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Verrückt nach Schweden

Als Buch hier erhältlich:

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Alle wissen es: Schweden ist eine fröhliche, moderne, offene und empathische Nation. Mikko ist Finne und davon überzeugt, dass sich in Schweden das ganze Leben viel leichter, authentischer und positiver anfühlt, und setzt deshalb alles daran, seine Identität zu wechseln. Als Mikko den lebensmüden Schweden Mikael kennenlernt, bietet sich ihm eine einmalige Chance. „Verrückt nach Schweden“ ist eine intelligente schwarze Komödie über Sehnsucht und Nationalitätenklischees – ein neuer vergnüglicher und wunderbar schräger Roman des finnischen Bestsellerautors Miika Nousiainen.


  • Erscheinungstag: 28.01.2019
  • Seitenanzahl: 240
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312011193
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nagel & Kimche E-Book

Miika Nousiainen

VERRÜCKT NACH SCHWEDEN

Roman

Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat

Nagel & Kimche

Leitungswasser kann Krebs verursachen. Aftonbladet 6.5.2006

Für Paula, mit der alles möglich ist.

Großen Dank an alle meine schwedischen Freunde auf der Insel – so viele Umarmungen, so eine harmonische gemeinsame Zeit!

Teil 1

19.12.2002

Jetzt reden sie über Elternschaft: Das ist doch so viel mehr als nur biologisches Muttersein und Vatersein, unendlich viel mehr! Man übernimmt eine riesige Verantwortung, ­gigantische, lebenslange Rollen. Mutter und Vater. Ich ­bewundere sie für das, was ich da zu Ohren bekomme.

Sie sitzen seit vier Stunden am Tisch neben mir und diskutieren. Manchmal wird es hitzig, trotzdem lassen alle sich gegenseitig ausreden und hören einander zu. Ich sitze zwei Meter von ihnen entfernt, und ich verstehe zwar nicht jedes Wort, aber alles, was ich mitkriege, klingt echt und von ­Liebe erfüllt.

Wir befinden uns in einem typischen Thai-Restaurant ­direkt am Strand, mit freier Sicht aufs Wasser, keine störenden Wände, über uns nur ein schützendes Dach. An den Betonstufen zur Terrasse streifen die Gäste ihre Flipflops ab und stellen sie in die lange Reihe bunter Badelatschen und Sandalen, dann schlendern sie barfuß zu den Tischen, nehmen auf den roten Plastikstühlen Platz und bestellen bunte Currygerichte mit Kokosmilch.

Die Gruppe am Nachbartisch besteht aus zwei Familien; gut aussehende, braungebrannte Menschen. Das eine Paar ist um die vierzig und hat zwei Söhne – einer blond, einer rothaarig –, das andere Paar wirkt etwas jünger, sie haben ­einen Sohn und eine Tochter. Alle vier Kinder sehen aus wie kleine Engel, benehmen sich wohlerzogen und höflich.

Zu einer guten Pädagogik gehört es, die Kinder am Gespräch teilhaben zu lassen, damit sie sich als gleichberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft erleben. Jetzt geht es um die Schule: Zwei der Kinder haben vor den Ferien ein gutes Zeugnis bekommen, sind anscheinend Klassenbeste. Die ­Eltern wuscheln ihnen stolz durch die sonnengebleichten Haare, die Schulkinder freuen sich über die Extra-Aufmerksamkeit. Aber sie geben sich groß und abgeklärt, und das sind sie ja auch. Sogar die beiden Kleineren wirken erstaunlich reif für ihr Alter.

Der rothaarige Junge hat zum ersten Mal ein Zeugnis mit Noten bekommen. Dank der konstruktiv erziehenden Eltern ist er diesem Ereignis bestens gewachsen und kommt mit der Bewertung seiner Fähigkeiten problemlos zurecht. Sein Bruder ist noch im Kita-Alter. Genauer gesagt, scheint er von einer dieser kommunalen Erzieherinnen betreut zu werden, die maximal fünf Kinder aufnehmen. Klar, normale Kitas können nicht individuell genug fördern. Doch genau das ist wichtig, wenn Kinder sich zu souveränen Mitgliedern der Gesellschaft entwickeln sollen.

Auffällig ist: Die Schweden hier bewegen sich immer in Gruppen, relativ großen sogar. In der Regel sind es acht bis vierzehn Individuen zwischen null und neunzig Jahren. Das könnte glatt für Dokumentarfilmer interessant sein, als ­Basismaterial für Rudelforschung sozusagen. Und in der Dankesrede für den bedeutenden internationalen Preis, den der Regisseur dann mit seinem Film einsackt, könnte er bescheiden sagen: «Tack så mycket, tack så mycket, aber die Ehre gebührt nicht mir allein – ich hatte wundervolle Stu­dienobjekte. Bedanken Sie sich also bei der großartigen Gruppe.»

Was sonst noch außergewöhnlich ist: Die Eltern neben mir müssen ihren Kindern nie drohen. Die Kinder lassen sich gern von ihnen leiten und sind erstaunlich offen für neue Erfahrungen. Begeistert probieren sie neue Gerichte, Bockigkeit scheint ihnen fremd. Der etwa siebenjährige Sohn des jüngeren Paares führt eindrucksvoll die Resultate gelungener Erziehung vor:

«Mama, reichst du mir bitte mal die Chilisoße?»

«Aber natürlich, mein Schatz. Schön, dass du so lieb fragst.»

Echt bemerkenswert, wie zuvorkommend diese Kinder sind, und wie gern sie Neues kennenlernen. Wie schnell sie sich mit anderen Kindern anfreunden und sich gegenseitig akzeptieren, trotz unterschiedlicher Eigenschaften. Wie bereitwillig sie ihre Computerspiele, Autos und Puppen an Gleichaltrige verleihen. Ja, diese Kinder haben dermaßen viel Liebe tanken dürfen, dass sie selbst lieb sein können.

Als die Diskussion dem Ende entgegengeht, stellen die Erwachsenen gutgelaunt fest: «Du liebe Güte, wir sitzen ja schon ewig hier! Na, kein Wunder, in guter Gesellschaft wird einem nie langweilig. Jetzt aber schleunigst in die Heia.» Die Kinder brauchen keine zweite Aufforderung, und drinnen im Ferienbungalow werden sie ganz selbstverständlich ihre Zähne putzen: gute Zähne, keine Frage.

