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Spellcaster - Finsterer Schwur

hier erhältlich:

Um die Bewohner von Captive’s Sound zu retten, hat Nadia dem Herrscher der Unterwelt die Treue geschworen. Nun muss sie Jenem dort unten an der Seite der Zauberin Elizabeth dienen und wird von ihr in der dunklen Magie unterwiesen. Doch anstatt dadurch mehr über ihre bösen Pläne zu erfahren, droht Nadia der Verlockung ihrer neuen Macht zu verfallen. Abgeschottet von ihren Freunden, ist sie so empfänglich für die Dunkelheit wie noch nie…

Das fulminante Finale der Spellcaster-Reihe!


  • Erscheinungstag: 12.09.2016
  • Aus der Serie: Spellcaster
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 304
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676168

Leseprobe

Claudia Gray

Spellcaster – Finsterer Schwur

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Ira Panic

HarperCollins®

HarperCollins® Bücher

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins

in der HarperCollins Germany GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der amerikanischen Originalausgabe

Sorceress

Copyright © 2015 by Amy Vincent

erschienen bei: Harper Teen, New York

Published by arrangement with

HarperTeen, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Laura Oehlke

Titelabbildung: Harlequin; Comstock, Ryan McVay, kotoffei / Thinkstock

ISBN eBook 978-3-95967-616-8

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

„Die ultimative Waffe ist aus Hass geschmiedet.“

Nadia schaute zu, wie Elizabeth in den glühend heißen Holzofen griff, der in der Ecke des Raums stand und in dem ein Feuer brannte, das nicht von Holz gespeist wurde. Elizabeth zuckte nicht zusammen, obwohl die Flammen ihre Finger versengen mussten. Wurde man unempfindlich gegen Schmerzen, wenn man als Zauberin Jenem dort unten Treue geschworen hatte?

Nadia würde es bald herausfinden, denn auch sie war nun seine Dienerin.

Es war kein freiwilliger Handel gewesen. Nicht Machtlust hatte sie dazu getrieben, wie einst Elizabeth, die vierhundert Jahre alte Hexe, die nun ihre Lehrerin war. Nadia hatte dem Herrn der Hölle gezwungenermaßen Treue schwören müssen, um die Bewohner von Captive’s Sound von Elizabeths grässlichem Fluch zu befreien. Jetzt saß sie in der Falle – und lernte die schwärzeste Magie, die eine Zauberin lehren konnte.

„Die Leute versuchen so zu tun, als sei Hass so etwas wie … Schutt“, fuhr Elizabeth fort. „Nur die Trümmer von etwas anderem.“ Sie zog ihre Hand zurück, die Finger gerötet von der Hitze. Nadia sah, dass sie etwas Kleines festhielt, das in einem überirdischen, wunderschönen Licht erstrahlte. Obwohl ihre Haut schon anfing zu schwelen, hob Elizabeth das Ding näher an ihr Gesicht. „Aber Hass hat eine eigene Macht. Eine eigene Rolle in der Welt. Wenn du dunkle Magie begreifen willst, musst du Hass begreifen.“

Nadias Mutter hatte ihr gesagt, dass Opfer ebenfalls eine eigene Macht hatten. Bei dieser Gelegenheit hatte Nadia auch erfahren, dass Mom ihre Familie nicht einfach verlassen hatte, ohne einen Gedanken an Nadias Training oder Dads Herz oder den armen kleinen Cole zu verschwenden. Nein, sie hatte ihre Liebe für sie geopfert – oder vielmehr, ihre komplette Fähigkeit zu lieben –, um ihre Tochter vor den Avancen Jenes dort unten zu schützen. Denn Nadia war das Kind zweier magischer Erblinien; sie stammte sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits von Hexen ab, was sie zur perfekten Dienerin für Jenen dort unten machte.

Doch das Opfer ihrer Mutter war umsonst gewesen. Jener dort unten hatte einen anderen Weg gefunden, Nadia in seine Fänge zu bekommen.

Sie konnte jetzt nur hoffen, dass ihr eigenes Opfer ausreichend Macht besitzen würde. Nadia hatte sich Jenem dort unten verschrieben, um die Menschen in Captive’s Sound zu retten – vor allem ihre Familie, ihre beste Freundin Verlaine und natürlich Mateo. Immer wieder Mateo. Vielleicht wäre das langfristig ja genug, um sich selbst vor der Dunkelheit zu retten.

Andernfalls wäre sie auf ewig in die Dienste Jenes dort unten gezwungen – und müsste ihm dabei helfen, in die Welt der Sterblichen einzudringen und sie von Grund auf zu zerstören.

Sie hielten sich in Elizabeths Haus auf, in einem Raum, der dank des Zaubers, der auf ihm lag, wie ein ganz normales, gemütliches Wohnzimmer aussah – als hätte man es aus einem Einrichtungskatalog kopiert. Doch Nadia, die nun über die nötige Magie verfügte, um Elizabeths Tarnzauber zu durchschauen, wusste, dass das Zimmer eine einzige Ruine war. Dieses baufällige Holzhaus bildete seit mindestens hundert Jahren Elizabeths Zuhause, wahrscheinlich sogar noch länger; der Boden war von Glasscherben übersät, und in jeder Ecke hingen dicke Spinnennetze – gewebt von Spinnen, die unter Elizabeths Befehl standen. Reste der gemusterten Tapete, die vermutlich vor langer Zeit angebracht worden war, hingen in Fetzen von den Wänden, und von den paar altersschwachen Möbeln waren nur noch die maroden Gestelle der einstigen Sessel und Sofas übrig. Nadia und Elizabeth saßen neben dem Ofen, in dem irgendwas nicht Identifizierbares brannte, das niemals als Brennstoff gedacht gewesen war, so viel immerhin wusste Nadia.

Ich darf nicht so enden wie sie, dachte sie und ballte die Fäuste, so fest, dass sich die Fingernägel in ihre Handflächen bohrten. Elizabeth ist kaum mehr menschlich. Es muss einen Ausweg für mich geben. Es muss eine Möglichkeit geben, Jenen dort unten aufzuhalten.

Solange sie in den Diensten des Herrn der Hölle stand, war sie gezwungen, sich an bestimmte Regeln zu halten. Ihr blieb nur eine Chance, ihn – und Elizabeth – zu besiegen: Sie musste so tun, als sei sie eine loyale Schülerin der dunklen Magie.

Nein, Elizabeth war nicht so dumm, darauf hereinzufallen. Aber solange Nadia vorgab, eine Musterschülerin zu sein, blieb Elizabeth nichts anderes übrig, als die Musterlehrerin zu spielen. Sie waren beide an die Gesetze Jenes dort unten gebunden.

„Kann man sich dagegen verteidigen?“, fragte Nadia. „Gegen die perfekte Waffe, meine ich. Gegen Hass.“

Elizabeth antwortete nicht gleich. Noch immer hielt sie das glühende … Ding zwischen ihren Fingern, obwohl von ihnen mittlerweile dünne Rauchschwaden aufstiegen. Ihr Fleisch musste gebrannt haben, und sie musste den Schmerz gefühlt haben, aber es war ihr egal. Nadia wäre beeindruckt gewesen, wenn das Ganze sie nicht so angeekelt hätte.

Schließlich ließ Elizabeth das glühende Stück auf den Holzboden fallen, wo es noch einmal zischte und rot aufleuchtete, als es in Kontakt mit den alten verzogenen Dielen kam, ehe es erlosch. Erst jetzt hob Elizabeth den Blick, um Nadia anzuschauen. Sie hatte zarte sommersprossige Haut, viel heller als Nadias olivfarbener Teint, üppige kastanienbraune Locken und ein ovales Gesicht, das allen, die es nicht besser wussten, hinreißend süß erschien.

