×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Waena - Der Ruf der Brandung«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Waena - Der Ruf der Brandung« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Waena - Der Ruf der Brandung

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Wenn der Ozean ruft

Für Moana gibt es nichts Schöneres als zu surfen. Aber in ihren Träumen findet sie sich neuerdings in einer geheimnisvollen Unterwasserwelt wieder, statt auf den Wellen zu reiten. Und im echten Leben scheint auf einmal etwas zwischen ihr und ihrem besten Freund zu stehen. Auch in der Zweier-WG mit ihrer Mutter kriselt es. Was ist da los? Pubertät? Es gibt ein viel schöneres Wort dafür: Waena - das Dazwischen. Was das wirklich bedeutet, erfährt Moana allerdings erst, als sie den faszinierenden Keanu kennenlernt. Er ist ihr sofort seltsam vertraut - und er träumt auch von der Unterwasserwelt! Die beiden gehören zusammen, wenn auch auf ganz andere Weise, als sie zunächst glauben ...

Eine Geschichte über tiefe Sehnsucht, große Gefühle und die Suche nach dem eigenen Weg


  • Erscheinungstag: 31.01.2020
  • Seitenanzahl: 320
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783748800293

Leseprobe

Für mein Mottchen

1.

Ich gleite durch die Dämmerung. Übermächtig greift die Sehnsucht nach mir, wie die langen Algenstängel nach meinen Beinen. Wickelt sich um mich, hüllt mich ein, nimmt mich gefangen. Die Angst ist auch wieder da. Sie pocht darunter. Eine seltsame Mischung. Wegen oder nach derselben Sache.

Aus den Augenwinkeln bemerke ich etwas Schimmerndes. Meine silberblauen Arme. Das wenige Licht hier unten verfängt sich darauf. Freiwillig würde ich niemals ein Shirt ­anziehen, das hauteng ist und silbern glänzt. Auch nicht in Blau, obwohl das meine Lieblingsfarbe ist. Aber dieser Gedanke ist überflüssig, denn das ist kein Shirt, und das weiß ich sehr genau. Es ist meine Haut. Ich bin nackt. Und silberblau.

Die mich umgebende Dämmerung ist schwer. Ich trage ihren Druck auf jedem Zentimeter meines Körpers. Das ist nicht unangenehm, nur anders als gewohnt. Große Sprünge kann man hier unten nicht machen. Aber schwimmen. Dabei entstehen Verwirbelungen, in denen sich die langen gefiederten Stängel des Kelpwaldes wiegen. Dazwischen schwebt ein Schwarm kleiner glitzernder Fische. Ich schaue ihm nach. Atme aus.

Schillernde Blasen verlassen meinen Mund. Ganz sicher brauche ich ziemlich bald neue Luft. Instinktiv schaue ich nach oben. Dort wird es hell. Bleib ganz ruhig. Du weißt, dass du es kannst. Und dann atme ich. Unter Wasser. Die Luftblasen erinnern an flüssiges Metall. Zwischen dem langen Tang sehen sie märchenhaft schön aus. Weit oben verlieren sie sich, und für einen Moment möchte ich ihnen folgen.

Doch das blaue Leuchten taucht unter mir auf. Es ist klein, aber es dringt aus der dunklen Tiefe wie ein übermächtiges Versprechen. Die Sehnsucht nach etwas, das ich nicht begreifen kann, dehnt sich noch weiter aus. Erfüllt mich ganz und gar. Dagegen ist selbst die Angst machtlos.

Ich werfe einen letzten Blick ins Helle. Dann wende ich mich nach unten, ein kräftiger Schwimmstoß. Ich komme!

Da dringt ein schriller Ton an meine Ohren. Das quälende Geräusch droht mich zu zerreißen. Das Einzige, das mich retten kann, ist, die Augen ganz weit zu öffnen.

»Hey, Motte-Karotte, du musst jetzt wirklich aufstehen, sonst kommst du zu spät zur Schule«, sagt Mam.

Sie stellt den Wecker aus, der neben meinem Bett herumlärmt, und streicht mir sacht über den Kopf. Ich atme tief den Duft ihres Parfums ein.

»Du meine Güte, wo bist du denn in deinen Träumen gewesen? Du bist ja schweißgebadet«, murmelt sie.

»Das ist kein Schweiß. Das ist Algenwasser aus der tiefsten Tiefe«, krächze ich mit morgenheiserer Stimme.

Mam lacht schallend auf.

Ich zittere. Mein Pyjama ist klatschnass, jetzt ist mir wirklich kalt. Mit steifen Gliedern erhebe ich mich und stakse Richtung Bad. Laufen kann man das nicht wirklich nennen. Meine Beine machen nur ganz mickrige Schritte. Als hätte ich bis eben gar keine Füße gehabt. Sondern Flossen.

»Das ist nicht lustig«, knurre ich.

»Wieder ein Unterwassertraum?«, ruft Mam mir nach.

Ich grunze etwas und knalle die Badezimmertür zu. Fair ist das nicht. Aber ich bin noch nicht wieder ganz bei mir.

Aus dem Spiegel über dem Waschbecken blickt mir ein verknautschtes Wesen mit wirren schwarzen Locken entgegen. Das habe ich schon etliche Male am Morgen gesehen, und darum putze ich ihm auch anstandslos die Zähne. Danach will ich den letzten Hauch des Traums weggurgeln und mir mit Schwung eine Portion Mundwasser direkt aus der Flasche in den Mund tropfen. Leider treffe ich mein rechtes Auge.

»So ein blöder Mist!«, fluche ich los.

Halb blind spüle ich mein Gesicht mit klarem Wasser. Als mir endlich ein weiterer Blick in den Spiegel gelingt, sehe ich dort ein verknautschtes Wesen mit wirren schwarzen Locken und einem feuerroten Auge. Aha, so ein Tag wird das also. Ich seufze resigniert. Dann schneide ich ein paar lustige Grimassen. Alles andere hat sowieso keinen Sinn. Leider muss ich nicht lachen. Der Unterwassertraum hält mich noch in seinen Fängen.

