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Unsterblich verliebt

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Wie die meisten Teenager hat auch Aden Stone Freunde. Nur dass es bei ihm vier menschliche Seelen sind, die in ihm wohnen, unablässig an ihm zerren und zudem über magische Fähigkeiten verfügen: Eve kann in die Vergangenheit zurückversetzen; Julian erweckt Tote zum Leben. Caleb verkörpert den Zorn, und Elijah kann in die Zukunft schauen. Alles, was Aden sich wünscht, ist Frieden. Den verspürt er zum ersten Mal in der Gegenwart der 16jährigen Mary Ann, denn sie bringt die Stimmen in ihm zum Schweigen. Die ungleichen Freunde werden bald durch den attraktiven Werwolf Riley und die Vampirprinzessin Victoria ergänzt. Nichts ist wirklich normal bei den ungleichen Liebespaaren. Und auch nicht erlaubt. Dennoch gehen die vier durch dick und dünn. Gemeinsam nehmen sie den Kampf mit den dunklen Mächten auf, die ihre Heimat, Crossroads, zu erobern suchen.


  • Erscheinungstag: 01.07.2011
  • Aus der Serie: Interwined Reihe
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862780709
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Ein Friedhof. Nein. Nein, nein, nein! Wie war er denn hier gelandet?

iPod zu hören, während er eine neue Stadt erkundete, war offenbar keine gute Idee gewesen. Vor allem nicht, weil Crossroads in Oklahoma, das wahrscheinlich die Welthauptstadt der Gartenzwerge und mit Sicherheit die Hölle auf Erden war, so klein war, dass man es fast übersah.

Hätte er den Nano doch nur auf der D&M-Ranch gelassen, dem Wohnheim für „missratene“ Jugendliche, in dem er vorübergehend wohnte. Aber das hatte er nicht. Er hatte sich Ruhe gewünscht, nur ein wenig Ruhe. Und jetzt würde er dafür bezahlen.

„Verdammter Mist“, murmelte er, zog die Kopfhörer aus den Ohren und stopfte die glänzende grüne Ablenkung in seinen Rucksack. Er war sechzehn Jahre alt, aber manchmal kam es ihm vor, als würde er schon ewig leben und als wäre jeder Tag schlimmer als der vorherige. Und der heutige würde leider keine Ausnahme sein.

Sofort meldeten sich lautstark genau die Stimmen, die er mit der ohrenbetäubenden Musik von Life of Agony ausgeblendet hatte.

Endlich, sagte Julian in seinem Kopf. Ich rufe dir schon die ganze Zeit zu, dass du umdrehen sollst.

„Dann hättest du lauter rufen sollen. Heute wollte ich eigentlich keinen Krieg mit den Untoten anfangen.“ Mit diesen Worten wich Haden Stone – den alle Aden nannten, weil er als Kind offenbar seinen eigenen Namen nicht richtig aussprechen konnte – zurück und nahm den Fuß vom Friedhofsgelände. Doch es war zu spät. Ein Stück weiter bebte schon die Erde vor einem Grabstein und riss auf.

Schieb mir nicht die Schuld in die Schuhe, antwortete Julian. Elijah hätte das vorhersehen müssen.

He, sagte eine zweite Stimme, ebenfalls in Adens Kopf. Rede dich nicht auf mich raus. Meistens weiß ich nur was, wenn jemand stirbt.

Seufzend ließ Aden seinen Rucksack fallen, bückte sich und zog die Dolche hervor, die in seinen Stiefeln steckten. Sollte jemand sie bei ihm finden, würde er sofort wieder im Jugendknast landen, wo es mit schöner Regelmäßigkeit zu Prügeleien kam und es genauso schwer war, einen verlässlichen Freund zu finden, wie zu türmen. Aber er hatte insgeheim gewusst, dass es das Risiko wert war, sie mitzunehmen. Das war es immer.

Schön. Dann ist es halt meine Schuld, grummelte Julian. Aber ich kann nichts daran ändern.

Das stimmte. Sobald die Toten Aden spürten, erwachten sie. Meist passierte das, wenn er versehentlich einen Fuß auf ihr Land setzte, so wie jetzt. Einige spürten ihn eher als andere, aber am Ende kamen sie alle hervor.

„Keine Sorge, wir haben schon in schlimmeren Situationen gesteckt.“

Er hätte seinen iPod wirklich zu Hause lassen sollen, dachte er, aber vor allem hätte er auf seine Umgebung achten müssen. Immerhin hatte er sich einen Stadtplan angesehen und gewusst, welche Gegenden er meiden musste. Aber bei der hämmernden Musik hatte er um sich herum nichts mehr mitbekommen. Einen Moment lang war er befreit gewesen, scheinbar allein.

Der Grabstein wackelte.

Julian seufzte; es klang wie ein Echo von Adens Seufzer. Ich weiß, dass wir schon Schlimmeres erlebt haben. Schließlich war ich auch dafür verantwortlich.

Na großartig. Eine Runde Selbstmitleid? Diese dritte, frustrierte Stimme gehörte einer Frau; sie nahm in Adens Kopf eine Sonderstellung ein. Er war überrascht, dass seine anderen Gefährten – so nannte er manchmal die Seelen, die in ihm gefangen waren – sich nicht ebenfalls einmischten. Mit Ruhe und Frieden konnte keiner von ihnen viel anfangen. Können wir uns das Geschwafel für später aufheben, Jungs, und den Zombie töten, bevor er ganz rausklettert, Witterung aufnimmt und uns allesamt plattmacht?

„Ja, Eve“, sagten Aden, Julian und Elijah einstimmig. So lief es immer. Wenn er und die anderen drei Jungs sich zankten, ging Eve dazwischen, ganz Respekt einflößende Mutterfigur, selbst ohne einen Zeigefinger, mit dem sie drohen könnte. Wenn Mütterlichkeit in dieser Situation nur geholfen hätte!

„Ihr müsst jetzt nur alle ruhig sein, ja? Bitte“, murmelte Aden.

Als Antwort kam Gegrummel. Mehr Ruhe würden sie ihm nicht gönnen.

Mühsam konzentrierte sich Aden. Ein paar Meter vor ihm schwankte der Grabstein heftig vor und zurück, bis er schließlich umkippte und zerbrach. Morgens hatte es geregnet, und kleine Tropfen spritzten in alle Richtungen. Bald folgte ihnen händeweise Erde, sie flog durch die Luft, während sich eine widerlich graue Hand nach oben wühlte.

Goldenes Sonnenlicht fiel auf die nässende Haut, die verwesenden Muskeln … selbst auf die Würmer, die zwischen den aufgedunsenen Fingerknöcheln herumkrochen.

Ein Frischer. Na toll. Aden drehte sich der Magen um. Vielleicht würde er sich nach dieser Geschichte übergeben. Oder währenddessen.

Den Spinner machen wir fertig! Stört es eigentlich, dass ich gerade ganz scharf bin?

Das war Caleb, die vierte Stimme. Hätte Caleb einen eigenen Körper, wäre er der Typ, der sich im Schatten versteckt, um Mädchen in der Umkleide zu fotografieren.

Während Aden das Geschehen beobachtete und auf den richtigen Moment wartete, um zuzuschlagen, kam eine zweite schleimige Hand hervor, und beide mühten sich ab, den fauligen Körper ganz aus der Erde zu ziehen. Aden sah sich um. Er stand auf einem zementierten Gehweg auf einem Hügel, die üppigen Bäume am Rand schützten ihn vor neugierigen Blicken. Zum Glück schien die weite Fläche voller Gras und Grabsteinen menschenleer zu sein. Dahinter schlängelte sich eine Straße vorbei, auf der mehrere Autos mit leise summenden Motoren fuhren. Auch wenn sich jemand umschauen sollte, statt auf den Verkehr zu achten, würde er nichts sehen.

Du kannst das, sagte er sich. Du kannst es. Das hast du schon früher geschafft. Außerdem stehen Mädchen auf Narben. Hoffte er zumindest. Er hatte reichlich Narben vorzuweisen.

„Jetzt oder nie.“ Entschlossen ging er weiter. Er hätte auch rennen können, aber er hatte es nicht eilig, das Startsignal zu geben. Außerdem endeten solche Begegnungen immer gleich, egal, wie sie abliefen: mit einem verletzten Aden voller Prellungen, dem von der Infektion durch den verpesteten Speichel der Untoten übel war. Er schauderte, als er sich vorstellte, wie gelbliche Zähne nach ihm schnappten und ihn bissen.

Normalerweise dauerte der Kampf nur wenige Minuten. Aber wenn jemand in dieser Zeit einen Angehörigen besuchen wollte … Egal, was geschah, Aden durfte auf keinen Fall gesehen werden. Man würde ihn für einen Grabschänder oder Leichenräuber halten. Dann würde er in diesem Kaff im Gefängnis laden und als nutzloser Straftäter abgestempelt werden, genau wie in jeder anderen Stadt, in der er je gelebt hatte.

Es wäre nett gewesen, wenn sich der Himmel verdunkelt und es wieder geregnet hätte, aber Aden wusste, dass er so viel Glück nicht hatte. Hatte er nie.

„Tja, ich hätte besser aufpassen müssen, wohin ich gehe.“ Einfach an einem Friedhof vorbeizulaufen war unglaublich dämlich. Denn wenn er, so wie heute, nur einen einzigen Fuß auf das Grundstück setzte, erwachte etwas Totes zum Leben, das nach Menschenfleisch gierte.

Dabei hatte er sich nur ein ruhiges Plätzchen gewünscht, an dem er sich allein entspannen konnte. Na ja, so allein, wie ein Junge mit vier Leuten in seinem Kopf eben sein konnte.

Apropos Kopf: Da ragte jetzt gerade einer aus dem verbreiterten Loch und drehte sich von links nach rechts. Ein Auge war nach innen gewendet, das Weiße darin rot durchsetzt, das andere fehlte ganz, sodass der Muskel dahinter zu sehen war. Auf dem Schädel prangten dicke kahle Stellen. Die Wangen waren eingesunken, die Nase hing nur noch an wenigen Fasern.

In Adens Magen ätzte Galle, dass er sich beinahe krümmte. Er umklammerte die Dolchgriffe und fing jetzt doch an zu laufen. Gleich war er … da … Der Tote mit dem ausgezehrten Gesicht schnupperte; offenbar gefiel ihm, was er da roch. Giftiger schwarzer Speichel rann ihm aus dem Mund, und er verdoppelte seine Anstrengung, aus dem Boden zu kriechen. Schultern tauchten auf, dann folgte der Oberkörper.