Die beiden Pärchen verabschieden sich herzlich voneinander, sogar die Männer umarmen sich. Wieso auch nicht, immerhin kennen sie sich schon einen ganzen Abend lang. Dann spazieren die Familien zu ihren jeweiligen Bungalows. Gleich werden sie zu Bett gehen, das Licht ausmachen und einem neuen, noch besseren Tag entgegenträumen.

Halt, vielleicht gehen die Eltern mit ihren Kindern vor dem Einschlafen noch die Eindrücke des Tages durch, fragen sie, ob sie etwas beschäftigt. Die Väter beantworten die Fragen ihrer Kinder mit leisen, liebevollen Stimmen, tief und gleichmäßig brummend wie ein Volvo-Motor. Mit beruhigenden Antworten im Kopf schlafen die Kleinen sofort ein und wachen morgens ausgeruht und ausgeglichen wieder auf. Und zwar als privilegierte Bürger des Königreichs Schweden. Und das jeden Morgen aufs Neue. Und hier in Thailand verbringen sie ihre Ferien.

20.12.2002

Am Morgen begegnet man sich in trauter Harmonie wieder – kein Wunder, wenn man sich am Abend zuvor umarmt hat. Na, wie habt ihr geschlafen? Gut, gut! Diese Leute verlagern ihre heimelige Liebesblase problemlos von Schweden nach Asien, können überall auf der Welt gut schlafen. Und morgens schieben sie als Erstes die Tische im Restaurant zusammen, denn hej, wir sind doch Freunde!

Ich dagegen sitze mit steifem Lächeln allein in meiner Ecke. Als sie mich fragen, ob der Stuhl neben mir frei sei und sie ihn mit an ihren Tisch nehmen könnten, nicke ich, fast ein bisschen heftig: Logisch ist der frei, und er wird es garantiert bleiben, ich werde nie mit einem ganzen Rudel umherziehen, denn ich gehe mir schon selbst genug auf die Nerven! – Ich muss aufpassen, dass ich nicht aggressiv rüberkomme. Im Grunde ist es ja pure Bewunderung, die ich für diese Menschen empfinde. Na ja, eine Prise Neid ist auch dabei. Ach, ja. Bewunderung und Neid liegen für uns Finnen leider dicht beieinander.

21.12.2002

Mein Name ist Mikko Virtanen, und ich bin ein finnischer Mann. Seit einigen Jahren verbringe ich jeden Weihnachtsurlaub in Thailand, ist also schon fast eine Tradition. Bitte nicht verwechseln mit öder Routine! Im Ernst – jedes Jahr aufs Neue bedeutet diese Reise für mich pure Hoffnung. Und zwar deshalb, weil nicht nur ich, sondern auch etliche Familien aus Schweden ihren Weihnachtsurlaub in Thailand verbringen. Perfekte Familien, die ihre Umgebung in eine Idylle verwandeln, allein durch ihre Ausstrahlung. Eine andere Art von Familie gibt es in Schweden praktisch nicht. Und wenn das jemand beurteilen kann, dann ich, schließlich beobachte ich das schwedische Familienleben schon seit langem.

Das hört sich nach einer fixen Idee, nach Besessenheit oder gar Stalking an? Das ist es nicht, wirklich nicht. Es ist die reine, aufrichtige, unschuldige Bewunderung. Außerdem könnte ich jederzeit aufhören, schwedische Bürger zu beobachten. Allerdings wäre mein Leben dann um einiges leerer.

Ich betrachte die Sache übrigens als eine Art Fernstu­dium. Durch Anschauung erlerne ich eine bessere Form des Lebens – ich vertiefe mich in den skandinavischen, genauer gesagt, den schwedischen Lebensstil.

Zum Beispiel diese Familie aus Göteborg an dem Tisch da drüben. Die Eltern sind schon seit zehn Jahren ein Paar, trotzdem schauen sie sich noch verliebt an. Ihre Kinder kommen alle paar Minuten vom Strand hochgerannt und präsentieren stolz ihre Fundstücke, Muscheln und Steine und so was. Jedes Mal, wirklich jedes Mal schenken die ­Eltern dem Nachwuchs ihre volle Aufmerksamkeit und ­bewundern das hübsche Strandgut. Irgendwann schaue ich demonstrativ von meinem Buch auf und grüße zu ihnen ­hinüber. Ja, ich kenne die beiden, es sind Roger und Ulrica, wir haben uns angefreundet.

Roger ist ein super Typ. Er wäre vielleicht gern etwas jünger, als er ist, jedenfalls seiner lässigen Rockfestival-Kleidung nach zu urteilen, aber das ist schon okay. Mit Ulrica hat er Schwein gehabt, sie ist ein Prachtweib. Schön, klug und lässig, trägt ihre dunklen Haare wuschelig kurz. Selbst Glutsonne und Meerwasser können ihrem Style nichts anhaben. So sind sie, die schwedischen Ladys.

Endlich entdecken sie mich und schauen zu mir rüber.

23.12.2002

Ehrlich gesagt beobachte ich die Schweden schon mein ganzes Leben. Mal aus der Nähe, mal aus der Ferne, aber immer mit derselben Leidenschaft. Schweden ist meine große Liebe, die schwedische Staatsbürgerschaft mein Traum. Die Bewohner aus dem Nachbarland, gerade die durchschnittlichen, sind meine Vorbilder. Tief im Innern wusste ich schon immer: Mein Zuhause liegt eigentlich woanders. Westlich von Finnland, hinter der Grenze. Kennen nicht viele von uns diese Bewunderung für ein Nachbarland? Schauen die Deutschen nicht neidisch auf den Charme und die Eleganz der Franzosen, auf ihre kultivierte Lebensart? Oder auf die Toleranz und Entspanntheit der Niederländer?

Meine medizinische Selbstdiagnose lautet Nationalitätstransvestit. Wie viele es von uns gibt, weiß ich leider nicht, wir sind weder organisiert noch statistisch erfasst. Wir leiden nur heimlich, still und leise vor uns hin. Für viele ist es ein ewiges Trauma, das uns von der Geburt bis in den Tod begleitet. Direkt tödlich ist es natürlich nicht. Ich würde sagen, das Leben ist ein langsames Verelenden. Da Nationalitätstransvestiten medizinisch offiziell noch nicht klassifiziert sind und sich demzufolge nicht krankmelden können, jedenfalls nicht aufgrund der wahren Gründe, haben sie keine Chance auf professionelle Behandlung und Psychotherapie. Doch wer weiß, vielleicht liege ich mit meiner Selbst­diagnose und den vermeintlich typischen Begleitsymptomen auch falsch. Menschen, die von Geburt an schüchtern sind, scheinen ein ähnlich unbefriedigendes Leben zu führen wie ich. Und wo ich gerade darüber nachdenke: Das gilt auch für die meisten Wähler rechter Parteien.