»Oder in seinen Kelpfesseln«, murmle ich und strecke meinem Spiegelbild die Zunge raus.

Den ersten dieser seltsamen Träume hatte ich kurz nach meinem vierzehnten Geburtstag. Das war vor einem Monat. Den zweiten und dritten etwa vierzehn Nächte später. Den vierten und fünften träumte ich in dieser Woche. Wenn das so weitergeht, werde ich sie irgendwann nicht mehr zählen können. Diese Träume sind megaintensiv und fühlen sich super­echt an. Jedes Mal spüre ich das Gleiche: erst Angst und absolute Verwirrung. Dann Sehnsucht. Nach etwas Unbekanntem. Von dem ich weiß, dass es wunderschön wäre. Wenn ich es fände. Was ich aber leider nicht tue. Und nach dem Aufwachen stimmt dann für einen Moment einfach gar nichts mehr.

Mir fällt der Englischtest ein, den wir heute in der sechsten Stunde schreiben. Mit einem Mal bin ich ganz und gar zurück in der Realität. Der Test ist die letzte Chance, meine Zeugnisnote zu verbessern, und ich habe Mam hoch und heilig eine Drei versprochen. Ich habe sie sogar ein bisschen angeraunzt, dass ich selber wüsste, wann und wie viel ich dafür lernen muss. Aber die Drei rückt gerade in unerreichbare Ferne. Eigentlich weilt sie dort schon das ganze Schuljahr. Ich mag Englisch nicht und hatte überhaupt keine Lust zu lernen. Das kann ja mal vorkommen. Doch ich sollte nicht so verschwenderisch mit dem Hochundheilig um mich werfen. Nun muss ich doch grinsen. Wie das wohl aussehen würde, mit einem Hochundheilig zu werfen?

In einem der Frauenmagazine, die immer beim Zahnarzt im Wartezimmer herumliegen, habe ich mal gelesen, dass man sich jeden Morgen im Spiegel selbst anlächeln soll. Dann würde es ein guter Tag werden, egal was auf einen zukommt. Ein etwas besserer Tag würde mir heute schon genügen. Ich ziehe mein Grinsen noch ein bisschen breiter und klemme es mir kurz hinter den Ohren fest. Nur für alle Fälle.

Leider funktioniert es nicht. Als wir nach einem ewig währenden Vormittag endlich aus der Schule in die Freiheit des Nachmittags hinaustreten, weiß ich, dass Englisch unwiederbringlich verloren ist. In dem Moment fährt Mam mit dem Fahrrad vorüber. Ich habe keine Lust, ihr das Fiasko sofort zu beichten. Glücklicherweise sieht sie uns nicht.

»Hey, das ist doch deine Mam«, sagt Katha.

Ich nicke.

»Anna! Anna!«, ruft meine Freundin laut hinter Mam her.

Katha gibt sich alle Mühe und wedelt auch noch mit den Armen.

»Lass nur, sie hört dich nicht«, sage ich.

Mam hat Stöpsel in den Ohren. Wenn sie Musik hört, ist sie ganz woanders. Wahrscheinlich sollte sie dann gar nicht Fahrrad fahren.

Ich schaue ihr nach. Über ihrer Schulter hängt wie immer die unverwüstliche und daher etwas schmuddelige Kurier­tasche mit dem Autogurt. Die trägt sie auch schon auf fünfzehn Jahre alten Bildern.

Letztes Weihnachten habe ich ihr eine Handtasche geschenkt. Sie hat gar nicht so superviel gekostet und sah doch ein bisschen aus wie eine von Kathas Mutter. Mam hat mir einen dicken Kuss gegeben und gesagt, ich solle ihr nicht so teure Geschenke machen. Nun verstaubt die Tasche auf der Hutablage der Garderobe, die wir auf dem Sperrmüll gefunden haben. Inzwischen verstehe ich gar nicht mehr, warum ich die Tasche mal hübsch fand.

Lange Zeit war es mir ziemlich peinlich, wie Mam sich kleidet und dass sie nicht aussieht wie die meisten anderen Mütter. Heute finde ich es völlig in Ordnung. Viele Frauen in ihrem Alter ziehen sich wie Marie oder Claire an. So jedenfalls nennt es mein bester Freund Herr Meier und meint damit, dass sie Kleider wie die Models in den Frauenmagazinen tragen. Aber meine Mutter ist Mode gegenüber völlig resistent. Sie fühlt sich noch immer in diesen Hosen am wohlsten, die viel zu weit sind und riesige Taschen haben. Außer ihr tragen die nur noch Handwerker, die eine Menge Werkzeug mit sich herumschleppen müssen, und der Obdachlose, der jeden Morgen mit einer Plastiktüte in der Hand durch unsere Straße der aufgehenden Sonne entgegenläuft. Am Abend schlurft der alte Mann wieder zurück, in den Sonnenuntergang hinein. Die Tüte trägt er noch immer und zum Glück auch die Hose. Sie schleift unten durch den Dreck und hängt am Hintern viel zu tief runter. Ich befürchte ja, sie könnte eines Tages ganz nach unten rutschen. Die Unterhose des Obdachlosen möchte ich nämlich nicht sehen. Wenn er überhaupt eine anhat. Mam und ich geben ihm jedes Mal einen Euro, wenn wir an ihm vorbeilaufen. Er sagt nicht Danke. Eigentlich sagt er überhaupt niemals etwas. Ab und zu kauft er sich am Kiosk eine Flasche Wodka. Manchmal steht er dann auf der Kreuzung und regelt den Verkehr auf seine ganz eigene Art. Der Obdachlose gehört in unsere Straße wie der riesige Magnolienbaum im Vorgarten von Nummer 20, wie die kleine Bäckerei mit den leckeren Zimtbrötchen und wie das ohrenbetäubende Glockengeläut, das alle fünfzehn Minuten von der Kirche um die Ecke herüberdröhnt.

»Erde an Mo. Erde an Mo. Bitte sofort aus dem Gedankenkarussell aussteigen«, dringt Kathas Stimme zu mir durch.

