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Ukrainische Weihnacht

Als Buch hier erhältlich:

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»Weihnachten zeigt uns die Unzerstörbarkeit der Hoffnung in Zeiten größter Aussichtslosigkeit.«

Jedes Land feiert Weihnachten anders. Doch wie feiert es sich in der Ukraine, im Grenzland zwischen westlicher und orthodoxer Christenheit?

Der Historiker und Jaroslaw Hryzak und die Literaturwissenschaftlerin Nadijka Herbisch beleuchten die historischen Wurzeln, Mythen und liebgewonnene Bräuche ihres Heimatlandes: Wer bringt die Geschenke? Was wird gegessen, gesungen und wie wurde das ukrainische »Lied der Glocken« auf der ganzen Welt berühmt? Wie ging es den Menschen an Weihnachten unter Stalin und Hitler? Warum haben einige Figuren in ukrainischen Krippen eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Putin? Und warum wird in der Ukraine seit 2017 offiziell zweimal Weihnachten gefeiert?

Jenseits von Kitsch und Verklärung fangen Jaroslaw Hryzak und Nadijka Herbisch den Geist der Weihnacht ein und erinnern uns daran, wie viel dieses Fest den Menschen bedeutet, und warum es wichtig ist, auch in Krisenzeiten an Traditionen festzuhalten.

»Ein wunderschön illustriertes Buch.«

The Herald


  • Erscheinungstag: 26.09.2023
  • Seitenanzahl: 128
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004579

Leseprobe

© Kateryna Borysyuk

In Erinnerung an Artem Dymyd (19952022) und andere Kinder Rahels, die von einem Herodes unserer Tage ermordet wurden.

VORWORT

Das Buch, das Sie hier in Ihren Händen halten, erschien erstmals im Jahr vor Beginn des groß angelegten Krieges zwischen Russland und der Ukraine. Dieser Krieg wurde auf vielerlei Weise umschrieben, wir möchten ihn in folgende Worte kleiden: Das Land, in dem Weihnachten zu den wichtigsten Feiertagen des Jahres zählt und in Anerkennung seines östlichen wie westlichen Erbes zweimal gefeiert wird, wurde von dem Land angegriffen, in dem Weihnachten jegliche Bedeutung verloren hat.

Die große Popularität der ukrainischen Weihnacht zeigt sich in der Tatsache, dass sich ukrainische Kinder auf den Nikolaustag wie auf kaum einen anderen Feiertag freuen, sowie in dem ukrainischen Weihnachtslied »Schtschedryk«, das im angelsächsischen Raum als »Carol of the Bells« (dt. »Lied der Glocken«) Berühmtheit erlangt hat und heute zu den Juwelen der Weltkultur zählt.

© Julia Tveritina

Die Ukraine ist ein Land, in dem die Tradition, von Haus zu Haus ziehend Weihnachtslieder zu singen und die sogenannten Wertep-Krippenspiele, bis heute lebendig sind. Im Osten des Landes, ziemlich genau entlang der russisch-ukrainischen Grenzlinie, verlaufen auch die Grenzen dieser Brauchtümer (siehe Weihnachtslieder und -gesänge. Dies soll nicht heißen, dass in Russland an den Festtagen nicht gesungen wird, doch handelt es sich bei den sogenannten russischen Weihnachtsliedern entweder um neuere Werke aus dem 19. Jahrhundert oder um alte Lieder, die Russland aus der Ukraine entlehnt hat. Man findet in Russland auch keine Gesangsgruppen, die Heiligabend durch die Dörfer und Städte ziehen, wie Nikolai Gogol sie in seinem berühmten Erzählband Abende auf dem Weiler bei Dikanka beschreibt oder wie man sie bis heute im westukrainischen Lwiw ebenso sieht wie in der Hauptstadt Kyjiw und im ostukrainischen Charkiw. Mit den Wertep-Aufführungen verhält es sich genauso. Wo auch immer ihre Spuren in der russischen Kultur sichtbar werden, lassen sie sich auf ukrainische oder belarussische Bauern zurückführen, die sie ins Land brachten, nachdem sie noch vor dem Ersten Weltkrieg auf der Suche nach Ackerland nach Sibirien oder in fernöstliche Regionen Russlands geflohen waren, um ihre Familien zu ernähren (siehe »Wertep: Die Krippe«).