An ihm schlotterten Jacke und Hemd, beides zerrissen und dreckig. Also ein männlicher Untoter. Das machte das, was Aden tun musste, leichter. Manchmal.

Ein Knie wuchtete sich auf das Gras, dann das zweite.

Näher … noch näher … Aden rannte noch schneller.

Er erreichte den Untoten, als der sich gerade ganz aufrichtete; er war gute einsachtzig groß und damit mit Aden auf Augenhöhe. Adens Herz hämmerte wie wild. Der Atem schmerzte in den Lungen und brannte in der Kehle. Zum letzten Mal hatte er das hier vor über einem Jahr tun müssen, und es war die schlimmste Begegnung gewesen, die er bisher gehabt hatte. Er hatte seitlich am Oberkörper mit achtzehn Stichen genäht werden müssen, trug einen Monat lang ein Bein in Gips, hatte eine Woche auf der Entgiftungsstation verbracht und unfreiwillig jeder Leiche auf dem Rose-Hill-Friedhof Blut gespendet.

Dieses Mal nicht, sagte er sich.

Ein hungriges Knurren drang aus dem Mund des Wesens.

„Schau mal, was ich hier habe.“ Aden hielt die Klinge hoch, das Silber glänzte im Sonnenlicht. „Hübsch, nicht? Willst du es mal von Nahem sehen?“ Mit überraschend ruhiger Hand holte er aus und hieb in Richtung Hals. Um eine Leiche zu töten – endgültig zu töten –, musste man ihr den Kopf abschneiden. Aber kurz bevor er treffen konnte, erkannte der Untote die Situation, genau wie Eve befürchtet hatte, und duckte sich. Überlebensinstinkte waren offenbar nicht totzukriegen. Adens Dolche durchschnitten nur leere Luft, der Schwung riss ihn herum.

Eine knöcherne Faust schickte ihn mit dem Gesicht voran zu Boden, sodass ihm Erde in den Mund drang. Sofort stürzte sich ein schweres Gewicht auf ihn und drückte ihm die Luft aus den Lungen. Finger packten seine Handgelenke und drückten zu, bis ihm die Dolche aus der Hand fielen. Zum Glück – wenn man es so nennen konnte – waren diese Finger widerlich feucht und konnten ihn nicht festhalten.

Was ihn dagegen ruhig hielt, waren die Zähne an seinem Hals, die seine Arterie durchbeißen wollten, und die feuchte, saugende Zunge. Einen schmerzerfüllten Moment lang war er so benommen, dass er sich nicht rühren konnte, ihm war brennend heiß, er wurde ohnmächtig, wachte wieder auf, spürte wieder das Brennen. Dann konzentrierte er sich schlagartig – besiegen, er musste das Wesen besiegen – und brach dem Toten mit dem Ellbogen mehrere Rippen.

Der ließ nicht locker.

Natürlich mussten Adens Gefährten ihre Kommentare loswerden.

Na toll. Bist du aus der Übung, oder was, fragte Caleb.

Lässt dich von einem Toten umhauen, spottete Julian. Du solltest dich schämen.

Willst du dich zum Abendessen verspeisen lassen, fügte Elijah fragend hinzu.

„Jungs“, quetschte Aden hervor, während er sich heftiger wehrte. „Ernsthaft, ich kämpfe hier gerade.“

Kämpfen würde ich das nicht nennen, antwortete Caleb. Du lässt dir ja den Hintern versohlen wie ein kleines Mädchen.

He, das will ich aber nicht gehört haben.

Entschuldige, Eve.

„Keine Sorge, ich hab’s gleich.“

Werden wir ja sehen, sagte Elijah grimmig.

Aden wollte dem Wesen den Hals zudrücken, aber es wich ihm ständig aus. „Seid still“, befahl er, während er der Leiche so fest gegen die Wange schlug, dass ihr Rest Hirn durchgeschüttelt wurde. Doch das schwächte sie nicht. Eher schien es ihr neue Kraft zu verleihen. Aden musste sich mit beiden Händen gegen ihr Kinn stemmen, damit sie sich nicht wieder mit den Zähnen auf ihn stürzte.

„Du weißt doch am besten, dass ich so nicht sterbe.“ Er stieß die Worte keuchend hervor.

Vor etwa sechs Monaten hatte Elijah seinen Tod vorausgesagt. Er wusste nicht, wann, sondern nur, dass es passieren würde. Es würde nicht auf einem Friedhof geschehen, und er würde auch nicht von einem Toten umgebracht werden. Nein, er würde auf einer einsamen Straße sterben, mit einem Messer im Herzen, dessen Spitze mit jedem Schlag tiefer schnitt, bis ihn das Leben endgültig verließ.

Diese düstere Vorhersage war an dem gleichem Tag gefallen, an dem man ihm gesagt hatte, dass er auf die D&M-Ranch geschickt werden würde, sobald es einen freien Platz gab. Vielleicht hätte ihn das davon abhalten sollen hierherzukommen. Aber …

Zur gleichen Zeit bekam er Visionen von einem dunkelhaarigen Mädchen. Davon, mit ihr zu reden und zu lachen … sie zu küssen. Elijah hatte noch nie etwas anderes als Todesfälle vorhergesagt, deshalb war es für Aden ein Schock, zu wissen – oder eher zu hoffen –, dass dieses Mädchen eines Tages in sein Leben treten würde. Er war erschrocken, aber freute sich auch darauf. Er wünschte sich, sie kennenzulernen, sehnte sich regelrecht danach. Selbst wenn das hieß, in die Stadt zu ziehen, in der er sterben würde.

Und das in allzu naher Zukunft, das wusste er schon. In der Vision hatte er nicht viel älter ausgesehen als jetzt. Aber er hatte Zeit gehabt, um seinen Tod zu betrauern und um sein Schicksal sogar zu akzeptieren. Manchmal, jetzt etwa, freute sich ein Teil von ihm sogar darauf. Was nicht hieß, dass er sich von dem Untoten einfach fertigmachen lassen würde.

Etwas stach in seine Wange, und er konzentrierte sich blinzelnd.

Weil die Leiche mit ihren vergilbten Zähnen nicht nahe genug an ihn herankam, verpasste sie ihm tiefe Kratzer mit den Fingernägeln. Das hatte er davon, sich ablenken zu lassen.

Du hast es gleich? Wirklich? Dann beweis es, sagte Julian, um Aden anzufeuern.

Brüllend griff Aden nach einem der Dolche, die er hatte fallen lassen. Als sich die Leiche aus seinem Griff befreite, hieb er nach ihr. Die Klinge schnitt durch Knochen … und blieb stecken. Nutzlos.

Um in Panik zu verfallen, blieb keine Zeit. Gierig und völlig unempfindlich gegen Schmerzen, stürzte sich Adens Gegner wieder auf seine Kehle.

Aden schlug noch einmal zu. Die Leiche knurrte und bleckte die Zähne, schwarzer Speichel rann ihr in einem dicken Faden aus dem Mund und tropfte zischend auf Adens Wange. Aden wehrte sich, der Verwesungsgeruch ließ ihn würgen.

Als eine lange, nasse Zunge hervorkam und sich auf sein Gesicht zuschob, packte Aden die Leiche abermals am Kinn, um sie abzuwehren, und griff nach dem anderen Dolch. Seine Finger umschlossen den Griff, und sofort schnitt er ihr in den Hals.

Knirsch.

Endlich löste sich der Kopf vom Körper und fiel dumpf zu Boden. Die Knochen und die zerrissene Kleidung allerdings fielen auf Aden. Er verzog das Gesicht, schob sie von sich herunter und krabbelte auf ein sauberes Fleckchen Gras.

„Da habt ihr euren Beweis.“ Dann sackte auch er zusammen.

Gut gemacht, sagte Caleb stolz.

Ja, aber jetzt kannst du dich nicht ausruhen, fügte Eve hinzu. Sie hatte recht.

„Ich weiß.“ Er musste den Körper beseitigen, sonst würde noch jemand über die geschändeten Überreste stolpern. Reporter würden wie Fliegen durch die Stadt schwirren und jeden bitten, bei der Suche nach dem perversen Übeltäter zu helfen. Außerdem würden noch weitere Tote auferstehen, ob er hierblieb oder nicht. Er musste für sie bereit sein. Aber er lag nur da, voller Schmerzen, und blinzelte in den Himmel hinauf, während die Sonne auf ihn herunterbrannte und ihm die letzte Energie raubte.

Bis zum Abend würde sich das Gift aus dem Speichel durch seinen Körper gefressen haben, dann würde er über der Toilette hängen, und die Cornflakes vom Morgen wären nur noch eine nette Erinnerung. Er würde Fieber bekommen, stark schwitzen, unkontrollierbar zittern und sich den Tod wünschen. Aber hier und jetzt hatte er eine Atempause. Danach hatte er sich den ganzen Tag gesehnt.

Los, auf und weitermachen, Schätzchen, drängte Eve.

„Gleich, versprochen. Einen Moment noch.“ Aden kannte seine echte Mutter nicht. Seine Eltern hatten ihn in staatliche Fürsorge gegeben, als er drei gewesen war. Deswegen mochte er es, zumindest manchmal, wenn Eve sich mütterlich gab. Eigentlich liebte er sie sogar dafür. Wirklich.

Im Grund liebte er jede seiner vier Seelen. Sogar Julian, den Leichenflüsterer. Aber jeder andere Jugendliche auf der Welt konnte sich auch mal von seiner Familie entfernen und ein wenig allein sein. Er konnte Sachen machen, die sechzehnjährige Jungs nun mal machten. Etwa … na ja, Sachen eben. Sie konnten sich verabreden und zur Schule gehen und Sport treiben. Sich amüsieren.

Nur Aden nicht. Er konnte das nie.

Egal, was er machte, egal, was er tat, er hatte immer Zuschauer. Zuschauer, die gerne Kommentare, Kritik und Vorschläge abgaben. Mach beim nächsten Mal dies. Mach beim nächsten Mal jenes. Schwachkopf, das hättest du nicht tun dürfen.

Sie meinten es nur gut, das wusste Aden, aber bis jetzt hatte er noch nie ein Mädchen geküsst. Die hübsche Dunkelhaarige aus Elijahs Vision zählte nicht, egal, wie echt sich die Visionen anfühlten. Wann würde sie endlich kommen? Würde sie überhaupt kommen?