„Liebe“, sagte sie. „Liebe ist die einzige Verteidigung gegen Hass.“

Nadia bemühte sich um eine ausdruckslose Miene, doch innerlich klammerte sie sich an diese Information, drückte sie fest an ihr Herz. Endlich hatte sie einen Grund zur Hoffnung. Liebe besiegt Hass – natürlich tut sie das. Wie sollte es auch anders sein?

Elizabeth lächelte, als hätte sie Nadias Gedanken belauscht. Vielleicht hatte sie das ja. „Aber Liebe währt nicht ewig. Hass schon.“

„Nadia?“

Mateo wusste nur, dass er nach ihr suchte. Sie schien das Einzige zu sein, was auf der Welt zählte.

Nur, dass er offenbar nicht mehr in der normalen Welt war …

Wo bin ich?

Er war nicht sicher, aber allmählich drängte sich ihm der Gedanke auf, dass er vielleicht … vielleicht in der Hölle war.

Mateo hob den Kopf und versuchte, sich ein Bild von seiner Umgebung zu machen. Trotz der Dunkelheit konnte er erkennen, dass er sich in einer Höhle befand, aber einer, die von außen erleuchtet wurde, von einem derart starken Licht, dass es durch den Stein schimmerte wie glutrote Lava. Hitze und Feuchtigkeit legten sich auf ihn wie eine klebrige Schicht. Er musste nach Luft ringen. Und dieses tiefe Bum-bum, Bum-bum konnte nur das angstvolle Schlagen seines Herzens sein.

In dem flackernden roten Licht konnte Mateo nur schwache Umrisse ausmachen. Er sah schräge Wände, ein leicht gekrümmtes Dach und gewaltige Gewölbe um sich herum – härtere dunklere Strukturen im Stein …

Sie waren nicht aus Stein. Das waren … Rippen.

Schaudernd wurde Mateo klar, dass er nicht in einer Höhle festsaß, sondern im Inneren eines großen furchterregenden Lebewesens. Das Herz, das er schlagen hörte, war nicht sein eigenes. Es kam ihm vor, als hätte man ihn verschluckt oder bei lebendigem Leib verschlungen.

Aber er war nicht allein im Inneren der Bestie. Er konnte Stöhnen hören, Weinen, Schmerzensschreie, die durch das Fleisch dieser Kreatur hallten, aber weit entfernt zu sein schienen – bis jemand direkt neben ihm aufschrie.

Mateo drehte sich um und sah Nadia. Sie trug Schwarz, ihre Augen glitzerten vor Tränen, und sie schwebte in der Luft vor ihm. Doch der Schrei war von Verlaine gekommen, die sich an Nadia klammerte, um nicht zu fallen. Verlaines graues Haar peitschte hinter ihr, als sei es in einem Wirbelwind gefangen, den Mateo nicht spüren konnte, als er die Hand nach Nadia ausstreckte …

Er fuhr hoch, erwachte mit einem Ruck, unwillkürlich nach seiner Decke greifend, aber er war – wieder einmal – nicht in seinem Bett. Heute Nacht war er im Schlaf ans Ende des Landungsstegs gewandelt, fast bis in den Sund hinein.

Eines Tages werde ich gerade noch rechtzeitig aufwachen, um zu merken, dass ich ertrinke, dachte er.

Mateo setzte sich und begrub seine nackten Füße unter sich. Es war Anfang Dezember und viel zu kalt, um sich nur in Boxershorts und T-Shirt draußen rumzutreiben. Wenigstens war der Schnee, der vor zwei Tagen gefallen war, bereits wieder geschmolzen. Sonst wäre er vermutlich mit Frostbeulen aufgewacht. Er rappelte sich zitternd hoch, um nach Hause zu laufen, bevor Dad etwas von diesem unfreiwilligen Ausflug mitkriegte – sein Vater machte sich ohnehin schon zu viele Sorgen.

Aber dann sah er das Wasser, sah es richtig, und blieb wie erstarrt stehen.

Jeder andere, der in diesem Moment über die Meerenge schaute, würde einen Strandabschnitt in einer wolkigen Winternacht sehen: Sand, der im gedämpften Mondlicht silbergrau schimmerte, der dunkle Ozean fast zu glatt, der ferne Leuchtturm, der seinen blassen Lichtstrahl wieder und wieder losschickte.

Doch Mateo war Nadias Adjutant. Das bedeutete, dass er ihre Magie verstärkte; jeder Zauber, den sie in seiner Gegenwart wirkte, war viel mächtiger als üblich. Außerdem besaßen Adjutanten die Fähigkeit, Magie zu erkennen, die um sie herum am Werke war. Und dank Elizabeth war Magie untrennbar mit dem gesamten Gefüge von Captive’s Sound verstrickt; sie war überall sichtbar, verschlingend und dunkel.

Daher konnte Mateo sehen, dass die Stadt kurz davor war, in sich zusammenzufallen.

Eine zähflüssige aufgewühlte Substanz wölbte sich wie eine Kuppel über Captive’s Sound und blockierte den Blick auf die Sterne. Sie hatte ihr eigenes Licht, fiebrig und rötlich. Durch den Boden zogen sich tiefe Linien, als ob im nächsten Moment der gesamte Untergrund zerbröseln und in riesigen Kratern zusammenstürzen würde. Aber das Schlimmste war, dass sich draußen im Wasser irgendetwas bewegte, als würde es sich bereit machen, an die Oberfläche zu kommen. Inzwischen wusste Mateo, dass das hier die Stelle war, an der Elizabeth die Grenze zwischen der dämonischen und der menschlichen Welt einreißen und eine Brücke für Jenen dort unten schaffen wollte.

Mateo ballte die Fäuste, während er aufs Meer starrte, und wünschte, es gäbe etwas, irgendwas, das er tun könnte, um dies zu stoppen …

Ein seltsamer Impuls zuckte durch seinen Körper, nicht direkt schmerzhaft, aber Mateo wurde ganz schön durchgerüttelt. Einen Moment lang schien ein bläuliches Licht seinen Körper zu umflackern … aber er war sich nicht sicher, denn es verblasste genauso schnell, wie es gekommen war.

Das sind nur deine Adjutanten-Kräfte, die dir einen Streich spielen, sagte er sich, auch wenn das noch nie zuvor passiert war. Hör auf, dich verrückt zu machen, und geh nach Hause.

Mateo zwang sich dazu, der albtraumhaften Szenerie den Rücken zu kehren. Auf dem Weg zum Haus hielt er den Kopf gesenkt und schaute nur auf den Landungssteg und den Sand zu seinen vor Kälte geröteten Füßen. Seine Finger waren mittlerweile so taub vor Kälte, dass er länger am Türknauf herumwerkeln musste, um reinzukommen. Zum Glück wachte sein Dad nicht davon auf.

Soweit sein Vater wusste, litt Mateo seit einigen Wochen an „Anfällen“. So lautete die Diagnose der Ärzte, die die Anzeichen von Magie natürlich nicht erkannt hatten, und Dad beharrte dickköpfig auf dieser Interpretation der Vorfälle. Aber alle anderen in der Stadt wussten, wo das wahre Problem lag, selbst diejenigen, die keine Ahnung hatten, dass Magie wirklich existierte. Denn auch ansonsten vernünftige Bewohner von Captive’s Sound glaubten an den Fluch der Cabots.