Ich schaue sie an, und Katha lächelt.

»Na endlich. Da bist du ja wieder«, sagt sie. »Lass uns gehen. Ich habe später noch Ballettunterricht.«

Eigentlich hat Mam mich Moana genannt. Früher fand ich den Namen schrecklich. Ich wollte lieber so heißen wie alle anderen Kinder, wie Katharina zum Beispiel oder wie Luisa. Aus dem Hawaiianischen übersetzt bedeutet Moana die Anbetung der unendlichen Weite der See. Im Rest der Welt einfach Ozean. Er ist der schönste Name, den ich mir heute vorstellen kann. Als ich vor fünf Jahren aufs Gymi wechselte, habe ich ihn gekürzt. Mo finde ich richtig gut. Mam nennt mich allerdings Motte-Karotte-Lieselotte, Mottchen-Popottchen oder Lottchen. Sie wird nicht müde, immer neue Varianten zu erfinden. Manchmal frage ich mich, warum sie mir überhaupt einmal einen Namen gegeben hat und ob sie sich an den noch erinnern kann.

Entstanden bin ich in Kalifornien unter einem Mammutbaum. Das hat Mam mir erzählt, als ich alt genug war, um zu begreifen, wie sie das meinte. Eigentlich wäre meine Mutter gern für immer dortgeblieben. Nicht unter dem Mammutbaum, aber am Pazifik. Doch weder aus Kalifornien noch aus der Beziehung zu dem Mann, der mein Vater ist, wurde etwas Bleibendes.

Bis zu meinem siebten Geburtstag glaubte ich, mein Papa wäre ein auf einer Insel verschollener Bootskapitän, den ich eines Tages von dort retten würde. Jeder, der die Bücher von Astrid Lindgren kennt, weiß, woher ich diese Idee hatte. Wenn ich an meinen Vater dachte, sah ich tatsächlich Efraim Langstrumpf vor mir, mit einem Vollbart, einer Mütze auf dem Kopf und in einem geringelten T-Shirt. In Wirklichkeit habe ich meinen Vater noch nie gesehen. Mam erklärte mir, er hätte den Kontakt zu ihr abgebrochen, als sie im vierten Monat schwanger war. Zu seinem und meinem Schutz gestand sie mir allerdings auch, dass sie ihm nichts von mir gesagt hatte. Fotos haben wir keine von ihm. In Kalifornien war ich auch noch nie.

»Karottchen, wühle nicht in der Vergangenheit. Wir leben im Hier und Jetzt«, antwortet meine Mutter, wenn ich frage. Ich versuche, ihr das zu glauben und nicht traurig zu sein. Meistens klappt das auch. Obwohl ich mir nicht mehr sicher bin, dass mir das Hier und Jetzt für alle Zeiten genügen wird. Jeder möchte irgendwann wissen, wo er herkommt. Seit einigen Wochen wird mein Wunsch danach stärker.

Kathas Mutter ist den ganzen Tag zu Hause und hat Mam, als wir damals in die Fünfte kamen, angeboten, dass ich bei ihnen zu Mittag mitessen könnte. Mam kann nicht kochen und macht das auch nicht gern. Weil ich weiß, wie sehr es sie erleichtert, wenn ich ein warmes Essen am Tag bekomme, gehe ich noch immer öfter nach der Schule mit zu Katha.

So wie heute.

Nach dem Essen machen wir schnell die Hausaufgaben. Darüber bin ich eigentlich ganz froh, denn ich weiß, dass ich sie allein zu Hause wahrscheinlich nicht machen würde.

Weil ich danach nichts Besseres zu tun habe, begleite ich Katha zum Ballettstudio. Dann bummle ich durch die Sonne wieder zurück.

Im Park sitzen sie zusammen und beieinander. Sie hören Musik, lachen, manche rauchen, alle trinken teure Biolimonade. Ich winke Klara zu. Sie reagiert aber nicht. Ich weiß nicht, ob sie mich wirklich nicht sieht oder nur so tut, als ob. Ein unangenehmer Stich in meinem Herzen lässt mich schlucken. Ich laufe etwas schneller.

Herr Meier müsste nun auch endlich Schulschluss haben. Ich schicke ihm eine verbotene Nachricht.

Vor dem gegenüberliegenden Haus steht der Laster eines Möbelhauses. Zwei Männer in blauen Hosen mühen sich mit einer Waschmaschine ab.

»Das ist schon das zweite Dachgeschoss in dieser Woche«, murrt der eine.

Ich werde hellhörig. Wieso Dachgeschoss?

Ich renne die Treppen hoch und stürze an das Fenster im Wohnzimmer. Tatsächlich. Gegenüber zieht jemand ein!

Auf dem Display meines Telefons steht die Antwort von Herrn Meier. Sorry, Mo. Kann heute leider nicht. Bis morgen.

Ausgerechnet heute, wo jemand ins Dachgeschoss gegenüber einzieht.

Warum kann er eigentlich nicht? Er hat in den Pausen gar nichts gesagt. Seltsam.

»Wie war der Englischtest, Lottchen?«, fragt Mam, als wir nach dem Abendessen auf dem Sofa rumlümmeln.

Ich erzähle ihr stattdessen, dass wir morgen mit dem Biokurs ins Aquarium gehen.

»Ach, das ist ja schön!«, ruft sie prompt und mit leuchtenden Augen.

Die unendliche Liebe zum Ozean und all seinen Bewohnern habe ich von ihr geerbt. Herr Meier sagt, es sei wichtig, eine echte Leidenschaft zu haben. Katha findet sie übertrieben. Aber manchmal fühle ich mich tatsächlich, als sei der Ozean ein Teil von mir. Dabei bin ich nicht einmal an der Küste aufgewachsen, sondern im absoluten Landesinneren. Das Meer ist etwa fünfhundert und der nächste Ozean sogar tausend Kilometer weit entfernt. Mam und ich verbringen dort die Sommerferien. Das sind immerhin sechs Wochen im Jahr. Um uns über den Winter zu trösten, gehen wir ins Aquarium. Zumindest haben wir das oft gemacht, als ich noch jünger war. Wir hatten sogar eine Dauerkarte. Aber seit etwa einem Jahr waren wir nicht mehr zusammen dort. Herr Meier meinte, das sei völlig normal, weil man irgendwann einfach weniger mit seinen Eltern unternimmt. Leider kenne ich sonst niemanden, der mit mir ins Aquarium geht. Die meisten finden es langweilig. Herr Meier erbarmt sich hin und wieder.

