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Von Wegen und Umwegen. Betrachtungen über das Leben zu Fuß

Als Buch hier erhältlich:

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»Ein Buch, das Ihr Herz und Ihre Füße auf die Straße treibt.«

The Times

Ein Spaziergang legt uns die Welt zu Füßen. Wir treten heraus aus dem verkrampften Drinnen-sein, steigen in ungeahnte Höhen und nehmen neue Perspektiven ein. Wir treffen Freunde, teilen das Tempo, halten Schritt. Das Gehen bewegt uns, manchmal auf völlig unbemerkte Weise. In Zeiten von Corona haben wir erlebt, wie ein Spaziergang uns den Raum zu verschaffen vermag, den ein klarer Geist verlangt.

Für sein Buch hat Duncan Minshull zwanzig berühmte zeitgenössische Autorinnen und Autoren gebeten, ihre Gedanken zum Gehen in Worte zu fassen. Es ist ein Panorama der Spaziergänge aus der ganzen Welt – Japan, Italien, Schottland, Berlin, Frankreich, USA, Pakistan, Indien, Australien, Kanada, Wales, Spanien. Sie erzählen vom Durchhalten und Loslassen, von Pilgerschaft und Protestmärschen, von der Angst, auf eine Landmine zu treten, und dem Sich-verlieren in dunklen Wäldern und Gedanken. Und sie handeln davon, wie wir unsere Welt vergrößern und neu begreifen, wenn wir einen Fuß vor den nächsten setzen.

Mit Geschichten von Richard Ford, Tim Parks, A.L. Kennedy, Will Self, Sally Bayley, Agnès Poirier, Nicholas Shakespeare, Kamila Shamsie u.v.m.


  • Erscheinungstag: 25.07.2023
  • Seitenanzahl: 272
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004555

Leseprobe

Dem Andenken an meine spazierende Mutter
June Minshull, 19312021

Einleitung

Bevor Sie den wunderbaren Wanderern und Spaziergängern in Von Wegen und Umwegen auf den Seiten dieses Buches folgen, zunächst ein kurzer Blick zurück – in den April 1336: zu dem Tag, an dem der Dichter Petrarca »in milder Luft« die zerklüftete Flanke des Mont Ventoux in Südfrankreich bestieg. Er hatte viel zu erzählen – über Mitreisende, die Gegend, den Aufstieg und den Blick in die Ferne. So schuf er wohl eine der ersten Betrachtungen, die sich ausschließlich einer Wanderung widmete. Er fragte darin nach den Gründen, warum jemand zu Fuß geht, und er notierte auch, wie erfüllend dies sein kann. Sein Text war wegweisend.

Der Weg, der sich öffnete, führte etwa zu den englischen Romantikern (Samuel Taylor Coleridge, die beiden Wordsworths), die in erhabener Prosa und Dichtung das Betreten der Natur in Worte fassten. Ein anderer, William Hazlitt, wanderte, um über das Wandern selbst nachzudenken. In einem populären Essay riet er dazu, lieber allein aufzubrechen, weil unsere Freunde viel redeten und die Aussicht versperrten. Auf die Romantiker folgten die Viktorianer und Edwardianer, aufmerksame Beobachter einer Blütezeit des Zufußgehens, in dem sie mehr sahen als die bloße Notwendigkeit (in Armut) oder die Möglichkeit zur Erholung (in Wohlstand). Sie sprachen davon, urbane und nicht näher bestimmte Orte zu durchstreifen, und ließen sich dabei auf die geistige Dimension des Gehens ein. Charles Dickens erklärte, er müsse womöglich »explodieren und umkommen«, könnte er nicht immer in der Morgen- und Abenddämmerung das Haus verlassen. Virginia Woolf sagte Ähnliches über ihre nächtlichen Spaziergänge.

Und was sehen wir, wenn wir uns nach diesem Rückblick der jüngeren Vergangenheit zuwenden? Ein Bedürfnis nach Luft und Bewegung, nach Ausblicken, Geräuschen und Gerüchen, nach Entschleunigung und einer Offenbarung der Welt hat es immer gegeben. Aber geht es bei unseren Spaziergängen nicht um mehr? Wenn wir in der Natur sind, konzentrieren wir uns zunehmend auf Umweltprobleme und die »richtige Art« zu wandern. Unterwegs in der Stadt analysieren wir, wie unsere Umgebung uns beeinflusst (wir sind jetzt alle Psychogeographen), und verzichten bereitwillig aufs Auto. Wir sind ständig in Bewegung, mal um zur Ruhe zu kommen, mal um die Gedanken anzuregen. Und oft, Mr. Hazlitt, sind wir aus Gründen der Geselligkeit sogar in größeren Gruppen unterwegs. Es gibt immer mehr Gruppenwanderungen, es gibt weiterhin Pilgerreisen. Protestmärsche und Umzüge sind allgegenwärtig. In Scharen stürmen wir Stadien, Geschäfte und so weiter. Gemeinsam ebnen wir den Weg.

Festgehalten werden solche Ausflüge in Reiseberichten und Memoiren, in Naturschilderungen und Sozialgeschichten. Doch für mich ist es die kürzere Betrachtung, verdichtet oder lose hingeworfen, die den Verlauf einer Wanderung am besten einfängt. Wie befriedigend sich eine Strecke von fünf bis acht Kilometern in drei- bis viertausend Wörtern entfaltet! Man erfährt vom Warum, Wie und Wozu dieser elementaren Tätigkeit, von ihren Richtungsänderungen und Stimmungswechseln, ihrem Rhythmus, wie er sich im Rhythmus der Zeilen abbildet. Dickens, der unermüdliche Wanderer, hat es auf den Punkt gebracht. Beim Gehen, sagte er, »passiert immer etwas«. Ganz gleich, ob es im Kopf oder auf dem Weg vor einem passiert, immer kann man es in Essaylänge aufschreiben. Was mich nach einigem Hin und Her zum Ziel dieses Buchs bringt. Ich habe zwanzig Autorinnen und Autoren gebeten, ganz einfach von einer Reise zu erzählen, die sie gemacht haben. Also auf geht’s, damit wir nicht vom Weg abkommen.