Rein äußerlich wirkt alles okay: Ich bin Finne und führe – wieder rein äußerlich – in meinem Heimatland ein gutes und gesetzestreues Leben. Innerlich fühlt es sich komplett anders an: Ich bin im falschen Land geboren und völlig falsch erzogen worden. Ja, die Erziehung ist nicht zu unterschätzen. Nach zwanzig Jahren Ballflachhalten und Understatement fühlt man sich mit jeder Körperzelle wie der ­letzte Loser.

Dabei bin ich eigentlich deutlich stärker und geistig ­potenter angelegt, als das finnische Männerbild es zulässt, und meine Sehnsucht nach Veränderung ist dementsprechend groß. Wie satt ich die Probleme und die mentale Beengtheit meines Landes habe! Es ist zum Kotzen. Ich will kein finnischer Mann mehr sein. Denn ehrlich, das klingt doch fast nach einem Schimpfwort: finnischer Mann! Vor allem, wenn man dem noch ein typisch voranstellt: ein typisch finnischer Mann. Einer, der aufrichtig ist, aber sonst nichts draufhat. Ein ungekünstelter, hochauthentischer ­Loser sozusagen. Ich habe mal darauf geachtet: Finnische Männer als ehrlich loben, das tun nur finnische Frauen, genauer gesagt diejenigen unter ihnen, die nicht hübsch oder geschickt genug waren, sich einen Ausländer zu angeln.

Verdammt, wieso ziehst du dann nicht einfach weg und lebst in Schweden?, könnte man jetzt einwerfen. Berechtigte Frage, doch bisher ging das nicht. Neben der großen Sehnsucht nach dem schwedischen Lebensstil empfinde ich eine starke Verantwortung gegenüber meinen Wurzeln, sprich: meinen Eltern. Ich musste die beiden lange Zeit pflegen, sie waren ziemlich krank. Allerdings sind sie inzwischen gestorben, und insofern könnte ich nun jederzeit den Wohnort wechseln.

Aber meiner Ansicht nach bringt das nichts. Ich will ja keinen popeligen Umzug, ich will eine grundlegende Verwandlung, eine Transformation! Umziehen kann man innerhalb einer Woche, und die schwedische Nationalität könnte man dann vermutlich nach fünf oder spätestens sieben Jahren beantragen. Doch was nützt mir das? Ich wäre mehrere Jahre lang ein Finne in Schweden, mit Aussicht auf einen schwedischen Pass. Nein, mein Schwedentum muss vollständig und umfassend sein! Bloß kein Leben als halber Schwede, mit Akzent und Migrationshintergrund. Ich will ein geborener Schwede sein, modern, offen und empathisch: Herr Andersson, Familienvater. Oder Johansson oder Svensson, wäre auch okay, meinetwegen auch Lindqvist. Ich will schwedische Wurzeln. Erst dann bin ich der Familie aus ­Göteborg ebenbürtig. Oder der aus Stockholm, die gerade ihr Strandpicknick auspackt. Die haben es gut. Sie leben in Stockholm und stammen aus Piteå, haben also urschwedische Wurzeln, und das macht ihre Ausstrahlung so harmonisch und rund. Seufz. Wäre ihre Vergangenheit doch meine Zukunft.

24.12.2002

Heute ist Heiligabend. Die schwedischen Kinder laufen munter herum und fragen ihre Eltern, wann der Weihnachtsmann denn endlich kommt. Die Eltern necken ihre Kinder liebevoll und sagen, dass der Weihnachtsmann es vielleicht gar nicht bis nach Thailand schaffen wird. Genau wie diese schwedischen Kinder habe auch ich mich Jahr für Jahr als Kind gefühlt, kribbelig und erwartungsvoll. Allerdings wurden meine Erwartungen empfindlich getrübt durch die frühe Ahnung, dass das schwedische Weihnachtsfest dem finnischen haushoch überlegen ist. Ich wusste einfach, dass die Speisen dort leckerer und die Geschenke üppiger ausfallen.

Meine Liebe zu Schweden war von Geburt an spürbar. Sie konkretisierte sich, als ich sechs wurde und meine Eltern mich auf eine Schifffahrt mit ins Nachbarland nahmen. Schon die Reise mit der Viking Line war phantastisch, obendrein bekam ich dreißig Finnmark geschenkt. Als Erstes kaufte ich mir eine Tüte schwedisches Himbeerfruchtgummi, pinkfarbenes in Form kleiner Boote. Ich aß es sofort auf, in zwei Minuten waren fünfhundert Gramm weggeputzt. Der Geschmack war natürlich besser und weniger künstlich als der von finnischem Fruchtgummi. Und die Übelkeit, die der Fressattacke folgte, war angenehmer als alle anderen Übelkeiten. Sogar beim Wiederhochkommen schmeckten die Boote noch gut. Meine Mutter hielt mir beim Über­geben die modebedingt etwas längeren Haare aus dem ­Gesicht und war voller Mitleid. In Wirklichkeit ging es mir so gut wie noch nie.

Am nächsten Morgen wachte ich geradezu euphorisch auf. Schon um sieben in der Frühe rannte ich an Deck und bestaunte die hübschen roten Häuser auf den Stockholmer Schären. Die Gärten wirkten einladend, an den Fahnen­masten wehten schwedische Flaggen. Kurz darauf legte das Schiff im Hafen an, und ich konnte die schönen Altbauten von Skansen bewundern – ein um vieles erfreulicherer ­Anblick als die funktionalen Schuhschachteln meiner fin­nischen Heimatstadt Kouvola. Hinter den Gebäuden der Stockholmer Altstadt entdeckte ich sogar das königliche Schloss.

Die Menschen auf den Straßen und in den Geschäften machten einen gesunden, zufriedenen Eindruck, waren gut gekleidet und fuhren neue Autos. In den Supermärkten gab es feines Essen, und sogar das simple Schinkenbrötchen, das meine Mutter mir kaufte, schmeckte besser als zu ­Hause. Als meine Eltern mich durch Slussen zurück zum Terminal schleiften, heulte ich vor Abschiedsschmerz. Die musikalische Sprache klang mir noch Tage später in den ­Ohren.