Erst gestern hatte er sie wieder in einer Vision gesehen. Sie hatten in einem Wald gestanden, über dem hoch oben der goldene Mond stand. Das Mädchen hatte die Arme um ihn gelegt und ihn fest an sich gedrückt, ihr warmer Atem war über seinen Hals gestrichen.

„Ich beschütze dich“, hatte sie gesagt. „Ich werde dich immer beschützen.“

Wovor, fragte er sich seitdem. Vor Leichen offenbar nicht.

Er holte Luft, dann verzog er das Gesicht. Was für ein Stinker. Der Geruch von Verwesung schien in seiner Nase festzukleben. Er würde sich von Kopf bis Fuß mit Stahlwolle abschrubben müssen. Aden ließ den Dolch los und wischte den giftigen Schleim auf seinen Händen an der Jeans ab. „Was für ein Leben, hm?“

Wenn du es genau wissen willst: Es ist nicht unsere Schuld, sagte Julian, der offenbar nicht mehr den Sündenbock spielen wollte. Du hast uns schließlich in deinen dicken Schädel geholt.

Aden knirschte mit den Zähnen. An so was in der Art erinnerten sie ihn tausend Mal am Tag. „Ich habe euch das doch schon gesagt, ich habe nichts gemacht.“

Irgendwas musst du gemacht haben, schließlich haben wir keine eigenen Körper. Nein, nein, wir stecken in deinem fest. Und das ohne Schaltknopf!

„Nur zur Info, ihr wart schon in meinem Kopf, als ich geboren wurde.“ Das glaubte er zumindest. Sie waren immer bei ihm gewesen. „Ich konnte nichts dagegen tun. Wir wissen ja alle nicht, wie es passiert ist.“

Wenn er nur einmal Ruhe haben könnte! Keine Stimmen in seinem Kopf, keine Toten, die auferstanden und ihn verspeisen wollten, keine sonstigen widernatürlichen Dinge, mit denen er sich jeden Tag herumschlagen musste.

Wie etwa, dass Julian die Toten zum Leben erweckte und Elijah bei jedem, den er traf, vorhersagte, wie er sterben würde. Dass Eve ihn in die Vergangenheit zurückversetzte, in eine jüngere Version seiner selbst. Eine falsche Bewegung, ein falsches Wort, und er änderte seine Zukunft. Nicht immer zum Besseren. Oder damit, dass Caleb ihn zwang, allein durch eine Berührung den Körper eines anderen Menschen in Besitz zu nehmen.

Schon eine dieser Eigenschaften hätte ihn zu etwas Außergewöhnlichem gemacht, aber alle vier? Damit hätte er glatt von einem anderen Stern stammen können. Das ließen ihn die Leute auch keine Sekunde vergessen, vor allem die Jungs auf der Ranch nicht.

Er verstand sich zwar nicht mit ihnen, trotzdem wollte er sich nicht so bald schon wieder wegschicken lassen.

Dan Reeves, der die D&M-Ranch leitete, war gar nicht so übel. Er hatte früher professionell Football gespielt und wegen einer Rückenverletzung aufgehört, aber sein diszipliniertes, geregeltes Leben beibehalten. Aden mochte Dan, auch wenn Dan nicht wusste, wie es war, wenn im eigenen Kopf mehrere Stimmen um Aufmerksamkeit buhlten, die man ihnen nicht geben konnte, und obwohl Dan fand, Aden sollte lieber lesen, sich mit den anderen beschäftigen oder über seine Zukunft nachdenken, als „da draußen herumzurennen“. Wenn der wüsste.

Ähm, Aden? Julian holte ihn zurück in die Gegenwart.

„Was?“, blaffte Aden. Mit der Leiche war offenbar auch gleich seine gute Laune über den Jordan gegangen. Er war müde, alles tat ihm weh, und er wusste, dass es nur schlimmer werden würde.

Ein typischer Tag im Leben von Aden Stone, dachte er mit einem verbitterten Lachen.

Ich sag’s dir wirklich ungern, aber … da sind noch mehr.

„Was?“ Schon hörte er, wie ein weiterer Grabstein zerbrach und dann noch einer.

Die Auferstehung der Untoten war tatsächlich im vollen Gange.

Mühsam öffnete er die Augen. Einen kurzen Moment lang atmete er nicht. Er tat einfach so, als sei er ein ganz normaler Teenager, der keine größeren Sorgen hatte, als ein Geburtstagsgeschenk für seine Freundin zu finden.

Wo war das dunkelhaarige Mädchen nur, fragte er sich. Wann hatte sie Geburtstag?

Aden, Schatz, sagte Eve. Träumst du?

„Nein, alles klar.“ Sich zu konzentrieren war für ihn, als müsste er bis unendlich zählen, das wusste Eve. „Ich hasse das. Ich stehe am Abgrund, und entweder springe ich selbst, oder ich trete wem in …“

Na, na, Aden, nicht fluchen, sagte Eve.

Er seufzte. „Trete jemandem in den Hintern und stoße ihn hinein“, beendete er brav den Satz.

Ich würde dich verlassen, wenn ich könnte, aber ich kann hier nicht weg, sagte Julian ernst.

„Ich weiß.“ Adens Magen protestierte, als er sich in die Hocke hochwuchtete, und die Wunden an seinem Hals brannten von der Anstrengung. Aber die Schmerzen hielten ihn nicht auf, sie machten ihn wütend, und die Wut verlieh ihm Kraft. Er sah, wie sich vier Paar Hände durch die Erde wühlten, Gras ausrissen und die bunten Blumensträuße umwarfen, die die Angehörigen zurückgelassen hatten.

Aden schnappte sich einen Dolch. Der andere steckte immer noch im Hals der Leiche, er musste ihn erst herauszerren. Anfangs hatte er vielleicht gezögert, aber jetzt war er wütend genug, um sich mit fliegenden Dolchen in den Kampf zu stürzen. Außerdem gab es nur eine Möglichkeit, mit vier Gegnern auf einmal fertig zu werden … Mit zusammengekniffenen Augen lief er zur nächsten Leiche. Der obere Teil ihres Schädels brach gerade hervor. Er war völlig blank, kein Fetzen Haut klebte daran. Ein lebendes Skelett, wie aus einem Albtraum.

Das schaffst du, feuerte Eve ihn an.

Arm heben … ausholen … warten … warten … Endlich tauchten die Schultern auf, sodass Aden genug Platz hatte, um seinen Zauber zu wirken. Er schlug zu, und eine fließende Bewegung machte den Toten … zum Toten.

„Tut mir leid“, flüsterte er. Die Leiche konnte ihn zwar nicht hören, aber er fühlte sich dadurch besser.

Einer erledigt, sagte Julian.

Aden rannte schon zum nächsten Grab. Er wurde nicht langsamer, als er es erreichte, er hob nur den Arm und hieb zu. „Tut mir leid“, wiederholte er, als die nächste Leiche fiel, den Kopf zu einer Seite, den Körper zur anderen, und sich die Knochen beim Aufprall voneinander lösten.

Gut gemacht, lobte Elijah.

Endlich meldeten sich seine Instinkte. Seine Hände waren feucht, Schweiß lief ihm über Gesicht und Brust, und als er auf das dritte aufgewühlte Grab zulief, mischte sich Stolz unter seine Schuldgefühle und seine Traurigkeit. Wilde rote Augen beobachteten ihn.

Dafür müssten wir echt Geld kriegen, sagte Caleb voller Begeisterung. Er war wieder auf vollen Touren.

Ein Knurren ertönte hinter Aden. Einen Sekundenbruchteil später landete ein Gerippe auf seinem Rücken, scharfe Zähne schlugen in seine Schulter, zerrissen T-Shirt und Haut und trafen auf den Muskel. Dumm, einfach dumm! Er hatte einen übersehen.

Stöhnend fiel Aden zu Boden. Noch ein Biss, noch mehr Gift. Und später noch größere Schmerzen.

Er griff nach hinten, packte das Schlüsselbein des Angreifers und riss mit einem Ruck daran. Statt die Leiche von seinem Rücken zu ziehen, hatte er plötzlich ein Stück Spitzenstoff und einen Knochen in der Hand. Dieses Mal also eine Frau. Denk nicht darüber nach. Wenn er überlegte, würde er zögern, und dafür würde er bezahlen müssen.

Die scharfen Zähne schnappten nach seinem Ohr, bis Blut floss.

Er presste die Lippen zusammen, um den Schrei zu unterdrücken, der ihm in der Kehle saß. Es tat unglaublich weh. Wieder griff er nach hinten und bekam dieses Mal den Hals zu fassen. Doch bevor er daran reißen konnte, fiel die Leiche reglos zu Boden, und die vier Stimmen in seinem Kopf schrien wie vor Schmerz, dann wurden sie leiser und leiser … und verstummten.

Mit verwirrtem Blick schob sich Aden unter dem leblosen Körper hervor und sprang auf. Hals, Schulter und Ohr pulsierten und brannten, als er sich schnell herumdrehte und auf sie hinabblickte.

Die Leiche rührte sich nicht. Ihr Kopf saß immer noch fest, aber sie bewegte sich nicht.

Er drehte sich im Kreis, sah sich um, checkte die Lage. Die andere Leiche, auf die er zugerannt war, lag auch am Boden und rührte sich nicht, obwohl sie ebenfalls noch ihren Kopf besaß. Selbst das Leuchten ihrer Augen war erstorben.

Was, zum Teufel, war hier los?

Seltsamerweise kam von keinem seiner Gefährten ein besserwisserischer Kommentar.

„Leute?“, fragte er.

Immer noch keine Reaktion.

„Warum habt ihr …“ Er verstummte. In einiger Entfernung erblickte er ein junges Mädchen und vergaß alles andere. Sie schlenderte in einem weißen, fleckigen T-Shirt, ausgeblichenen Jeans und Turnschuhen direkt am Friedhof vorbei. Sie war groß und schlank, das glatte braune Haar trug sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, und sie war braun gebrannt und hübsch – sehr hübsch. Sie trug Kopfhörer und schien zu singen.

Dieses dunkle Haar … war sie … konnte sie das Mädchen aus Elijahs Vision sein?

Aden stand wie angewurzelt da, voller Erde und Schleim, verwirrt, aufgeregt, und versuchte, nicht in Panik zu verfallen. Wenn sie ihn und das Schlachtfeld um ihn herum entdeckte, würde sie losschreien. Die Leute würden ihm nachjagen. Sie würden ihn aufspüren, egal, wohin er floh. Sie fanden ihn immer. Dann würden sie ihn wegschicken, genau wie er befürchtet hatte, und mit dem bisschen Freiheit, das er hier besaß, wäre es vorbei.