* * *

Die Autorinnen und Autoren, die aus verschiedenen Teilen der Welt stammen und ganz verschiedene Gegenden bereist haben, hatten die Wahl: Sie konnten sich an eine Wanderung von früher erinnern oder von einem gerade bestandenen Abenteuer berichten. Die Einladung erfolgte zu Beginn der Pandemie 2020 mit all ihren Einschränkungen. Trotzdem haben sich eine ganze Reihe von ihnen für die zweite Option entschieden. Dass die Pandemie ihre Berichte nicht überschattet, ist schon mal positiv zu vermerken. Vielleicht liegt es daran, dass Erleichterung, Freiheit und Freude des Aufbruchs für drei Stunden oder auch drei Tage eine alternative Welt eröffnet haben. Eine Reise zu Fuß kann das bewirken.

Die zwanzig sagten also zu und trafen ihre Vorbereitungen. Dabei unterschieden sich im Großen und Ganzen zwei Typen. Die einen stellen die Tätigkeit in den Mittelpunkt – nennen wir sie die wandernden Autoren. Sie befinden sich auf den Spuren eines Dickens und einer Woolf, sind aber weniger rigoros als ein Hazlitt. Und dann gibt es die Neulinge, deren Schritte bis dahin noch auf keiner Buchseite ihre Spuren hinterlassen haben. Hinzu kommen noch einige spazierende Ausreißer. Harland Miller schreibt, er hätte Spazierengehen »eigentlich immer gehasst«, und erinnert sich dann an ein durch Benzinmangel verursachtes Erlebnis, das ihm in Erinnerung geblieben ist – und sich sogar »gelohnt« hat. Derweil eröffnet Richard Ford die Sammlung mit gemischten Gefühlen – er hat nicht die richtige Ausrüstung, mag kein schlechtes Wetter, ist aber oft draußen und damit eigentlich auch ganz zufrieden. Man kennt das.

Ford gebraucht für die Gemeinschaft der Wanderer den schillernd-schönen Begriff der Kavalkade, der einen feierlichen Reiteraufzug beschreibt. Es war mein Wunsch, dass dieser Aufzug in Von Wegen und Umwegen so viele Gegenden wie möglich erreicht. So wird in Großbritannien gewandert und in Europa, in Nordamerika und Australien, Indien, Pakistan und Japan. Am hellen Tag, in der Dämmerung und bei Nacht, bei Regen, Sonnenschein und Schnee. Und wohin führen die Wanderungen? Einige erklimmen Höhen (nicht unbedingt den Mont Ventoux, aber A. L. Kennedy besteigt immerhin eine Flanke des Skiddaw in Cumbria), andere erkunden die Natur in der Ebene, wandern über Wiesen und durch Wälder und an Seeufern und Küsten entlang. Und immer wieder lockt das städtische Pflaster, aber auch schwerer zu definierende Orte, die sich etwa in der Vorstadt oder in einem unbestimmten Dazwischen befinden.

Manchmal sind diese Orte so ungewöhnlich, dass es einen Grund – oder sogar ein Anliegen – braucht, sie zu erkunden. Oder man lässt sich einfach ohne Erwartung treiben. Das hilft Kathleen Rooney auf dem Heimweg vom Horseshoe Casino in Hammond, Indiana, zurück in ihr Viertel in Edgewater, Chicago. Überall gibt es lärmende Straßen, seltsame Schilder und unheimliche Dinge, die Unternehmung ist kein Vergnügen, in ihrer Nacherzählung wird sie dennoch reichhaltig. Mit dergleichen Neugierde, wahrscheinlich aber mit größerer Hingabe, »schweift« Will Self einmal mehr durch die Weiten des östlichen Kent, wo rauchende Schornsteine, rostige Geschütztürme und metallisch schimmernde Gewässer ihm die Ahnung einer neuen Erhabenheit vermitteln. Und was die Vorstadt angeht, so wohnt Pico Iyer in einer, nämlich in Nara unweit von Tokio. Auf seinen täglichen Spaziergängen notiert er, wie das Alte (der Schrein) und das Neue (der Beauty-Salon) seltsam nah beieinanderliegen – und wie das zähnefletschende Knurren eines Hundes am Tor seinen Status als »Fremder« an diesem Zwischenort bezeugt.

Von den Höhen also hinab in die Niederungen des städtischen Pflasters. Zehntausende verschiedenartiger Schritte in verschiedenartigem Schuhwerk, genossen »in milder Luft«. Und doch haben viele unserer Wanderungen und Spaziergänge etwas gemeinsam – die körperliche Betätigung genauso wie die innere Reise als wichtigen Teil unserer Erfahrung. Nämlich immer dann, wenn unsere Gedanken sich ebenfalls auf den Weg machen.

Eine Gestalt betritt den Mühlenbecker Forst nördlich von Berlin: »Regen. So viel, dass ich nicht über den Rand meiner Kapuze hinaussehen kann. Er fällt wie eine Wand, schräg und von der Seite, getrieben von Böen. Der Regen weht im Wind wie Wäsche an der Leine.« Und trotz des schlechten Wetters sind die Sinne überwiegend hellwach. Der Gesichtssinn auf jeden Fall und der Hörsinn (»knirschen« und »schmatzen«) ebenso wie das Fühlen (der »dichte Tonboden« unter den Füßen). Und obwohl es nicht direkt gesagt wird, meint man die verschiedenen Düfte zu riechen, die über dieses Land der Kiefern und des Efeus dahinziehen. Wundersame Entdeckungen auf dem Waldboden wie »gelbe Pfifferlinge« zeugen von einem schönen Tag an der frischen Luft und davon, dass man schon ganze sieben Kilometer zurückgelegt hat. Doch Jessica J. Lees Spaziergang beschränkt sich nicht auf den Weg vor ihr, er findet genauso in ihrem Kopf statt. Sie denkt über die Geschichte des nahegelegenen Schlosses Dammsmühle nach und erinnert sich, wie sie sich zu verschiedenen Jahreszeiten und Gelegenheiten in dieser Gegend aufgehalten hat. Schließlich wird der anhaltende Regen zum Omen, dass dies ihr womöglich letzter Besuch im Mühlenbecker Forst sein könnte.

