durchdringendes durch seinen Körper fuhr.

Soso. Das ist also die kleine Saige. Er ging eng an der Wand entlang und achtete sorgfältig darauf, außerhalb ihres Blickfelds zu bleiben. Sie saß an einem kleinen Tisch am anderen Ende des Raums und hielt eine Wasserflasche in ihrer entzückenden Hand. Neben ihr saß ein junger Mann, der höchstens neunzehn sein konnte und sicher Brasilianer war, das verrieten die dunkle Haut, die dunklen Augen und Haare. Der Junge bewegte die Lippen, doch obwohl Quinns Gehör wesentlich schärfer war als das eines Menschen, konnte er in dem Krach der Menge nichts verstehen.

Eigentlich war diese Bar ein ungewöhnlicher Aufenthaltsort für eine Amerikanerin und ihren jugendlichen Begleiter, aber niemand schien sie zu belästigen. Nicht einmal die Betrunkenen. War sie hier etwa Stammgast? Stand sie unter dem Schutz des Besitzers? Oder gab es einen anderen Grund dafür, dass die Einheimischen auf Abstand blieben?

Woran auch immer es liegen mochte, ihre Unauffälligkeit konnte nicht der Grund sein. Saige Buchanan stach aus der Menge der wettergegerbten Gäste heraus wie ein Neonlicht in mitternächtlicher Finsternis – glitzernd und leuchtend.

Quinn rieb sich mit der Hand über die kratzigen Bartstoppeln. Er hatte sich seit Tagen nicht rasieren können. Dann schüttelte er langsam den Kopf; der Vergleich passte nicht. Nein, die ihrem Ruf nach brillante Anthropologin war nicht aufdringlich oder dreist wie Neonreklame. So hell sie auch strahlte, war sie doch von einer sanften, beinahe zarten Aura umgeben, die sie sogar noch mehr auffallen ließ, als es ihr engelsgleiches Gesicht, ihre üppige Figur oder der ungewöhnliche Ton ihres Haars erwarten ließen. Es war weder rot noch braun, sondern changierte irgendwo dazwischen, glänzte im diffusen Licht.

Hinter der Bar wurde plötzlich eine schwere Holztür zugeschlagen, und Quinn war erstaunt, dass das marode Gebäude nicht zu einem Schutthaufen zusammenfiel. Es gab zwar einige schwere Stützpfeiler,trotzdem war es ein Wunder, dass die schmutzige Decke nicht herunterkam. Der Boden war von Sägespänen bedeckt. Ohne Zweifel, dieser Schuppen gefiel ihm gar nicht. Er mochte es sowieso nicht, in einem Raum eingeschlossen zu sein, er war lieber draußen an der frischen Luft, unter der endlosen Freiheit des Himmels.

Wieso hörst du nicht endlich auf zu meckern und erledigst, wozu du hergekommen bist? Je eher du sie in die Finger kriegst, desto schneller kannst du hier wieder raus.

Weise Worte, aber nun, da er sie gefunden hatte, war sie zu berühren, sie in die Finger zu kriegen, nun wirklich das Letzte, was Quinn wollte. Ganz sicher würde er mit ihr fertigwerden, falls sie sich als schwierig herausstellen sollte. Saige Buchanan mochte mehr zu bieten haben als ein gewöhnliches menschliches weibliches Wesen, aber er war ja auch kein gewöhnlicher Mann. Er konnte riechen, dass der Merrick in ihr noch nicht vollständig erwacht war – und solange das nicht passierte, würde er immer die Oberhand behalten, zumindest was körperliche Kraft anging.

Später, nach dem Erwachen … tja, bisher war er noch nie mit einem weiblichen Merrick aneinandergeraten, aber er hoffte doch sehr, dass sie ihm nicht in den Hintern treten könnte. Falls so etwas jemals passieren sollte, würden seine Freunde im Hauptquartier ihn ewig damit hochnehmen.

Als Mitglied der Watchmen, einer Organisation von Gestaltwandlern, deren Aufgabe es war, die noch existierenden Blutlinien der ursprünglichen alten Clans im Auge zu behalten, hatte man Quinn ein wenig über die Merricks beigebracht, die früher einmal zu den mächtigsten nicht menschlichen Wesen auf dieser Erde gehört hatten. Und seit diesem unsäglichen Mist, der kürzlich mit Saiges älterem Bruder Ian Buchanan vorgefallen war, wusste er sogar noch mehr. Aber Saige war … anders. Im Unterschied zu ihrem Bruder, der bestimmte körperliche Veränderungen durchlaufen hatte, als das Merrick-Blut in seinen Adern aufgestiegen war, nahm man von den Frauen der Merricks an, dass sie zwar körperlich stärker und beweglicher und ihre Sinneswahrnehmungen schärfer wurden, ihre äußerliche Erscheinung aber nicht veränderten. Ihr würden keine Krallen aus den entzückenden Fingerspitzen wachsen. Sie würde nicht von dicken, massiven Muskelpaketen entstellt werden. Und auch ihre Nase würde ihre anmutige, feminine Form nicht verändern.

Aber du vergisst die Reißzähne.

Ah, schon gut. Offensichtlich war das eine der Veränderungen, die Merrick-Frauen doch durchliefen, um die primitiven Teile ihrer Natur ernähren zu können. Quinn rieb sich den Hals, wo er ein komisches Kitzeln spürte, als ob er den köstlichen Schmerz schon fühlen könnte, wenn Saige Buchanan ihre perlweißen Zähne in seine Haut vergraben würde, um sein heißes Blut in ihren Mund sprudeln zu lassen, während sie ihn gleichzeitig tief in sich aufnahm.

Wow …

Er verzog das Gesicht, ließ die Hand sinken, ballte die Finger zur Faust und fragte sich, was mit ihm nicht stimmen mochte. War ihm die Hitze aufs Gemüt geschlagen? Hatte die lange Zeit ohne Sex etwas mit seinem Gehirn angestellt? Oder wurde er tatsächlich verrückt?

Quinn lehnte sich mit dem Ellbogen an die Bar, verscheuchte diese wirren Gedanken und winkte nach der stämmigen Frau mittleren Alters, die mit einem Tablett durch den Raum glitt und mit den Gästen schwatzte, während sie die Getränke brachte. Als sie näher kam, konnte er Inez auf ihrem Namensschild lesen. Obwohl sie so freundlich mit jedermann hier umging, bedachte sie ihn mit einem eiskalten Blick. Ihre dunklen Augen wirkten misstrauisch, als sie eindringlich seine zerrissenen Stiefel, die schmutzbedeckte Jeans und das durchgeschwitzte schwarze T-Shirt musterte.

Uma cerveja, por favor.“

„Verraten Sie mir mal“, erwiderte sie auf Englisch, aber mit schwerem Akzent, die Mundwinkel skeptisch verzogen, „wieso glotzen Sie unsere Saige an, als ob Sie Hunger hätten?“

Quinn biss die Zähne zusammen, vor Wut auf sich selbst, dass er aller Welt so deutlich gezeigt hatte, wer seine Aufmerksamkeit erregte.

„Also?“ Inez hatte eine autoritäre Stimme, die ihn vermuten ließ, dass sie mehr war als bloß eine Barfrau.

„Keine Ahnung, wovon Sie reden“, konterte er mit tiefer, kehliger Stimme und erwiderte ihren harten Blick. Sobald klar war, dass er sich nicht einschüchtern lassen würde, murmelte sie etwas vor sich hin und verschwand hinter der Theke.