Sieh nicht her, sieh nicht her, bitte sieh nicht her. Das betete er selbst, die Seelen waren seltsamerweise immer noch stumm. Aber ein Teil von ihm wollte, dass sie zu ihm blickte, dass sie ihn sah und genauso fasziniert von ihm war wie er von ihr. Wenn sie wirklich das Mädchen aus den Visionen war … endlich …

Sie war beinahe schon vorbeigegangen. Gleich würde sie um die nächste Ecke verschwinden. Doch als spürte sie seinen geheimen Wunsch, warf sie plötzlich einen Blick zurück. Angespannt betrachtete Aden ihre großen haselnussbraunen Augen und die rosa Lippen, auf denen sie herumkaute.

Sie sah sich aufmerksam um.

Dann trafen sich ihre Blicke. Mit einem lauten Tosen schrumpfte die ganze Welt plötzlich auf sie beide zusammen – und dann war da nichts mehr. Keine Bewegung. Weder ein Herzschlag noch Luft, die in ihre Lungen strömte. Es gab kein Gestern und kein Morgen, nur das Hier und Jetzt.

Es gab nur sie beide auf der Welt.

Das ist Ruhe, dachte Aden verblüfft. Echte Ruhe. Alles war still, keine Stimme in seinem Kopf belästigte ihn, machte ihn runter oder buhlte um seine Aufmerksamkeit.

Dann explodierte alles. Wieder gab es ein Tosen, dieses Mal war es, als würde der Blick auf die Welt plötzlich weiter. Autos fuhren wieder, Vögel fingen an zu singen, und der Wind pfiff durch die Bäume. Eine starke Böe packte ihn und warf ihn nach hinten. Er landete schwer, sein Kinn knallte auf die Brust.

Der gleiche Wind hatte offenbar auch sie gepackt, denn sie plumpste mit einem leisen Aufschrei auf den Hintern.

Ihm wurde leicht übel, und als er aufstand, fühlten sich Arme und Beine schlaff und schwer an. Auf einmal hatte er das Gefühl, er müsste zu ihr laufen – und dann, er müsste vor ihr weglaufen.

Sie rappelte sich auf. Nachdem sie ihn noch einmal stumm angesehen hatte, drehte sie sich um, lief die schmale Straße hinauf und verschwand. Sobald Aden sie nicht mehr sehen konnte, war alles wieder wie zuvor.

Was, zum Teufel, knurrte Caleb.

Schmerzen. Dunkelheit, sagte Eve mit zittriger Stimme. Schrecklich.

Sie hatten gelitten? Wie konnten denn Seelen ohne Körper Schmerzen fühlen?

„Wovon redet ihr?“, fragte er, obwohl er glaubte, einen Teil der Antwort schon zu kennen. Das Mädchen. Irgendwie hing es mit ihm zusammen. Diese seltsame Stille, als sich ihre Blicke zum ersten Mal getroffen hatten … dieser merkwürdige Windstoß …

Als sie näher gekommen war, waren die Toten plötzlich zusammengebrochen. Die Stimmen in seinem Kopf waren verstummt. Bei ihrem Blick hatte ihn plötzlich Ruhe, von der er zuvor nur geträumt hatte, umhüllt. Dann war sie gegangen, und er war sofort wieder in seinem schrecklichen Leben gelandet.

Er musste diese Ruhe noch einmal erleben. Konnte sie wirklich dafür verantwortlich sein? War sie das Mädchen, auf das er gewartet hatte?

Aus Angst, die Leichen könnten noch einmal erwachen, schnitt er den beiden letzten eilig die Köpfe ab. Doch statt das Chaos zu beseitigen und die Spuren des Vorfalls zu tilgen, packte er seinen Rucksack und lief ihr nach. Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, ob sie wirklich die Wirkung hatte, die er ihr zuschrieb. Nur eine Möglichkeit, herauszufinden, wer sie war.

Mann, jetzt sag uns, was passiert ist, sonst fange ich an zu schreien, sagte Julian.

„Ich weiß nicht, was passiert ist. Nicht genau.“ Das stimmte. Aber er war fest entschlossen, es herauszufinden. „Geht es euch gut?“

Ein vielstimmiges Nein! war die Antwort.

Geh nach Hause. Ich habe bei der Sache ein ungutes Gefühl. So ängstlich hatte Aden Elijah noch nie gehört. Er wurde langsamer. Elijah hatte schon früher „ungute Gefühle“ gehabt, und auch wenn das keine echten Vorhersehungen waren, hatte Aden immer auf sie gehört. Aber wenn das hier seine einzige Chance war, das dunkelhaarige Mädchen aus seinen Visionen kennenzulernen?

„Ich bin vorsichtig, versprochen“, sagte er.

Aden entdeckte das Mädchen einen Block vom Friedhof entfernt. Wieder packte ihn ein starker Wind, die Übelkeit kroch in seinen Magen, und dann wurde die Welt so, wie er sie sich immer erträumt hatte. Alles war still, die Gedanken in seinem Kopf gehörten nur ihm.

Mein Gott. Sie war wirklich dafür verantwortlich.

Seine Hände wurden feucht. Sie bog ab und ging auf eine belebte Kreuzung zu. Aden holte ein paar Feuchttücher aus dem Rucksack und ging schneller, während er sich so gut wie möglich das Gesicht abwischte. Dann zog er ein sauberes T-Shirt hervor, versteckte sich im Schatten und zog sich um, ohne das Mädchen aus dem Blick zu lassen.

Ob sie schreiend weglaufen würde, wenn er auf sie zuging? Immerhin hatte neben ihm ein Haufen Knochen gelegen.

Er hatte erwartet, dass seine Gefährten sofort ihren Senf dazugeben würden, aber alles blieb still. Es war komisch, dass ihm mal niemand sagte, was er tun sollte, wie er es tun sollte oder wie übel die Sache ausgehen würde. Komisch und erstaunlich schwer zu ertragen, während er jahrelang geglaubt hatte, es wäre unbeschreiblich cool.

Zum ersten Mal im Leben war er wirklich allein. Wenn er es versaute, konnte er keinem anderen die Schuld geben. Er straffte die Schultern und machte sich bereit, sich dem Mädchen zu nähern.

2. KAPITEL

Mary Ann Gray entdeckte ihre Freundin und Nachbarin Penny Parks im Straßencafé und lief schnell hinüber. „Bin schon da“, sagte sie und zog die Kopfhörer aus den Ohren, während Evanescence verstummte. Sie stopfte den iPod in ihre Handtasche und warf einen Blick auf ihr Smartphone. Die einzige Mail darauf stammte von ihrem Vater, der sie fragte, was sie sich zum Abendessen wünschte. Darauf konnte sie später antworten.

Penny schnalzte mit der Zunge und reichte Mary Ann einen Caffè Mocha. „Gerade zur rechten Zeit. Du hast einen heftigen Stromausfall verpasst. Ich war drinnen, und alle Lichter sind ausgegangen. Die Handys hatten keinen Empfang, und eine Frau hat erzählt, auf der Straße seien alle Autos ausgegangen.“

„Bei einem Stromausfall sind die Autos stehen geblieben?“ Seltsam. Aber an diesem Tag geschah so einiges Seltsames. Wie das mit dem Jungen, den sie auf dem Weg hierher auf dem Friedhof gesehen hatte und dessentwegen sie hingefallen war – ohne dass er sie angerührt hätte!

„Hörst du mir zu?“, fragte Penny. „Du warst auf einmal ganz abwesend. Na, jedenfalls war dieser Stromausfall vor einer Viertelstunde.“

Genau zu der Zeit, als sie am Friedhof war, ihr iPod kurz ausfiel und plötzlich ein Windstoß kam. Hm.

„Wo warst du überhaupt so lange?“, fragte Penny. „Ich musste allein bestellen, das ist überhaupt nicht gut für mein Helfersyndrom.“

Sie ließen sich auf die Stühle fallen, die Penny für sie frei gehalten hatte. Die Sonne knallte auf ihren Tisch. Mary Ann atmete tief den Duft von Kaffee, Schlagsahne und Vanille ein. Das Holy Grounds war wirklich ein wunderbarer Ort. Wer auch immer das Café mit einem Stirnrunzeln betreten mochte, ging mit einem Lächeln.

Wie zum Beweis lächelte sich ein älteres Pärchen, das gerade von der Kasse kam, über die Ränder ihrer Kaffeetassen an. Mary Ann musste wegsehen. So waren ihre Eltern auch einmal gewesen, sie hatten sich einfach gefreut, wenn sie zusammen waren. Dann war ihre Mutter gestorben.

„Trink schon“, sagte Penny. „Und während du deinen Kaffee genießt, kannst du mir erzählen, was dich aufgehalten hat.“

Genüsslich nippte Mary Ann an ihrem großen Mocha mit weißer Schokolade. Einfach köstlich. „Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Wirklich. Aber das ist leider noch nicht das Schlimmste.“

„Oje.“ Penny verzog das Gesicht und lehnte sich zurück. „Was ist denn los? Bring es mir nicht schonend bei, rück einfach damit raus.“

„Na gut. Also.“ Sie holte tief Luft. „Ich bin heute noch nicht fertig. Ich habe nur eine halbe Stunde Pause. Gleich muss ich wieder zur Arbeit.“ Sie wich zurück und wartete auf das empörte „Was!“.

Und da kam es auch schon. Eigentlich war es eine Kleinigkeit, aber Penny empfand es als schwere Beleidigung. Das war immer so gewesen. Sie war als Freundin anstrengend und duldete keine Störung, wenn sie Zeit miteinander verbrachten. Mary Ann machte das nichts aus, sie bewunderte diesen Wesenszug sogar. Penny wusste, was sie von den Menschen in ihrem Leben wollte, und erwartete, es auch zu bekommen. Meist funktionierte das auch. Ohne Beschwerden. Aber heute ließ sich nichts machen.