Auf trockenerem Gelände, dem Jakobsweg, bewegt sich Ingrid Persaud, die sich als Anfängerin versteht: »Ich hatte vergessen, mich auf die Reise vorzubereiten. Mit ›vergessen‹ meine ich, dass ich mir wirklich überhaupt keine Gedanken gemacht hatte.« Doch ist sie eine scharfe Beobachterin der Leute, denen sie begegnet (und die ihr begegnen), und trotz großer Erschöpfung nach drei heißen Tagen scheint ihre innere Reise in keiner Weise beeinträchtigt: »Merkwürdigerweise entspannte ich mich jedoch mental immer mehr. Ich dachte an gar nichts und konzentrierte mich einfach nur auf das Gehen selbst. Sogar wenn der Schmerz größer wurde, blieb mein Geist klar.« Sie wird es doch hoffentlich zum heiligen Jakob schaffen?

Einem anderen vielbesuchten Weg folgt Joanna Kavenna, nämlich einem Abschnitt des Fernwanderwegs Grande Randonnée 4 ab dem südfranzösischen Grasse. Sie denkt dabei an alles Mögliche, an »die verrücktesten Dinge«, nur nicht an die Richtung, in die sie wandert. Es geht nicht um das Ziel, sondern mehr um die nächste Erscheinung, das nächste Traumbild. Welche Abenteuer stehen ihr unterwegs noch bevor?

Mir hat immer die Vorstellung gefallen, dass ein Weg, der sich gerade und eben vor uns erstreckt und uns einlädt voranzukommen, uns zugleich unwillkürlich rückwärtsgehen lässt. Es sind Zeitreisen auf zwei Beinen, weil der Rhythmus unserer Schritte alle möglichen Erinnerungen und vergessenen Augenblicke in uns beschwört. Doch andere haben das besser formuliert. Etwa Agnès Poirier, zu den meisten Zeiten ihres Pariser Lebens eine flâneuse (und Paris ist nach Meinung des Herausgebers die Stadt der Fußgänger), Cynan Jones, wenn er von Stein zu Stein über einen winterlichen Strand in Wales springt, oder Sally Bayley, wenn sie sich bei einem mittäglichen Spaziergang auf dem geschwungenen Maltravers Drive im Sussex ihrer Kindheit erinnert.

Um bei der Idee der Zeitreise zu bleiben – kann man dabei auch einen verwandten Geist begleiten? Sinéad Gleeson reiht sich in die Menschenströme von New York ein: »Links, rechts, links, rechts, die Lunge voller Luft«, registriert alle Eindrücke und denkt daran, wie eindringlich die Schriftstellerin Maeve Brennan hier Szenen der 1940er- bis 1960er-Jahre eingefangen hat. Jede Menge Luft brauchen Tim Parks und seine Gefährtin Eleonora, wenn sie mit den Stiefelschritten Hauptmann De Cristoforis’ mithalten wollen, einem Freund Giuseppe Garibaldis. Ein Bericht über den letzten Marsch des Hauptmanns inspiriert ihre eigene Wanderung durch die Lombardei, das Seenland Norditaliens: »Sonnenhüte … Sonnencreme. Sonnenbrille … Sonnenbrand.« Und in den malerischen Orten, an denen sie vorbeikommen, haben alle einen Hund.

Wie sich herausstellt, geht es in diesem Buch nicht nur um uns beschuhte und gestiefelte Zweibeiner. Vielmehr begegnet man auf den folgenden Seiten einer ganzen Kavalkade weiterer vertrauter wie überraschender Wesen. Etwa nächtlichen Schafen, galizischem Blondvieh, Füchsen vermutlich, Kojoten und Bären, außerdem dem Tasmanischen Teufel und dem »Raegowrapper«. Und als Bestätigung dafür, dass die Welt uns zu Fuß näherkommt, spürt Josephine Rowe auf ihrem Gang durch die Natur von Bar Haven, Neufundland, der Anwesenheit von Elchen und deren Liegeplätzen nach.

Und ja, alle haben einen Hund … Hunde verkünden den Wanderern Wahrheiten. Einige bellen nur von ferne, aber Pico Iyer wird auf seinem Spaziergang durch den Vorort Nara angeknurrt, weil er den Buttergeruch des Fremden verströmt. Die Hunde, die Delhis Gehwege bevölkern, teilt Keshava Guha, ein Einwohner der Stadt, im Wesentlichen in zwei Gruppen ein: die Straßenhunde, denen man sich auf eigene Gefahr nähert, und auf der anderen Seite die von auswärts eingeführten häuslich braven Bernhardiner und Alaskan Malamutes. Sogar einen Husky kann Guha in seiner von der Pandemie so schwer getroffenen Stadt begrüßen: »Sobald ich mich ihm nähere, stellt er sich auf die Hinterbeine und dann drückt er mir zwei Pfoten fest ins Kreuz. Während der Pandemie 2020 war er über ein Jahr lang der Einzige, den ich umarmt habe.«

Andere Autoren sind selbst mit Hund anzutreffen. Patrick Gale wird daran erinnert, vom Schreibtisch aufzustehen und nach draußen zu gehen, »wenn der Whippet mit unerbittlicher Pünktlichkeit seine kleinen scharfen Pfoten auf meinen Oberschenkel legt«. Nicholas Shakespeare geht spätabends mit einem Golden Retriever namens Sancho (benannt nach Sancho Panza und einem Fußballer, wie er mir einmal sagte) an die frische Luft und sieht zu, wie sein vierbeiniger Gefährte sich in der Dunkelheit auflöst, wieder auftaucht und dabei wie ein »Glühwürmchen« leuchtet. Das bewirkt die Nacht, egal ob in der Stadt oder auf einer Landstraße in Wiltshire: Sie verändert, was wir am Tag sehen, und schafft neue Formen und Geräusche. Sie verändert auch das Verhalten. An einem anderen Ort führt ein anderer Hund sein Herrchen in einem munteren Tanz durch East London, wo eine Menge interessanter Abfälle herumliegen. Auf einem zweiten Spaziergang gelangen die beiden ans Ufer eines kleinen Sees, wo »begrabene Geheimnisse« zur Oberfläche aufsteigen. Das Erlebnis mit dem Beagle Gogo erinnert Irenosen Okojie an eine anhaltende »Unruhe« in ihren Gliedern.