Quinn trat sich im Geist selbst in den Hintern, wandte den Blick entschlossen von der Amerikanerin ab und sah sich in der barra um. Er hatte das komische Gefühl, in einen Filmdreh geplatzt zu sein, so unwirklich erschien ihm alles. Der Rauch von den Zigaretten und Zigarren stand so dick im Raum, dass man ihn beinahe mit einem Messer hätte durchschneiden können. Es war ausschließlich Saige, die das alles erträglich machte. Ihr Duft hatte sich wie eine zarte, windende Kletterpflanze um ihn gelegt, verführerisch und warm. Er war wie … wie ein Regenschauer, der den ganzen ekligen Dreck wegwusch, sauber und erfrischend. Er linderte sogar das Unwohlsein, sich in so einem überfüllten, lauten, stickigen Laden aufhalten zu müssen. Mit bewusster Anstrengung konzentrierte Quinn sich auf diesen Duft, bei dem ihm das Wasser im Mund zusammenlief, und zog ihn tief in die Lunge, um die sonstige Umgebung vergessen zu können.

Er konnte nicht verhindern, dass sein Blick wieder hinüber zu Saige glitt, gierig alle sichtbaren Einzelheiten aufnahm. Die Art, wie ihr Haar um die zauberhaften Züge ihres Gesichts fiel. Die verschmitzten Sommersprossen, die üppige Form ihrer provozierenden Lippen, während sie mit dem jungen Brasilianer sprach.

Quinn war sicher, dass er sie auch ohne das Foto in seiner Gesäßtasche auf den ersten Blick erkannt hätte. Obwohl Haut und Haar heller waren als die ihrer Brüder, ihre feminine Gestalt schmal im Vergleich zu deren muskelbepackter Kraft, stellte sie doch die üblichen Anzeichen der Buchanan-Blutlinie zur Schau. Trotz des dichten Rauchs in diesem Raum konnte er das dunkle, tiefe Blau ihrer Augen ebenso gut erkennen, als ob sie neben ihm säße. Und irgendetwas am Schwung ihres Kiefers wies auf die typische Halsstarrigkeit der Buchanans hin, die er bei der Begegnung mit ihren Brüdern aus erster Hand kennengelernt hatte.

Das enge T-Shirt saß an ihr wie ein Handschuh und betonte volle Brüste, die bei einer so schlanken Person überraschten; fast hätte sich sein Mund zu einem kennerischen, männlichen Grinsen verzogen. Zwar hatte er nicht vor, sie zu berühren, aber den Anblick durfte er schon genießen. Die ausgefransten Kakishorts und das Flanellhemd, das sie um ihre Taille gebunden hatte, konnten die fraulichen Kurven ihrer Hüften auch nicht wirklich verbergen, und Quinn ertappte sich bei dem Gedanken, ob ihr Hintern wohl genauso verführerisch wäre wie der Rest ihres Körpers. Er schätzte sie auf knapp unter eins siebzig, was nicht gerade groß war, aber sie wirkte kleiner, irgendwie zerbrechlich. Trotzdem waren ihre Muskeln unter der Pfirsich-mit-Sahne-Haut deutlich zu erkennen, was auf ihr aktives Leben hindeutete. Vermutlich krabbelte sie die meiste Zeit auf archäologischen Ausgrabungsstätten herum, kletterte gefährliche Bergwände empor, schlich durch den Regenwald – alles Orte, an die so eine entzückende kleine Person wie sie eigentlich nicht gehörte.

Quinn verzog den Mund, als er sich ihre Reaktion auf so eine chauvinistische Bemerkung vorstellte. Ihr freches Kinn verriet ihm, dass Saige Buchanan die Sorte Frau war, die dorthin ging, wohin sie wollte, und zwar wann sie wollte, und zum Teufel mit den Ansichten anderer Leute, zum Teufel mit der Gefahr.

Der Junge sagte etwas und lächelte sie an, und sie streckte eine Hand aus und wuschelte freundschaftlich in seinem dichten schwarzen Haar herum. Die beiden schienen sich nahezustehen. Quinn war ganz in Gedanken versunken, und als die Barfrau Inez plötzlich die Bierflasche vor ihm auf die Theke knallte, zuckte er vor Schreck zusammen. Sie murmelte etwas vor sich hin, stapfte davon, und er nahm einen tiefen Zug des lauwarmen Biers und schimpfte stumm mit sich selbst.

Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, verzog das Gesicht und dachte, er konnte doch unmöglich auf so einen Bengel eifersüchtig sein. Schon der Gedanke, er könnte überhaupt eifersüchtig sein, war idiotisch. Eifersucht, das stank nach Besitzergreifung, und er knirschte mit den Zähnen, weil er mit so was nun wirklich gar nichts zu tun haben wollte.

Nichtsdestotrotz war er für Saige so lange verantwortlich, bis er sie sicher in Ravenswing abgeliefert hatte, einer gesicherten Anlage der Watchmen in Colorado und Quinns Zuhause. Dort warteten ihre beiden Brüder auf sie. Er wusste, die Buchanans waren überhaupt nicht davon begeistert, dass ihre kleine Schwester ganz allein mit einem Watchman zusammen sein sollte. Genauso gut wusste er, dass sein bester Freund Kierland Scott, der inoffizielle Anführer ihrer Einheit, den Merricks versichert hatte, wegen ihm hätten sie nichts zu befürchten. Wegen den anderen schon, klar – aber nicht wegen Quinn. Wenn er Sex haben wollte, waren seine Bettgefährten immer Frauen, die er mit großer Wahrscheinlichkeit niemals wiedersehen würde. Und das hieß, zukünftige Hausgenossen kamen nicht infrage.

Quinn bewegte seine Schultern auf und ab und konzentrierte sich wieder auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Er musste diese Frau nach Hause bringen, und zwar ohne Unterbrechung, was nicht leicht sein würde. Diejenigen, die hinter ihr her waren, sahen eine weibliche Merrick als leichte Beute an. Die Watchmen hatten gehofft, dass der mittlere Sohn Riley Buchanan vor seiner Schwester erwachen würde, aber das war nicht der Fall. Quinn konnte die bevorstehende Veränderung von Saiges Körper geradezu riechen, das Erwachen ihrer uralten Blutlinie. Jetzt war sie noch nicht vollständig erwacht, aber es zeichnete sich schon ab.

Was wiederum bedeutete, dass ein kürzlich befreiter Casus ihr wahrscheinlich schon auf den Fersen war, wodurch Quinns Aufgabe von einem gefährlichen Job zu einem … tödlichen wurde. Zwar gab es noch sehr viel, das die Watchmen nicht wirklich verstanden, aber sie glaubten fest daran, dass das Erwachen der Merricks von der Präsenz eines Casus ausgelöst wurde. Die Casus waren übernatürliche Monster, die nach den Merricks jagten, und zwar sowohl um Macht aus ihren Körpern zu saugen, als auch um Rache zu üben. Die unsterblichen Casus, seit Jahrhunderten eingekerkert wegen ihrer Massenmorde an allen, die sie erwischen konnten, hatten schließlich doch noch einen Weg gefunden, aus ihrem Gefängnis zu fliehen und zurück in diese Welt zu kommen. An Zahl waren sie noch nicht viele, aber Quinn und die anderen Watchmen waren voller Sorge, was da noch auf sie zukommen könnte.

Er nahm einen weiteren Schluck Bier, beobachtete Saige aus den Augenwinkeln und fragte sich, wie viel sie wohl wissen mochte. Was machte sie überhaupt hier in Südamerika? Hatte sie die geringste Ahnung, dass die Casus hinter ihr her waren? Und wo zum Teufel steckte der Watchman Paul Templeton?

Templeton hatte in den vergangenen Monaten auf Saige aufpassen sollen, aber als sie ihn aufforderten, sie sofort zurück in die USA zu bringen, hatte er nicht geantwortet. Entweder hatte Templeton sich unerlaubt verzogen, was niemand glauben wollte, oder er war bereits dem zum Opfer gefallen, was sich offenbar zu einem tödlichen Krieg ungeheuren Ausmaßes auswachsen sollte.