Der gehörte inzwischen zur Geschichte der Stadt: In jeder Generation gab es ein Mitglied der Familie Cabot, das unwiderruflich und auf schreckliche Weise dem Wahnsinn verfiel. Zuletzt hatte es Mateos Mutter getroffen. Wie alle betroffenen Cabots vor ihr, war sie davon überzeugt gewesen, durch ihre immer verstörender werdenden Träume in die Zukunft blicken zu können. Und wie viel zu viele seiner Vorfahren hatte sie beschlossen, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen.

Mateos Träume hatten im Sommer begonnen. Seither hatte er sich immer mehr vom „Normalen“ entfernt – was auch immer in dieser Stadt als normal gelten mochte. Seine Mitschüler hatten ihn schon immer seltsam behandelt, als ob sie nur darauf warteten, dass er eines Tages durchdrehen würde.

Die Tatsache, dass er plötzlich total derangiert an allen möglichen und unmöglichen Orten aufwachte und wirres Zeug redete über Dinge, die er angeblich gesehen hatte, machte das Ganze natürlich nicht besser.

Mateo musste wieder an den schrecklichen Traum von eben denken, in dem er das Mädchen, das er liebte, im Schlund der Hölle gesehen hatte. Die schauerliche Vision von Nadia, wie sie vor Angst und Trauer weinte, krallte sich in seinen Gedanken fest.

Inzwischen wusste er, dass die Träume, die der Fluch mit sich brachte, sich wirklich erfüllten.

Und wieder brach ein wunderbar verkorkster Morgen in Capitve’s Sound an.

Verlaine war früh aufgestanden, wild entschlossen, vor der Schule noch rasch in der Redaktion des Guardian vorbeizuschauen. Normalerweise waren die Leute hier echt gut darin, die seltsamen Dinge in ihrem Umfeld zu verdrängen, aber nach dem, was in den letzten Wochen passiert war, inklusive einer mysteriösen Epidemie und zwischenzeitlicher Quarantäne durch die Seuchenschutzbehörde, würden ja wohl endlich alle zur Vernunft kommen.

Und das wiederum könnte dazu führen, dass sie ihrer Lokalzeitung tatsächlich mal Aufmerksamkeit widmeten, daher war Verlaine, die grandioseste, aber leider auch meistverkannte Praktikantin der Welt, jetzt dorthin unterwegs.

Ich habe zwar keine Adjutanten-Kräfte, aber sogar mir fällt auf, dass diese Stadt sich gerade auf einem schmalen Grat zwischen Normal und Nicht okay bewegt. Sie strich sich eine verirrte Strähne ihres silbernen Haars aus den Augen und ließ ihren Blick über den Marktplatz schweifen. Das Rathaus hatte noch immer einige vernagelte Fenster von dem Beinahe-Aufstand vor ein paar Wochen, als Mrs. Prasad kurzfristig und bedauerlicherweise von der Fähigkeit ereilt wurde, Dämonen zu erkennen, und daraufhin mit der Axt auf alle Umstehenden losgegangen war. Vor einigen Geschäften hingen weiterhin „Unter Quarantäne“-Schilder; besagte Quarantäne war zwar aufgehoben worden, aber das hieß nicht, dass jeder, der unter Elizabeths Hexerei gelitten hatte – ups, sorry, die Formulierung für die Zeitung lautete natürlich „mysteriöse Krankheit“ –, schon wieder bei der Arbeit war oder am Unterricht teilnahm. Nicht alle Kranken hatten sich so schnell erholt wie ihr Onkel Gary.

Der andere Hinweis darauf, dass hier einiges im Argen lag, war subtiler; er bestand eher darin, was Verlaine nicht sah. Normalerweise begegneten ihr, wenn sie vor der Schule in die Redaktion ging, Dutzende von Menschen. Mateos Vater, Mr. Perez, auf dem Weg zum La Catrina, um das Restaurant für den Tagesbetrieb vorzubereiten, Bankangestellte in ihren Business-Klamotten, diverse andere Leute, die irre früh bei der Arbeit sein mussten. Doch heute war fast niemand unterwegs. Das Café war geöffnet, doch statt sich wie üblich anstellen zu müssen, hatte Verlaine direkt zur Theke gehen können.

Und während sie jetzt ihren Caffè Latte aus einem „Hello Kitty“-Isolierbecher schlürfte, starrte sie auf einen nahezu menschenleeren Marktplatz. Es war beinahe schon unheimlich, wie verlassen der Platz wirkte.

Als ob die Menschen ahnten, was auf sie zukam.

Was sie nicht konnten. Die Bevölkerung von Captive’s Sound müsste sehr viel sachkundiger und wahrscheinlich auch noch hellseherisch veranlagt sein, um zu erahnen, dass ihre Stadt als Einschlagspunkt der bevorstehenden Apokalypse auserkoren war.

Sie angelte den Schlüssel aus ihrem Rucksack und öffnete die Tür zum Guardian. Die Redaktion bestand im Wesentlichen aus einem mittelgroßen Büro, das nach alten Büchern roch, und einem Kellerraum, der das Archiv beherbergte. Die Drucktechnik war so veraltet, dass sie einmal ein paar Bleilettern in einer Schublade gefunden hatte, die noch von einer erst vor ein paar Jahren ausgemusterten Setzmaschine stammten. Außer Verlaine war niemand anwesend; nicht weiter ungewöhnlich, da die Besitzer des Guardian die Zeitung als Vorwand betrachteten, Anzeigen und Werbeprospekte unter die Leute zu bringen. Die tatsächlichen Artikel dienten hauptsächlich als Garnierung, so ähnlich wie die Petersilie auf dem Teller im Restaurant. Wenn tatsächlich echte Nachrichten in der Stadt verbreitet werden sollten, dann musste Verlaine sich schon selbst darum kümmern.

Sie ging zum Schreibtisch und überflog die paar Zettel, die dort lagen, während sie sich fragte, ob ihre Chefs vielleicht eine Nachricht für sie hinterlassen hatten, womöglich sogar mit richtigen Anweisungen. Dann hörte sie ein leises Kratzen, das signalisierte, dass die Tür hinter ihr geöffnet wurde. Eine sanfte Hitze wärmte ihren Rücken und ihre Beine, als ob plötzlich eine tropische Sonne über Rhode Island im Dezember aufgegangen wäre – allerdings kam diese spezielle Hitze direkt aus der Hölle.

Verlaine lächelte.

„Weißt du“, sagte sie, ohne sich umzudrehen, „wenn ich gewusst hätte, dass ich heute von einem Dämon gestalkt werde, hätte ich mir was Schickeres angezogen.“

„Zumindest trägst du Schuhe, in denen du rennen kannst.“

„Das tue ich immer. Hier in der Gegend kommt einem das öfter zugute, als du denkst.“ Verlaine schaute über ihre Schulter zu Asa.

Er sah nicht wie ein Dämon aus, jedenfalls nicht wie die Sorte, die in Horrorfilmen oder auf Renaissance-Gemälden auftauchten. Stattdessen glich er dieser anderen Sorte von Renaissance-Bildern, die immer Titel wie „Ein Jüngling“ trugen und atemberaubende junge Männer mit dunklen Locken und zum Niederknien schönen braunen Augen zeigten. Um ganz genau zu sein: Er sah aus wie Jeremy Prasad, der bis vor einer Weile ein Eins-a-Arschloch in Verlaines Jahrgangsstufe gewesen war, bis Elizabeth ihn getötet und seinen Körper ihrem persönlichen dämonischen Dienstboten überlassen hatte. Es war Asas Bestimmung, Elizabeth bei allen Schritten zu assistieren, die sie unternahm, um Jenen dort unten in das Reich der Sterblichen zu holen, damit dieser das Ende der Welt, wie sie sie kannten, einläuten konnte.