* * *

Im Zuge seiner Vorbereitungen auf den Mont Ventoux denkt Petrarca ausführlich darüber nach, wen er mitnehmen soll, und diese Überlegungen sind der beste Teil der Geschichte (er wird einen Bruder fragen und die beiden werden sich viel zanken). Ich kann nicht umhin, die einsamen Wanderer zu bewundern – ob sie nun auf dem nordenglischen Skiddaw unterwegs sind, an den Küsten der Insel Grain oder auf dem harten Standstreifen einer Autobahn, aber ich schließe mich wie der Dichter denjenigen an, die lieber in Gesellschaft wandern. Auch Richard Ford tut das am liebsten. Und Ingrid Persaud und Agnés Poirier fühlen sich dabei sogar zu den Ritualen der Pilgerreise und des Protestmarsches hingezogen und stimmen eigene Marschlieder an. Sind sie nicht leise zu hören?

Darüber hinaus sind Freundschaften wichtig und werden durch eine Wanderung gefestigt. Kamila Shamsie beschließt diese Aufzählung spazierender und wandernder Schriftsteller. Sie ist in einer Stadt unterwegs, die nicht für ihre Spaziergänger bekannt ist (Leute aus Karachi sollten sich einen »Rundweg« in ihrem Viertel suchen). Aber welch ein Vergnügen ist es doch, mit der Schwester und zwei Freundinnen im Schlepptau den örtlichen Strand aufzusuchen. Natürlich sind die vier verschieden: Nur zwei wohnen vor Ort, zwei sind »Schleicherinnen« und zwei »Raserinnen«. Aber der Ausflug bringt ihnen schon bald Erkenntnisse:

Wir warten auf die anderen beiden, damit ich Zehra sagen kann, dass sie auf den Rang der Schleicherin abgerutscht ist. »Nein, nein«, sagte Zehra. »Ich habe dich beobachtet. Du bist langsamer geworden. Wir alle haben uns einander angepasst.«

Das entzückt uns alle, als sei es der Beweis für das Geben und Nehmen im Zentrum unserer Freundschaft.

Was mich nach einigen weiteren Verwicklungen zu Ihnen führt, meine wandernden Leserinnen und Leser und (wie ich hoffe) glücklichen Besitzer dieses Buches. Ob allein oder mit anderen, auf einem Gipfel oder auf einer Straße, im Hellen oder im Dunkeln, mit Hund oder ohne – mögen die in den folgenden Kapiteln gemachten Schritte Sie anregen, berühren und erheitern. Vielleicht sollten wir gerade in diesen Zeiten mehr denn je zu Fuß gehen. Vielleicht steht uns ja ein goldenes Zeitalter des Wanderns und Spazierens bevor. Wenn ja, dann sollten wir uns unverzüglich auf den Weg machen. Vorwärts … avanti … anvanzar … zenshin suru!

Duncan Minshull

Februar 2022

Vom Spazierengehen und Aufbrechen

Richard Ford

Für mich ist die Vorbereitung auf einen Spaziergang ziemlich einfach. Ich entstamme keinem alten Geschlecht erfahrener Sporttreibender und war nie ein besonders eindrucksvoller Athlet. Vor einem Spaziergang lass ich mich daher bestenfalls dazu herab, ein paar nicht völlig unpassende Schuhe aufzutreiben: Sneakers, vielleicht sogar Segelschuhe, aber immerhin keine Budapester oder Flipflops. Meistens trage ich, was ich ohnehin gerade anhabe, wenn mich die Wanderlust packt – eher ans Wetter als ans Spazieren angepasste Kleidung und ganz bestimmt nichts »Wanderspezifisches« wie diese eierquetschenden Lycrahosen ambitionierter Radfahrer, bei deren Anblick mich immer ein gewisses Unbehagen hinsichtlich ihrer Träger beschleicht. Anders gesagt neige ich nicht zum vorausschauend geplanten Spaziergang. Wenn ich dies täte, käme mir das Ganze bedeutender vor, als ich ertragen könnte.

Allerdings muss bei mir eine bewusste Entscheidung zum Spazierengehen fallen; ich würde nicht einfach so zur Haustür hinausschlendern und losziehen. Zu bestimmten Zeiten im Jahr bin ich an vielen Tagen unterwegs – doch bestimmt nicht täglich und nicht in allen Jahreszeiten. Manchmal komme ich auf sechs Kilometer (meistens weniger), aber nie in flottem Tempo. Wandern ist für mich weder instinktiv noch alltäglich, vom Gehen durchs Zimmer einmal abgesehen oder dem Gassigehen mit dem Hund – also dem Gehen zu einem bestimmten Zweck. Mein Gehen um des – wenn man so will – Gehens willen ist für mich nicht ganz Pflicht, aber auch nicht ganz Vergnügen. Es ist eher, als würde ich einer etwas langweiligen Arbeit nachgehen, bei der ich der Chef bin. Im besten Fall ist das Gehen für mich in etwa wie eine mittellange Zugreise zweiter Klasse, bei der ich die Nase an die kühle Scheibe drücken und die Welt wie im Traum an mir vorbeiziehen lassen kann.

Ich gehe eher gegen Ende eines Tages spazieren, weil die Stunden zuvor meist mit Interessantem und Wichtigem angefüllt sind, das ich lieber erledige als das Wandern. Und ich brauche mich vorher ganz bestimmt nicht »aufzuwärmen« – mit Dehnübungen oder tiefen Kniebeugen (die ich vor dem Squashspielen immer mache). Einem Aufwärmen komme ich am ehesten beim Gerangel mit meinem inneren Schweinehund nahe, der mich nur allzu leicht dazu bringt, gar nicht zu laufen, sondern stattdessen ein Buch zu lesen, etwas im Fernsehen anzusehen oder mir einen Drink zu gönnen. Kann ich allerdings meine Frau zu einem Spaziergang überreden, dann ist das in jedem Fall besser. Wir können uns dann währenddessen unterhalten, was mich auf andere Gedanken bringt. Allein zu gehen ist für mich offen gestanden immer eine Geduldsprobe.