Ich musste bis zur siebten Klasse warten, ehe ich sie endlich erlernen durfte. Meine Schwedischlehrerin wurde mir im tristen Kouvola zum echten Lichtblick, ja, sie wurde sogar meine erste Liebe, wie ich gern zugebe. Doch so sehr sie auch meine Verehrung und Begeisterung schätzte, die Leidenschaft blieb einseitig, sie durfte meine Gefühle leider nicht erwidern. Damals wusste man zwar noch nichts von Pädophilie, aber Getuschel im Lehrerzimmer, ach was, in der ganzen Stadt, das hätte es natürlich trotzdem gegeben. Beziehungsweise gab es das schon, denn irgendwann rief meine Schwedischlehrerin bei meinen Eltern an und berichtete von meinem übertriebenen Einsatz. Ab da schrumpelte meine Verliebtheit langsam in sich zusammen – nicht aber meine Liebe zur schwedischen Sprache.

Ich demonstrierte in aller Öffentlichkeit für mehr Schwedischunterricht gleich ab der ersten Klasse. Meinen Eltern war das peinlich. Aber egal, sie waren schließlich auch mir peinlich – genügsame Werktätige, die in einer hässlichen Stadt lebten und eine hässliche Sprache sprachen. Manchmal machte ich auf dem Marktplatz in der Innenstadt die Augen zu und stellte mir vor, ich würde mich in ­einer schwedischen Kleinstadt befinden und wäre umgeben von attraktiven, optimistischen Menschen. Im deprimierenden Kouvola musste ich dafür eine Menge Phantasie aufbringen. Aber mein Verlangen nach Ästhetik und einer positiven Lebenseinstellung war riesig. Gestillt werden würde es nur im Nachbarland.

Immer wieder fragte ich meine Eltern, ob wir wenigstens ins westfinnische Tammisaari umziehen könnten, das deutlich schwedisch geprägt war. Doch wir blieben in Kouvola. Dort also wuchs ich auf, jedenfalls physisch. Psychisch hatte diese Umgebung mir nichts zu bieten.

Mein Vater war ein typisch finnischer Mann. Ging pünktlich und pflichtbewusst zur Arbeit, redete über Autosport und andere faktenbasierte Themen, schlug freitags beim ­Alkohol zu und lobte mich selten. Er war hart und gerecht und ließ nur in betrunkenem Zustand Gefühle erkennen. Er und all die anderen Männer aus der Nachbarschaft waren das abschreckende Beispiel dafür, wie ich nicht werden wollte.

Meine Mutter dagegen war aufopfernd und lieb, genau wie viele andere Mütter, die ich kannte. Sie gab ihr Bestes, mich zu verstehen und mir eine erträgliche Kindheit zu bieten. Sie beschützte mich, wenn mein Vater laut wurde, und steckte mir heimlich Geld zu. Aber ihr Leben als Frau war alles andere als glorreich. Sie kochte, putzte und ging zur Arbeit, blieb aber ohne jede Anerkennung. In Schweden hätte sie garantiert mehr Wertschätzung erfahren.

Mit diesen beiden Menschen also wuchs ich als Einzelkind im Finnland der siebziger und achtziger Jahre auf. Und sehnte mich die ganze Zeit ins sozialdemokratische, von ­Politikergrößen wie Olof Palme geprägte Schweden. Der Tag, an dem der Sozialdemokrat Palme ermordet wurde, war für mich ein tiefschwarzer. Ja, sein Tod war schlimmer als der Tod meiner Eltern. Das werden jetzt einige seltsam finden, aber man sollte es mal so betrachten: Eltern gibt es wie Sand am Meer, Olof Palme nur ein einziges Mal. Meine Eltern haben mich materiell versorgt. Palme dagegen hat mich erzogen und geistig genährt. Deshalb schmerzt sein Verlust bis heute.

Seine letzten Fernsehauftritte habe ich noch auf Videokassette. Wir hatten gerade unser erstes VHS-Gerät im Wohnzimmer stehen, und immer, wenn Palme auf dem Bildschirm erschien, nahm ich ihn auf. Knapp siebzig Minuten Material bekam ich zusammen, dann wurde er ermordet. Auf der Kassette steht in krakeliger Jungenhandschrift: Leben und Taten des Olof Palme.

Weder konnte Palme sein Lebenswerk vollenden, noch ich meine Arbeit als VHS-Regisseur. Die Spezialsendung zu seinem Tod habe ich nicht aufgenommen, das ging mir zu nah. Zu sehr vermisste ich Palmes freundliches, wohlwollendes Gesicht.

Für fünf Jahre sank ich in eine leichte bis mittelschwere Depression. Wobei das Wissen über dieses Krankheitsbild in Finnland damals absolut rückständig war und ich nach Ansicht der Ärzte nur unter Antriebslosigkeit und Müdigkeit litt. Hallo? Ich war nicht müde, ich war lebensmüde! Ich hatte schlicht kein Interesse an einem Dasein ohne Vorbild. Was sollte nun aus den Werten der Sozialdemokratie werden? Und aus mir? Ich durchlitt eine Art Glaubenskrise. Dabei hatte meine politische Konfession ja im Grunde gerade einen Märtyrer bekommen, der bis zum Schluss für unsere Sache gekämpft hatte und für sie gestorben war.

Schweden hat vieles zu bieten, und natürlich habe ich nicht nur vom geistigen Beistand Olof Palmes profitiert, sondern auch von dem der Königsfamilie. Die Liebesgeschichte von Carl Gustav und Silvia finde ich bis heute aufregend. Böse Zungen behaupten ja, Carl hätte Silvia ständig betrogen, doch das halte ich für ausgeschlossen, und so habe ich schon einige Male die königliche Ehre Schwedens verteidigt – wenn es sein musste, auch mit Fäusten. Auf die Narben, die mir das eingetragen hat, bin ich einigermaßen stolz. Wenn Carl Gustav von meinem Einsatz wüsste, hätte er mir längst Eintritt zu Victorias Geburtstagspartys verschafft. Doch auch wenn ich solche Dankesgesten mehr als verdient hätte, ich dränge mich nicht auf, ich kämpfe im Stillen. Man soll den Dingen nicht vorausgreifen. Eines ­Tages werde ich bestimmt bei Victoria vorbeischauen und ihr gratulieren können.