Was Asa zu einer ziemlich unpassenden Wahl machte, wenn es darum ging, sich zu verlieben. Aber Verlaine hatte sich trotzdem in ihn verliebt.

Asa schlenderte ins Büro; sein schwarzer Mantel umspielte seine hochgewachsene drahtige Gestalt. „Deine heutigen Chucks sind von einem ungewöhnlichen, aber erfreulichen Blau.“

„Tiffany-Blau.“ Sie hob einen Fuß und drehte ihn, um ihren Sneaker vorzuführen. „Gab’s vor ein paar Jahren als Limited Edition.“

„Klingt teuer.“

„Nicht unbedingt. In der Hölle gibt’s wohl kein eBay?“

„Nein. Mal wieder eines der vielen Luxusgüter, an denen es dort mangelt.“

Verlaine drehte sich zu Asa um. Sie versuchte, so zu tun, als sei sie nicht völlig hin und weg von ihm, aber wem wollte sie etwas vormachen? Sie fühlte sich, als ob sie innerlich dahinschmelzen würde, und vermutlich sah sie auch so aus.

Asa war der erste Typ, für den sie sich interessierte – und der Erste, der ihre Gefühle erwiderte. Kein anderer hatte sie jemals gemocht, kein anderer würde es jemals können. Vor vielen Jahren, als sie noch ein Baby gewesen war, hatte Elizabeth sie bestohlen. Um sich davor zu schützen, als das übernatürliche Böse erkannt zu werden, das sie war, hatte die Zauberin ihr nicht nur die Eltern genommen, sondern noch etwas viel Essenzielleres.

Elizabeth hatte Verlaine die Fähigkeit gestohlen, geliebt zu werden.

Sie war nicht das einzige Opfer – im Laufe der Jahrhunderte hatte Elizabeth Dutzenden Menschen ihre Liebenswürdigkeit geraubt und sie dadurch zu schrecklicher immerwährender Einsamkeit verdammt. Während sie selbst sich in all die gestohlene Liebe hüllte und die Leute von Captive’s Sound so dazu brachte, ihre seltsame Erscheinung und ihr bizarres Benehmen zu übersehen und sie trotz allem anzuhimmeln.

Verlaine hingegen hatte nichts und fast niemanden. Kein Mensch außer ihren beiden Dads, Onkel Dave und Onkel Gary liebte sie wirklich. Und selbst denen wäre es unmöglich, wenn sie sie nicht schon vor Elizabeths Diebstahl gekannt und geliebt hätten. Ihr ganzes Leben lang war Verlaine entweder aufs Übelste gemobbt oder komplett ignoriert worden. Ihre einzigen Freunde waren Nadia und Mateo, weil die zumindest zeitweise durch die dunkle Magie hatten blicken können, die ihr zugefügt worden war. Doch alle beide mussten sich immer wieder daran erinnern, an Verlaine zu denken. Keiner konnte diese Art Magie komplett überwinden …

… außer einem Dämon.

Asa sah sie wirklich. Und das träge sinnliche Lächeln, mit dem er sie bedachte, als er einen Schritt auf sie zu machte, ließ keinen Zweifel daran, dass ihm gefiel, was er sah.

„Was den Rest des Outfits betrifft …“ Er legte den Kopf schräg. „… nehme ich an, dass dir die späten Fünfzigerjahre vorschwebten, so was wie ein sexy Sekretärinnen-Look, stimmt’s?“

Verlaine trug praktisch immer Vintage oder zumindest von Vintage inspirierte Sachen. Heute hatte sie sich für einen dunkelblauen Bleistiftrock entschieden, dazu eine weiße Bluse und eine lavendelblaue Strickjacke mit Gürtel – definitiv eine Hommage an die späten Fünfziger. Aber sie senkte den Kopf. „Ich bin keine Sekretärin. Ich bin Praktikantin.“

„Dann eben ein sexy Praktikantinnen-Look. Was auch immer es sein soll, ich bin begeistert.“

„Ich hab’s nicht gemacht, um dir zu gefallen.“ Ihr war klar, dass sie ewig warten würde, wenn sie wollte, dass die Leute ihre Anstrengungen würdigten. Und so gut es sich auch anfühlte, Asa zu sehen, und so erpicht sie darauf war, diesen einen perfekten Kuss zu wiederholen, war es doch höchste Zeit, mit dem Flirten aufzuhören und den Tatsachen ins Auge zu blicken. „Du solltest nicht hier sein.“

„Ich weiß“, sagte Asa ruhig. „Aber wir sehen uns ohnehin später in der Schule, und ich dachte … ich dachte, wir sollten es vielleicht hinter uns bringen.“

„Dachtest du, so wäre es einfacher?“ Verlaine versuchte zu lächeln, aber es kam ihr schief und falsch vor. „Es ist nicht leicht, ganz egal wie.“

„Nein. Das ist es nicht.“

Sie standen ein paar Momente schweigend da, unfähig, sich abzuwenden, obwohl sie beide wussten, dass sie einander nicht näher kommen sollten.

Asa war ein Dämon und damit kein williger Diener Jenes dort unten, sondern sein Sklave – und damit auch der von Elizabeth.

Verlaine war inzwischen klar, dass Asa den bösen Befehlen, die er erhielt, nicht gerne folgte, aber er hatte keine andere Wahl. In der bevorstehenden Schlacht, wenn Verlaine an der Seite von Nadia und Mateo kämpfen würde, um das Ende der Welt zu verhindern, musste Asa Elizabeth helfen, die Apokalypse herbeizuführen.

Sie würden einander bekämpfen, und nur eine Seite würde überleben.

„Hast du es inzwischen herausgefunden?“, erkundigte sich Asa.

Verlaine spielte mit einer silbernen Strähne ihres Haars. „Was herausgefunden?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort schon kannte.

Sein Ton war hart. „Wie man einen Dämon tötet.“

„Natürlich nicht. So was kann man schließlich nicht einfach auf Wikipedia nachschlagen.“ Sie starrte auf die Haarsträhne um ihren Finger, außerstande, Asa in die Augen zu schauen. „Und du darfst es mir nicht sagen.“

„Wenn ich dir sage, wie du mich töten kannst, dann verrate ich dir, wie man eine der Waffen Jenes dort unten zerstört. Was ein Akt des Ungehorsams gegenüber meinem Meister wäre. Was wiederum zu dauerhaftem Exil führen würde – in … einer Hölle in der Hölle, an einem Ort, der so finster ist, dass ich ihn dir nicht mal beschreiben kann.“

Asa war schon einmal an diesem Ort gewesen, nur ein paar Tage lang – aber diese Tage hatten sich angefühlt wie Jahrhunderte. Es war seine Strafe gewesen, weil er Verlaine vor Schaden bewahrt hatte. Er hatte das für sie ertragen.

Asa lehnte sich gegen den Türrahmen, und es gelang ihm wieder, ziemlich überzeugend den Coolen zu spielen, als er hinzufügte: „Es ist okay für mich, wenn du mich tötest und ich wieder in der Hölle lande. Ich war da immerhin schon ein paar Jahrhunderte lang, und ich weiß, dass ich dorthin zurückkehren muss. Aber so kurz bevor ich den Teufel wiedersehe, möchte ich ihn lieber nicht gegen mich aufbringen.“

„Ich versuche, es herauszufinden. Ich recherchiere.“ Was war das doch für eine Scheißsituation – versprechen zu müssen, den Typen umzubringen, nach dem man verrückt war. Noch schlimmer war es allerdings, selbst dieser Typ zu sein und zu wissen, dass es, egal was passierte, keinen Ausweg für ihn gab.

„Recherchier weiter“, sagte Asa und verschwand.