Hierfür gibt es einen einfachen Grund: Sowohl Weihnachtslieder als auch Krippen gehören zur westlichen christlichen Kultur, die im Mittelalter auf Geheiß der katholischen Kirche entstanden, das Evangelium auch jenen Gemeindemitgliedern nahezubringen, die nicht lesen konnten. Die ukrainischen Gebiete sind das Grenzland des Christentums: Die Ukraine ist der Westen des östlichen Christentums und der Osten des westlichen Christentums. Bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs kam in der gesamten Ukraine die christliche Kultur des Westens täglich mit jener des Ostens in Berührung, in der Westukraine änderte sich daran bis zum Zweiten Weltkrieg nichts.

Dieses Aufeinandertreffen der Kulturen war von zum Teil äußerst blutigen Konflikten gekennzeichnet, so etwa die polnisch-ukrainischen Kriege des 18. oder 20. Jahrhunderts. Andererseits führte es zu einem regen kulturellen Austausch und einer gegenseitigen Befruchtung. Die Geschichte des ukrainischen Weihnachtsliedes »Ne platsch, Rachyle« (»Weine nicht, Rahel«) ist in dieser Hinsicht ein besonders eindrückliches Beispiel. Seine Melodie ist eine Variation aus der ursprünglichen portugiesisch-spanischen Tanzmusik, der sogenannten Folia, und geht auf das musikalische Arrangement des italienischen Komponisten Arcangelo Corelli (16531713) zurück. Der am weitesten entfernte Ort, an dem Folkloristen Aufzeichnungen des Liedes nachweisen konnten, war die Stadt Irkutsk am Abfluss des Baikalsees, in die es gewaltsam umgesiedelte Ukrainer überliefert haben. Der Liedtext erzählt auf seine Weise die moderne Geschichte des Russisch-Ukrainischen Krieges: Ukrainische Kinder sterben aufgrund ihrer »Liebe zur Ukraine – es ist alles ihre Schuld, alles ihre Schuld«.

© Julia Tveritina

In vielen ukrainischen Weihnachtsliedern schwingt eine ausgesprochen traurige Note mit. Selbst das traditionelle Weihnachtsfasten wird, anders als der Advent, in Abstinenz, Gebet und Kontemplation verbracht (siehe »Feiern und Fasten«). Genauso drehen sich kulinarische Traditionen der Ukraine zu Weihnachten um das Andenken verstorbener Familienmitglieder, die Dankbarkeit, am Leben und als Familie zusammen zu sein, und die Hoffnung auf reiche Ernte im kommenden Jahr. Um als Agrargesellschaft zu überleben, waren die Ukrainer schon immer von der Ernte ihrer Getreidefelder abhängig.

Nach dem Holodomor in der Ukraine – jener Reihe unter Verantwortung der Sowjetführung gezielt herbeigeführter Hungersnöte in den Jahren 1932 und 1933 – hat sich die Heiligkeit des täglichen Brotes tief in die ukrainische Geschichte und die alltäglichen Bräuche des Landes eingeprägt. Der von den Älteren eingeforderte Brauch, jeden zu Boden gefallenen Laib Brot aufzuheben und respektvoll zu küssen, hat in den letzten Jahren zwar seine Verbindlichkeit verloren, könnte jedoch nach der russischen Besetzung von Butscha und Mariupol im März 2022, in der die Menschen die Leichen verhungerter Mütter und Kinder in den eigenen Gärten vergraben mussten, eine Wiederentdeckung erfahren. So besinnt man sich auf die Gepflogenheiten vergangener Tage, um die Erinnerung an die Märtyrer von heute zu ehren und zu bewahren. Und sobald die Minenfelder in den befreiten Gebieten allmählich wieder in Ackerflächen verwandelt werden, auf denen Weizen angebaut wird, könnte auch eine andere alte Tradition wiederaufleben, wonach man den nächsten Verwandten und Freunden zu Weihnachten eine Mahlzeit vorbeibringt. Die wichtigsten Gerichte der ukrainischen Weihnacht sind Kutja und Uswar. Kutja symbolisiert den Tod und Uswar die Geburt und das Leben.