Genüsslich male ich es mir aus. Gerade als ich Silvia mit zitternden Knien die Hand schüttle, reißt mich lauter ­Trubel am Strand aus den Gedanken. Ein Boot legt am Steg an und bringt die letzten Weihnachtsurlauber auf die Insel. Eine der Familien hat dasselbe Resort gebucht wie ich und lässt sich erschöpft auf die Stühle am Nachbartisch fallen.

«Hej, ihr seid aus Schweden, nicht wahr?», frage ich in ­ihrer Muttersprache.

«Richtig geraten. Woher weißt du das?»

«Ich erkenne Schweden einfach auf den ersten Blick. Ich bin übrigens Mikko aus Finnland.»

«Finland, how nice! My name is Jacob and this is my wife Lisa. And these are our kids, Ylva and Petter. Ylva, Petter, sa hej till Mikko!»

«Hej», sagen die Kleinen im Chor.

Immer dasselbe. Da kann ich noch so gut Schwedisch sprechen – sobald die Leute erfahren, dass ich kein echter Schwede bin, schalten sie um auf Englisch. Aber so schnell gebe ich nicht auf.

«Also, eurem Dialekt nach zu urteilen», sage ich in meinem schönsten Schwedisch, «kommt ihr eher aus dem Norden des Landes, aus Umeå vielleicht?»

«Yes, not bad, quite near, it is Sundsvall, to be precise. Do you know where Sundsvall is?», fragt Jacob.

«Aber klar, ich bin mehrfach dort gewesen, ein schönes Reiseziel, vor allem im Sommer. Und weniger Mücken als in Finnland», sage ich, wieder auf Schwedisch.

«Oh yeah, Finland, yes, you mentioned it. Yksi, kaksi, ­kolme, perkele.»

«Nicht übel, aber wie ihr vielleicht bemerkt habt, spreche ich eure Muttersprache, und zwar bedeutend lieber als Englisch.»

«All right. Woher kannst du denn so gut Schwedisch?» Endlich hört er mit dem dummen Englisch auf.

«Sechs Jahre Schulunterricht, nahezu dreißig Jahre Selbststudium.»

Jetzt schaltet sich seine Frau Lisa ein.

«Wirklich erstaunlich. Unser Finnisch ist dagegen armselig.»

«Ihr habt eben nie unter der Herrschaft eures Nachbarlandes gestanden. Aber das ist schon okay mit dem schwedischen Einfluss auf Finnland.»

Eine Mitarbeiterin bringt ihnen die Resort-Schlüssel. Sie trinken ihre Wassergläser aus und schultern die Ruck­säcke.

«Braucht ihr Hilfe mit dem Gepäck?», frage ich.

«No thanks, but see you later, it was nice to meet you.»

Sie gehen zum Bungalow gleich neben meinem. An den kleinen Rucksäcken von Ylva und Petter hängen bunte Schnorchel. Die Familie hat sicher einen Topurlaub vor sich.

Zu ärgerlich, dass mir immer wieder auf Englisch geantwortet wird. Dabei beherrsche ich sogar die Unterscheidung von en und ett im Schlaf. Inzwischen denke ich sogar die meiste Zeit auf Schwedisch, meiner seelisch-geistigen Muttersprache, wie ich sie nenne.

Mein Vater hielt meine Naturbegabung – die übrigens nicht für andere Sprachen wie Englisch, Deutsch oder Französisch galt – für höchst bedenklich. Er verbannte alle schwedischen Texte aus unserer Wohnung und übermalte die schwedischen Angaben auf Lebensmittelpackungen mit schwarzem Edding. Auf dem vielsprachigen Warnaufkleber Nicht bedecken, der immer auf der Seite von elektrischen Heizkörpern prangte, waren die schwedischen Worte dick durchgestrichen. Doch meinen Lernerfolg konnte das nicht aufhalten, und kurz vor seinem Tod haben wir uns sogar wieder ausgesöhnt. Auf dem Sterbebett bat er mich um Entschuldigung:

«Mikko, eins musst du mir versprechen. Verzeih mir, dass ich so wenig Verständnis hatte für deine … du weißt schon, diese Macke. Schweden.»

«Das ist keine Macke, Papa. Aber keine Sorge, ich verzeihe dir. Ich kann mir gut vorstellen, dass es nicht einfach war für dich und Mama.»

Ich drückte seine blasse, schlaffe Hand.

Mein Vater sah sich im Krankenhauszimmer um, und als er sicher war, dass niemand mithörte, sagte er: «Ich werde dir von oben zusehen, Mikko. Und ich werde alle deine künftigen Entscheidungen respektieren. Selbst wenn du die finnische gegen die schwedische Staatsangehörigkeit eintauschen solltest.»

Dann gestand er mir noch, dass er die schwedischen ­Comics unter einem losen Brett auf unserem Dachboden versteckt hatte. Heikel, aber ich sehe das so: Hätte er mich nicht geliebt, hätte er die schwedischen Donald Ducks einfach entsorgt. Doch er hat sie für mich aufbewahrt. Manchmal können finnische Männer ihre Liebe nur auf Umwegen zeigen. Sie in Worte zu fassen, ist für sie tabu.

Dann starb er. Ging dorthin, wo vielleicht auch Olof ­Palme weilt. Meine Mutter folgte ihm relativ bald nach. Und jetzt bin ich allein in Finnland. In diesem Land, das mich nicht braucht. Was interessieren mich Formel-1-Rennen, die gefühlsduselige Nationalhymne «Unser Land» und das regelmäßige Schwitzen in überheizten Saunas?

In Schweden fühlt sich das Leben viel authentischer an, leichter und positiver. Dort öffnen sich die Türen der Häuser nach innen, nicht wie bei uns nach außen. Die Architektur heißt den Besucher im wahrsten Sinne des Wortes willkommen. In Finnland dagegen muss man die Türen umständlich nach außen zerren, ehe man sich reinquetschen kann. Das ist besonders mit vollen Einkaufstüten und bei Schneeregen unangenehm. In Schweden hören Fahrradklingeln sich fröhlich und freundlich an, in Finnland drohend, fast gemeingefährlich. An schwedischen Bankautomaten stehen die Leute parallel zur Hauswand Schlange, in Finnland stellen sie sich quer auf den Bürgersteig und verstopfen den Weg. In Schweden lassen die Autofahrer dich ohne jede Hektik über den Zebrastreifen gehen, in Finnland spürt man ihre Aggression und Ungeduld sogar durch die Windschutzscheibe. In Schweden reden die Sportreporter nett und normal, in Finnland versuchen sie zu klingen wie Formel-1-Fahrzeuge und brüllen sich die Kehle heiser.