„Der Watering Pot liefert die Blumengestecke für die morgige Tolbert-Floyd-Hochzeit, und alle Angestellten müssen Überstunden machen.“

„Mist.“ Penny schüttelte enttäuscht den Kopf. Oder war das ein Zeichen der Missbilligung? „Wann schmeißt du endlich diesen miesen Job im Blumenladen hin? Es ist Samstag, und du bist jung. Du solltest wie verabredet mit mir shoppen gehen und dich nicht mit Dornen und Blumenerde abrackern.“

Mary Ann musterte ihre Freundin über den Rand ihrer Kaffeetasse hinweg. Penny war ein Jahr älter als sie, hatte platinblondes Haar, strahlend blaue Augen und helle Haut mit Sommersprossen. Sie trug bei jedem Wetter am liebsten luftige Kleidchen und Flipflops. Sie war unbeschwert, erfahren, dachte nicht an die Zukunft, ging aus, mit wem sie wollte und wann sie wollte, und schwänzte ebenso oft die Schule, wie sie hinging. Mary Ann dagegen bekam schon einen bitteren Geschmack im Mund, wenn sie sich nur vorstellte, eine Regel zu brechen.

Sie wusste, warum sie so war, aber das machte sie nur noch entschlossener, ein „braves Mädchen“ zu sein. Sie und ihr Vater hatten nur noch einander, und sie wollte ihn auf keinen Fall enttäuschen. Das machte ihre Freundschaft zu Penny noch bemerkenswerter, denn ihr Vater war dagegen, auch wenn er nichts sagte. Aber Penny und sie wohnten schon jahrelang nebeneinander und hatten sogar schon die gleiche Vorschule besucht, als sie noch meilenweit voneinander entfernt gewohnt hatten. Obwohl sie so unterschiedlich waren, hatten sie immer Zeit miteinander verbracht. Und das würde sich auch nie ändern.

Penny machte regelrecht süchtig. Wenn man sich von ihr verabschiedete, wünschte man sich immer, man wäre noch bei ihr. Vielleicht lag es an ihrem Lächeln. Wenn sie einen anstrahlte, hatte man das Gefühl, die Sterne stünden günstig und es könne einem nichts Schlimmes passieren. Na ja, so ging es den Mädchen. Jungs mussten sich nach dem ersten Blick den Sabber abwischen.

„Kannst du dich nicht krankmelden? Bitte, bitte!“, bettelte Penny. „So eine kleine Dosis Mary reicht mir nicht.“

Als sie dieses Mal losstrahlte, wappnete sich Mary Ann innerlich. „Du weißt doch, dass ich fürs College spare. Ich muss arbeiten.“ Allerdings nur an den Wochenenden. Mehr erlaubte ihr Vater nicht. Die Abende unter der Woche gehörten den Hausaufgaben.

Penny fuhr mit einem perfekt manikürten Fingernagel über den Rand ihrer Espressotasse. „Dein Vater sollte deine Ausbildung bezahlen. Leisten könnte er sich das doch.“

„Aber dann würde ich keine Verantwortung lernen und wüsste einen schwer verdienten Dollar nicht zu schätzen.“

„Mein Gott, jetzt zitierst du ihn schon.“ Mit einer Grimasse schüttelte sich die zierliche Penny. „Du ruinierst mir die ganze Stimmung.“

Mary Ann musste lachen. „Wenn er für mich zahlt, würde er meinen 15-Jahres-Plan kaputt machen. Und das überlebt keiner, nicht einmal mein Dad.“

„Ach ja, richtig. Der 15-Jahres-Plan, von dem ich dich nicht abbringen kann, egal, womit ich dich locke.“ Penny strich eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr, an dem sie drei silberne Ringe trug.

„Highschool abschließen, zwei Jahre. Bachelor, vier. Master machen und promovieren, sieben. Assistenzärztin, ein Jahr. Eigene Praxis eröffnen, ein Jahr. Ich weiß nicht mal, was ich heute Abend mache, geschweige denn in fünfzehn Jahren.“

„Ich kann schon raten, was du heute Abend machst. Besser gesagt, mit wem du es machst. Grant Harrison.“ Die beiden waren im letzten halben Jahr immer mal wieder zusammen gewesen. Im Moment waren sie getrennt, trafen sich aber trotzdem. „Außerdem ist gegen ein bisschen Vorbereitung nichts einzuwenden.“

„Ein bisschen. Ha! Du hast dein Leben doch bestimmt auf die Minute genau geplant. Wahrscheinlich weißt du sogar, welche Unterwäsche du in drei Jahren, fünf Stunden, zwei Minuten und acht Sekunden trägst.“

„Einen schwarzen Spitzentanga“, antwortete Mary Ann, ohne zu zögern.

Penny stutzte erst, dann kicherte sie. „Fast hätte ich es dir geglaubt, aber der Tanga hat dich verraten. Für dich sind es Baumwollslips, Süße, und das immer.“

War vorauszudenken denn so schlecht? „Alles habe ich nun auch nicht geplant. So pedantisch bin nicht mal ich.“

Penny kicherte. „Ich kenne dich jetzt fast dein ganzes Leben lang, und Leute nach ihren Gefühlen zu fragen war nicht unbedingt das, was die kleine Mary immer schon machen wollte, wenn sie erwachsen ist. Sie wollte vor ausverkauftem Haus Ballett tanzen, jeden Promi küssen, in den sie gerade verknallt ist, und sich von oben bis unten mit Blumen tätowieren lassen, bis sie aussieht wie ein Garten. Psychologin willst du erst werden, seit deine Mutter …“ Als sie merkte, dass sie ordentlich Anlauf für einen Sprung ins Fettnäpfchen genommen hatte, sagte sie nur noch: „Stimmt doch.“

Mary Anns Lächeln verblasste. Insgeheim war sie nicht sicher, ob sie ihrer Freundin widersprechen konnte. Sie war früher wirklich ziemlich wild gewesen, hatte ihre Eltern in die Verzweiflung getrieben, zu laut geredet und gelacht, wollte immer unbedingt im Mittelpunkt stehen und bekam Wutanfälle, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen konnte. Dann war ihre Mutter bei einem Autounfall gestorben, der auch Mary Ann getroffen hatte. Sie hatte drei Wochen lang im Krankenhaus gelegen. Ihre körperlichen Blessuren waren zwar geheilt, aber ihre seelischen nicht.

Seit ihrer Entlassung war ihr Zuhause in Traurigkeit versunken, und Mary Ann und ihr Vater hatten sich nach und nach immer weiter von der streitlustigen, aber liebevollen Familie entfernt, die sie früher einmal gewesen waren. Doch mit der Zeit hatte die Trauer sie und ihren Vater auch zusammengeschweißt. Er war ihr bester Freund geworden, und ihr größtes Ziel war es, ihn stolz zu machen.

Als sie ihm sagte, sie würde vielleicht gern klinische Psychologin werden, genau wie er, hatte er gestrahlt, als hätte er gerade im Lotto gewonnen. Er hatte sie in den Arm genommen, herumgewirbelt und zum ersten Mal seit Monaten gelacht. Danach hätte sie auf keinen Fall einen anderen Weg einschlagen können, egal, wie ungern sie immer noch lernte. Jetzt konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, etwas anderes als Psychologin zu werden. Und dass Penny ihr deswegen Vorwürfe machte …

„Lass uns das Thema wechseln“, sagte sie schroff.

„Toll. Jetzt bist du sauer, oder?“

„Nein.“ Doch. Vielleicht. Normalerweise redeten sie nicht über ihre Mutter. Es war zwar schon ein paar Jahre her, trotzdem waren die Erinnerungen manchmal noch zu frisch, zu schmerzlich. „Du solltest dich nur lieber um deine Zukunft kümmern als um meine.“

Penny stieß einen langen, lauten Seufzer aus. „Ich hätte das nicht sagen sollen, es tut mir leid. Aber Arbeit allein macht auch nicht glücklich. Wir hatten früher doch so viel Spaß.“ Als Mary Ann nicht antwortete, drückte Penny ihre Hand. „Komm schon, Mary. Ich sehe doch, dass du immer noch sauer bist. Verzeih mir, bitte. Wir haben nur noch … wie lange? Eine Viertelstunde, und in der will ich mich nicht mit dir streiten. Mir ist nichts und niemand so wichtig wie du, und du weißt, dass ich mir das Bein abschneiden und mich selbst in den Hintern treten würde, wenn ich könnte. Vielleicht würde ich mir sogar die Zunge rausschneiden und sie in deinem Zimmer an die Wand nageln. Und dann würde ich …“

„Schon gut, schon gut.“ Mary Ann lachte, die albernen Übertreibungen ihrer Freundin hatten sie besänftigt. „Dir sei verziehen.“

„Gott sei Dank. Ehrlich, meine Liebe, jetzt hast du mich ganz schön ackern lassen, und du weißt, dass ich jede Art von Arbeit hasse.“

Mit ihrem unwiderstehlichen Grinsen auf den Lippen kramte Penny eine Schachtel Ultra Thins und ein Feuerzeug aus ihrer perlenbesetzten Handtasche. Sie steckte sich eine an und inhalierte tief. Wenig später hüllte sie eine dicke Rauchwolke ein, und Penny lehnte sich zurück und streckte die Beine aus. „Worüber willst du reden? Scheußliche Mädchen? Tolle Jungs?“

Mary Ann drückte ihren Caffè Mocha gegen die Brust und lehnte sich so weit wie möglich zurück. „Wie wäre es damit, dass Rauchen einen umbringt?“

„Nicht nötig. Du weißt doch: Unkraut vergeht nicht.“

„Das hättest du wohl gern“, sagte Mary Ann grinsend. Aber das Lächeln verging ihr, als ein kurzer, scharfer Windstoß sie an der Brust traf. Sie rieb über die Stelle direkt über ihrem Herzen und sah sich um.

Niemand anders schien diese verirrte Böe gespürt zu haben.

So einen heftigen Stoß hatte sie bisher nur einmal verspürt. Ihr drehte sich der Magen um.

„Wenn du die Zigarette schon nicht deinetwegen ausdrückst, dann mach es doch bitte meinetwegen“, sagte sie. „Ich möchte gleich bei der Arbeit nicht wie ein Aschenbecher riechen.“

„Deine Rosen lieben dich bestimmt trotzdem“, antwortete ihre Freundin trocken und nahm noch einen Zug. „Hab Mitleid mit mir. Ich bin gestresst und brauche das.“ Zerstreut aschte sie auf dem Gehweg ab.