Er explodierte nicht etwa in einem Ball aus Rauch oder so was. Er hatte ihr erklärt, dass er sich einfach nur schneller bewegen konnte, als das menschliche Auge zu registrieren imstande war, was ihm die Fähigkeit verlieh, sich scheinbar in Luft aufzulösen. Verlaine ging zu der Stelle, wo er gestanden hatte. Sie strahlte noch immer leichte Hitze aus – wie ein warmer Schatten, den er zurückgelassen hatte.

Und nur für den Fall, dass er noch in Hörweite war, rief sie: „Mach nächstes Mal gefälligst die Tür hinter dir zu!“

Die Krähe zog ihre Kreise über Captive’s Sound – höher, als Vögel gemeinhin fliegen können. Die Luft unter ihren Flügeln und in ihren Lungen war dünn, doch sie flog weiter, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ihre Augen waren grau, wie von Spinnweben bedeckt.

Unten auf der Erde, von ihrem Platz neben dem Ofen aus sah Elizabeth, was die Krähe nicht sehen konnte. Um sie herum schimmerte eine Vision dessen, was den Vogel umgab … im Moment Wolken. Sie waren schwer und dick, eisig kalt, begierig, ihren Schnee fallen zu lassen.

Aber heute würde es in Captive’s Sound nicht schneien – und vermutlich auch nie wieder.

Sie legte ihre rechte Hand um die linke und berührte den Jadering an ihrem Mittelfinger, um den Zauber zu erden. Dann beschwor sie die Zutaten.

Dann beschwor sie die spezifischen Erinnerungen dazu, jede einzelne so lebendig, als durchlebte sie sie noch einmal.

„Du möchtest nichts davon? Bist du sicher?“ Ihre Mutter hielt ihr eine Schale mit Eintopf hin, der so appetitlich duftete, dass der Hunger sich in Elizabeths leeren Magen zu krallen schien. Doch das Kind Elizabeth schüttelte den Kopf. Wenn sie nur lange genug die Nahrung verweigerte, dann würden die anderen schon merken, dass es eine schreckliche Idee gewesen war, in die Neue Welt zu kommen, und das nächste Schiff zurück nach England nehmen.

Sie wusste, dass schon Mitternacht war und sie im Morgengrauen aufstehen musste, um sich um ihre Nichten und Neffen zu kümmern, blieb aber trotzdem am Feuer sitzen, weil sie nur zu dieser Stunde die Ruhe für ihre ersten zögerlichen Versuche in schwarzer Magie hatte.

„Komm her, und verabschiede dich von uns.“ Tante Ruth lächelte ihr zu. Es war Elizabeths Hochzeitstag: eine Ehe, die sie nicht wollte, mit einem Mann, den sie verabscheute, nur weil ihre Familie es sich nicht mehr leisten konnte, sie zu ernähren. Normalerweise verbarg Elizabeth ihre wahren Gefühle, doch an jenem Tag wandte sie sich brüsk ab und tat so, als ob sie den verletzten Ausdruck in den Augen ihrer Tante nicht gesehen hätte.

Es war vollbracht. Die Wolken um die Krähe herum veränderten sich. Sie standen unnatürlich still, hatten aufgehört am Himmel entlangzuziehen und trotzten allen Winden, als wären sie nur gemalt und nicht echt.

Sie würden erst bersten, wenn die Zeit reif war – und auf Elizabeths Befehl hin die Erde überschwemmen. Diese Flut würde den Anfang vom Ende markieren.

2. KAPITEL

Die Isaac P. Rodman Highschool hatte seit Beginn des Schuljahrs mehr Probleme als üblich. Ein paar Elftklässler wurden dabei erwischt, wie sie bei einem Test schummelten. Irgendjemand demolierte Mr. Cranes Wagen. Das Football-Team beendete die Saison mit zwei Siegen und elf Niederlagen. Mrs. Purdhy, die ehemalige Ballkönigin Riley Bender, der Vater einer Schülerin und etliche Schüler waren von einer mysteriösen Krankheit niedergestreckt worden, die im November die ganze Stadt lahmlegte, zwei der Opfer waren auf dem Schulgelände kollabiert. Dieselbe Krankheit sorgte für den Totalausfall mancher Kurse und einer überdurchschnittlich hohen Quote an Fehlzeiten. Dann, kurz vor Thanksgiving, hatte auch noch ein leichtes Erdbeben den noch übrigen Lehrbetrieb unterbrochen und einen Großteil des technischen Equipments der Schule beschädigt. Und auch die Bewerbung der Schule um Ausrichtung der regionalen Chor-Meisterschaft war schon wieder abgelehnt worden.

Hätte man die einzelnen Lehrer oder Schüler gefragt, wäre die einhellige Meinung gewesen, man sollte im Januar besser noch mal frisch durchstarten. Doch Zeit, Gezeiten und Prüfungen würden auch diesmal auf niemanden warten.

Es galt, die verlorenen Stunden nachzuholen. Daher wurde drei Wochen vor Weihnachten der Unterricht wieder aufgenommen.

Nadia schulterte ihren Rucksack und betrat die Rodman High. Vielleicht war es blöd, dass der Gedanke, wieder zur Schule zu gehen, sie nervöser machte als ihre Treffen mit Elizabeth, aber so war es.

Sie konnte es sich nicht leisten, wegen Elizabeth durchzudrehen. Also lenkte sie ihre ganzen Ängste auf die Highschool. Seit dem grässlichen Tag, an dem alles auseinandergefallen war, hatte sie Mateo nicht mehr gesehen – oder Verlaine oder Faye –, und sie war sich nicht sicher, wie sie damit umgehen sollte. Ganz beiläufig, nach dem Motto: „Hi, wie ist es euch denn so ergangen, seit ich von den bösen Mächten verführt wurde?“

Neben Nadias Spind wartete Verlaine. Zu Nadias Überraschung lächelte sie. „Hey. Ich habe mich schon gefragt, ob du dich hier blicken lässt.“

„Ich muss ja wohl. Dad weiß nichts von …“ Nadias Stimme erstarb, als sie sich die vielen Geheimnisse vor Augen führte, von denen ihr Vater nichts wusste und nichts wissen durfte, weil die Ersten Gesetze verboten, ihn überhaupt darüber in Kenntnis zu setzen, dass Magie wirklich existierte.

„… deinen außerschulischen Aktivitäten“, vollendete Verlaine den Satz für sie. „Also kommst du gerade noch rechtzeitig in den unvergleichlichen Genuss der Rodman High, um den unglaublichen Adrenalinkick der Prüfungen mitzunehmen.“

Nadia lächelte etwas angestrengt. „Danke.“

„Wofür?“

„Dass du so tust, als sei alles normal.“

Verlaine zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, dass ich diejenige sein muss, die es dir schonend beibringt – aber schwarze Magie, die unser Leben ruiniert? Das ist praktisch das neue Normal.“

„Wenn du bloß nicht so recht hättest.“

Wenigstens hielt ihre beste Freundin noch zu ihr. Nadia war sich da nach ihrer letzten Begegnung nicht so sicher gewesen, aber Verlaine hatte wohl einfach nur ein paar Tage gebraucht, um wieder einen klaren Kopf zu kriegen. Sie ist stärker, als mir klar war, dachte Nadia. Verlaine lässt das Unheimliche an sich abperlen. Sie würde sich niemals davon beeinflussen lassen.

Und doch fiel es Nadia schwer, wirklich daran zu glauben. Denn die Dunkelheit trennte Menschen von der Welt, isolierte sie. Sie konnte es bereits spüren. Und früher oder später würde Verlaine es auch spüren.