Und, nicht zuletzt: In Schweden gehören Minderheiten – im Gegensatz zur ­Situation bei uns in Finnland – ganz selbstverständlich dazu. Was würde das besser belegen als der Name der Restaurantkette Folkets Kebab? Volkskebab, ist doch großartig, oder? Das deftige Essen unserer türkischen Freunde ist fester Bestandteil der schwedischen Alltagskultur. Und die Schweden sind souverän genug, das nicht als Verwässerung ihrer Identität zu betrachten, sondern als zusätzliche Würze in ­ihrem skandinavischen Lebensstil.

Ich schätze, als Nationalitätstransvestit bin ich in Finnland eine Minderheit von genau einer Person. Amnesty International und all die anderen Organisationen kümmern sich schön um die Türken und andere Leute, die aufgrund freier Meinungsäußerung im Gefängnis sitzen, mich dagegen sieht niemand. Gerade im eigenen Land scheren die Leute sich einen Dreck um die sogenannten kleinen Minderheiten. Eine einzige Person, das ist angeblich nicht genug. Ich finde, eine Person ist genau eine Person zu viel, um das Problem zu ignorieren. Aber ich werde ignoriert. Und so kämpfe ich meinen Kampf allein. Den Kampf um die richtige Nationalität, die richtigen Papiere, die richtigen Wurzeln. Und ich ertrage tapfer das Hauptsymptom meiner Krankheit, den quälenden Begleiter in diesem Kampf: das ständige Minderwertigkeitsgefühl.

Bosse und Maria aus Stockholm unterbrechen meine Gedanken und rufen vom Nachbartisch herüber:

«Hej, Finne!»

Die schlimmste Begrüßung, die ich mir vorstellen kann. Ich nicke kleinlaut.

«Kennst du eigentlich den Witz von den zwei Finnen?»

«Schieß los.» Ich ahne, was jetzt kommt.

«Zwei finnische Brüder sehen sich seit fünf Jahren zum ersten Mal wieder und feiern das Ereignis mit einem Sauf­gelage. Nach einer Woche Dauertrinken fragt der eine den anderen: Wie geht’s eigentlich Mama? Sagt der andere: Willst du saufen oder labern?»

Ich habe den Witz an die hundert Mal gehört. Bosse und Maria schütten sich aus vor Lachen und wiederholen mehrmals die Pointe. «Der ist gut, oder?», fragt Bosse.

«Nicht übel. Leider ist ein bisschen was dran», sage ich.

«Haha, ja. Und was ist mit dir? Wirst du dir heute zu Ehren von Weihnachten eine Flasche Koskenkorva gönnen?»

«Ganz bestimmt nicht. Ich werde mir einen zivilisierten Abend machen.»

Vor Koskenkorva-Wodka ekle ich mich geradezu. Ich hasse es, wenn er mir von schwedischen Barkeepern oder Würstchenbudenbesitzern aufgrund meiner Herkunft geradezu aufgedrängt wird. Und zurückziehen werde ich mich heute Abend in jedem Fall. Ich habe keine Lust, der einzige Nichtschwede zu sein und die landestypischen Weihnachtslieder nicht auswendig mitsingen zu können. Dabei kann ich sie gar nicht schlecht. Dazu noch ein Skåne-Aquavit, wäre eigentlich ganz schön. Immerhin wäre ich in der erwünschten Gesellschaft.

Aber eben als Finne. Dabei möchte ich gleichberechtigt zu ihnen gehören, wie selbstverständlich mitdiskutieren bei diesen langen, fair geführten Auseinandersetzungen. Dar­über etwa, ob der Rasenmäher der Hausgemeinschaft daheim in Malmö neue Klingen braucht.

Meine Sehnsucht legt sich wie ein düsteres Tuch über meine Stimmung. Der Wunsch, ein Schwede zu sein, ist auch hier in Asien, Tausende Kilometer von Stockholm entfernt, kein bisschen schwächer.

Abends sitze ich in meinem Bungalow und höre sie zusammen Weihnachten feiern. Die gutaussehenden Schweden. Zum Glück hat mir niemand Bescheid gesagt – ich wäre den ganzen Abend nur neidisch gewesen. Ganz ehrlich, ich verbringe Heiligabend lieber allein. Ihre Weihnachtslieder tönen bis in mein Bett. Es dauert lange, bis ihr fröhlicher Abend zu Ende geht. Und noch länger, bis ich ­einschlafe.

1.1.2003

Ein neues Jahr. Schon wieder liegen 365 vergeudete Tage hinter mir. Vergeudet als Finne. Meine Staatsangehörigkeitsuhr tickt immer lauter.

4.1.2003

Die Maschine der SAS rollt auf dem verhassten Flughafen Helsinki-Vantaa aus, sie hat mich «nach Hause» gebracht. Was für ein Hohn! Wie sagte noch gleich der schwedische Ministerpräsident Per Albin Hansson, als er 1928 das nationale Zuhause, das Volksheim Schweden mitbegründete? Der Grundstein für ein gutes Zuhause ist das Zusammengehörigkeitsgefühl. Ein gutes Zuhause kennt keine Über- oder Unterlegenheit, keine Ober- oder Unterschicht, keine Lieblings- oder Stiefkinder. Niemand macht andere klein, niemand profiliert sich auf Kosten anderer. Stärkere werden Schwächere nicht unterdrücken. Denn in einem guten Zuhause herrschen Fürsorge, Gleichberechtigung, Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft.

Ich habe die Reden von Per Albin Hansson gründlich studiert und bin sicher: Er meinte beides, das konkrete Zuhause jedes Einzelnen, aber auch den Staat als schützendes ­Zuhause von allen.