Da die Umstände nun mal so waren – nämlich kilometertief in der Scheiße und rasch weiter sinkend –, musste Quinn so schnell wie möglich zu Werke gehen. Er musste rasch handeln. Sofort. Aber irgendetwas hielt ihn zurück. Hielt ihn hier an dieser schmierigen Theke fest, während sein ganzer Körper vor heißer, wütender Ruhelosigkeit vibrierte. Als jemand zufällig einen Stuhl umstieß, drehte Saige sich nach dem Lärm um und enthüllte die Verletzlichkeit ihrer Kehle. In diesem Augenblick überkam Quinn eine zu lange unterdrückte Gier, die tierische Seite seiner Natur regte sich. Er trank kein Blut, so wie die Merricks das taten, trotzdem sehnte er sich danach, seine Zähne in diesem zarten Hals zu versenken und gleichzeitig so tief in sie zu stoßen, wie er nur konnte.

Als ob sie sein intensives Starren gespürt hätte, hob sie eine Hand und bedeckte die zarte Beuge ihres Halses. Dann fuhr sie plötzlich auf ihrem Stuhl herum, ließ den Blick durch den ganzen Raum gleiten, und Quinn drehte sich schnell zur Wand, mit dem Rücken zu ihr. Seine Finger umklammerten die Flasche, sein Griff zerdrückte beinahe das Glas.

Hatte er denn vollständig den Verstand verloren? Bald könnte die Hölle losbrechen, und er hockte hier mit einem warmen Bier und verzehrte sich vor einer Lust, die ihm nichts als Ärger einbringen würde. Für so einen Mist hatte er überhaupt keine Zeit.

Schieb es nicht dauernd hinaus, verflucht, sondern leg endlich los.

Entschlossen drehte er sich wieder um und beobachtete, wie sie etwas zu dem Jungen sagte, aufstand und zur Theke ging. Sie redete mit dem kleinen, dauernd lächelnden Mann hinter der Theke, als Quinn sich neben sie stellte und seine Flasche austrank. Sie wandte sich ihm zu und betrachtete ihn aus diesen tiefen, dunkelblauen Augen, deren Farbe genauso faszinierend war wie die glänzende Vollkommenheit ihrer Haut, und in derselben Sekunde wusste er, dass sie etwas gemerkt hatte.

Quinn stellte die leere Flasche auf die Theke und wollte sich gerade vorstellen, als sie danach griff. Ihre Finger schlossen sich um den Flaschenhals, und er fragte sich, was sie damit vorhatte, als das wachsame Unbehagen in ihrem Gesicht plötzlich purer Panik wich. Bevor er irgendetwas tun konnte, zerschmetterte sie die Flasche auf seinem Kopf. Eine Scherbe riss ihm die Haut über der rechten Augenbraue auf, ein Blutstrom ergoss sich über sein Blickfeld.

Verdammt noch mal.

Sofort rannte sie los, rief dem Jungen etwas auf Portugiesisch zu, als dieser zur Vordertür hinausstürmte. Saige rannte in die andere Richtung, schnappte sich ihren Rucksack, der auf dem Tisch lag, und verschwand durch die Hintertür, hinter der sich der Dschungel ausbreitete.

Fluchend schmiss Quinn ein paar Scheine auf die Theke und folgte ihr. Er konnte nur hoffen, dass er sie noch erwischte, bevor diese dämliche Frau es fertig brachte, sich umbringen zu lassen.

Die letzten wässrigen Fäden Sonnenlicht verschwanden gerade, als er aus der Bar in die feuchte Schwüle des Abends kam. Er folgte ihrem Duft, wich den Lianen des Dschungels aus. Sie war schnell, aber mit seinen langen Beinen konnte er aufholen.

Doch er war nicht schnell genug. Plötzlich drang ihm ein scharfer, giftiger Gestank in die Nase, und zwar aus derselben Richtung, in die Saige vor ihm floh.

Keine Zeit mehr, dachte er, riss sich das T-Shirt über den Kopf und ließ die Verwandlung in ein anderes Wesen durch seinen Körper rasen.

Die Hölle war längst los, und sie rannte direkt in eine tödliche Falle.

2. KAPITEL

Renn schon … renn schon … renn schon.

Saige Buchanan keuchte den Befehl immer wieder vor sich hin, um sich zum Weiterlaufen zu zwingen, selbst nachdem die Krämpfe eingesetzt hatten. Sie hatte sich bemüht, ruhig am Tisch sitzen zu bleiben und so zu tun, als wäre alles in Ordnung, aber in Wirklichkeit war sie völlig aufgelöst. Die Erschöpfung lastete schwer auf ihren Schultern, und ihre Nerven waren zum Zerreißen angespannt. Trotz der Tatsache, dass sie sich in der von Inez und ihrem Mann Rubens geführten örtlichen barra sicher fühlte, weil beide gute Freunde waren, hätte Saige es nie riskieren dürfen, sich mit Javier Ruiz so in aller Öffentlichkeit zu treffen. Aber bevor sie zurück in die USA ging, musste sie noch die unschätzbaren Landkarten holen, die Inez für sie in ihrem Safe verwahrte, und es war die letzte Möglichkeit gewesen, ihren jungen Mitarbeiter noch einmal zu sehen. Während er für sie und die anderen Mitglieder des Grabungsteams arbeitete, hatte Saige begonnen, ihn als eine Art jüngeren Bruder zu betrachten, und sie wollte nicht einfach so verschwinden, ohne sich von ihm zu verabschieden.

Eigentlich hätte es ganz simpel sein sollen. Kurz ihren Freunden Auf Wiedersehen sagen, die Karten holen, dann ab zum Flughafen in der nahe gelegenen Stadt Sao Vicente. Stattdessen war sie ohne ihre Karten abgehauen, und es konnte sogar sein, dass Javier jetzt ein Zielobjekt für diesen dunkelhaarigen Fremden war, der sie so durchdringend angestarrt hatte. Saige hatte keine Ahnung, wer oder was dieser Mann war oder was er wollte, aber es passte ihr gar nicht, Javier möglicherweise in Gefahr gebracht zu haben.

So ist das nun mal, chica. Du hast es vermasselt. Und zwar ganz gewaltig.

Sie fluchte leise bei diesem frustrierenden Gedanken, während sie das dichte Unterholz beiseiteschob und mitten im Laufen über dicke, verwobene Wurzeln sprang. Es war zu spät, um zurückzulaufen und alles wiedergutzumachen. Sie hatte einen Fehler gemacht, und jetzt musste sie dafür bezahlen. Möglicherweise rannte sie sogar um ihr Leben.

War dieser Mann, der sie jagte, eine neue Bedrohung, oder war er irgendwie verwickelt in das, was immer es war, weshalb in den letzten paar Tagen jeder ihrer Schritte beobachtet worden war, als ob ihr ein Schatten folgte? Während ihrer Arbeit im Dschungel hatte sie ständig das Gefühl, von etwas Bedrohlichem umgeben zu sein, wie eine Welle des Bösen in niedriger Frequenz, selbst ihre Haut hatte sensibel reagiert. Sogar jetzt hätte sie schwören können, dass ein giftiger Gestank in der Luft hing, der ihr wie eine ansteckende Krankheit in die Poren drang.

Saige konnte diesen wachsenden Schrecken nicht abschütteln, der sie in seinem kalten, schleimigen Griff hielt. Schließlich wusste sie Bescheid über die alte Zigeunerlegende, die eine Zeit voraussagte, wenn die Casus ihrem Gefängnis entwichen und auf diese Erde zurückkehrten, wodurch die alten Merrick-Blutlinien wiedererwachen sollten. War tatsächlich ein Casus ausgebrochen? War der Moment schließlich doch gekommen, den sie ihr Leben lang gefürchtet hatte, seit sie die ersten undeutlichen Fragmente dieser Legende von ihrer Mutter hörte? Fragmente, die aufzudecken Elaina Buchanan beinahe in den Wahnsinn getrieben hatten. Ihre Obsession mit den Merricks hatte einen Punkt erreicht, von dem selbst Saige wusste, dass es nicht mehr gesund war – obwohl sie es auch, auf ihre Art, verstehen konnte. Saige selbst hatte ihr Leben damit verbracht, diese Fragmente zusammenzutragen. Um endlich alles verstehen zu können.