„Wieso bist du denn ge…“

„Oh, oh, oh. Ein Typ. Drei Uhr. Hat sich gerade an den Tisch gegenüber gesetzt. Dunkles Haar, Gesicht wie ein Filmstar und Muskeln. Mein Gott, und was für welche. Und das Beste: Er starrt dich an. Also, das Beste für dich. Wieso beachtet er mich eigentlich gar nicht?“

Mary Anns Herz begann wie wild zu hämmern. Erst dieser seltsame Wind, dann ein dunkelhaariger Junge in der Nähe? Bitte, bitte, lass das ein Zufall sein. Sie beugte sich vor, hielt eine Hand an den Mund und flüsterte: „Schmutzig?“

„Du meinst, ob er pervers ist? Keine Ahnung, aber ich finde es gern heraus. Der ist echt süß.“

„Nein, ich meine schmutzig, wie voller Dreck und schwarzer Schmiere. So was wie Motoröl. Sind seine Klamotten zerrissen?“

„Sein Gesicht ist schmutzig. Na ja, ein wenig. Es ist verschmiert, als hätte er versucht, sich sauber zu machen. Aber sein T-Shirt ist sauber und sitzt großartig. Er hat sich die Haare schwarz gefärbt, aber blonde Ansätze. Ob er wohl ein Tattoo hat? Das wäre sexy. Was glaubst du, wie alt er ist? Achtzehn? Groß genug für Freiwild wäre er. Mein Gott, er hat mich angesehen! Ich glaube, ich werde ohnmächtig.“

Abgesehen vom T-Shirt passte die Beschreibung. Vielleicht hatte er sich umgezogen. Mary Ann überkam ein Gefühl, das sie nicht beschreiben konnte. War er vielleicht hier, weil …

Auf dem Weg zu Penny hatte sie beim Grab ihrer Mutter vorbeisehen wollen, das auf dem Weg lag. Aber dann hatte sie einen Blick auf den Jungen geworfen, diesen seltsamen Windstoß gespürt und nur noch weglaufen wollen.

„Ich habe ihn vorhin schon gesehen“, sagte sie. „Ich glaube … meinst du, er ist mir gefolgt?“

Mit großen Augen setzte Penny sich zurecht und starrte ungeniert zu ihm hinüber. „Wahrscheinlich. Was meinst du, ein Stalker? Das ist ja noch heißer!“

„Starr ihn nicht so an!“, japste Mary Ann und schlug ihrer Freundin auf den Arm.

Ohne Eile oder Schuldbewusstsein wandte Penny sich ihr zu. „Der könnte meinetwegen auch der Schlächter von Oklahoma sein und in seinem Schließfach menschliche Herzen sammeln. Je länger ich ihn ansehe, desto mehr mag ich ihn. Sieht richtig schön nach …“ Sie schauderte. „… böser Junge aus. Ich würde ihm mein Herz sogar anbieten.“

Böser Junge. Das würde auch passen. Mary Ann musste sich nicht erst umdrehen, um sich daran zu erinnern, wie er aussah. Der Anblick hatte sich ihr regelrecht eingebrannt. Wie Penny schon sagte, trug er schwarze Haare mit einem fingerbreiten blonden Ansatz. Nicht erwähnt hatte sie, dass sein Gesicht so perfekt aussah wie die der griechischen Statuen, die sie aus ihren Geschichtsbüchern kannte, selbst mit dem Schmutz. Einen winzigen Moment lang, als ein Sonnenstrahl auf ihn fiel, hätte Mary Ann schwören können, sie würde in seinen Augen Grün, Braun, Blau und Gold sehen. Aber dann hatte eine Wolke den Sonnenstrahl verdeckt, und die Farben waren zu einem tiefen Schwarz verschmolzen.

Aber die Farbe war unwichtig. Diese Augen waren wild, ungezähmt, und Mary Ann hatte diesen plötzlichen starken Wind gespürt, der genauso schnell verschwunden wie aufgekommen war. Einen Moment hatte sie sich wie unter Strom gesetzt gefühlt, der Blickkontakt war ihr in die Glieder gefahren und hatte sie nervös gemacht. Er hatte sogar geschmerzt. Und dann war ihr übel geworden.

Warum hatte sie das alles jetzt noch einmal gefühlt, wenn auch in abgeschwächter Form? Noch bevor sie ihn gesehen hatte? Warum hatte sie überhaupt etwas gefühlt? Das ergab keinen Sinn. Wer war er?

„Den reißen wir auf“, sagte Penny aufgekratzt.

„Besser nicht“, antwortete Mary Ann. „Ich habe einen Freund.“

„Nein, du hast einen notgeilen Sportler, der dir nachläuft, weil er dir unbedingt an die Wäsche will, obwohl du immer wieder Nein sagst. Was übrigens eine Garantie dafür ist, dass er es mit einer anderen treibt, sobald du ihm den Rücken zudrehst.“

Sie sagte das in einem seltsamen Ton. Mary Ann verdrängte den Jungen vom Friedhof aus ihren Gedanken – was wohl ohnehin das Beste war – und sah ihre Freundin stirnrunzelnd an. „Warte mal. Hast du darüber was gehört?“

Eine angespannte Pause, noch ein Zug an der Zigarette, dann ein nervöses Lachen. „Nein. Nein, natürlich nicht.“ Penny machte eine wegwerfende Handbewegung. „Außerdem will ich nicht über Tucker reden. Viel spannender finde ich, dass du diesen geheimnisvollen Typen abschleppen solltest. Du magst ihn, das merke ich doch. Du bist rot geworden, und deine Hände zittern.“

„Wahrscheinlich bekomme ich eine Erkältung.“ War es in Ordnung, dass sie das wirklich hoffte? Mädchen, die ständig an einen Jungen denken mussten, hatten erschreckend wenig anderes mehr im Kopf. Sie vergaßen ihre Hausaufgaben, gaben ihre Ziele auf, ihr Hirn wurde zu Brei. Das hatte sie immer wieder gesehen. Ihr würde so was nicht passieren.

Das war einer der Gründe, warum sie mit Tucker zusammen war. Er war eine sichere Wahl. Er war süß und beliebt, aber ungefährlich. Er hatte nur Football im Kopf und nahm es ihr nicht übel, wenn sie ihn versetzte, um zu arbeiten oder zu lernen.

„Sei nicht so verklemmt. Wenn du mich lässt, rufe ich ihn herüber. Fünf Sekunden, dann habe ich seine Nummer, und ihr könnt ausgehen. Ich sage auch Tucker nichts, versprochen.“

„Nein. Nein, nein, nein!“ Sie schüttelte so entschlossen den Kopf, dass ihr der Pferdeschwanz gegen die Wangen schlug. „Erstens würde ich Tucker nie betrügen.“

Penny verdrehte die Augen. „Dann mach mit ihm Schluss.“

Mary Ann ignorierte die Bemerkung ihrer Freundin. „Und zweitens habe ich keine Zeit für einen anderen Jungen. Nicht mal als Freund. Meine Noten sind im Moment so wichtig wie noch nie. Wir schreiben bald die Eignungstests fürs College.“

„Du hast nur Einsen. Und den Test schaffst du locker.“

„Die Einsen will ich auch behalten, und den Test schaffe ich nur locker, wenn ich am Ball bleibe. Du weißt, dass mir das alles nicht leichtfällt.“

„Na schön. Aber wenn du vor Stress und Enttäuschung draufgehst, wirst du an diesen Augenblick zurückdenken und wünschen, du hättest mein Angebot angenommen.“ Penny breitete die Arme aus und verdrehte die Augen. „Wer hätte gedacht, dass ich von uns beiden die Klügere bin?“

Jetzt verdrehte Mary Ann die Augen. „Wenn du die Klügere bist, wer bin ich dann?“

„Die langweilige Hübsche.“ Penny grinste, aber dieses Mal nicht so strahlend wie sonst immer. „Wahrscheinlich kannst du nichts dafür, bei diesem ganzen Psychogewäsch, mit dem dir dein Vater ständig kommt. In jedem Menschen steckt was Gutes, blablabla. Ich sage dir was, Mar, manche Leute sind nicht mehr wert als eine leere Bierflasche, und Tucker … gehört … dazu.“ Nach den letzten Worten schnappte sie aufgeregt nach Luft. „Wow! Ich musste gar nichts machen, und er kommt trotzdem rüber! Genau, du hast richtig gehört. Dein Stalker kommt herüber.“

Unwillkürlich drehte Mary Ann sich um. Es war wirklich der Junge vom Friedhof. Sie konnte kaum eine Grimasse unterdrücken, als sie wieder ein schmerzhafter Schlag prickelnd durchfuhr.

Wenigstens hatte sie dieses Mal nicht das Gefühl, die Welt würde implodieren und es bliebe nur noch dieses seltsame Nichts.

Etwas gefasster musterte sie ihn. Seine Jeans waren zerrissen, aber er hatte wirklich ein neues T-Shirt angezogen. Dieses war sauber und ganz ohne Löcher. Sein Gesicht war genauso ebenmäßig, wie sie es in Erinnerung hatte, zu vollkommen, um wahr zu sein. Er hatte dicke schwarze Wimpern, die seine Augen perfekt einrahmten. Alles war perfekt, die Wangenknochen, die Nase, die Lippen mit den im Moment herabgezogenen Mundwinkeln.

Von Nahem merkte sie, dass er größer war, als sie angenommen hatte. Wenn sie neben ihm stehen würde, würde er sie weit überragen. Er wirkte angespannt und fest entschlossen.

Zögernd kam er näher. Als er sie erreichte, blieb er stehen und ließ seinen Rucksack fallen.

Mary Ann wurde nervös, ihr Mund war plötzlich trocken. Was sollte sie tun, wenn er sie um eine Verabredung bat? Tucker war ihr erster richtiger Freund. Genauer gesagt der erste und einzige Junge, der je mit ihr ausgehen wollte, deshalb musste sie noch nie jemanden abblitzen lassen. Aber dieser Junge wollte ja auch gar nicht mit ihr ausgehen. Bitte frag mich nicht.

Ganz schön eingebildet, was? Die meisten Jungs wollen deine Hausaufgaben und nicht deinen Körper. Daran gab es wohl nichts zu deuten.

„Der Tag kann gar nicht besser werden“, sagte Penny und klatschte in die Hände.

Der Junge winkte schüchtern. „Hallo.“ Dann runzelte er die Stirn und rieb sich über die Brust, genau wie sie vorhin. Er kniff die Augen zusammen und sah sich um.

„Hallo“, antwortete Mary Ann und starrte auf den Eisentisch. Ihre Zunge fühlte sich plötzlich an, als wäre sie riesig und würde am Gaumen kleben. Und schlimmer noch, ihr Hirn schien auf Urlaub zu sein, ihr fiel nichts ein, was sie noch sagen konnte.

Ein peinliches Schweigen breitete sich aus.