Die finnische Familie, die vor mir in der Schlange für die Passkontrolle steht, ist weit entfernt von diesem Leitbild. Der Vater ist besoffen, die Mutter frustriert, die Kinder streiten. Finnische Familien sind das genaue Gegenteil von Hanssons Vision. Und wenn sie sich tatsächlich mal Mühe geben, dann übertreiben sie es mit der Liebe, und am Ende prügeln sich doch wieder alle. Dabei fehlt meinen Landsleuten weder der Wille noch die Kompetenz – ihnen fehlt die Mission. Deshalb sind unsere Nachbarn im Westen uns so haushoch überlegen. In Finnland hat es nie einen Visionär vom Kaliber Hanssons gegeben, der den Menschen gezeigt hätte, wie man als Familie leben und sich fühlen soll. Wo ­einer wie Hansson Liebe vermittelt hat, sind die finnischen Präsidenten distanzierte Eisblöcke gewesen. Präsident Mannerheim, angeblich der größte Finne aller Zeiten, ist in hohen Lederstiefeln quer durch Europa geritten. Einsatz für das Projekt Familie? Fehlanzeige. Und auch seine Nachfolger konnten dem Volk weder den Wert der Familie noch den der nationalen Gemeinschaft vermitteln. Inzwischen ist es dafür zu spät.

Ich sitze im Taxi. Wie wird sich das Heimkehren erst anfühlen, wenn ich dem Fahrer schwedische Kronen geben und meine schwedischen Kinder, die auf dem Rücksitz schlummern, sanft aufwecken kann? Großartig.

In Helsinki hat es geschneit, und ich spüre ganz deutlich, dass hierzulande selbst der Schnee nicht mit dem im Nachbarland mithalten kann. In Schweden segeln die Flocken fröhlicher und freier herab, als würden sie wissen, dass sie auf tolerantem Grund und Boden landen. In Finnland trudeln die Flocken geradewegs in die Schwermut. Sie landen auf den Schultern depressiver Menschen, die den Schnee als Störenfried sehen: Er verursacht Verkehrschaos, lässt Wasserleitungen einfrieren, macht nasse Flecken im Hausflur.

Ich freue mich unglaublich auf meinen ersten Schnee in Schweden – mit eigenen Kindern. «Papa, bauen wir einen Schneemann?», werden sie fragen. An diesem Abend wird es dafür schon zu spät sein, wir wollen gleich Zähneputzen und eine Geschichte von Astrid Lindgren vorlesen, aber morgen werden wir gemeinsam einen Schneemann bauen. Meine Kinder haben ein stabiles Urvertrauen und wachsen zu selbstbewussten Menschen heran, und dementsprechend werden auch ihre Kinder selbstbewusst und zufrieden sein. Auch sie werden mit ihren Eltern Schneemänner bauen wollen, oder Schneefrauen. Und ob nun Mama oder Papa dabei hilft, ist ebenfalls unwichtig. In gleichberechtigten Gesellschaften muss man nicht mehr zwischen Mann und Frau unterscheiden.

Ich stehe vor meiner Wohnungstür und hole den Schlüssel aus meiner Jackentasche. Könnte ich diese Tür und alles, was dahinter liegt, doch nach Karlstad zaubern. Dann würde der Schritt über die Schwelle mich in eine bessere Zukunft führen.

In der Post liegen meine schwedischen Zeitungen, ­Dagens Nyheter und so weiter. Das Gute ist die kurze Entfernung zu Schweden, ich lese die Schlagzeilen meist nur einen Tag verspätet. Alles ist so, wie ich es verlassen habe. An der Wand begrüßt mich das Foto der schwedischen Fußballnationalmannschaft, gleich daneben hängt ein Bild der königlichen Familie. Ich nicke ihnen freundlich, aber mit dem gebührenden Respekt zu. Auf dem Nachttisch liegt noch das Buch von Selma Lagerlöf, das ich in der Eile des Aufbruchs vergessen habe. Auf dem Stuhl hängen meine Winterklamotten, alle von schwedischen Designern wie Lindeberg oder ­Filippa K, mein Wintermantel ist von Tiger of Sweden. Gute Qualität, die fein und doch schlicht und bescheiden aussieht. Auf meinem Anrufbeantworter (Marke Ericsson) ist genau eine Nachricht:

«Guten Tag, noch ein Nachtrag zu Ihrer Anfrage. Um die schwedische Staatsangehörigkeit zu erhalten, müssten Sie, wie schon gesagt, erst länger im Land gelebt haben, und …»

Ich schalte das Gerät ab. Die schwedische Einwanderungsbehörde, ich will mir nicht die Laune verderben lassen. In ein paar Tagen rufe ich zurück und erkläre ihnen meinen speziellen Fall im Detail. Sie werden mich schon noch verstehen.

Wunderbar, alle schwedischen Serien wurden aufgenommen, genau, wie ich es programmiert habe. Ehrensache, dass ich ausschließlich Kanäle des Nachbarlandes schaue.

Jetzt wäre ein bisschen Gesellschaft schön, zur Feier meiner Rückkehr. In Schweden begeht man so etwas mit einer kalas, einer kleinen Party. Ich klingele bei meinem Nachbarn Jarkko. Er ist einer meiner wenigen finnischen Freunde, geht auf die vierzig zu und sucht – ähnlich wie ich – noch seinen Platz in dieser Welt. Deshalb versteht er mein Interesse an Schweden auch recht gut, denke ich. Und wenn ich auf Reisen bin, gießt er zuverlässig meine Grünpflanzen. Ich habe ihm eine Flasche Taxfree-Kognak und thailändisches Tigerbalsam mitgebracht.

«Hallo, Mikko, willkommen zurück!»

«Hej, Jarkko. Danke für die Hilfe mit den Pflanzen! Hier, ein kleines Mitbringsel. Du, ich will spontan eine kleine ­Party veranstalten, magst du rüberkommen?»

«Also, ich habe eigentlich noch zu tun, danke für die Einladung, aber lieber ein anderes Mal …»

Jarkko hat genau einmal bei einer kalas mitgemacht und sich offensichtlich ziemlich unwohl dabei gefühlt. Schade, aber ich nehme ihm das nicht übel, ich bin solche Reaktionen gewöhnt. Spätestens beim Singen schauen die Leute betreten zu Boden. Dabei ist Singen fester Bestandteil schwedischer Geselligkeit. Gemeinsames Singen, wohlgemerkt.

Ich lasse mich von seiner Absage nicht runterziehen und feiere für mich allein, im engsten Kreis und ganz bescheiden. Zu anderen Anlässen lasse ich es dafür richtig krachen, etwa am Jahrestag von Abbas Grand-Prix-Sieg mit «Waterloo»; weitere Daten wie Gustav Adolfs oder Björn Borgs Geburtstag nutze ich ebenfalls für private Feste. Als ich meinen ­Arbeitgeber deshalb um zusätzliche bezahlte Urlaubstage gebeten habe, erhielt ich folgende Reaktion:

Lieber Mikko, ich denke, du verlangst ein bisschen viel. Du hast genauso viele Feiertage wie alle anderen Kollegen. Ich sehe nicht ein, wieso du noch zusätzliche brauchst, um fragwürdige Personen aus der Unterhaltungsmusik oder dem Tennis (!) zu feiern, deren Ruhm längst verblasst ist. Nichts für ungut ;-)

Beste Grüße, Jari.