Oder … war es bloß eine Bedrohung durch Sterbliche? War sie bereits zum Ziel der Armee des Kollektivs geworden? Saige hatte keinen Zweifel, dass die rücksichtslosen menschlichen Soldaten, deren Ziel es war, alles übernatürliche Leben von der Erde zu verbannen, alles tun würden, um die Merricks zu vernichten, sobald sie von deren Erwachen erfuhren. All das bedeutete, dass sie nur raten konnte, wer sie zuerst aufgetrieben hatte – ein übernatürliches Monster oder ein menschlicher Zelot? –, bis sie ihrem Feind Auge in Auge gegenüberstehen würde.

„Und was genau hat dieser Typ aus der Bar damit zu tun?“, fragte sie sich atemlos keuchend und zog den Rucksack höher über ihre Schulter, wobei ihre Finger so fest an den Riemen rissen, dass sie taub wurden. War er hinter diesem machtvollen Kreuz her, dass sie in den Tiefen des Dschungels gefunden hatte – oder hinter ihrem Leben? Beides war durchaus möglich, aber andererseits hatte sie weder uralte Waffen gesehen, noch Mord und Totschlag erblickt, als sie nach der Bierflasche griff. Sondern Begierde. Verwirrende Bilder, die sie mit diesem Kerl zusammen zeigten, sein attraktiver Körper über ihrem, wild stieß er zwischen ihren gespreizten Schenkeln zu, schrie ekstatisch ihren Namen, und sie versenkte schwere Reißzähne in seiner männlichen Kehle. Ihr Körper zuckte unter seiner dunklen, schönen Gestalt, völlig aufgelöst von Wellen des Entzückens. Beinahe wäre sie gestolpert, als sie die linke Hand an ihren Unterleib drückte, um das merkwürdige Gefühl von Schwere zu bekämpfen, das sie dort ausfüllte. Es war fast so, als wäre er tatsächlich ein Teil von ihr – als ob er in diesem Augenblick sein großes, schweres Geschlechtsteil tief in sie hineinstoßen würde und dort ein Feuer auslöste, das sie verzehrte. Sie biss sich auf die Unterlippe, um ein Stöhnen wegen dieses atemberaubenden Gefühls zu unterdrücken. Ihr wurde heiß, sie spürte ihren Herzschlag schmerzhaft im Zahnfleisch, eher vor Begierde rasend als vor Angst.

Du bist ja völlig verrückt geworden! Du trinkst nicht das Blut deiner Feinde, du blöde Kuh. Und dieser Kerl war ganz sicher kein Freund.

Saige biss die Zähne zusammen vor Wut darüber, dass sie so wenig Kontrolle über die animalischen Bedürfnisse des Merricks in ihr hatte. Sie konzentrierte sich darauf, so schnell wie möglich voranzukommen, wesentlich schneller als ein menschliches Wesen, obwohl ihr Erwachen gerade erst begonnen hatte. Sie sah immer noch genauso aus wie bisher, ihre Stimme hörte sich auch noch genauso an, aber tief in ihr drin … in ihr drin wurde sie zu etwas anderem, als sie bislang gewesen war. Ihre Sinne waren jetzt schärfer, sie nahm von dem sie umgebenden Dschungel viel mehr Einzelheiten wahr, eine überdeutliche, aber chaotische Flut von Informationen. Die Farben explodierten wie elektrisiert, ihr Gehör war so präzise, dass sie kleinste Lebewesen ausmachen konnte, die eilig im Unterholz Schutz suchten.

Saige spürte, wie der Fremde hinter ihr näher kam, ignorierte den scharfen Schmerz in ihren Muskeln und rannte noch schneller, schob Geäst und feuchte Blätter beiseite. Der kleine silberne Kompass, den sie um den Hals trug, schlug unter dem durchgeschwitzten T-Shirt immer wieder gegen ihr rasendes Herz, und sie wünschte, es würde sich dabei um das Kreuz handeln, das angeblich jeden beschützen konnte, der es trug.

Dornen zerkratzten ihre Arme und Beine. Ein bisschen Schutz wäre jetzt genau das Richtige, aber das Kreuz war längst weg. Erst heute Morgen hatte sie diesen zweiten Dark Marker in den feuchten Tiefen des Regenwaldes entdeckt und sofort ihren Kollegen Jamison Haley heimlich damit nach Colorado geschickt, der es dort für sie verwahren sollte; sie selbst war absichtlich noch zurückgeblieben, als Ablenkungsmanöver. Das war ein riskanter Schachzug gewesen, aber sie baute auf die Vermutung, dass ein Casus zuallerletzt annehmen würde, sie würde sich von diesem machtvollen Talisman trennen, nachdem sie einen der Dark Marker entdeckt hatte.

Was offensichtlich doch nicht so schlau gewesen war, oder?

Anscheinend nicht. Vielleicht hatte sie es geschafft, sie von Jamison abzulenken, aber dafür sich selbst in Gefahr gebracht.

„Aber du hattest doch keine andere Wahl“, murmelte sie vor sich hin und warf über die Schulter einen schnellen Blick zurück in die Dunkelheit des Waldes. Ungeahnte Gefahren lauerten überall. Das Merrick-Blut in ihr erweiterte ihr Gesichtsfeld, sie konnte jetzt viel besser sehen als mit ihren menschlichen Augen – aber trotzdem hatte sie keine Ahnung, was in dieser Nacht noch auf sie zukommen würde. Sie wusste bloß, dass da etwas war …

Es werden Feinde kommen, die mich dir wegnehmen.

Dies waren die Worte, die sie im Geist hörte, als sie die geheimnisvolle Waffe zum ersten Mal in die Hand nahm, gespenstisch und uralt und sanft, ganz anders als die „Stimmen“ oder „Visionen“, die sie sonst manchmal wahrnahm. Aber ihr seltsames Talent, bestimmte Gegenstände „lesen“ zu können, schien meistens nur ein Glückstreffer zu sein. Nur bei der Arbeit war es manchmal nützlich. Ein jahrhunderte-, wenn nicht jahrtausendealtes Objekt, das Saige seine Geheimnisse verriet, wenn sie zum ersten Mal ihre Finger darauflegte.

Im Alltag waren es eher Nebensächlichkeiten, die sie erfuhr. Zum Beispiel ergriff sie in einem Restaurant die Ketchupflasche und war plötzlich eingeweiht in die geheimsten Gedanken der letzten Person, die sie in der Hand gehalten hatte. Hab ich das Bügeleisen ausgeschaltet? Werden mir diese Kalorien auf die Hüften schlagen? Soll ich zum Nachtisch Eis bestellen oder Apfelkuchen? Nicht gerade welterschütternde Enthüllungen, und sie konnte solche banalen Dinge ganz gut gleich wieder vergessen, zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Nur wenn sie einen Gegenstand aus der Vergangenheit berührte, lauschte sie aufmerksam – konzentrierte sich und wollte mehr wissen.