© Lusya Stetskowytsch

Denn dies ist die wesentliche Botschaft von Weihnachten und Christentum: Der Tod hat nicht das letzte Wort – das Leben währt ewig.

Lange vor der Eskalation im Jahr 2022 entfachte in der Ukraine eine hitzige Diskussion darüber, wer an Weihnachten und Neujahr den Kindern die Geschenke bringen solle: Sankt Nikolaus oder das aus russischer Tradition stammende Väterchen Frost. Viele Ukrainer versuchten in ihrem angeborenen Pragmatismus, beide miteinander zu versöhnen, indem sie doppelt Weihnachten feierten und ukrainische Kinder zweimal Geschenke erhielten (siehe »Sankt Nikolaus und Väterchen Frost«) Russischen Kindern jedoch blieb diese Freude versagt, nicht weil sie oder ihre Eltern etwas dagegen gehabt hätten, sondern aufgrund einer Laune des Sowjetregimes. Zeitweise sagte dieses nicht nur das Weihnachtsfest ab, sondern verbot selbst die Feierlichkeiten zum Neujahr. Stattdessen wurden bereits Vorschulkinder auf Demonstrationen gezerrt, die sich gegen die Neujahrsfeste ihrer eigenen Eltern richteten (siehe »Weihnachtsverbot«).

Das Weihnachtsverbot in der UdSSR, das bis zum Ende der Sowjetunion im Jahr 1991 galt, hatte verblüffende Ähnlichkeit mit den Maßnahmen gegen christliche Traditionen, die in Deutschland unter Hitler beschlossen wurden, und sollte es in der sowjetischen Geschichte doch einen Augenblick gegeben haben, an dem Weihnachtslieder frei und unzensiert auf Konzertbühnen zum Besten gegeben wurden, dann lag dies an einem Ukrainer, Iwan Koslowski – der angeblich Stalins Lieblingssänger war.

© Lusya Stetskowytsch

Die Weihnachtstraditionen der Ukraine, ihre Musik und Kultur, werden tief von der Geschichte des Landes geprägt, die von Sorge, Mut und Widerstand erzählt und in vielen Teilen an die allererste Weihnacht erinnert. Damals war Judäa von Rom besetzt und Herodes, der Scherge des Kaisers, war ein Terrorist und Massenmörder, der unschuldige Kinder verfolgen ließ, nur um seine Macht zu sichern. Das Jesuskind, Maria und Josef mussten mitten in der Nacht nach Ägypten fliehen und dort mehrere Jahre als Geflüchtete leben. Wie C.S. Lewis einmal schrieb, ist unsere Welt vom Feind besetztes Gebiet und Weihnachten die Geschichte vom rechtmäßigen König, der als Kind verkleidet zu uns kam und uns einlud, einer großen Sabotageaktion beizuwohnen.

Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland ist auch ein Krieg um die Freiheit der Weihnachtskultur. Das Christfest kann, insbesondere zu Kriegszeiten, das Unmögliche möglich machen. Die Feinde auf beiden Frontlinien können sich für eine kurze Zeit aussöhnen, und mögen die historischen Beispiele hierfür auch selten sein, gibt uns doch allein die Tatsache, dass diese militärischen Schlichtungen zu Weihnachten existierten, ein wenig Hoffnung und rückt den Frieden wieder in den Bereich des Möglichen (siehe »Weihnachtsfrieden«). Sie schenken uns die Zuversicht, dass ein kurzfristiger Waffenstillstand nach dem Krieg einen bleibenden Eindruck hinterlassen könnte, doch nur, wenn die Herodes unserer Tage – Hitler, Stalin, Putin – ein für alle Mal verschwinden. Weihnachten ist eine Zeit, die uns daran erinnert, dass Gerechtigkeit und Liebe obsiegen werden, selbst wenn es scheint, dass beides allmählich verkümmert. Es garantiert die Unzerstörbarkeit der Hoffnung in Zeiten größter Hoffnungslosigkeit. Denn solange wir Weihnachten feiern, können wir weder besiegt noch zerstört werden. Diese Botschaft versucht die Ukraine der Welt mitzuteilen, und davon handelt unser Buch.