Meistens laufe ich durch die gepflasterten Straßen unserer Kleinstadt hier an der Küste von Maine mit ihren Häusern und Autos und anderen Fußgängern, doch es gibt auch Wälder, in denen sich hin und wieder Kojoten, Bären und manchmal auch tollwütige Füchse tummeln, sodass ich mich deutlich besser fühle, wenn ich unterwegs einen soliden Stock zur Verteidigung gegen solche Kreaturen in der Hand habe, was den Abenteuerquotienten einer jeden Wanderung ein bisschen steigert. Doch selbst ohne derlei Störungen kann ich mich nur allzu leicht gegen das Spazierengehen entscheiden: Meistens ist dann das Wetter schuld (zu warm, zu kalt, es regnet, es schneit, zu windig, zu windstill). Auch die kleinste körperliche Beeinträchtigung wird mich vom Laufen abhalten. Es dürfen wirklich keine Hinderungsgründe bestehen, die mir in den Sinn kommen könnten – wie beispielsweise etwas Unangenehmes, das ich danach erledigen muss. Oder etwas Angenehmes.

Wahrscheinlich muss ich zum Spazierengehen einfach in der passenden Gemütsverfassung sein. Dabei bin ich gar nicht wählerisch, welche Gemütsverfassung das nun ist, so wie ich bei der Bekleidung fürs Laufen nicht wählerisch bin. Ein Leistungsziel habe ich beim Wandern niemals bewusst im Sinn – eine bestimmte Entfernung zu schaffen, eine bestimmte Runde zu laufen oder gar die verwendete Zeit zu messen. Derlei überflüssige Gedanken würden mich nur von dem ablenken, was immer ich dafür bekomme, dass ich laufe. Allerdings habe ich bemerkt, dass ich mich manchmal zu einem Spaziergang entschließe, wenn ich schlecht gelaunt bin – was bei einem Romanschriftsteller nicht selten vorkommt –, denn wie es scheint, kann ich die Reizbarkeit aus mir »herauslaufen« und deutlich munterer nach Hause kommen. Gleichwohl ziehe ich nie los, um mir »über etwas klar zu werden«. Ich habe das bereits versucht. Es funktioniert nicht. Umgekehrt gehe ich auch laufen, wenn ich energiegeladen und zuversichtlich bin, als würde ich meine gute Laune verschwenden, wenn ich nicht etwas damit anstelle. Die Entscheidung für eine Spazierrunde kann aber auch darauf hindeuten, dass ich nicht genug Energie zum Squash habe oder schlicht keine Lust, einkaufen zu gehen. Wenn ich aber auf »meine Runde« (wie meine Frau dazu sagt) verzichte, habe ich im Allgemeinen kein Problem damit – als würde es keine Rolle spielen, ob ich nun spazieren gehe oder nicht. Manchmal (und es könnte mit dem Alter zu tun haben) drehe ich meine Runde tatsächlich nicht, erinnere mich aber falsch und glaube, ich hätte sie gedreht – und fühle mich in diesem Fall praktisch gleich.

Ich bin davon überzeugt, dass mir das Laufen guttut, obwohl ich eigentlich nicht weiß, wie gut oder warum. Vielleicht ist das Spazierengehen, wie ich es betreibe, in etwa so, als ob ich zwei filterlose französische Zigaretten am Tag nicht rauche – was ich ohnehin nicht tun würde. Wie bei allen medizinischen Erkenntnissen über das Laufen geht man allgemein von positiven Auswirkungen aus, solange man sich nicht verletzt. Wenn man es so betrachtet, muss ich einräumen, dass das Laufen eine Tätigkeit ist, die ich anstelle einer anderen wähle – dem Drink beispielsweise, weil bei mir beides etwa um die gleiche Tageszeit stattfindet. Manchmal drehe ich, wie mir wohl bewusst ist, sogar extra meine Runde, um den Drink aufzuschieben und eine Belohnung für später daraus zu machen.

Oh, ich weiß, es gibt passionierte Wanderer mit völlig anderen Ansichten zum Wandern als meiner; Wanderer, die online und in Büchern wie diesem übers Wandern lesen, die Nahrungsergänzungsmittel fürs Wandern einnehmen, unter Anleitung spezielle Wanderübungen machen, Vereinen beitreten, Wandervideos anschauen, Abzeichen tragen und in Chatrooms stundenlang übers Wandern reden, die ernsthaft über Rituale, Benimmregeln und Theorien zum Bereitsein schreiben, um dem Aufbruch selbst mit größerer Inbrunst entgegenzusehen. Respekt euch allen, sage ich. Hut ab. Ich gehöre einfach nicht zu eurem Klan – das mit dem Wandern ist mir nicht so ernst. Und doch sehe ich mich, so wie in anderen Dingen auch, als Teil der großen Kavalkade der Menschheit. Deshalb würde ich wetten, dass es weltmeisterliche Spaziergänger gibt, die ganz ähnlich darüber denken wie ich. Und was jene anderen, vom Wandern besessenen Wanderer betrifft, stelle ich mir vor, wenn es ein Du gibt, dann müsste es auch ein Ich geben – irgendwo weit hinten auf der Straße, auf der wir im Grunde genommen doch gemeinsam gehen, oder etwa nicht?

Anderen folgen

Tim Parks

Auf jedem Weg, den man einschlägt, folgt man anderen. Es macht aber einen beträchtlichen Unterschied, ob man anderen folgt oder ihnen auch die Wahl des Weges überlässt. In den frühen Morgenstunden des 23. Mai 1859 führte Hauptmann Carlo De Cristoforis einen kleinen Trupp von Männern aus dem Piemont über den Ticino in die Lombardei und marschierte am Ostufer des Flusses nach Norden, um die österreichische Garnison in Sesto Calende, wo der Lago Maggiore in den Fluss Ticino fließt, in einem Überraschungsangriff einzunehmen. Am 27. Mai fiel er in der Schlacht von San Fermo sechs Kilometer westlich von Como.