So war es auch, als sie zum ersten Mal so ein kunstvoll verziertes Kreuz gefunden hatte – Dark Marker wurden sie genannt, wie Saige inzwischen herausgefunden hatte. Das war letztes Jahr in Italien gewesen, und das Kreuz hatte ihr verraten, dass es sich um eine uralte Waffe handelte, dazu da, ihre Feinde zu vernichten und sie zu beschützen. Saige war voller Ehrfurcht vor seiner Wärme auf ihrer Haut, vor der Schönheit seiner aufwendigen und komplexen Gestaltung, und sie schwor sich, mithilfe der Karten, die in Wachstuch eingeschlagen daneben gelegen hatten, nach weiteren zu suchen. Da sie befürchtete, ihre Entdeckung des Dark Markers könnte ein böses Omen sein, überließ sie ihn bei einem Besuch zu Hause in South Carolina ihrer Mutter, damit Elaina Buchanan unter dem Schutz des Kreuzes stand. Nun war ihre Mutter gestorben, und Saige konnte nur hoffen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, den Dark Marker ihrem ältesten Bruder Ian zu überlassen. Es war der letzte Wille von Elaina gewesen, den sie nicht ignorieren konnte. Ian hasste jedes Geschwätz über die Merricks, und Saige hoffte inständig, dass dieser erste Dark Marker nicht verloren war … oder einfach weggeworfen. Denn es gab keinen Zweifel, dass sie die Kreuze brauchen würden. Und auch andere waren hinter diesen mächtigen und mysteriösen Waffen her, was ebenfalls für ihre große Bedeutung sprach.

Als sie die furchterregende Warnung des zweiten Dark Marker vernahm, wurde Saige sofort klar, dass sie alles tun musste, um ihn zu beschützen. Nachdem der Rest des internationalen Forscherteams schon letzte Woche in die verschiedenen Heimatländer zurückgekehrt war, waren sie und Jamison, ein Archäologe aus London, als Letzte zurückgeblieben, um ihre private Suche fortzusetzen. In den letzten anderthalb Jahren hatte Saige Jamison sehr gut kennengelernt; er war einer der wenigen aus dem Kollegenkreis, den sie als echten Freund betrachtete. Jung, lernbegierig und fleißig, war der sommersprossige Brite zwar nicht gerade ein großer Krieger, aber was ihm an körperlicher Kraft fehlte, machte er mit seinem Hirnschmalz mehr als wett. Saige vertraute ihm bedingungslos – deshalb hatte sie ihm ihren kostbaren Fund übergeben. Am Dienstagnachmittag wollte sie sich mit ihm in Denver treffen. Dort wollten sie ihren mittleren Bruder Riley aufspüren und ihm das Kreuz übergeben, ob er wollte oder nicht, denn er konnte es sicher besser beschützen als sie.

Manchmal stellte sie sich vor, Riley, ein Bezirkssheriff in den Rocky Mountains, würde sie bei sich aufnehmen, damit sie diesen Albtraum gemeinsam hinter sich bringen könnten, aber da hatte Saige keinerlei Illusionen. Sie wusste, dass ihre Brüder sie auf ihre Art liebten, aber die Obsession von ihr und ihrer Mutter mit den Merricks hatte einen tiefen Graben zwischen ihnen aufgerissen, der immer breiter geworden war, je älter sie wurden. Mit Ian hatte sie schon seit Jahren nicht mehr geredet, und auch wenn sie Riley gelegentlich sah, hatten sie doch keine besonders gute Beziehung. Nach Elainas Beerdigung vor sechs Monaten hatten sie nicht mehr miteinander telefoniert, aber die Wunden ihres letzten Streits waren noch frisch und schmerzhaft. Er hatte ihr vorgeworfen, wegen eines lachhaften Wahns ihr Leben zu verschwenden, über die Gefahren genörgelt, denen sie sich ständig aussetzte, indem sie durch die ganze Welt fuhr auf der Suche nach Erkenntnissen über eine Vergangenheit, die ihr Leben eigentlich nie mehr berühren sollte. Zwar wusste Saige, dass ein Teil von ihm die Geschichten glaubte, mit denen sie alle aufgewachsen waren, aber Riley wollte die Wahrheit über ihre Abstammung einfach nicht wahrhaben. Er glaubte daran, aber er war nicht glücklich damit, schleppte eine Bitterkeit mit sich herum, die Saige weder teilte noch verstand. Eine Bitterkeit, durch die seine letzten Worte zu ihr schmerzhafter wurden als alles andere, Worte, die sie nie vergessen würde … oder vergeben.

Aber vor allen Dingen hatte er ganz klargemacht, dass sie in dieser Angelegenheit auf sich allein gestellt war.

Woran du inzwischen wirklich gewöhnt sein solltest.

Saige schüttelte über sich selbst den Kopf, aber sie wollte sich nicht bemitleiden, egal wie viel Angst sie hatte. Und ihre Furcht konnte sie nicht verleugnen, die ihre Haut wie ein klammer Film bedeckte. Nachdem sie ihr ganzes Erwachsenenleben damit zugebracht hatte, sich auf diesen Moment vorzubereiten, war sie nun, da das Erwachen tatsächlich begann, vor Angst überwältigt. Wie gern würde sie in besänftigende Arme sinken und Trost finden. Wenn schon nicht bei ihrer eigenen Familie, dann wenigstens bei jemandem, der sich um sie sorgte und kümmerte. Der sie in die Arme nehmen und ganz festhalten und beschützen würde, wenigstens für ein paar wenige gestohlene Stunden des Friedens.

Ja, träum nur, Saige – falls du es noch nicht bemerkt hast, das hier ist kein Märchen.

Außer ihrer Mutter hatten sich nur die Watchmen für ihr Schicksal interessiert, aber selbst die hatten sie jetzt im Stich gelassen. In der Bar hatte sie für einen kurzen Augenblick geglaubt, dass der hübsche Fremde vielleicht ein weiterer jener geheimnisvollen „Beobachter“ sein könnte, so wie der, der vor ein paar Tagen plötzlich verschwunden war, aber es war ein Markenzeichen dieser Organisation, dass sie immer auf Distanz blieben, ihr nie so nahe kamen wie dieser Kerl. Darüber wusste Saige schließlich Bescheid, denn sie und ihre Brüder standen schon seit Jahren unter Beobachtung durch diese Gestaltwandler, wenn nicht gar ihr ganzes Leben. Es war ihre Aufgabe, die uralten Blutlinien zu überwachen. Der plötzlich verschwundene Watchman war nur der letzte in einer langen Reihe von Männern und Frauen, die sie im Auge behalten und auf den Tag warten sollten, an dem es zur Verwandlung kam und der ihr gesamtes Leben verändern würde.

Saige hatte es meistens geschafft, diese Leute einfach zu ignorieren. Schließlich hatten sie sich nie in ihr Leben eingemischt. Sie waren einfach da, wie das Muttermal an ihrer Hüfte, konstant und vorhersagbar. Und auf seltsame Art auch irgendwie … beruhigend.

Aber dieser atemberaubende Fremde in der Bar war auf alarmierende Weise anders gewesen. Statt sie zu beruhigen, hatte er ihre Sinne vollständig durcheinandergewirbelt. Als sie seine Bierflasche berührte, war die Vision, die ihr durchs Hirn raste, allein durch ihre schiere Gewalt schockierend gewesen, was sie total verblüfft hatte. Normalerweise konnte Saige Gegenstände nicht so stark „lesen“. Auch so machtvolle Gefühle nahm sie niemals wahr – deshalb war sie in Panik geraten und direkt in die tröstenden Arme des Dschungels gerannt. Trotz seiner Gefahren hatte sie sich hier immer zu Hause gefühlt. Der Regenwald war kein Feind, aber auch nicht bloß irgendein Ort. Er war ihr Verbündeter, sie vertraute ihm, wusste, was sie von ihm zu erwarten hatte. Bei Menschen war das anders.

Menschen waren nicht vorhersagbar, doch die Natur nahm immer ihren bekannten Lauf. Ja, sie konnte gnadenlos und grausam sein, aber ebenso konnte sie großzügig sein, ihre Schönheit offenbaren … dem Aufmerksamen ihre ganze Pracht zu Füßen legen, und dafür verlangte sie keine andere Gegenleistung als Respekt. Saige hatte sich in der Umarmung der Natur immer wohl und zufrieden gefühlt, aber heute Nacht spendete ihr diese Umgebung keinen Trost. Die Schatten kamen immer näher, die Panik schnürte ihr die Luft ab und legte sich wie Blei auf ihre Muskeln. Unangenehm feuchte und geradezu animalische Ausdünstungen drangen in ihre Poren ein. Ihr Schutzraum wurde irgendwie verändert, ihr gestohlen, an seine Stelle traten Schrecken und Furcht. Wer auch immer dafür verantwortlich war, sollte dafür bezahlen.