Auf den Schulausflug freue ich mich trotzdem nicht besonders. Unsere Biolehrerin wird uns Vorträge über irgendwelche Süßwasserkrustentiere halten wollen, und wir werden ganz sicher nicht stundenlang vor dem großen Glaszylinder träumen dürfen, in dem die Meeresfische ihre Kreise ziehen.

»Na ja, Bio mit dem Böhnchen«, murmle ich darum. »Du musst noch diesen Zettel unterschreiben, dass ich länger bleiben darf, wenn ich möchte.«

»Du warst schon lange nicht mehr da, oder?«, fragt Mam.

Ich nicke. Das letzte Mal war vor den Unterwasserträumen. Komisch, dass ich das denke. Denn eigentlich ist es noch viel länger her.

»Beim letzten Mal war ich dreizehn«, sage ich.

Mam zieht mich an sich und gibt mir einen Kuss zwischen die Locken. »Meine kleine Meerjungfrau«, raunt sie leise und hat zum Glück den Englischtest vergessen.

2.

Panisch reiße ich die Augen auf. Ich bin gefangen. In absoluter Dunkelheit. Mein Körper ist gefesselt. Ich kann mich überhaupt nicht bewegen.

Hilfe!, will ich schreien, bekomme aber kein Wort heraus.

Was ist hier los? Wo bin ich?

Atme! Ein und aus. Es geht immer ums Atmen.

Ich bin nicht unter Wasser. Ich atme Luft.

Die Panik tut weh. Zerquetscht mein Herz. Es schlägt dagegen an. So schnell es kann.

In meinen Füßen stecken tausend Nadeln.

Ich wälze meinen Körper herum. Nach rechts, nach links. Wie ein Wurm. Schließlich bekomme ich die Arme frei. Greife vor mich, ziehe herab, was ich erfasst habe. Befreie meinen Kopf. Meinen Oberkörper. Strample mich komplett in die Freiheit.

Atme.

Dann muss ich lachen.

»Ach Mam«, sage ich und knipse meine Lampe neben dem Bett an.

Ich habe mich darüber schon öfter beschwert, aber Mam benutzt nach wie vor die Bettbezüge, bei denen irgendwann mal alle Knöpfe abgesprungen sind. Und irgendwie gelingt es mir immer wieder, im Schlaf da hineinzugeraten. Nach einigen nächtlichen Umdrehungen habe ich mich dann dermaßen im Bezug verheddert, dass ich völlig hilflos erwache.

Aber eine solche Panik wie eben habe ich deswegen noch nie empfunden.

»Hoffentlich entwickle ich keine blöde Platzangst«, murmle ich und steige aus dem Bett. Dann richte ich mir das zerknäulte Bettzeug wieder gemütlich her.

Gerade als ich die Lampe löschen möchte, spüre ich einen seltsamen Druck in meiner linken Hand. Neugierig betrachte ich sie. Irgendetwas stimmt nicht. Sie fühlt sich heiß an und puckert. Die Innenfläche ist gerötet und ein wenig geschwollen. Eine Wunde kann ich nicht entdecken. Ich wüsste auch gar nicht, woher die kommen sollte. Ich habe mich nicht verletzt. Verwundert betrachte ich meine Hand.

Plötzlich bemerke ich etwas ganz und gar Ungewöhnliches. Genau in der Mitte, dort wo die Schicksalslinie die Kopflinie kreuzt, bildet sich ein winziges Loch. Ich traue meinen Augen nicht und blinzle ein paarmal. Danach ist das Loch immer noch da. Allerdings ein Stück größer. Es ist beinahe rund und öffnet sich immer weiter und weiter. Blut tritt keines aus. Es tut auch nicht weh. Wenigstens das. Aber das Ganze ist absolut gruselig.

»Das gibt es ja gar nicht«, flüstere ich. »In meiner Hand ist etwas gewachsen. Vielleicht ein klitzekleines Alien. Oder ist das hier auch ein abgefahrener Traum?«

Inzwischen kenne ich mich mit seltsamen Träumen ziemlich gut aus. Das hier fühlt sich allerdings total real an. So echt kann kein Traum sein.

Im Loch erscheint etwas Silbriges. Vorsichtig taste ich danach. Es ist hart. Ich drücke sacht daran herum. Es tut immer noch nicht weh. Obwohl es so aussieht, als müsste es das. Das Loch hat jetzt einen Durchmesser von etwa einem Zentimeter. So etwas wie ein großer Tropfen beginnt aus der Öffnung zu quellen. Klar wie Wasser. Millimeter für Millimeter presse ich ihn aus meiner Hand. Der Tropfen bildet eine perfekte kleine Kugel. Doch bevor ich die genauer betrachten kann, rollt sie von meiner Hand. Als sie auf dem Boden aufkommt, macht sie ein Geräusch, als wäre sie aus Glas. Dann verschwindet sie unter meinem Bett.

»Was war das denn?«, flüstere ich völlig perplex und starre wieder auf meine Hand.

Wie kam diese kleine Kugel in meinen Körper? Das muss irgendwann bei einem Unfall passiert sein. Vielleicht habe ich mir mal die Hand an einer zerbrochenen Vase aufgeschnitten. Vielleicht war die mit diesen Zierkügelchen gefüllt, die es in Dekoläden gibt. Und vielleicht ist eines davon irgendwie in die Wunde geflutscht. An so einen Unfall kann ich mich zwar nicht erinnern, aber ich könnte ja noch sehr jung gewesen sein. Kann man Glas im Körper haben, das erst nach Jahren wieder herauskommt? Der Gedanke macht mir eine Gänsehaut. In meiner Hand kann ich nichts Ungewöhnliches mehr ent­decken. Das kleine Loch hat sich wieder vollständig geschlossen. Oder war es nie wirklich da? Habe ich vielleicht doch nur geträumt? Ich überlege, ob ich unters Bett kriechen soll, um nach dem Beweis zu suchen.