Es war die Zeit der Kriege des Risorgimento, in denen Italien sich von der ausländischen Herrschaft befreite. Im Sommer 2020 nutzten meine Partnerin Eleonora und ich die Befreiung vom Lockdown, um De Cristoforis auf seinem letzten heroischen Marsch von Westen nach Osten entlang der oberitalienischen Seen zu folgen – vom Lago Maggiore über den Lago di Comabbio und den Lago di Varese bis zum Lago di Como. Achtzig Kilometer durch zum Teil unwegsames Gelände. Der Hauptmann schaffte es in vier Tagen, wir benötigten drei. Allerdings mussten wir auch nicht kämpfen, höchstens gegen die glühende Hitze, die konstant um die fünfunddreißig Grad lag.

»Sonnenhüte«, schlug Eleonora vor. »Sonnencreme. Sonnenbrille.« Sie überlegte. »Sonnenbrand.«

Für die Einwohner Mailands sind die Seen leicht im Rahmen eines Tagesausflugs zu erreichen. Wanderer lieben die hoch in den Bergen liegenden Wege mit der Aussicht auf die schimmernden Seen und die große italienische Ebene im Süden. Aber niemand wandert auf den niedrigeren Hügeln dazwischen. Wer Leuten folgt, die etwas anderes als Erholung im Kopf haben, lernt unweigerlich neue Orte kennen und geht eine neue Beziehung mit der Landschaft ein. Der Hauptmann und seine Männer betrachteten von Anfang bis Ende jeden Hang und Wald, jede Flussklamm und jeden Turm auf einer Kuppe aus militärischer Sicht als Bedrohung oder günstige Gelegenheit. Es gab Hinterhalte und Bajonettangriffe. Wir mussten immer wieder unsere Karte studieren und häufig eine Wegfindungs-App bemühen, um einen gangbaren Weg durch diese so vielfältig schöne und seltsam vernachlässigte Landschaft zu finden.

Unser Ausgangspunkt war Arona, knapp zehn Kilometer von Sesto entfernt, am Westufer des Lago Maggiore. Auf der Fahrt vom Mailänder Bahnhof Porta Garibaldi bis hierher wird man im langsamen Zug eine Stunde lang durchgerüttelt. Damals übrigens führte der große Giuseppe Garibaldi selbst den Feldzug an. Die Piemonteser hatten dem eigenwilligen Revolutionär gestattet, eine Freiwilligenarmee zusammenzustellen. Zur Verfügung standen Männer, die zu jung, zu alt oder politisch zu belastet waren, um in der regulären piemontesischen Armee zu dienen, die weiter südlich kämpfte. Die Erwartungen an sie waren gering. Nach einem langen Tagesmarsch bei heftigem Regen traf Garibaldi am späten Nachmittag in Arona ein und verlangte Betten und Verpflegung für 3500 Männer. Sobald er sicher war, dass Verräter diese Nachricht an die Österreicher weitergegeben hatten, brach er mit seinen Leuten im Dunkeln wieder auf und griff an.

Wir trafen ebenfalls am späten Nachmittag ein. Der See gegenüber vom Bahnhof leuchtete postkartenblau. Ein großes Riesenrad ermöglichte einen weiten Blick über das Wasser, über Hügel, die in Berge übergingen, auf Burgen, Klöster und campanili. Fähren zogen schäumende Zickzacklinien zwischen den Ufergemeinden. 1859 ließen die Österreicher hier ein Kriegsschiff patrouillieren, die Radetzky. Die Schiffe der Anrainer hatten sie beschlagnahmt, die Brücke über den Ticino bei Sesto Calende zerstört. Sie fühlten sich sicher.

Arona tut alles für die Touristen, aber mit Stil. Es gibt eine mit Porphyr gepflasterte Promenade, weinumrankte Pergolen und unzählige Cafétische. Vom Seeufer führen schmale Straßen bergauf in den Schatten – mit sauber gefegtem Steinboden, vornehmen Fassaden und den neusten Modeartikeln. GIUSEPPE GARIBALDI HAT IN DIESEM HAUS GESCHLAFEN, steht auf einem Schild. Das stimmt nicht. Er hat überhaupt nicht geschlafen. Wir dagegen gingen in unserem einfachen Hotel Spagna, das links an ein Beerdigungsinstitut und rechts an eine Blutspendezentrale angrenzt, früh zu Bett. Hauptmann De Cristoforis scheint seinen nahen Tod vorausgeahnt zu haben. Wir wussten aus langer Erfahrung, dass bei Wanderungen in großer Hitze ein früher Aufbruch entscheidend ist.

* * *

Eleonora zerteilt zum Frühstück einen Pfirsich und um halb sechs brechen wir auf. Als Erstes gilt es, einen Hang mit vorstädtischem Durcheinander aus ländlichem Verfall und Mittelklasse-Scheußlichkeiten zu bewältigen. Der schnellste Weg wäre die Straße am See entlang, die aber stark befahren ist. Und die Soldaten wären in voller Sicht der österreichischen Patrouillen marschiert. Ein Müllauto folgt uns auf dem Weg nach oben, vorbei an durchhängenden Zäunen und karmesinroten Oleanderbüschen, bis wir hoch über dem See in die Stille des Walds eintauchen.

Die Geschichte ist nur ein Vorwand, damit wir in Gang kommen, einen Weg haben, eine Herausforderung, ein Ziel. Jetzt geht es ums Wandern. Es sind die besten Momente des Tages, die wir unter einem dicken sommergrünen Blätterdach verbringen, in einem Tunnel aus Farnen und dünnen Schösslingen. Keine Menschenseele. Dafür Spinnweben, die uns am Gesicht hängen bleiben, ein Reh, das zwischen den Bäumen umhergeistert. Wir haben leichtes Gepäck, wandern mit Trekkingstöcken. Das regelmäßige Klopfen der Stöcke auf dem harten Boden lässt uns in Gleichschritt fallen und schafft eine kraftvolle Nähe – wie unter stumm marschierenden Soldaten. Ein »schöner Marsch«, hat einer von Garibaldis Leuten in seinem Tagebuch vermerkt. Bei einer Wegbiegung blieb der Anführer stehen und befahl seinen Männern, still zu sein. Es war stockdunkel. Sie glaubten, er hätte den Feind gehört.