Was wesentlich einfacher zu bewerkstelligen wäre, wenn du dir genommen hättest, was dein Körper begehrte … und dir jemanden gesucht hättest, dessen Blut du trinken könntest. Das Kreuz wäre natürlich auch ganz hilfreich gewesen.

Saige rannte schneller, trieb ihren Körper bis ans Limit, als plötzlich ein schreckliches dämonisches Heulen ertönte, direkt vor ihr. Sie stolperte, fiel fast hin, rappelte sich wieder hoch und lief weiter nach rechts. Der Schock war ihr in die Glieder gefahren. Ihr wurde heiß, dann eiskalt. Obwohl sie schon so lange an diese Dinge glaubte, war die Erkenntnis darüber, dass all das stimmte, überwältigend.

Oh Gott, dachte sie, dann stieß sie atemlos „Mist!“ und „Zur Hölle!“ und „Nicht jetzt, verdammt!“ aus.

Sie schaffte es, das Messer aus dem Stiefel zu fischen. Wieder erklang das furchterregende Heulen, wieder war es direkt vor ihr, und sie stieß einen panischen Schrei aus. Was sollte sie tun? Verzweifelt rannte sie diesmal nach links und fühlte sich getrieben … gejagt … verfolgt. Und genau das war sie auch.

Denk nach, verflucht. Denk nach!

Der Merrick in ihrem Körper wurde unruhig, wollte sich befreien und sich der drohenden Gefahr entgegenstellen – aber erst wenn sie die wilden, primitiven Gelüste ihrer Seele befriedigt hätte, konnte jene uralte Kreatur in ihr zum Vorschein kommen, egal in welcher Gefahr sie sich vorher befand.

Und das bedeutet, dass du erledigt bist, schoss es ihr durch den Kopf. In dieser Sekunde rief irgendwer ihren Namen, direkt hinter ihr, voller Wut und Sorge. Es war der mysteriöse Fremde aus der Bar.

„Saige! Verdammt, bleib stehen. Der Casus ist ganz in der Nähe. Du lässt dich noch umbringen!“

Sie keuchte, rannte erneut nach rechts, ohne eine Ahnung zu haben, wohin sie lief. Rannte sie im Kreis? Oder direkt auf den Casus zu? Wieder war das Heulen unmittelbar vor ihr zu hören, als ob das Monster Katz und Maus mit ihr spielte, sie verhöhnte – und sie bekämpfte den plötzlichen Drang, sich umzudrehen und sich dieser rauen, unwiderstehlichen Stimme hinter ihr zu stellen. So eine sexy Stimme hatte sie noch nie gehört. Sie passte perfekt zu dem attraktiven Kerl.

Werd jetzt nicht auch noch schrullig, Weib. Du kennst den gar nicht. Nicht vergessen, weshalb du überhaupt losgerannt bist. Er wollte bloß Sex mit dir, nicht dein Leben retten.

Schon gut, schon gut. Sie konnte nicht mehr klar denken. Himmel, sie dachte überhaupt nicht mehr, funktionierte nur noch, getrieben von Adrenalin und Furcht.

Der Mann holte weiter auf, sie hätte schwören können, dass sie seinen betörenden Duft wahrnehmen konnte. In der Bar hatte zu viel Rauch in der Luft gehangen, um das sofort zu bemerken, bis sie seinen durchdringenden Blick wie eine körperliche Zärtlichkeit spürte. Erst als sie direkt neben ihm stand, war ihr dieser holzartige, maskuline Duft in die Nase gestiegen – ganz anders als der abscheuliche Gestank des Casus, der im Dschungel vor ihr hing.

Sie wurde langsamer, weil sie nicht wusste, welche Richtung sie einschlagen sollte. Salzige Tränen brannten auf ihrer Haut. Na prima. Sie war ja eine tolle Kämpferin.

Plötzlich brüllte der Fremde hinter ihr vor Wut auf, und im nächsten Augenblick brach die Kreatur aus dem Unterholz, die Saige sich ihr Leben lang vorgestellt hatte, nur etwa zehn Meter vor ihr. Sie stolperte, schrie, gefesselt vom Anblick des massiven, grotesken Körpers und des bestialischen Mauls mit Reißzähnen, das sich zu einem grausamen, sadistischen Grinsen verzog, als das Monster auf sie zukam. Graue Haut saß fest über schweren gewölbten Muskeln. Mit einem klackernden Geräusch rieb es seine bösartigen langen Klauen aneinander, die im Zwielicht silbrig glänzten.

„Merrick“, grunzte das Monster, das Grinsen wurde zu einem breiten Ausdruck purer, unverfälschter Bösartigkeit.

In Saiges Kehle stieg das Entsetzen auf. Sie erblickte in seinen blassblauen Augen freudige Erwartung, als es in einem seltsamen Galopp auf sie zukam. Sie zuckte zusammen, hob das Messer in der Faust, wohl wissend, dass sie sterben würde. Wenigstens wollte sie kämpfend untergehen. Da spürte sie einen plötzlichen Luftzug im Rücken.

Im nächsten Augenblick wurde alles schwarz.

In der einen Sekunde sah sie dem sicheren Tod ins Gesicht … in der nächsten flog sie durch die Luft.

3. KAPITEL

Trotz des wütenden Geheuls des Casus konnte Saige die raue Stimme des Fremden hören, ganz dicht an ihrem Ohr. Sie wand sich und trat um sich, wollte sich befreien, wollte sehen, was passierte, aber er hatte ihr irgendetwas Weiches und Feuchtes über den Kopf geworfen. Sie konnte nicht mehr um sich schlagen, er hielt ihre Arme mit eisernem Griff fest, der Rucksack riss an ihren Schultern.

„Verdammt“, schimpfte er, sein Körper brannte fieberhaft an ihrem Rücken. Sie vernahm ein fieses, kratzendes Bellen, und etwas grausam Scharfes, wie eine Kralle, bohrte sich in ihre linke Wade. Saige zuckte vor Schmerz zusammen, das Messer rutschte ihr aus der Hand und fiel auf den Boden.

Da sie nichts sehen konnte, produzierte ihr entsetztes Gehirn ein fürchterliches Szenario nach dem anderen. Sprang das Monster mit aufgerissenem Rachen erneut auf sie zu? Hackte mit ausgefahrenen Klauen nach ihr? Und wie konnte sie denn überhaupt … fliegen? Was zum Teufel passierte da?

Aber sie konnte den schönen Fremden auch nicht fragen, weil sie ununterbrochen schrie. Endlos lange Minuten trug er sie durch die drückende Hitze, über den dichten Dschungel, den sie unter sich riechen konnte, bis sie mit einem Schlag aufhörte zu schreien, ihre Angst sich in rasende Wut verwandelte.

„Lass mich runter!“, brüllte sie. „Verdammt noch mal! Lass mich runter, oder es wird dir noch leidtun!“

„Damit du seine nächste Mahlzeit wirst? Kommt nicht infrage.“

Sicher war er verärgert, weil Saige vor ihm abgehauen war – und dass sie versucht hatte, ihm mit der Flasche den Schädel einzuschlagen, war vermutlich auch nicht hilfreich.