Und dann …

Sie sah Mateo nicht hereinkommen. Hörte seine Stimme auch nicht aus dem Geräuschpegel heraus, der im Gang herrschte. Stattdessen fühlte sie seine Gegenwart – wie elektrische Spannung, die über ihre Haut prickelte.

Irgendwie wusste sie, dass er sie von hinten umarmen würde, bevor sie seine Berührung spürte. Nadia lehnte sich in die Umarmung hinein, genoss die Kraft seiner Arme und den Druck seiner kräftigen Brust an ihrem Rücken. Das waren die einzigen Momente, in denen sie sich noch sicher fühlte – wenn sie bei Mateo war.

„Hey“, murmelte er und küsste sie auf die Wange. „Ich habe dich vermisst.“

„Ich dich auch.“ Nadia drehte den Kopf zur Seite und sah ihn an. Sie konnten jetzt nicht mehr so oft zusammen sein, denn als ihr Adjutant multiplizierte Mateo allein durch seine Anwesenheit ihre magischen Kräfte um das Zehnfache. Das war großartig gewesen, solange er ihre guten Zauber befeuerte. Aber da er dasselbe Potenzial bei den zerstörerischen Zaubern besaß, die sie mit Elizabeth wirkte, war es plötzlich gar nicht mehr so großartig. Nadia versuchte immer noch herauszufinden, exakt welche Konsequenzen die neue Situation für sie beide hatte.

Es konnte nicht bedeuten, dass sie sich nun auf ewig von ihm fernhalten musste. Das war unmöglich, musste unmöglich sein.

Verlaine räusperte sich. „Drei Uhr.“

„Was?“ Nadia wandte sich um. Mateo, der endlich merkte, dass Verlaine auch da war, winkte ihr kurz zu.

„Drei Uhr“, wiederholte Verlaine im lauten Flüsterton. Dann stellte sie sich etwas aufrechter hin und blickte dem Neuankömmling entgegen, der direkt auf die drei zumarschierte.

„Gage!“ Mateo ließ Nadia los und stellte sich halb vor sie, wobei er darauf achtete, dass sein Körper einen Schild zwischen ihr und Gage bildete.

Was in gewisser Weise superunfair war, denn Gage Calloway war freundlich, lustig und ungefähr zu fünfundneunzig Prozent weniger neurotisch als die restliche Bevölkerung von Captive’s Sound. Wobei Nadia einräumen musste, dass es gute Gründe für Neurosen gab, wenn man in einer Stadt aufwuchs, die komplett von schwarzer Magie geflutet war.

Auch jetzt grinste er fröhlich, den Rucksack lässig über eine Schulter geworfen, und schien nichts anderes auf der Welt zu wollen, als seinen Freunden Hallo zu sagen.

Doch sie wussten etwas über Gage, was er selbst nicht ahnte: Er war Elizabeth Pike hörig.

Laut Mateo war Gage schon immer in Elizabeth verknallt gewesen; natürlich hatten sie ihm nie erzählt, wer und was das Objekt seiner Begierde wirklich war. Nadia hätte sich nie träumen lassen, dass Elizabeth Gages Gefühle für ihre Zwecke missbrauchen könnte. Doch genau das hatte sie getan: Sie hatte ihn verführt und zu ihrem Thrall gemacht – ihrem Leibeigenen. Das bedeutete, dass Gage jederzeit, von einer Sekunde auf die andere, aufhören konnte, er selbst zu sein, und stattdessen alles täte, was Elizabeth ihm auftrug, egal wie böse es war. Hinterher würde er sich nicht mal mehr daran erinnern.

So, wie er sich nicht mehr daran erinnerte, dass er vorige Woche versucht hatte, Mateo umzubringen.

„He, Leute, wie geht’s?“ Er schlug Mateo auf die Schulter, nicht fest, nur aus Spaß, aber Nadia zuckte zusammen. Gage bemerkte es nicht. „Geht’s dir wieder besser?“

„Ja klar“, erwiderte Mateo. „Ich, äh, musste nur wieder mit den Tabletten anfangen.“

„Gut, das freut mich. Und, hey, Verlaine, dein Dad war doch einer von den Leuten, die krank waren, stimmt’s? Wie geht es ihm denn?“

Allein die Tatsache, dass Gage – dass irgendjemand – sich an ihre Existenz erinnerte, brachte Verlaine zum Strahlen. „Onkel Gary geht’s super. Er muss zwar noch furchtbar langweilige Sachen wie Toast und Hühnerbrühe essen, worüber er ausgiebig jammert, aber davon abgesehen ist er wieder ganz der Alte.“

„Prima.“ Gage nickte, schien dann aber zu bemerken, wie angespannt die Stimmung war. „Äh. Also dann. Mateo, wir sehen uns später in Geschichte?“

„Auf jeden Fall.“ Mateo schaute seinem Freund hinterher und wandte sich dann wieder Nadia zu. „Wir können ihn doch nicht einfach so weitermachen lassen. Gibt es denn nichts, was wir tun können?“

„Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber möglicherweise kann ich ja Elizabeth etwas entlocken.“ Je länger Nadia über diese Idee nachdachte, desto sicherer fühlte sie sich. Wenn sie Elizabeth interessierte Fragen über dunkle Magie stellte, würde sich das für die so anhören, als ob Nadia allmählich auf ihre Seite wechselte – und damit wirklich in die Gewalt Jenes dort unten geriet. Elizabeth würde gar nicht darauf kommen, dass Nadia sich Sorgen um Gage machte; sie glaubte nicht, dass einem wirklich etwas an anderen Menschen liegen konnte. „Heute Abend. Ich frage sie heute Abend.“

Mateo machte ein langes Gesicht. Offenbar hatte er geplant, den Abend mit ihr zu verbringen.

Nadia nahm seine Hand. „Danach könnte ich ja ins La Catrina kommen?“

Er lächelte, doch Verlaine erhob Einspruch. „Ich störe das junge Glück nur ungern, aber ich muss wirklich dringend mit dir reden, Nadia. Meinst du, wir kriegen das gleich nach der Schule hin?“

„Ja. Klar.“ Nadia ärgerte sich etwas, da sie schon versprochen hatte, am Nachmittag mit Cole zu spielen. Und noch mehr Verpflichtungen, zusätzlich zu allem anderen, was sie gerade am Hals hatte, passten ihr nun wirklich nicht in den Kram. Aber das war nur die schwarze Magie, die Verlaine umgab, rief sie sich in Erinnerung. Sie versucht, dich dazu zu bringen, sie wegzustoßen. Lass sie nicht gewinnen.

„Na gut, dann gehe ich jetzt mal in meinen Literaturkurs – mit dem heißen Dämon am Nebentisch.“ Verlaine strich sich eine lange Haarsträhne hinters Ohr. „Lass mich wissen, wenn du irgendwas brauchst, okay?“

„Okay.“ Dann erst sickerten Verlaines Worte in ihr Bewusstsein, mit ein paar Sekunden Verspätung, wie so oft. „Moment Mal. Habe ich da gerade ‚heißer Dämon‘ gehört?“

Verlaines Augen weiteten sich. „Ähm, ich meinte das wörtlich. Also buchstäblich heiß. Du weißt doch, Asa heizt alles um sich herum auf.“

„Oh ja. Genau“, murmelte Nadia. Verlaine hastete ziemlich überstürzt davon. Mateo schüttelte lächelnd den Kopf. Dann sagte er leise zu Nadia: „Nicht mal Verlaine würde etwas so Abgefahrenes tun, wie einen Dämon zu daten.“

Nadia nickte langsam. Aber Verlaine war so verdächtig verlegen geworden. Und Asa hatte versucht, sie alle zu manipulieren, indem er ihnen versprach, was sie sich am meisten wünschten.