Ein Arsch. In diesem Umfeld muss ich also leben. Die Muslime dürfen während des Ramadan kommen und gehen, wie sie wollen, und ich? Ich muss mir weiterhin regelmäßig Urlaub für meine schwedischen Feierlichkeiten nehmen.

Ich setze mich vor meinen kleinen Altar mit den Bildern meiner schwedischen Helden. Zusätzlich zu den bisher genannten sind das Alfred Nobel, Pippi Langstrumpf, Ingmar Bergman, August Strindberg, Greta Garbo, die Außenministerin Anna Lindh, Raoul Wallenberg und Henning Mankell. Unter anderem.

Natürlich habe ich mir die Frage gestellt, ob das Schwedentum für mich eine Art Religion ist. Und ich kann diese Frage mit Nein beantworten, denn alles, was Schweden ausmacht, widerspricht dem unguten Geist institutionalisierter Religion. Kriege führen, missionieren, unterdrücken – das hat ein Land wie Schweden nicht nötig. Dennoch finde ich, dass dort das Konzept der Sozialdemokratie – im positiven Sinne – religiöse Züge hat und dass man Olof ­Palme durchaus als einen Märtyrer sehen kann.

Meine Schwedenbegeisterung macht übrigens auch die engsten zwischenmenschlichen Beziehungen nicht einfacher. Als meine Freundin Tiina an einer Gedenkfeier zu ­Ehren von Olof Palmes Todestag teilnahm, schaffte sie es ­gerade mal bis knapp zur Hälfte – dann verließ sie wortlos meine Wohnung. Mich hat das ziemlich verletzt.

Wir sind seitdem zwar weiterhin in Kontakt, aber Tiina kommt nicht mehr zu mir nach Hause, und auch insgesamt sehen wir uns eher selten. Eigentlich ist sie voll und ganz mein Typ, hat ­sogar große Ähnlichkeit mit Prinzessin Victoria. Vielleicht geht es eines Tages ja wieder bergauf mit uns beiden. Wenn sie bereit ist, mich so zu akzeptieren, wie ich bin. Na ja, und ich sollte mich wohl mal wieder aufraffen und sie anrufen.

Ich schiebe den Gedanken an Tiina beiseite und konzentriere mich auf meine Feier. Ich esse Knäckebrot mit Fisch­rogencreme von Kalle und trinke Skåne-Aquavit. Mein schwedisches Abendmahl, Fleisch und Blut sozusagen. Ich hebe das Schnapsglas in die Luft und leere es auf ex. Vom Altar her scheint Astrid Lindgren mich zu einem zweiten Glas aufzufordern, und wer wäre ich, dem nicht nachzukom­men. Mit Alkoholkonsum bis zum Abend warten? Wozu! ­Irgendwann singe ich schwedische Trinklieder. Nach dem achten Glas beginne ich zu tanzen. Bis das Telefonklingeln meine Party unterbricht.

«Hej, hier ist Malin Persson von der Einwanderungs­behörde.»

«Hej, hej! Nett, dass Sie nochmal anrufen!»

«Sie waren verreist und hatten um Rückruf gebeten, richtig? Ich dachte, ich melde mich nochmal bei Ihnen persönlich, statt nur über den Anrufbeantworter zu kommunizieren. Damit wir uns nicht missverstehen.»

Mist, ich bin ganz außer Atem. Und betrunken bin ich außerdem. Ganz schlechter Zeitpunkt für so ein wichtiges Gespräch. Ich reiße mich zusammen.

«Sehr gut. Also, ich bemühe mich ja nun schon lange um die schwedische Staatsangehörigkeit, und immer kriege ich ablehnende Reaktionen.»

«Ja, das tut mir wirklich leid. Leider kann ich Ihnen auch jetzt nichts anderes sagen. Sie haben in Ihrem bisherigen Leben ja nicht einen einzigen Monat in Schweden verbracht.»

«Ja, wegen meiner blöden Eltern ging das dummerweise nicht anders, als Kind und als Jugendlicher ist man ja von ­denen abhängig, wie Sie vermutlich wissen. Und die ganzen letzten Jahre musste ich sie dann hier in Finnland pflegen und konnte nicht weg. Aber in Wahrheit bin ich Schwede, zu hundert Prozent. Oder bemerken Sie etwa irgendwelche sprachlichen Fehler? Ist mein Schwedisch nicht geradezu perfekt?»

«Hm, ja, eigentlich schon …»

Sie benutzt das Wort faktiskt. Das heißt so viel wie eigentlich, tatsächlich. Das benutzt man dann, wenn man etwas ­anderes erwartet hätte. Und damit hat Malin Persson mich diskriminiert.

«Sie haben mich vorschnell in eine Schublade gesteckt. Das Wort faktiskt verrät, dass Sie mich nicht neutral behandelt haben. So leid es mir tut, ich denke, das werde ich an höherer Stelle gegen Sie vorbringen müssen.»

Solche Drohungen sind für die harmonie- und gerechtigkeitsbewussten Schweden reinster Horror. Malin Persson klingt sofort viel weicher.

«Ja, ich gebe zu, ich habe Sie leider nicht vorurteilsfrei eingeschätzt, und das tut mir aufrichtig leid. Dennoch sehe ich derzeit bedauerlicherweise keinen Weg, wie wir Ihnen die schwedische Staatsangehörigkeit zusprechen könnten. Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber Sie müssten erst fünf Jahre in Schweden gelebt haben.»

So weit, so schlecht, Malin Persson ist definitiv keine gute Schwedin: Paragrafen haben für sie höhere Priorität als der gesunde Menschenverstand. In dieser Hinsicht bin ich wesentlich schwedischer als sie. Trotzdem liege ich jetzt zerschmettert auf meinem finnischen Fußboden und bin noch immer ein finnischer Mann.

Scheiß drauf! Wenn ich nach wie vor in dieser blöden Haut stecke, kann ich meinen Frust auch auf finnische Art ertränken.

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