Aber deswegen wollte sie sich nicht schuldig fühlen, schimpfte weiter auf ihn ein, doch es dauerte mindestens noch fünf Minuten, bis er an Höhe verlor, das Geräusch, das wie das Schlagen von mächtigen Flügeln klang, wurde leiser, während sie über die Baumkronen glitten. Sie stieß ein mädchenhaftes Quietschen aus, als sein Griff sich lockerte, was ihr selbst peinlich war, aber er ließ sie erst los, als ihre Füße wieder den Boden berührten. Sie stolperte ein paar Schritte, und als sie endlich den Rucksack ablegen und sich das Tuch, offenbar sein Hemd, vom Kopf ziehen konnte, erhaschte sie aus den Augenwinkeln nur einen flüchtigen Blick auf rabenschwarze Flügel. In der nächsten Sekunde waren die Flügel schon verschwunden, als hätte sein Körper sie einfach absorbiert.

Verblüfft von diesem Anblick stolperte sie einen Schritt zurück, dann noch einen, während er auf sie zuschlich, seine mächtigen Muskeln wölbten sich unter dem bronzenen Schimmer seiner Haut. Sein Mund war nur ein gerader, unnachgiebiger Strich, seine dunklen, zornigen Augen brannten sich in ihre wie ein sternenübersäter Mitternachtshimmel, sie konnte unmöglich den Blick abwenden. Sie war gefangen von der schieren Macht seiner Präsenz, und sie hätte vor seiner glühenden Wut vor Angst gezittert, wenn sie nicht selbst so zornig gewesen wäre.

„Was bist du?“, schrie sie ihn an, wich aber nicht weiter zurück, als er einen weiteren Schritt auf zutrat. Sie hatte absichtlich „Was“ gesagt, nicht „Wer“, denn sie musste wissen, zu welcher Spezies er gehörte – das war im Augenblick viel wichtiger als sein Name.

Statt zu antworten, blieb er ein paar Schritte vor ihr stehen und verschränkte die Arme vor der anziehendsten Brust, die Saige je erblickt hatte, ob in Wirklichkeit oder im Fernsehen. Solide, mächtige Muskeln unter glatter Haut, die wie Satin glänzte, wie geschaffen für die Berührung einer Frauenhand. Für den weichen, sinnlichen Druck ihrer Lippen. Das wäre gefährlich, verführerisch. Er wäre perfekt, und sie würde geradezu süchtig nach ihm werden. Etwas an diesem erdige, sinnliche Freuden heraufbeschwörenden Duft machte ihr erneut die beunruhigende Tatsache deutlich, dass sie, geradezu ausgehungert, nach etwas verlangte, das dieser Mann, dieser Fremde, ihr geben konnte. Etwas, das die erwachende Kreatur in ihr begehrte … bis zum Wahnsinn.

Und ich habe offenbar vollkommen den Verstand verloren, dachte sie. Wie konnte sie überhaupt von so einer verzehrenden Lust überwältigt werden, wo sie doch gerade erst ganz knapp dem Tode entronnen war?

„Gehörst du zum Kollektiv?“

Seine dunklen Brauen hoben sich. „Wie viele Gestaltwandler kennst du in der Armee des Kollektivs?“

Er war also ein Klugscheißer, sogar wenn er wütend war. „Wer zum Teufel bist du dann?“

„Michael Quinn ist mein Name“, erwiderte er mit dieser tiefen, rauen Stimme, die perfekt zu seinem umwerfend guten Aussehen passte. Er hatte sogar ein leichtes Näseln in der Sprache, Andeutung eines längst vergessenen Akzents. Er musterte sie langsam und sagte ironisch: „Ich könnte fragen, ob du Saige Buchanan bist, aber das ist ja wohl offensichtlich.“

Er musste gespürt haben, dass sie wieder wegrennen wollte, denn er kniff die Augen zusammen und fügte leise hinzu: „Ich hab dich ein Mal erwischt, Mädchen. Glaub nicht, dass ich das nicht wieder schaffen würde.“

„Du entführst mich also, ja?“

„Ich versuche nur, dir etwas klarzumachen.“ Anscheinend hielt er sie für völlig verrückt. „Wenn ich dir sage, lauf nicht weg, dann bleib verdammt noch mal, wo du bist.“

„Woher nimmst du das Recht, mir vorschreiben zu wollen, was ich tun soll?“ Sie widersprach vehement und mit allem Mut, den sie zusammennehmen konnte, und hoffte, dass sie sich nicht mehr Ärger einhandelte, als sie bewältigen konnte. Das Messer war ihre einzige Waffe gewesen, und die war ihr aus der Hand gefallen. Wenn dieser Typ Ärger machen sollte, hätte sie ihr aber sicher nicht viel genützt. Sein Körper war geschmeidig wie ein Panther, kräftige Muskeln, tolle Figur – das perfekte gefährliche Raubtier. Geradezu gebaut für hohe Geschwindigkeiten und auch für andere Dinge, an die sie lieber nicht denken wollte, in Anbetracht der Tatsache, dass sie ihn überhaupt nicht kannte. Und jetzt war sie allein mit ihm, mitten im Dschungel.

„Man könnte meinen, du solltest etwas dankbarer dafür sein, dass ich dir gerade das Leben gerettet habe“, meinte er mit jener kühlen, männlichen Vernunft, die sie immer dazu brachte, vor kindlichem Trotz mit den Füßen aufzustampfen. Zum Glück konnte sie diesen lächerlichen Impuls zurückdrängen und drückte stattdessen das Kreuz durch, entschlossen, nicht zurückzuweichen. Sie hob das Kinn und wünschte zum tausendsten Mal, sie wäre ein paar Zentimeter größer gewachsen. Sie hatte es schon immer gehasst, sich mit jemandem zu streiten, der sie überragte. Plötzlich hatte sie ein Bild vor Augen, wie sie ihn mit Stöckelschuhen und zehn Zentimeter hohen Absätzen niederstarrte, und schnaubte beinahe, weil es so absurd war. Genau das Richtige für den Dschungel, aber wenigstens hätte sie die Absätze als Waffen einsetzen können.

Durch seine schön geschwungenen Wimpern hindurch schien er genau zu erkennen, wie chaotisch es in ihr aussah, ihre Gedanken sausten wie Konfetti im Sturmwind. Sie bewegte sich unbehaglich, ihre Haut kribbelte, ihr Atem ging zu schnell, und sie hätte schwören können, dass in seinem durchdringenden Blick auch noch Spott lag, was sie erst recht wütend machte. Da zitterte sie in ihren Stiefeln, und der Idiot meinte auch noch, das wäre komisch.

Ohne nachzudenken, machte sie den Mund auf und äußerte die höhnische Erwiderung, die ihr auf der Zunge lag: „Lass uns eins gleich mal klarstellen, du Spatzenhirn. Vielleicht warst du vorhin ganz nützlich, aber um deine Hilfe habe ich nicht gebeten.“

Er ging auf sie zu, aber stoppte mitten im Schritt, die onyxfarbenen Augen zu bedrohlichen Schlitzen zusammengekniffen. „Hast du mich gerade ernsthaft Spatzenhirn genannt?“

Saige hob das Kinn noch höher. „Da hast du verdammt recht“, stieß sie hervor. Das war wahrscheinlich die größte Dummheit, die sie je geäußert hatte, aber jetzt galt es, standhaft zu bleiben.