Da muss ich so heftig gähnen, dass meine Kieferknochen knacken. Eine riesige Müdigkeit übermannt mich.

Ich muss morgen unbedingt Mam danach fragen, denke ich noch, dann schlafe ich wieder ein.

Man muss achtsam sein mit Lieblingsdingen. Wenn man sie überall herumzeigt, können sie ihren Zauber verlieren. Das kenne ich schon. Trotzdem bin ich etwas erschrocken, als wir mit unserer Biolehrerin Frau Böhnlein im Vorraum stehen und ich mein geliebtes Aquarium kaum wiedererkenne. Obwohl es sich gar nicht verändert hat.

Jeder von uns ist als Kind oft hier gewesen. Mit den Eltern, zu Geburtstagen, mit der Grundschulklasse oder mit dem Hort. Vielleicht ist es ihnen etwas peinlich, dass sie gute Erinnerungen daran haben. Alle tun nämlich so, als interessierten sie sich nicht im Geringsten für die Wasserwelten. Die Jungs lärmen herum und machen blöde Witze. Die Mädchen hängen an ihren Smartphones und unterhalten sich über Sachen, die sie angeblich spannender finden. Schminke, Insta, Jungs und so was.

»Ich war schon ewig nicht mehr hier«, sagt Katha neben mir.

»Ich auch nicht«, murmle ich.

Der Geruch der großen Becken mit seinen vielen Wasser­bewohnern kitzelt in meiner Nase. Und plötzlich spüre ich diese unfassbare Sehnsucht in mir, die ich aus meinen Unterwasserträumen kenne. Vermischt mit einer etwas wirklicheren Wehmut. Mam und ich haben hier so viele Stunden verbracht. Ob mein Lieblingsfisch noch lebt? Ich habe ihm sogar einen Namen gegeben. Koa. Mam mit ihrer Vorliebe für hawaiianische Namen hat ihn mit mir zusammen ausgesucht. Der Mutige. Ich strebe zum großen Glaszylinder, um nach ihm Ausschau zu halten.

Doch unsere Biolehrerin hat andere Pläne.

»In die Süßwasserabteilung, bitte!«, ruft sie.

Frau Böhnleins Welt sind die Krebse, Lurche und Würmer der Seen und Flüsse.

»Den Ozean mag jeder«, sagt sie. »Und jeder hat auch schon vom vielen Plastik gehört, das die Meere verschmutzt. Aber dass die Lebewesen der Süßgewässer aussterben, bemerkt kaum jemand. Darum müssen wir uns kümmern.«

Frau Böhnlein hat sich auf die Fahne geschrieben, die heimische Süßwasserwelt zu retten. Darum stehen wir im langweiligsten Raum des ganzen Aquariums, und sie hält einen ihrer Vorträge. Obwohl ich ihre Begeisterung für Wesen wie Egel, Wasserflöhe und Strudelwürmer irgendwie niedlich finde, höre ich doch kaum hin. Viel lieber möchte ich nach nebenan gehen. Je länger Frau Böhnlein redet, desto größer wird mein Wunsch danach. Bis ich es schließlich kaum mehr aushalte.

»Alles okay mit dir?«, fragt Katha. »Du zappelst total rum.«

»Ja, alles okay«, sage ich. »Ich glaube, ich bleibe noch ein bisschen hier, wenn das Böhnchen fertig ist.«

»Wirklich? Ist doch langweilig.«

Ich nicke erst und schüttle dann den Kopf.

»Verstehe schon. Moana. Nomen est omen.« Katha lacht mich an.

Wenn es echt ist, hat Katha das schönste Lachen der Welt.

Ich gehe dann aber doch erst rüber, als alle anderen weg sind. Vor dem riesigen Meerwasseraquarium stelle ich mich auf meinen alten Platz. Langsam ziehen Fische ihre Kreise um das künstliche Riff in der Mitte. Durch das Glas sehen sie größer und mächtiger aus, als sie sind. Haie und Rochen, Feuerfische, Barsche und der hässliche Seewolf. Dazwischen schweben Quallen aller Arten. Im Riff verstecken sich Muränen und Oktopusse. Zwischen den Seeanemonen flitzen kleine Clown- und Doktorfische hin und her. Seesterne kleben auf den Felsen und Korallen.

Koa, bist du da?, frage ich in Gedanken.

Und dann kommt er tatsächlich majestätisch um das Riff geschwommen. Der Mola mola. Größter Fisch im Becken. Mein geliebter Mondfisch. Er verlässt seine Bahn und schwimmt auf mich zu. Blinzelt mit seinen großen runden Augen unter dem Knochenwulst, als würde er mich tatsächlich erkennen. Ich spüre mein Herz vor Freude klopfen, als er Nase an Nase vor mir schwebt.

Da bist du ja.

Hallo, kleine Mo, du bist lange nicht hier gewesen.

Ja, ich weiß.

Ich habe dich vermisst.

Ich dich auch.

Auf einmal spüre ich Tränen aufsteigen. Huch, was ist denn mit mir los?

Ich war immer hier und habe auf dich gewartet.

Ich drücke die Hand gegen die Scheibe. Koa tut dahinter das Gleiche mit seinem Knochenhöcker, der an eine Stupsnase erinnert. Ich kann erkennen, wie dick das Glas ist, das uns trennt.

Plötzlich muss ich kichern. Hören könnte unser Gespräch niemand, trotzdem wäre es peinlich, wenn mich jemand so sehen würde. Es ist aber sowieso niemand da. Über die Mittagszeit hat man den künstlichen Ozean ganz für sich allein. Ich stehe minutenlang vor dem Becken, meine Hand an der Scheibe, der Mola mola auf der anderen Seite. Doch schließlich dreht Koa ab und schwimmt weiter. Als wolle er mich nicht weiter aufhalten.