Penny stieß einen tiefen Seufzer aus. „Na schön. Dann lasst mich mal. Sie heißt Mary Ann Gray und besucht die vorletzte Klasse der Crossroads High School. Wenn du nett fragst, gebe ich dir ihre Telefonnummer.“

„Penny.“ Mary Ann schlug ihrer Freundin gegen die Schulter.

Penny ignorierte sie. „Wie heißt du? Auf welche Schule gehst du? Wild Horse?“, fragte sie herablassend.

„Ich heiße Aden. Aden Stone. Ich bin gerade erst hergezogen. Und ich gehe auf keine öffentliche Schule.“ Pause. „Noch nicht. Was stimmt denn mit der Wild Horse nicht?“

Er hatte eine tiefe Stimme, die einem Schauer über den Rücken jagte. Mary Ann zwang sich, auf seine Worte zu achten statt auf seinen Tonfall. Er hatte gesagt, er würde keine öffentliche Schule besuchen. Hieß das, er ging auf eine Privatschule? Oder wurde er zu Hause unterrichtet?

„Na, das sind unsere schlimmsten Rivalen, da gehen nur entsetzliche Leute hin.“ Penny schob mit dem Fuß einen Stuhl zurück. „Aber wenn du nicht dazugehörst, willst du dich dann nicht zu uns setzen, Aden Stone?“

„Ähm, s-s-störe ich auch nicht?“ Die Frage galt Mary Ann.

Bevor sie antworten konnte – sie hätte auch gar nicht gewusst, was sie sagen sollte –, erwiderte Penny süffisant: „Natürlich störst du nicht. Sie hat gerade noch gesagt, dass sie hofft, du würdest dich zu uns setzen. Komm schon, setz dich. Erzähl uns was über dich.“

Langsam ließ sich Aden auf den Stuhl sinken, als hätte er Angst, jemand könnte ihn plötzlich wegziehen. Die Sonne strich zärtlich über sein schönes Gesicht, als wollte sie ihm huldigen. Und einen kurzen Moment lang sah Mary Ann wieder die unterschiedlichen Farben in seinen Augen. Grün, Blau, Gold und Braun. Erstaunlich. Aber so schnell, wie sie aufgetaucht waren, verschwanden sie auch wieder und ließen nur blitzendes Schwarz zurück.

Ein Hauch wie von Pinien und neugeborenem Baby wehte von ihm herüber. Warum roch er wie ein Baby? Vielleicht von einem Feuchttuch? Aber so dreckig, wie er war, hätte sie mit unangenehmeren Gerüchen gerechnet. Stattdessen erinnerte sie dieser süßliche Geruch an etwas … oder an jemanden. Sie wusste nur nicht, an wen. Dafür überkam sie plötzlich der Drang, ihn zu umarmen.

Sie wollte ihn umarmen?

Erst fühlte sie sich zu ihm hingezogen, dann kamen Neugier, Abscheu und jetzt Zuneigung? Was war nur mit ihr los? Und was würde Tucker sagen? Sie hatte noch nie mit anderen Jungs geflirtet – das tat sie auch jetzt nicht – und hatte keine Ahnung, wie Tucker reagieren würde. Auf dem Footballplatz war er ein Piranha, aber zu ihr war er immer nett gewesen.

„Ich wollte nur wissen … ich habe dich vor dem Friedhof gesehen“, erzählte Aden Mary Ann. „Hast du, ähm … ist dir … irgendwas aufgefallen, das dich beunruhigt hat?“

Er war so zögerlich, irgendwie niedlich. Und auch süß. Jetzt wollte sie ihn noch mehr umarmen. Aber sie blinzelte ihn nur an, weil sie nicht sicher war, dass sie richtig gehört hatte. Hatte er diesen komischen Wind auch gespürt? „Was denn zum Beispiel?“

„Schon gut.“ Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus, und das konnte mit Pennys Lächeln nicht nur mithalten, sondern übertraf es noch.

Hatte er offenbar nicht, dachte sie. „Hast du dort jemanden besucht?“

„Äh, nein. Ich, äh, ich arbeite da. Ich wollte nur sagen, dass bald wahrscheinlich Geschichten über mehrere Grabschändungen durch die Nachrichten gehen. Ich habe da … aufgeräumt.“

Ob das Grab ihrer Mutter noch in Ordnung war? Wehe, wenn nicht!

„Wie herrlich morbid.“ Penny pustete ihm eine Rauchwolke entgegen. „Bist du schon mal in Versuchung gekommen, ein bisschen zu buddeln und etwas Schmuck zu klauen?“

Er schaffte es, nicht zu husten oder zusammenzuzucken. „Nein, nie“, sagte er und wandte das Gesicht ab, als ein untersetzter Mann an ihrem Tisch vorbeiging.

Versteckte er sich? Vielleicht war das sein Chef, und er durfte eigentlich keine Pause machen.

Mary Ann musterte ihn und fragte sich, was er … Dann sah sie die Wunde an seinem Hals und schnappte nach Luft. „Autsch! Was hast du da gemacht?“ Er hatte zwei offene Wunden, die grünblau angelaufen waren. Als ihr klar wurde, dass sie von Zähnen stammten, wurde sie rot. Vielleicht, sogar wahrscheinlich stammten sie von einem Mädchen. „Schon gut. Das ist zu privat, darauf musst du nicht antworten.“

Tat er auch nicht. Er bedeckte die Wunden mit der Hand und wurde ebenfalls rot.

„Na toll, zwei Verklemmte an einem Tisch.“ Penny seufzte leidgeprüft. „Und was machst du so in deiner Freizeit, Aden? Wenn du auf keine öffentliche Schule gehst, wohin dann? Und hast du eine Freundin? Ich schätze mal, ja, wenn schon jemand an dir knabbert, aber ich hoffe, du sagst gleich, dass es nicht mehr lange hält.“

Er wandte sich wieder Mary Ann zu. „Ich würde viel lieber etwas über Mary Ann wissen. Warum reden wir nicht über sie?“

Den Fragen ist er ja prima ausgewichen, dachte sie.

„Genau, Mary Ann.“ Penny stützte die Ellbogen auf den Tisch und tat ganz fasziniert. „Erzähl uns von deinem aufregenden 15-Jahres-Plan.“

Mary Ann war klar, was ihre Freundin vorhatte: Sie sollte von ihrem angeblich langweiligen Leben erzählen, damit ihr klar wurde, dass sie mehr Aufregung brauchte. Wie oft hatte Mary Ann ihrer Freundin gesagt, der erste Schritt zur Lösung eines Problems sei, es zuzugeben? Offenbar hatte Penny zugehört, denn jetzt spielte sie die Psychologin. „Noch ein Wort, und ich komme auf dein Angebot von vorhin zurück. Deine Zunge würde sich über meinem Bett echt gut machen.“

Penny hob die Hände und spielte die reine Unschuld. „Ich wollte nur die Stimmung auflockern, Süße.“ Grinsend ließ sie ihre Zigarette fallen und trat sie aus. „Aber vielleicht schaffe ich das nur, wenn ich gehe. Dann könnt ihr beiden euch kennenlernen.“

„Nein“, platzte es aus Mary Ann heraus, als ihre Freundin aufstand. „Bleib hier.“

„Lass mal, ich störe nur.“

Aden blickte zwischen beiden hin und her und verfolgte amüsiert ihre Unterhaltung.

„Stimmt doch gar nicht.“ Mary Ann packte Penny am Handgelenk und zog sie wieder auf ihren Stuhl. „Du …“ Erschrocken fiel ihr etwas ein. „O nein. Wie spät ist es?“ Sie stellte ihren Kaffee auf den Tisch, zog das Handy aus der Tasche und sah auf die Uhr. Wie sie befürchtet hatte. „Ich muss los.“ Sie musste sich beeilen, sonst würde sie zu spät zum Watering Pot kommen.

„Ich begleite dich, wenn du irgendwo hinmusst. Das mache ich gerne.“ Aden sprang so schnell auf, dass sein Stuhl nach hinten schlitterte und gegen einen Mann stieß, der gerade vorbeiging. „‘tschuldigung“, murmelte er.

„Ich hab’s wahnsinnig eilig, ich … ich gehe lieber allein. Tut mir leid.“ Es war besser so, redete sie sich ein. Das Blut brannte immer noch in ihren Adern, und ihr Magen hatte sich verkrampft. Sie beugte sich vor und gab Penny einen Kuss auf die Wange, dann stand sie auf. „Aber es war nett, dich kennenzulernen, Aden.“ War es auch irgendwie.

„Gleichfalls.“ Er klang niedergeschlagen.

Sie wich einen Schritt zurück und blieb stehen. Als sie noch einen Schritt zurückging, sagte etwas tief in ihr, dass sie trotz allem bleiben sollte.

Aden ging auf sie zu und fragte: „Darf ich dich anrufen? Das würde ich wirklich gern machen.“

„Ich …“ Sie wollte schon Ja sagen. Im Innersten wollte sie ihn wiedersehen und herausfinden, warum sie in seiner Gegenwart gleichzeitig Schmerz und Zuneigung empfand. Der Rest von ihr, ihre vernünftige Seite, hörte auf die vielen Gründe, sich von ihm fernzuhalten: Schule. Noten. Tucker. Ihr 15-Jahres-Plan. Trotzdem brachte sie ein „Nein, tut mir leid“ kaum über die Lippen.

Als sie zurück zum Blumenladen ging, fragte sie sich verwirrt, ob sie gerade einen Riesenfehler begangen hatte. Einen Fehler, den sie für den Rest ihres Lebens bereuen würde, wie Penny gesagt hatte.

3. KAPITEL

Aden sah Mary Ann hinterher.

„Das ist ihre Telefonnummer. Wenn du sie überhaupt noch anrufen willst, nachdem sie so unhöflich war“, sagte das Mädchen, das sich als Penny vorgestellt hatte, und schob Aden einen Zettel hin. „Die zweite Nummer ist meine. Falls du lieber jemanden möchtest, der etwas zugänglicher ist.“ Dann stand sie ebenfalls auf und ging.

„Danke“, rief Aden ihr hinterher. Grinsend steckte er den Zettel ein. Aber sein Grinsen hielt nicht lange an. Er hatte nicht viel Ahnung von Mädchen, aber er hatte gemerkt, dass Mary Ann Gray seinetwegen unbehaglich zumute gewesen war. Und dass sie nichts mit ihm zu tun haben wollte. Hatte sie gespürt, wie anders er war? Hoffentlich nicht, denn dann würde er sie unmöglich dazu überreden können, Zeit mit ihm zu verbringen. Und das musste sie, Aden musste mit ihr reden und sie kennenlernen. Diesen neuen Frieden, den er verspürte, hatte tatsächlich sie ausgelöst.