»Eine Nachtigall«, sagte er. »Hört!«

»Hier ist der Parco Naturale dei Lagoni di Mercurago«, sagt Eleonora. Sie ist bei uns die Kartenleserin. »Mit den großen Seen.«

Es ist schon komisch, wenn man bedenkt, dass sich weiter unten der riesige Lago Maggiore ausbreitet, während der größte See, an dem wir hier oben vorbeikommen und den wir immer wieder durch herabhängende Zweige und hohes Schilf sehen, ein stehender Tümpel ist, auf dem zwischen trüben Spiegelungen überhängender Äste Seerosen treiben. Es ist acht Uhr morgens und wird schnell wärmer.

»Zeit für die Sonnenbrillen.«

Nur eine Brücke führt hier über den Ticino. Sie hat zwei Ebenen – unten Züge, oben Autos – und steht genau da, wo der See sich in den Fluss ergießt. Wir müssen uns also von Garibaldi und De Cristoforis verabschieden, die bis Castelletto anderthalb Kilometer weiter südlich in den Bergen blieben. Erst dort schlichen sie sich zum Fluss hinunter und schifften ihre Vorhut auf Booten ein, die ortsansässige Patrioten vor den Österreichern versteckt hatten. Auf gewundenen Pfaden und Feldwegen steigen wir zur Hauptstraße hinunter, wo das Café OK LKW-Fahrer mit Cappuccino und Croissants versorgt. Zehn Uhr. Garibaldis Männer verzichteten auf das Abendessen, das die braven Bürger von Arona für sie zubereitet hatten, und marschierten mit leerem Magen. Eleonora hätte gern gewusst, was aus dem ganzen Essen wurde.

»Wahrscheinlich haben die Leute gefeiert, dass sie die Soldaten nicht für die Nacht beherbergen mussten.«

Die Aussicht von der Brücke ist spektakulär. Im Norden dunstige Gletscher über weißen Segeln in windstillem Blau, im Süden eine eher grüne Flusswelt mit Ruderern und Enten. Dann ist es nur noch einen Steinwurf bis Sesto, wo ein auf vier Kanonenkugeln ruhender Obelisk die Inschrift trägt:

HIER TROTZTE DER TAPFERE HAUPTMANN DE CRISTOFORIS DEN GEFAHREN EINES UNGLEICHEN KAMPFES

Wir folgen dem Fluss rund anderthalb Kilometer bis zu der Stelle, an der die Soldaten übergesetzt haben. Die Sonne brennt jetzt gnadenlos auf uns herab. Keine noch so große Menge an Sonnencreme, kein noch so raffiniertes schweißableitendes Hemd und keine noch so gut belüftete Mütze schaffen Abhilfe. Die Haut brennt. Finger und Zehen schwellen an und pochen. Man muss in Bewegung bleiben, darf nur im Schatten anhalten. Das allerdings scheint angemessen, wenn man einem Mann wie Garibaldi folgt, dessen Strategie es war, nie stillzustehen.

Am Flussufer gibt es keinen Schatten. Majestätisch und machtvoll strömt das Wasser zwischen bewaldeten Hängen nach Süden. An der Stelle, an der die Männer übersetzten, steht kein Denkmal. Die schnelle Strömung hat sie auseinandergetrieben, und es dauerte eine Weile, sie in der regnerischen Nacht wieder zu versammeln. Später, in Sesto, kamen die Einwohner aus ihren Häusern, nahmen ihre Boote wieder in Besitz, banden sie von Ufer zu Ufer zusammen und brachten im Morgengrauen 3000 stolpernde Soldaten hinüber.

Sesto Calende ist wahrhaftiger als Arona. Einige Leute gehen dort sogar Beschäftigungen nach, die keine französischen oder deutschen Touristen nötig haben. Garibaldis Freiwillige, die vor allem aus der Lombardei kamen und auf der Flucht vor dem österreichischen Militärdienst waren, wurden herzlich empfangen und üppig bewirtet. Die größte Errungenschaft dieses Feldzugs war wohl eher das Auferwecken eines patriotischen Geistes, einer Sehnsucht nach Freiheit, als eine militärische Leistung. Während wir unsere neue Freiheit nach dem Lockdown genießen, kaufen wir Brot, Käse und Tomaten und suchen uns eine Bank im Schatten. Ich ziehe die Schuhe aus und untersuche meine erste Blase. Dann geht es weiter, acht Kilometer nach Corgeno am Ufer des Lago di Comabbio am Rand der zerklüfteten Berge im Norden entlang. In jedem Dorf haben wir unsere Wasserflaschen am Brunnen aufgefüllt, in Oriano, Oneda und Mercallo, abseits der belebten Straßen.

Niemand wandert mehr von Dorf zu Dorf. Das ist die Wahrheit. Das italienische Wort viandante ist wie sein englisches Pendant wayfarer nicht mehr in Gebrauch. »Jemand, der zu Fuß auf Wegen außerhalb der Ortschaften zu weiter entfernten Orten unterwegs ist«, erklärt das Lexikon. Und fügt hinzu: »Veraltet.«

Wanderer fahren mit dem Auto dorthin, wo die Straße endet und die Wege anfangen. Wenn wir links hinaufschauen, sehen wir Gipfel, die wir auf anderen Wanderungen bestiegen haben. Jetzt durchqueren wir das Geröll, das die Gletscher von dort oben herabgetragen haben: steile, bizarr geformte Hügel, hinter denen sich malerische Villen, aufgegebene Höfe und flache Seen verbergen. Vom Boden steigt ein würziger Duft auf, trocken und an Honig erinnernd. Steinerne Mauern sind von Efeu überwuchert und voller Eidechsen. Brombeerranken greifen nach uns, ein Esel wiehert. Aufgeschreckt vom Klacken unserer Stöcke jagen Hunde mit wildem Gebell an Zäunen entlang. Alle haben hier einen Hund und verspüren das Bedürfnis, sich zu schützen. Der Wanderer geht vorbei.