Ich laufe rüber zum Berührungsbecken. Wenn man mag, kann man hier Schwämme, Seegurken und kleine Rochen befühlen. Das habe ich noch nie getan. Die Vorstellung, jemand würde mich einfach anfassen, weil er wissen will, wie sich meine Haut anfühlt, ist gruselig. Das möchte ich niemandem antun.

»Du respektierst uns eben.«

Überrascht schaue ich mich um. Habe ich gerade laut gedacht und ein Besucher hat sich den Spaß gemacht, mir zu antworten? Doch auch hier ist niemand. Ich muss mich verhört haben.

»Nein, das hast du nicht.«

Ich höre die Stimme ganz deutlich. Jemand antwortet mir. Und zwar auf meine Gedanken. Das ist übertrieben unheimlich. Ich schlinge meine Hände ineinander, damit die nicht zittern. Dann schaue ich mich unauffällig noch einmal genau um.

Die einzigen anderen Lebewesen hier sind die Schwämme, Seegurken und Babyrochen im Berührungsbecken. Vielleicht ein Taucher, der die Fliesen putzt? Ich trete näher ans Wasser. Auch da ist niemand.

Plötzlich sehe ich ein blaues Leuchten. Es huscht über den Boden des Beckens. Ich kneife die Augen zusammen, kann aber nichts Genaues erkennen. Für einen Augenblick streift mich eine Ahnung. Mein Herz beginnt wie verrückt zu klopfen. Doch ich bekomme die Ahnung nicht zu fassen.

Da entdecke ich auf der anderen Seite einen kleinen Rochen, der seinen Kopf aus dem Wasser streckt. Seine Artgenossen drängen sich in einer Ecke, wo wohl Futter für sie liegt. Der kleine Rochen hält eine seiner Seitenflossen so, dass es aussieht, als würde er mir winken.

»Hey, du«, sage ich aus Spaß und winke zurück.

»Hallo, Moana«, antwortet er.

Erschrocken erstarre ich zu Eis. Meine ganze Kindheit über glaubte ich, dass der große Mondfisch mein Freund sei und mit mir reden würde. Irgendwann begriff ich natürlich, dass er das nur in meiner Fantasie tat. Aber der kleine Rochen hat gerade wirklich mit mir gesprochen. Und er kennt meinen Namen. Den eigentlichen, von dem nur wenige wissen und den kaum einer benutzt. Das kann doch nicht wahr sein!

»Es wird langsam Zeit«, spricht der Rochen von meiner Erschütterung völlig unbeeindruckt weiter. Er hat eine tiefe Stimme. Viel zu tief für einen so kleinen Fisch. Himmel, was denke ich denn da?

»Wofür?«, frage ich, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll.

Ich starre ihm auf den Mund. Rochen haben einen niedlichen Mund mit beinahe runden Lippen. Darüber befinden sich die Nasenlöcher, die an Augen erinnern. Darum sehen Rochen aus, als hätten sie ein kleines liebes Gesicht auf der Unterseite. Noch seltsamer ist das, wenn so eines mit einem spricht.

»Für die Wahrheit«, dröhnt es gerade mit der völlig unpassenden tiefen Stimme.

»Welche Wahrheit?«, rutscht es mir heraus.

Du liebes bisschen, was ist das hier? Leide ich an Halluzinationen? Werde ich verrückt? Ich spreche mit einem Fisch. Das habe ich zwar mein Leben lang getan, aber das war ein Spiel. Gerade tue ich es wirklich.

»Die Wahrheit, zu der dich deine Träume führen«, antwortet der Babyrochen.

Weiß er etwa von meinen Unterwasserträumen? Aber wie kann das denn sein? Was für eine alberne Frage, denke ich. Denn was hier gerade passiert, kann sowieso überhaupt gar nicht sein.

Doch der kleine Rochen schwimmt zu mir an den Rand des Beckens. Dabei streckt er seinen Kopf weiterhin aus dem Wasser, sodass es aussieht, als würde er sich mithilfe seiner Seitenflossen auf der Wasseroberfläche entlangschlängeln. Das habe ich als Kind oft beobachtet und darüber gelacht. Doch heute ist mir nicht zum Lachen zumute. Nicht mal zum Grinsen. Wie gebannt blicke ich dem Fisch entgegen. Als er am Rand angekommen ist, strecke ich meine Hand zu ihm ins Wasser, als wollte ich ihm die kleine Flosse schütteln.

»Das ist für dich, Moana.«

»Aua!«

Erschrocken ziehe ich meine Hand zurück. Etwas hat mir in den Finger gestochen.

»Warum hast du mich gestochen?«, frage ich den kleinen Rochen erschüttert. »Du bist doch gar kein Stachelrochen.«

»Ähm, Mo? Redest du etwa mit einem Fisch?«, fragt da plötzlich jemand, und ich zucke zusammen.

Katha steht neben mir.

»Was machst du denn hier? Ihr wolltet doch in den Park«, fahre ich sie ein wenig heftig an. Ich fühle mich halb ertappt und halb erleichtert.

»Ich hatte auf einmal Lust, doch noch mal zurückzukommen.« Sie deutet auf das Becken, in dem der kleine Rochen wieder abgetaucht und zu seinen Artgenossen geschwommen ist. »Oder störe ich bei irgendwas?«

»Quatsch«, schreie ich beinahe. Aber ich bin völlig verwirrt von dem, was gerade passiert ist.

Katha sieht mich schräg von der Seite an. »Du bist heute irgendwie komisch.«

»Geht schon wieder.« Ich winke ab, damit auch wirklich alle Zweifel aus Kathas Augen verschwinden. Ich habe nur zwei Freunde und möchte nicht, dass mich einer von ihnen für verrückt hält, weil ich angeblich mit Fischen rede.