Aber es war auch komisch. Je länger er neben ihr gesessen hatte, desto stärker hatte er gegen den Wunsch ankämpfen müssen wegzulaufen. Das ergab überhaupt keinen Sinn. Von Nahem war sie noch hübscher, als er gedacht hatte, sie hatte frische Wangen und grünbraune Augen. Sie war klug und konnte sich gegen ihre Freundin behaupten. Jeder andere Junge hätte sich lieber mit Penny verabredet, doch als Aden mit Mary Ann gesprochen hatte, war plötzlich eine solche Zuneigung in ihm aufgekommen, als müsste er ihr die Haare zerzausen und sie wegen Jungs aufziehen. (Dabei musste er wirklich nicht mehr unter Beweis stellen, wie seltsam er war.) Und dann war da noch dieses dumme Gefühl, er müsste um sein Leben rennen.

Ihm fiel kein Grund ein, der ausgereicht hätte, um vor ihr davonzulaufen. Als er sie im Café entdeckte, hatten seine Stimmen wieder schrecklich geschrien, aber danach waren sie still geblieben, und das war wunderbar.

Wie schaffte sie das? Wusste sie überhaupt, was sie tat? Sie sah nicht so aus, ihr hübsches Gesicht wirkte ganz unbeteiligt und unschuldig.

Er war sich noch nicht sicher, ob sie das Mädchen aus seiner Vision war. Sie hatte zwar so ausgesehen, aber bei dem Gedanken, sie zu küssen, verzog er das Gesicht. Das fühlte sich falsch an, absolut falsch. Vielleicht – hoffentlich – würde sich das ändern, wenn er sie erst kannte.

Auf dem Heimweg achtete er darauf, dass er auf dem Gehweg oberhalb des Friedhofs und dann auf den Hauptstraßen blieb. Als er zweimal über Müll stolperte, pochte jede Wunde an seinem Körper.

Das wird heute Nacht weh tun, sagte Caleb.

Allerdings. Neben den Schmerzen von den Prellungen würde das Gift in ein paar Stunden anfangen zu wirken und ihm ordentlich zusetzen.

Langsam machst du mich echt sauer, Ad, sagte Elijah plötzlich. Diesen Luftstrom – oder was das ist, das uns in dieses schwarze Loch schleudert – kann ich nicht ausstehen.

„Wie ist denn dieses schwarze Loch?“

Dunkel, leer, still. Und übrigens wüsste ich gern, wie du das machst.

Ein Mädchen, ich habe es kurz gesehen, sagte Eve.

Ein Mädchen, platzte es aus Julian heraus. Ein dummes Mädchen vertreibt uns? Wie?

„Ist sie das Mädchen, von dem ich geträumt habe, Elijah?“ Das hätte er wirklich schon früher fragen können.

Keine Ahnung. Ich habe sie nicht gesehen.

Ach.

Na, ich habe sie gesehen, und ich bin ganz sicher, dass ich sie kenne. Sie kommt mir irgendwie vertraut vor. Eve stockte nachdenklich. Dann seufzte sie frustriert. Aber ich komme nicht darauf, warum.

Die anderen konnten die Bilder, die Elijah in seinem Kopf erstehen ließ, nicht sehen, nur Aden konnte das. Aus der Vision kannte Eve sie also nicht. „Wir sind erst seit ein paar Wochen hier und haben die Ranch heute zum ersten Mal verlassen. Bis auf Dan und die Loser haben wir noch niemanden gesehen.“ Mit den Losern meinte er die „missratenen Jugendlichen“ auf der D&M-Ranch.

Ich weiß genau, dass ich sie kenne. Ganz sicher. Irgendwoher. Vielleicht aus einer der anderen Städte, in denen wir waren.

„Du hast re…“ Als Aden auffiel, dass er laut mit sich selbst sprach, vergewisserte er sich, ob auch niemand in Hörweite war.

Als die Sonne endlich langsam unterging, tauchte die Ranch vor ihm auf. Die weitläufige Anlage bestand aus dunkelroten Holzhäusern, die von Windrädern, einem Bohrturm und einem hohen schmiedeeisernen Zaun eingefasst waren. Überall weideten Kühe und Pferde, Grillen zirpten, ein Hund bellte. Er hatte nicht erwartet, dass er jemals an einem solchen Ort leben würde, und er war alles andere als ein Cowboy, aber er merkte, dass ihm die weiten, freien Flächen lieber waren als die einengenden Häuser der Stadt.

Weiter hinten standen eine Scheune und ein Haus, in dem er und die anderen Jungs schliefen. Meist waren sie draußen mit ihrem Betreuer Mr Sicamore, ernteten Heu, mähten den Rasen oder schaufelten Mist als Dünger auf eine Schubkarre. Diese Aufgaben sollten ihnen helfen, den Wert von „harter Arbeit und Verantwortungsbewusstsein“ zu lernen. Wenn man Aden fragte, lernten sie dabei nur, Arbeit zu hassen.

Zum Glück hatten heute alle frei. Als er durch das Tor schlenderte, war niemand in der Nähe.

„Klar könnte sie zur gleichen Zeit wie ich in einer anderen Stadt gewohnt haben, auch wenn es nicht sehr wahrscheinlich ist. Aber ich sage euch, dass ich sie vor heute noch nie gesehen habe, zumindest nicht bewusst“, knüpfte Aden an ihr Gespräch an. Wenn er und Mary Ann sich schon früher über den Weg gelaufen wären, hätte er diese wunderbare Stille schon damals erlebt. Und das hätte er nicht vergessen.

Caleb lachte, aber mit einem bissigen Unterton. Du hältst immer den Kopf gesenkt und wendest den Blick ab, egal, wo du bist. Du hättest deiner Mutter über den Weg laufen können und hättest es nicht gemerkt.

Das stimmte. „Aber ich wurde von einer Psychiatrie in die nächste geschickt, sogar in den Jugendknast, und da gab es keine Mädchen. Heute war ich zum ersten Mal richtig draußen, egal in welcher Stadt. Wo hätte ich sie denn treffen sollen?“

Ein sanfter Seufzer von Eve wehte durch seinen Kopf. Ich weiß es nicht.

Ich glaube immer noch, dass du ihr aus dem Weg gehen solltest, sagte Elijah ernst.

„Warum?“ Hatte der Hellseher in seinem Kopf etwa schon Mary Anns Tod vorhergesehen und wollte ihn jetzt vor einem schmerzlichen Verlust bewahren? Aden kämpfte gegen plötzliche Angst an. Wenn Elijah ihm sagte, wann und wie jemand starb, dann geschah es genauso, wie er es gesagt hatte. Ohne Ausnahme. „Warum?“, wiederholte er heiser.

Weil … es ist halt so.

„Warum?“, beharrte Aden. Die Frage klang schärfer, als er beabsichtigt hatte. Denn wenn nichts Gravierendes dagegensprach, würde er sie bei nächster Gelegenheit ausfindig machen. Für einen weiteren Moment dieser Stille würde er alles tun.

Mir gefällt schon mal nicht, dass ich mich so hilflos fühle, wenn du in ihrer Nähe bist, sagte Julian.

„Elijah?“ Aden blieb hartnäckig.

Ich mag sie einfach nicht, grummelte der Hellseher. In Ordnung? Bist du zufrieden?

Also würde sie nicht bald sterben. Gott sei Dank.

Aden stolperte, als Dans Hündin Sophia, ein schwarz-weißer Border Collie, zwischen seinen Füßen herumsprang und aufgeregt bellte. Er tätschelte ihr den Kopf, während sie weiter um ihn herumtanzte. Dabei setzte sich eine Idee bei ihm fest. Er sprach sie nicht aus, noch nicht. Stattdessen sagte er: „Aber ich mag sie, und ich will sie wiedersehen. Ich muss.“

Dann musst du eine Möglichkeit finden, uns freizulassen, sagte Elijah. Wenn ich noch mal in dieses schwarze Loch falle, werde ich verrückt.

„Aber wie?“ Sie hatten schon tausend Sachen ausprobiert. Exorzismus, Zaubersprüche, Gebete. Nichts hatte funktioniert. Jetzt drohte sein eigener Tod, und er verzweifelte zunehmend. Er sehnte sich nicht nur nach Ruhe für die letzten Jahre – Monate? Wochen? – seines Lebens, er wollte auch nicht, dass seine einzigen Freunde mit ihm starben. Sie sollten ein eigenes Leben führen. Das hatten sie sich immer gewünscht.

Mal angenommen, wir finden eine Möglichkeit. Eve stockte. Dann brauchten wir Körper, lebende Körper, sonst sind wir so wenig real wie Geister.

Stimmt. Aber Körper kann man nicht einfach über das Internet bestellen, sagte Julian.

Aden findet schon eine Lösung, antwortete Caleb zuversichtlich.

Unmöglich, wollte Aden sagen, schluckte es aber herunter. Es gab keinen Grund, ihre Hoffnung zu zerstören. Als er das Haupthaus erreichte, murmelte er: „Wir reden später weiter“, dann presste er die Lippen aufeinander. Das Licht war gedämpft, nirgends waren scharrende Füße oder klappernde Töpfe zu hören. Aber man wusste ja nie, wo sich jemand versteckte.

Er klopfte an, wartete einen Moment, dann klopfte er noch einmal. Dieses Mal wartete er länger. Niemand kam. Enttäuscht ließ er die Schultern hängen. Er musste dringend mit Dan reden und seine noch unausgesprochene Idee anstoßen.

Seufzend machte er sich auf den Weg zum Schlafhaus. Sophia bellte noch einmal, dann lief sie weg. Die warme, kräftige Brise von draußen drang nicht ins Gebäude, die Luft war stickig und staubig. Er wollte duschen, sich umziehen, vielleicht einen Bissen essen und dann zum Haupthaus zurückgehen. Wenn Dan bis dahin nicht zurück war, würde Aden erst nächste Woche mit ihm sprechen können. Er hatte nicht vergessen, dass das Gift, das schon durch seine Adern rann, ihn in ein paar Stunden umwerfen würde, und dann wäre er zu nichts mehr zu gebrauchen.

Jetzt herrschte nur die Ruhe vor dem Sturm.

Im hinteren Teil der Baracke hörte Aden Stimmengemurmel, und er versuchte, auf Zehenspitzen in sein Zimmer zu gehen. Aber eine Diele knarrte, und sofort rief eine vertraute Stimme: „He, Schizo, komm mal her.“

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