Er schüttelte den Kopf, hatte offensichtlich keine Ahnung, was er mit ihr anfangen sollte. „Kann es sein, dass du lieber das Spielzeug dieses Monsters gewesen wärest? Ist das so, Saige?“ Seine Stimme war jetzt krächzender, sein Kinn entschlossen. „Weißt du etwa nicht, was die Casus mit den Frauen anstellen, bevor sie sie umbringen?“

Sie erschauerte, schlang die Arme um sich, und trotz der Hitze wurde ihr eiskalt. Da der Schrecken dieses Blindflugs vorüber war, rasten ihre Gedanken, die sich immer wieder um eine unleugbare Tatsache drehten. Nach all den Sorgen und den Fragen wusste sie jetzt, dass die Casus ohne jeden Zweifel tatsächlich existierten – und dass sie hinter ihr her waren. Blutgierige Monster, die sie mit bloßen Händen zerfleischen konnten, als wäre sie bloß ein lästiges Insekt. In diesem Augenblick begriff Saige endlich, dass ein stummer verängstigter Teil von ihr die ganze Zeit gehofft hatte, dass die Legende vielleicht, bloß vielleicht, doch Unsinn wäre. Nach den Recherchen und den verrückten Dingen, die sie unternommen hatte, um die Dark Marker zu schützen, hatte sie trotzdem noch gehofft, dies alles würde in Wirklichkeit nicht existieren – die Monster, das ganze Morden. Und nun, da sie die Wahrheit kannte, konnte sie nicht mehr zurück. Nie mehr.

„Ich weiß, was die Casus sind – und wozu sie in der Lage sind“, flüsterte sie mit zitternder Kehle und brennenden Augen. Sie hasste es, dass sie ihre Gefühle vor diesem schönen Fremden nicht verbergen konnte, dessen Gegenwart ihren Körper und ihren Geist völlig durcheinanderbrachte. „Du kannst dir die Einzelheiten schenken.“

„Vielleicht.“ Er sprach jetzt auch leise, aber nicht minder entschlossen. „Aber nicht, solange du meinst, du könntest wie der letzte Schwachkopf durch den Dschungel rennen, wenn ein sadistischer Killer hinter dir her ist.“

„Entschuldige, dass ich in Panik geraten bin“, brachte sie hervor, ständig zwischen Angst und Wut schwankend, „aber an Monster habe ich nicht gedacht, als ich losgerannt bin. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, von dir und deiner perversen mentalen Sexshow wegzukommen.“

Sofort veränderte sich sein Gesichtsausdruck. „Was zum Teufel soll das heißen?“

Saige funkelte ihn an, während ihr in einem Winkel ihres Hirns klar wurde, dass dies mit Abstand die merkwürdigste Unterhaltung war, die sie je gehabt hatte – und Gott allein wusste, dass sie schon viele komische Unterhaltungen hatte. Sie wollte diese Kleinigkeit eigentlich gar nicht zum Besten geben, aber die Angst hatte offenbar ihre Fähigkeit zur klugen Selbstzensur geschmälert.

Sie räusperte sich und versuchte, ruhiger zu sprechen. „Ich … ich weiß, woran du da in der barra gedacht hast.“

Sein Blick war misstrauisch, auf seinen scharfen Wangenknochen trat eine leichte Rötung auf, die sie in dem Lavendel-Zwielicht ganz deutlich erkennen konnte. Für einen Moment sah es so aus, als ob er wissen wollte, woher sie das wusste, aber dann fuhr er sich mit beiden Händen durch das kurze dunkle Haar, die erhobenen Arme betonten seine raubtierhaften Muskeln, und er wirkte wie ein sinnlicher Gott, der auf die Erde gekommen war, um sie mit der wilden Schönheit seines Körpers in Versuchung zu führen. Saige legte sich eine Hand aufs Herz und hätte schwören können, dass ein stummes Lachen tief in seiner Brust rumorte, auch wenn sie nichts hörte.

„Du kannst also Gedanken lesen?“

Sie zögerte, wollte ihm die Wahrheit nicht verraten. „Ich bin nicht blind, Mr Quinn. Es war nicht schwer, in Ihrem Gesicht zu lesen, was Ihnen gerade durch den Kopf ging.“

Sie konnte es kaum fassen, aber er wurde tatsächlich noch röter. „Lieber Himmel, ihr Buchanans seid alle gleich, was?“ Er steckte die Hände in die Hosentaschen und starrte sie mit einer Intensität an, bei der ihr gleichzeitig heiß und kalt wurde.

Saige holte tief Luft, musterte sein Gesicht, fasziniert von den Schatten in seinen dunklen, wunderschönen Augen. War er hinter dem Dark Marker her? Oder wollte er etwas anderes?

„Was weißt du über die Buchanans? Und was genau weißt du über mich?“ Außer der schlichten Tatsache, dass du genau weißt, dass ich dich beißen will, stöhnte sie stumm und dachte voller Unbehagen an diese Vision. Es war der reinste Wahnsinn, wie sehr die Vorstellung, ihre Zähne in seinem Hals zu vergraben, sie erregte. Die schwere und beißende Hitze in ihrem Zahnfleisch wurde schlimmer, die Reißzähne des Merricks wollten zum Vorschein kommen.

Es wird nicht mehr lange dauern, dachte sie. Wie ein Streichholz, das man anzündete, war etwas an diesem verlockenden Michael Quinn, das ihr Blut in Wallung brachte, das Erwachen vorantrieb.

Was bedeutete, dass die Gier stärker werden würde, Erfüllung verlangte.

Er ließ sie nicht aus den Augen, und sie fühlte sich, als könnte er ihre geheimsten Gedanken lesen. Endlich, nach einer halben Ewigkeit, beantwortete er ihre Frage. „Ich weiß genug, um annehmen zu können, dass du verstehst, was hier vorgeht. Außerdem weiß ich über deine Familie Bescheid, deine Mutter, und ich weiß sogar von dem Kreuz, das du in Italien gefunden hast. Und ich bin verdammt sicher, dass du ganz genau weißt, was ich meine, wenn ich sage, dass ich ein Watchman bin.“ Er unterbrach sich, als wolle er ihr Gelegenheit geben, das abzustreiten, aber sie stand einfach nur da, benommen, und fragte sich, was in aller Welt sie jetzt tun sollte. Wenn er ein Watchman war, dann gehörte er zu den Guten, und das sollte eine Erleichterung sein. Trotzdem war Saige sogar noch beunruhigter.

„Du kannst mir vertrauen, Saige. Falls wir hier lebendig wieder rauskommen, wirst du mir sogar vertrauen müssen.“

„Dir vertrauen?“ Er war anders als alles oder jeder, den sie sich je als Watchman vorgestellt hatte – in seinem dunklen, glühenden Blick jedoch lag Wahrheit. Sie glaubte ihm. Aber wenn er wirklich war, was er behauptete zu sein, dann brach er ganz eindeutig jede einzelne Regel der Watchmen. „Ich weiß, wie das eigentlich vonstattengehen sollte“, murmelte sie, ohne ihre Zweifel unterdrücken zu können. „Du dürftest mich lediglich beobachten, müsstest Abstand halten. Und dich nicht mitten in einer Menschenmenge an mich heranmachen, während du denkst … was du halt gedacht hast“, brachte sie den Satz unsicher zu Ende.

„Du weißt ja, was man so sagt: In verzweifelten Zeiten muss man zu verzweifelten Maßnahmen greifen. Nun, dies ist so eine Zeit.“ Er zog ein Foto aus der Gesäßtasche und hielt es ihr hin. Es zeigte sie selbst. „Ich habe Anweisung, deinen zickigen Hintern zurück nach Colorado zu bringen, zu deiner Familie. Dein Bruder Riley hat mir das hier gegeben, damit ich dich finden kann.“

Das Foto war vor zwei Jahren gemacht worden, als sie und Riley das Weihnachtsfest zu Hause mit Elaina verbracht hatten. Saige sah Quinn an und fragte: „Wieso sollte Riley dich schicken, um mich zu suchen? Und was sollte das da in der Bar?“, nur um in der nächsten Sekunde zu wünschen, sie hätte die Klappe gehalten. Je mehr sie an diese eindeutigen Bilder dachte, desto wärmer wurde ihr, als würde sie innerlich dahinschmelzen, und ihr Bauch gab peinlicherweise auch noch ein vernehmbares Grummeln von sich.

Immer mit der Ruhe, Saige. Du musst einen klaren Kopf behalten … darfst dich nicht von deinen Begierden überwältigen lassen.

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