Sie wusste, dass Verlaine sich nichts auf der Welt mehr wünschte als jemanden, der sie wahrhaft liebte. Da wäre ihr jeder recht.

Sogar ein Dämon.

Verlaine war völlig klar, dass Nadia absolut keine Lust hatte, sich nach der Schule mit ihr zu treffen. Sie war mittlerweile richtig gut darin, Signale von Leuten aufzufangen, die nicht in ihrer Nähe sein wollten.

Tut mir ja echt wahnsinnig leid. Aber das Gespräch, das sie mit Nadia führen musste, war so wichtig, dass es keinen Aufschub duldete.

Doch der Krieg gegen die Mächte des Bösen war nicht das Einzige, was sie gerade beschäftigte. Als die Mittagspause nahte, ging Verlaine nicht in die Kantine, sondern schmuggelte ihr Sandwich auf den Parkplatz hinaus und setzte sich in ihr Auto. Der riesige alte Wagen verfügte über eine großartige Heizung; binnen Sekunden würde ihr mollig warm sein.

Außerdem musste sie gegen eine Versuchung ankämpfen, der sie vermutlich erliegen würde.

Verlaine wusste, dass sie die College-Empfehlungen ihrer Lehrer eigentlich nicht lesen sollte. Aber wenn die den Umschlag so einladend unverschlossen ließen … wenn das Schreiben einem praktisch zuzwinkerte, die Buchstaben beinahe sichtbar – wer könnte da widerstehen?

Grinsend ließ Verlaine die Blätter aus dem Umschlag gleiten.

Und las.

Und hätte am liebsten losgeheult.

Das nennt man wohl Karma, dachte sie. Das hast du nun davon, dass du die Regeln brichst: einen Schlag ins Gesicht.

Aber vielleicht war es ja doch besser, dass sie es getan hatte. Denn diese Beurteilungen waren nicht gut.

Sie waren auch nicht direkt schlecht. Niemand hatte geschrieben: „Verlaine Laughton ist eine künftige Serienmörderin und zudem wahrscheinlich alkoholsüchtig!“ – oder etwas ähnlich Grässliches. Sie wünschte sich fast, dass es so wäre. Grässlich war zumindest interessant und, hey, vielleicht hatten die Ivy-League-Unis ja eine Soziopathen-Quote, die sie erfüllen mussten. Diese Beurteilungen hier waren schlimmer als schlecht. Sie waren langweilig.

„Verlaine Laughton nimmt rege am Unterricht teil. Ms. Laughton erledigt alle Aufgaben zufriedenstellend. Bis auf eine kurze Krankschreibung im Oktober gibt es keine Fehlzeiten.“ Und so weiter.

„Keine Fehlzeiten?“, murmelte sie, die Papiere auf ihrem Schoß verstreut. „Das Beste, was ihr über mich sagen könnt, ist, dass ich nicht schwänze?“

Verlaine überschlug sich fast, um in der Schule zu glänzen. Sie tat mehr für den Lightning Rod, die Schulzeitung, als die restlichen Mitglieder der Redaktion zusammengenommen – inklusive des Journalismus-Lehrers. Sie machte jede verdammte Extrahausaufgabe in jedem verdammten Kurs, um Punkte zu sammeln. Dazu freiwillige Aktivitäten, außerschulisches Engagement beim Guardian und in einem Wanderclub, außerdem war sie in Geschichte und Infinitesimalrechnung im Advanced Placement Program, kurz AP, das Kurse auf College-Niveau anbot. Ein trostloses Schuljahr lang hatte sie sogar die Gangaufsicht übernommen – all das in der Hoffnung, dass wenigstens ihre Lehrer erkennen würden, dass Verlaine etwas zu bieten hatte.

Aber das war vergebliche Liebesmüh gewesen.

Sie wusste inzwischen, dass schwarze Magie der Grund für diese Missachtung war. Trotzdem fühlte sie sich mit diesem Wissen nicht besser.

Mit diesen Beurteilungen kann ich Yale knicken. Ich kann von Glück sagen, wenn ich damit auf die University of Rhode Island komme. Verlaine hatte immer darauf gehofft, irgendwo anders studieren zu können, möglichst weit weg von Capitve’s Sound. Doch Elizabeths Bosheit hatte ihr sogar diese Chance gestohlen.

Stöhnend legte sie den Kopf aufs Lenkrad. Ihr langes Haar umfloss sie wie ein Vorhang, der sie von der Welt abschirmte.

Die Situation hat auch ihr Gutes, sagte sie sich. Höchstwahrscheinlich geht demnächst die Welt unter. Damit erledigt sich die College-Frage dann ganz von selbst.

Nein. Das half auch nicht.

„Wie tötet man einen Dämon?“

Nadia sah Verlaine warnend an und deutete mit dem Kopf Richtung Wohnzimmer, wo Cole vor dem Fernseher saß. Zum Glück schien ihr kleiner Bruder völlig abgelenkt von „Die Pinguine aus Madagaskar“; daher flüsterte sie nur: „Sprich leiser, okay?“

„Ach, komm schon. Er würde höchstens denken, dass wir über ein Computerspiel oder so was reden.“ Verlaine wirkte sehr viel ungeduldiger als üblich – und deutlich Furcht einflößender. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt. Nadia war heilfroh, dass Verlaines Zorn nicht ihr galt. „Ich muss wissen, wie man Asa ausschaltet. Du darfst das nicht mehr tun, stimmt’s? Wenn du einen Diener Jenes dort unten tötest, dann hat das irgendwelche Konsequenzen für dich, oder?“

„Ich glaube schon“, stimmte Nadia zu, obwohl sie da nicht ganz sicher war. „Aber Asa ist nun wirklich nicht unsere oberste Priorität. Das eigentliche Problem ist Elizabeth. Warum bist du plötzlich so heiß darauf, ihn umzubringen? Hat er dir etwas getan?“

Verlaine trat ein paar Schritte zurück, schlang die Arme um ihren Oberkörper und lehnte sich an die Küchenwand. „Nein. Aber … wir biegen doch gerade in so eine Art Zielgerade ein, nicht wahr? Kann also sein, dass ich ihn töten muss. Und dann sollte ich wissen, wie es geht.“

Nadia war sicher, dass mehr dahintersteckte, als Verlaine durchblicken ließ. Ihre Freundin hatte immer für Asa eingestanden und ihn so leidenschaftlich verteidigt, dass Nadia sogar ihre eigene Verachtung für ihn in Zweifel gezogen hatte. Dämonen waren zwar böse, aber eben auch versklavt. Asa hatte keine andere Wahl, als den Befehlen Jenes dort unten zu folgen. Und wenn er nicht versuchte, Psychospielchen mit ihnen zu treiben, konnte er beinahe … interessant sein.

Aber trotzdem hatte Verlaine recht. Schon bald könnten sie alle aufgerufen sein, ihre persönlichen Grenzen zu überschreiten und zu verzweifelten Maßnahmen zu greifen. Sogar zu töten. Verlaine verfügte über die wenigsten Kräfte von ihnen; sie konnte weder hexen wie Nadia noch in die Zukunft schauen wie Mateo. Daher verdiente sie jede Chance, die Nadia ihr verschaffen konnte.

Wenigstens bewies ihr Wunsch, dass sie nicht in Asa verknallt war. Nadia war erleichtert; sie hätte wissen müssen, dass Verlaine nicht so tief sinken würde.

Sie lehnte sich aus der Küchentür und rief Cole zu: „Hey, Kumpel, Verlaine und ich gehen kurz auf den Dachboden. Ist es in Ordnung, wenn wir etwas später mit deinen Autos spielen?“

„Gleich nach ‚Madagaskar‘!“, sagte Cole, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.