Da sehe ich plötzlich etwas Blaues. Nur ganz kurz an meiner abwinkenden Hand. Wie ein funkelnder Blitz hängt es an meinem Finger. Dort, wohin mich der kleine Rochen gestochen hat. Schnell ziehe ich es aus der Haut und verberge es in der anderen Hand. Ich werde es mir später anschauen, wenn Katha mich nicht mehr ansieht, als ob ich sie nicht mehr alle hätte. Unauffällig lasse ich, was immer es ist, in der Tasche meines Hoodies verschwinden. Der Rochen hat gesagt, dass es für mich sei. Ich denke das, als könnte es wahr sein.

»Schön, dass du zurückgekommen bist«, sage ich zu Katha und lege alles, was ich an Unbekümmertheit in mir finde, in mein Lächeln.

Wir laufen die Straße entlang, und Katha nimmt meine Hand. Ich sage nichts dazu, obwohl ich nicht genau weiß, wie ich das finde. Albern, peinlich, einfach nur schön?

Kathas langes blondes Haar leuchtet in der Sonne. Es ist ganz fein und niemals zerzaust. Als kämen ständig schimmernde Elfen mit einem großen goldenen Kamm geflogen, um dieses Haar zu kämmen und die Knoten darin zu entwirren. Wahrscheinlich rubbeln sie auch die Flecken aus ihren Kleidern, wischen ihr die Mundwinkel sauber und pulen den Dreck unter ihren Fingernägeln hervor. Katha ist immer perfekt, und vielleicht sind es wirklich Elfen, die ihr dabei helfen. Ich muss lachen.

»Erzählst du es mir, damit ich mitlachen kann?«, fragt sie.

»Ach, es ist gar nichts. Ich lache nur, weil ich mich gut fühle«, sage ich.

»Ein bisschen seltsam bist du ja immer, aber heute übertreibst du es echt«, sagt Katha kopfschüttelnd.

Die Elfen mit dem großen Kamm rutschen schimpfend aus ihren Haaren. Darüber muss ich wieder lachen.

Kathas Mutter öffnet uns die Tür. »Hallo, Mo, schön, dass du da bist«, sagt sie.

Wie immer sieht sie aus, als würde sie sich wirklich über meinen Besuch freuen.

»Guten Tag, Frau Blum«, grüße ich und nehme ihre ausgestreckte Hand.

Mam wird von allen geduzt. Aber mir würde es nie in den Sinn kommen, die elegante Frau Blum Kathrin zu nennen. Obwohl sie sogar ein Jahr jünger ist als Mam.

Wir setzen uns in Blums Wintergarten. Kathas Mutter bringt das Mittagessen. Kotelett, Buttergemüse und Kartoffeln dampfen auf Tellern mit aufgemalten Blüten. Alle drei Teller haben das gleiche Muster. So etwas gibt es bei uns zu Hause nicht. Da hat beinahe jedes Geschirrstück sein eigenes Dekor. Das Blütenmuster von Blums Tellern passt sogar zur Tischdecke, und die Tischdecke passt zu den Pflanzen in den Töpfen, die um uns herum stehen. Als hätte sich hier der Stylist eines Wohnmagazins mal richtig austoben dürfen.

»Wir sehen aus wie eine perfekte Familie in einem perfekten Haus in der Fernsehwerbung. Nur dass natürlich noch der perfekte Mann fehlt und meine Haarfarbe vom Perfekten etwas abweicht«, sage ich und muss grinsen.

»Ach Mo, das ist aber nett«, freut sich Frau Blum.

Sie streicht mir über die Wange. Ihre Finger fühlen sich kalt an. Katha streckt mir die Zunge raus. Dabei habe ich es gar nicht böse gemeint. Aber so nett, wie Frau Blum denkt, ehrlich gesagt auch nicht.

Nach dem Essen räumen wir den Tisch ab und holen unsere Hefte und Bücher aus den Taschen. Kathas Mutter setzt sich zu uns, trinkt eine Tasse Kaffee und schaut interessiert. Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich versteht, wie man eine Funktion herleitet. Sie hat so ein kleines Lächeln im Mundwinkel, das ganz fehl am Platz ist, immerhin geht es um Mathe. Entrückt, würde Herr Meier Frau Blums Lächeln nennen. Solche Worte benutzt er gerne. Ich muss ihn nachher unbedingt anrufen. Am liebsten würde ich ihm eine Nachricht schicken. Aber wir haben uns mal geschworen, das nur in Notfällen zu tun, und gegen diesen Schwur habe ich schon gestern verstoßen.

»Wir können telefonieren, uns Briefe und Mails schreiben oder uns, und das am allerliebsten, treffen. Allen anderen Kommunikationsformen verweigere ich mich. Ich werde nicht zum Sklaven irgendeines sozialen Mediums oder einer App. Diese Freiheit wage ich mir auch als Digital Native zu nehmen«, hat er erklärt und seine SIM-Card in das alte Nokia seines Vaters gesteckt. »Zur Not eine SMS. Sonst nie. Schwöre!«

Ich tat es als die Marotte eines ganz besonderen Menschen ab und schwor.

3.

Als ich nach Hause laufe, pfeift es hinter mir, und ich weiß, dass ich Herrn Meier nicht mehr anzurufen brauche. Sein Fahrrad kommt mit quietschenden Bremsen neben mir zum Stehen. Über ihm baumelt etwas an einer langen Stange.

»Was ist denn das Ekliges?«, frage ich erstaunt, obwohl ich vor Ungeduld, ihm alles zu erzählen, fast platze.

»Ein Fuchsschwanz«, antwortet er.

»Ein echter Schwanz? Von einem echten Fuchs?«, frage ich.

»Ein ganz echter und ein Original noch dazu. Aus den Achtzigern, von meinem Vater. Haben wir gestern im Keller gefunden«, erklärt Herr Meier.

Er schiebt die schwarze Wollmütze aus den Augen. Aber nur ein Stück, gerade so viel, dass er mich anschauen kann. ­Er scheint wirklich sehr stolz auf das Stückchen Fell zu sein. Darum sage ich nicht, was ich von dem räudigen Original halte.

Er ist ein Jahr älter als ich, und ich nenne ihn Herr Meier, weil er sonst Horst heißen würde.