WANN IST WEIHNACHTEN?

Da das Land sowohl der westlichen als auch der östlichen Tradition folgt, wird Weihnachten in der Ukraine zweimal gefeiert: am 25. Dezember und am 7. Januar. Über Jahre wurde immer wieder darüber diskutiert, an welchem der beiden Tage das Fest begangen werden solle. Doch angesichts des Reichtums und der Vielfalt des kulturellen Erbes in der Ukraine einigte man sich 2017 darauf, Weihnachten zweimal im Jahr zu feiern – und damit die Traditionen des westlichen und östlichen Christentums miteinander zu versöhnen.

© Julia Tveritina

Zwei der Evangelisten – Lukas und Matthäus – berichten von Christi Geburt, doch keiner verrät uns etwas über den genauen Zeitpunkt. Der Erste, der Jesu Geburtsjahr zu ermitteln versuchte, war der Mönch Dionysius Exiguus (Dionysius der Geringe). Von ihm stammt die Idee, ein Kalendersystem einzuführen, das mit der Geburt Christi beginnen sollte. Er glaubte, Jesus sei im einunddreißigsten Jahr der Herrschaft des römischen Kaisers Augustus geboren, da in diesem Jahr die Volkszählung durchgeführt wurde. Allerdings ist es wahrscheinlich, dass er sich geirrt hat, da uns das Neue Testament mitteilt, Jesus sei während der Herrschaft des Königs Herodes geboren worden, wir aber wissen, dass dieser bereits im Jahr 4 v. Chr. gestorben ist. Deshalb geht die Wissenschaft heute davon aus, dass Jesus zwischen 6 und 2 v. Chr. geboren sein müsse.

Ebenso große Unsicherheit herrscht über Tag und Monat seiner Geburt. Die frühen Christen des 2. bis 4. Jahrhunderts nannten unterschiedliche Geburtstage: 25. oder 28. März; 9. oder 31. April; 21.Mai; 17. oder 28. November; 25. oder 28. Dezember. Der 25. Dezember wurde vom heiligen Cyprian, dem Bischof von Karthago (geboren 258) als Geburtstag Jesu berechnet, und dieses Datum setzte sich im Laufe der Zeit auch durch.

Interessanterweise wurde Weihnachten bis ins 3. Jahrhundert gar nicht begangen. Stattdessen feierten die ersten Christen lediglich die Wiederauferstehung Jesu Christi an Ostern. Sie glaubten, dies allein sei das Schlüsselereignis, das der gesamten christlichen Erzählung ihre Bedeutung verleihe.

Diese Frühchristen erachteten Geburtstage als gänzlich heidnische Feiertage. Einer der ersten Kirchenväter, Origen (185253/4) verwies auf die Worte des Propheten Jeremias: »Verflucht sei der Tag, darin ich geboren bin; der Tag müsse ungesegnet sein, darin mich meine Mutter geboren hat!« (Jeremias 20:14). Origen ermahnte die Christen, dass kein Heiliger je seinen Geburtstag feiere. Mehr noch, er behauptete, dass sie den Tag verfluchten, an dem sie geboren worden waren.

Noch ein weiterer Faktor trug wesentlich dazu bei, dass Ostern im frühchristlichen Kalender Vorrang genoss: Im Römischen Reich galten Christen als Staatsfeinde. Sie wurden gezielt verfolgt und mussten Folter und Martyrium erdulden. Unter diesen Umständen war es nur natürlich, dass sie ihr Hauptaugenmerk auf den Tod und die Auferstehung Christi richteten. Sie glaubten, dass sowohl der Heiligen als auch der Märtyrer an ihrem Todestag gedacht werden solle – dem wahren Geburtstag ihres ewigen Lebens. Darüber hinaus erwarteten sie die Wiederkunft des Messias noch zu ihren Lebzeiten.

© Julia Tveritina

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