Garibaldi ließ Hauptmann De Cristoforis mit 120 Mann zum Schutz von Sesto zurück und zog mit der Hauptarmee nach Varese weiter. Die Österreicher trafen mit 3000 Mann von Süden ein. De Cristoforis war vierunddreißig, ein bürgerlicher Intellektueller, der Bücher über landwirtschaftliche Reformen geschrieben, auf einer Militärakademie in Paris studiert und in London unterrichtet hatte. Er legte sich mit seinen Männern in einen Hinterhalt an der Straße, auf der wir gingen, ließ einen österreichischen Reitertrupp vorbeiziehen, sprang aus der Deckung und eröffnete von hinten das Feuer. Die Österreicher ergriffen die Flucht, De Cristoforis entkam in die Berge und schloss sich wieder Garibaldi an. In der Überzeugung, dort Garibaldis Hauptarmee zu treffen, beschossen die Österreicher Sesto. Dabei kam es zum ersten italienischen Opfer, einer Frau, die mit ihren Einkäufen die Piazza überquerte.

In einem undurchdringlichen Wald verirren wir uns und verlieren eine Stunde. In Mercallo finden wir deshalb kein offenes Geschäft mehr. Die Siesta im August ist berüchtigt, aber neben dem Rathaus wünscht ein Neonschild einer Ida Brusa alles Gute zum Geburtstag, die von den Kanonenkugeln verschont geblieben ist und das stattliche Alter von 102 erreicht hat. Abends sitzen wir dann am Ufer des Lago di Comabbio, essen Süßwassergarnelen-Risotto auf einer von Schilfgewächs umzingelten Terrasse und stoßen darauf an, dass die erbarmungslose Sonne endlich im Westen untergeht.

»Haben die Leute im 19. Jahrhundert keine Blasen bekommen?«, fragt Eleonora.

Während Garibaldi durch die Nacht marschierte, untersuchen wir in unserem Hotelzimmer unsere Füße.

»Sie haben sich mit Talg getränkte Lappen um die Zehen gewickelt.«

»Was ist Talg?«

Eleonora hat mich erwischt. »Irgendwas mit Kerzen?«

Sie sieht bei Google nach. »Gekochtes Tierfett.«

* * *

Wir behelfen uns mit Blasenpflastern, und noch vor dem Morgengrauen haben wir unsere Schuhe wieder an und sind am Ostufer des Sees nach Norden unterwegs, vorbei an Wiesen voller Blumen, die aussehen wie große gelbe Lilien. Auf gut befestigten Radwegen kommt man hier schnell und mühelos voran. Alles ist schön eben, und in der Morgensonne bietet sich ein spektakulärer Ausblick auf den Alpenhauptkamm.

Dann geht es Richtung Nordosten bergauf, über die Berge zum Lago di Varese, und auch hier erinnere ich mich hauptsächlich an die Blumen. Wir waten durch Fingerhüte und Goldnesseln. Ich streife einen kleinen Schmetterling von den Lippen. Auf den Wiesen stehen Pferde und liegen Heuballen. Über allem liegt ein ländlicher Friede. Sommerlicher Duft stimmt auf die kommende Hitze ein. Die ersten Wespen summen. Dann umschließt uns der Wald, und der Weg ist kaum mehr als eine steile Kaskade von Steinen, ein ausgetrockneter Bach, in dem wir einer Frau auf einem Pferd begegnen, die sich unendlich vorsichtig voranarbeitet. Garibaldi hatte nur 150 Reiter, zu wenig, um eine Schlacht zu entscheiden, die sich aber bestens als Kundschafter eigneten. Durch sie erfuhr er, dass sich im zentralen Ort Como 6000 Österreicher aufhielten, die bereits im Aufbruch in Richtung Westen nach Varese begriffen waren. Umso wichtiger war es, als Erster dort zu sein.

Wir kommen an Bernate und Bodio Lomnago vorbei. Wie hübsche Frauen aus der Provinz scheinen diese Dörfer nicht zu wissen, wie sehr ihre Schätze in der Großstadt bewundert würden. Villen aus dem 17. Jahrhundert warten auf die erste Renovierung. Kirchen zerfallen und wirken dadurch noch romantischer. Aber in den engen Gassen fahren die Autos so schnell wie überall. Ich muss Eleonora zurufen, dass sie aufpassen soll. Es ist, als könnte sie die Gefahr nicht sehen. Frühstück auf der Terrasse einer überraschend gut sortierten pasticceria. Die geschwätzigen Frauen am Nachbartisch schütteln die Köpfe über einen Jungen, der auf den schimmernden Hängen über uns von einer Lawine verschüttet wurde. Seine Leiche wurde heute Morgen heruntergebracht.

Nun geht es bergab, und der Lago di Varese leuchtet unter uns. Die Stöcke klappern die Kilometer ab. Der Rhythmus ist entscheidend. Die Stetigkeit. Wir summen, um den Takt zu halten. Eine Weile werden wir von hohen Wänden aus Mais eingeschlossen. Die Luft ist glühend heiß. Umso willkommener ist das Eichenwäldchen am Seeufer. Am malerischen kleinen Hafen von Azzate kann man unter Weiden rasten und die Aussicht genießen. Dann folgt der 300-Meter-Anstieg nach Varese.

Der Ort hat heute 80.000 Einwohner. Damals waren es 11.000. »Alle Männer, Frauen und Kinder waren auf den Beinen, um uns zu begrüßen«, erinnert sich Garibaldi. Sie waren durchnässt vom strömenden Regen. Wir sind bei der Ankunft schweißgebadet und auf der verzweifelten Suche nach Schatten. Im eleganten Säulengang auf der Piazza Podestà finden wir ihn, zusammen mit einer Liste derjenigen, die nur 48 Stunden nach ihrer triumphalen Ankunft sterben mussten. Eine vorwärtsschreitende Bronzestatue grüßt mit der Fahne der Cacciatori delle Alpi – der Alpenjäger – in Richtung der Engel, die mit ausgebreiteten Flügeln an der Kirchenfassade gegenüber thronen.

»Erstaunlich«, überlegt Eleornora, »zu denken, wie bereitwillig die Leute in den Tod gegangen sind, während wir uns gerade drei Monate lang in unseren Häusern versteckt haben.«

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