»Wir baden eben die falsch kanalisierten Sehnsüchte unserer Eltern aus«, sagte Herr Meier mit einem Schulterzucken, als ich ihn mal fragte, ob er seinen Namen mag. Irgendwie war mir Horst so schwer über die Lippen gekommen. »Deine Mutter wäre gern am Ozean geblieben, und meine Eltern versuchten schuldbewusst, ihr bequemes Mittelstandsleben zu verarbeiten, indem sie ihrem einzigen Sohn einen altmodischen Arbeiternamen gaben. Du kannst mich ja stattdessen Herr Meier nennen.«

»Warum denn Herr Meier?«, fragte ich.

Mit Nachnamen heißt Horst nämlich Bernbeck. Er schaute mir tief in die Augen und sagte dann leise ein Gedicht auf.

»Herr Meier hält sich für das Maß der Welt.

Verständlich ist allein, was ihm erhellt.

Man muss sich eiligst von Herrn Meier wenden,

um nicht mit Mord und Raserei zu enden.«

»Aha«, machte ich und wusste nicht, ob ich lachen oder sehr besorgt sein sollte.

»Ist nicht von mir, sondern von Christian Morgenstern«, sagte er.

»Aha«, machte ich noch einmal, als wäre damit alles klar.

Seitdem heißt mein bester Freund Herr Meier.

Die anderen halten etwas Abstand zu ihm. Vielleicht wegen der Wollmütze, die er sich jeden Tag bis in die Augen zieht. Vielleicht wegen der Dinge, die er sagt – und vor allem, wie er sie sagt. Vielleicht merken sie aber auch, dass es ihm egal ist, was sie von ihm halten.

»Du, Herr Meier, gegenüber ist jemand eingezogen«, erzähle ich ihm.

Das hatte ich schon gestern tun wollen. Aber da hatte er keine Zeit und auch kein Warum-nicht für mich. Trotzdem ist es seltsam, dass ich ihm zuerst vom Dachgeschoss im Haus gegenüber und nicht sofort vom sprechenden Rochen erzähle. Denn das ist ja die viel spektakulärere Neuigkeit. Normalerweise erzähle ich Herrn Meier alles. Aber heute lässt mich etwas zögern.

Ich laufe langsam weiter. Herr Meier kurvt mit seinem Fahrrad um mich herum.

»Soso«, meint er nur.

Das enttäuscht mich dann aber doch ziemlich. Ich dachte, auch diese Neuigkeit würde ihn regelrecht umhauen.

Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Plötzlich ist es frisch und schattig. Und ich habe gar keine Lust mehr, ihm noch mehr zu erzählen. Man kann jemandem nicht sagen, dass man mit Fischen redet, wenn derjenige nicht ganz nahe bei einem ist. Und Herr Meier scheint ganz weit weg zu sein. Obwohl er jetzt vom Rad steigt.

Wir laufen zwar nebeneinander, aber sehr stumm die Straße entlang. Von Weitem sehe ich den Obdachlosen. Er sitzt vor der Kirche und starrt vor sich hin.

»Kleinen Moment mal«, sagt Herr Meier und springt wieder auf sein Rad.

Er düst hinüber zur Bank vor der Kirche, kramt in seiner Tasche und legt dem alten Mann etwas in die Hand. Ich höre, wie er ihn fragt, ob es ihm gut gehe. Dann wünscht er ihm einen schönen Tag. So wie immer, wenn er ihn trifft. Der Obdachlose antwortet nicht. Auch wie immer. Er wackelt nur etwas mit dem Kopf.

»Ich finde es toll, dass du immer mit ihm sprichst, auch wenn er nie antwortet«, sage ich zu Herrn Meier, als er wieder neben mir läuft.

Das finde ich wirklich, jetzt sage ich es aber nur, um dieses schreckliche Schweigen zwischen uns zu zerschlagen.

»Manchmal antwortet er«, sagt Herr Meier.

»Wirklich?«, rufe ich überrascht. »Das wusste ich nicht.«

»Das weiß kaum jemand. Es redet ja niemand mit ihm.«

Herr Meier sagt das ganz leise, und ich weiß, dass er mir keinen Vorwurf machen will. Trotzdem treffen mich seine Worte. Wahrscheinlich, weil er recht hat.

»Du warst heute nicht in der Schule«, sage ich etwas vorwurfsvoll, als wollte ich von mir ablenken. »Bist du krank?«

In der ersten großen Pause, vor dem Ausflug ins Aquarium, habe ich ihn überall gesucht. Ich wollte ihm unbedingt erzählen, was im Haus gegenüber passiert. Aber ich habe ihn nirgends gefunden. Eigentlich treffen wir uns in den Pausen immer an unserer Bank im Schulhof.

»Nö, ich war da«, antwortet er.

Er klingt, als wäre ihm die Mütze über den Mund gerutscht. Ich schaue ihn erstaunt an. Darum sehe ich, dass er rot wird.

»Ins Dachgeschoss gegenüber ist also jemand eingezogen«, sagt er schnell. »Das ist sehr interessant.«

Ich habe den Eindruck, als wollte er eigentlich etwas anderes nicht sagen. Das bedrückende Gefühl, das in meinem Bauch größer und größer wird, fühlt sich gar nicht gut an.

In unserer Wohnung schnappt Herr Meier sich das Fernglas, schiebt seine Mütze ein Stück aus den Augen und beobachtet die gegenüberliegende Wohnung. Jedenfalls tut er so. Ich betrachte ihn unauffällig von der Seite und spüre, dass er nicht bei der Sache ist. Außerdem ist da noch etwas. Ich komme nur nicht gleich drauf. Herr Meier kaut auf seiner Unterlippe. Als er schlucken muss, sehe ich seinen Adamsapfel auf und ab hüpfen. Und plötzlich weiß ich es. In der letzten Zeit ist etwas passiert, das ich bisher noch gar nicht bemerkt, geschweige denn gewürdigt habe.

»Das gibt es ja gar nicht!«, rufe ich.

»Was meinst du?«, fragt Herr Meier.

»Seit wann bist du denn größer als ich?«

Autor