„Abgemacht.“ Er hatte bestimmt zwei oder drei Folgen auf der DVD, das ließ ihnen reichlich Zeit, durch Gevatterin Hales „Buch der Schatten“ zu blättern.

Gevatterin Hale war eine mächtige Hexe gewesen, die zu der Zeit lebte, als Elizabeth jung war. Nadia und Mateo hatten ihr Jahrhunderte altes Zauberbuch aus seinem Versteck tief unter dem Wasser des Sunds geborgen. Die Magie, die es enthielt, hatte das Buch vor der Feuchtigkeit geschützt und ihm diesen besonderen Glanz verliehen, den nur Mateo sehen konnte – dank seiner Adjutanten-Kräfte. Das passierte mit allen „Büchern der Schatten“, die mächtigen Hexen gehörten: Sie entwickelten im Laufe der Zeit ihre eigene Magie, manche sogar eine Art eigenes Bewusstsein.

Wie Elizabeths furchtbares Buch, das einmal versucht hatte, Nadia zu töten …

Sie unterdrückte ein Schaudern und ließ die Holzleiter zum Dachboden nach unten rattern. Die Mädchen kletterten in den Raum, den Nadia zu ihrer Privatzone erklärt hatte. Die große viktorianische Villa, in die die Caldanis vor ein paar Monaten gezogen waren, war zwar ebenso windschief wie romantisch, aber Nadia liebte das Haus. Wo sonst hätte sie einen so wunderbaren Platz für ihre Magie gefunden? Ein paar übergroße Kissen am Boden und eine Schale voller Mini-Schokoriegel sorgten für Behaglichkeit – und dafür, dass ihr Dad, wenn er denn mal seinen Kopf durch die Dachluke steckte, hoffentlich gar nicht erst auf den Gedanken kam, dass das hier etwas anderes sein könnte als ein netter Rückzugsort für seine Teenager-Tochter.

Er blieb nie lange genug, um das Tuch zurückzuziehen, das Nadia über ihre Gläser mit Hexen-Utensilien gebreitet hatte. Er bemerkte die Prismen nicht, die vor den Fenstern hingen, und hatte keine Ahnung, dass die Decke aus einem bestimmten Grund blau gestrichen war. Und er schob niemals die Taschenbücher beiseite, hinter denen Nadia die „Bücher der Schatten“ versteckte.

Verlaine setzte sich im Schneidersitz neben sie. Nadia nahm erst ihr eigenes „Buch der Schatten“ zur Hand und drückte leicht gegen den Deckel – ihre Art, Hallo zu sagen. Es war wichtig, sein „Buch der Schatten“ zu begrüßen, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Erst dann griff sie zu Gevatterin Hales Zauberbuch …

„Autsch!“ Nadia zog ihre Hand so hastig zurück, dass das Buch zu Boden fiel. Ihre Fingerspitzen brannten wie nach einem Stromstoß. „Liegen vielleicht Scherben am Boden?“ Nadia konnte sich zwar nicht daran erinnern, etwas zerbrochen zu haben, aber vielleicht hatte Cole sich ja heimlich hier reingeschlichen.

„Nein. Nichts.“ Verlaine hob das Zauberbuch auf und drehte es um. „Hat dich eine Spinne oder so was gebissen?“

„Hoffentlich nicht.“ Sie schauderte bei der Erinnerung an die Tausenden von Spinnen in Elizabeths Haus. „Gib her, ich werde … aua!“

Wieder versetzte das „Buch der Schatten“ ihr einen Schlag, schlimmer diesmal, und Nadia zuckte zurück. Die Wahrheit dämmerte ihr und hinterließ ein furchtbar ungutes Gefühl in ihrem Bauch.

Verlaine schaute von Nadias Gesicht zu dem Zauberbuch, dann wieder zurück. „Was ist los?“

„Das ‚Buch der Schatten‘ hat mich abgewiesen. Es weiß, dass ich mit Elizabeth zusammenarbeite.“

„Es ist ein Buch. Wie kann es das wissen? Nein, anders gefragt: Wie kann es überhaupt etwas wissen?“

„Es weiß Bescheid“, wiederholte Nadia.

Das Zauberbuch weiß, dass ich mich an das Böse gebunden habe.

„Wow. Abgefahren. Und irgendwie ziemlich unheimlich.“ Verlaine biss auf ihre Unterlippe. „Kannst du es immer noch benutzen?“

Nadia holte tief Luft. Sie konnte ja wohl ein einfaches Buch austricksen, egal wie übersinnlich es war. Sie durfte ihr Ziel nicht aus den Augen verlieren, an einen Punkt zu gelangen, an dem sie das Band, das sie an Elizabeth und Jenen dort unten fesselte, dauerhaft kappen konnte. „Ich kann es noch benutzen, aber nur durch dich.“

„Durch mich?“

Vielleicht könnte Mateo es ebenfalls benutzen, aber Nadia war immer noch unsicher, welchen Effekt ein männlicher Adjutant haben würde. Also nickte sie. „Nimm es. Überflieg die Seiten. Du wirst vermutlich nicht alles verstehen, aber du musst einfach nur nach Hinweisen auf Dämonen Ausschau halten.“

Verlaine musterte den klobigen Schinken auf ihrem Schoß. „Ich schätze mal, auf ein Inhaltsverzeichnis zu hoffen erübrigt sich?“

„Kein Inhaltsverzeichnis.“ Nadia hatte das Buch bereits von vorn bis hinten durchgeblättert, sich Notizen gemacht und versucht, so viel wie möglich daraus zu lernen. Mit einem so alten handschriftlichen Zauberbuch zu arbeiten war ungefähr so mühsam, wie sich ohne Karte Wege durch den Wald zu merken. „Ich weiß, dass da nichts drinsteht, was sich direkt auf das Töten von Dämonen bezieht, denn das habe ich gleich, nachdem Asa aufgetaucht ist, nachgeschlagen. Aber es gibt vermutlich Hinweise, aus denen sich irgendwas erschließen lässt. Schreib einfach alles auf, und komm dann wieder her.“

„Willst du damit sagen, dass ich das ‚Buch der Schatten‘ mitnehmen soll?“

„Ich kann hier sowieso nichts damit anfangen. Nimm am besten gleich beide.“ Nadia deutete auf das zweite fremde Zauberbuch in ihrem Besitz. Dieses hatte Faye Walshs Mutter gehört, und Nadia hatte noch keine Zeit gefunden, es zu erforschen. „Ich glaube nicht, dass eins der beiden Bücher noch etwas mit mir zu tun haben will. Aber geh sorgsam damit um.“

„Die uralten unbezahlbaren Zauberbücher nicht als Kaffeetassen-Untersetzer missbrauchen. Alles klar.“ Verlaine grinste ihr zu, und Nadia brachte ein mühsames Lächeln zustande.

Doch im weiteren Verlauf des Abends, während sie mit Cole spielte und dann die Gemüsepfanne fürs Abendessen zubereitete, konnte sie nur daran denken, wie das Buch sie mit diesem grässlichen brennenden Stechen abgewiesen hatte. Der physische Schmerz war nicht schlimm gewesen, den hätte sie schnell wieder vergessen. Vielmehr tat ihr die Erkenntnis weh, wie sehr sie sich bereits verändert haben musste. Ihr eigenes „Buch der Schatten“ war dafür kein Indikator, denn es spiegelte Nadias Persönlichkeit – je dunkler sie selbst wurde, desto dunkler wurde auch ihr Zauberbuch. Die Magie hatte sich für sie verändert, möglicherweise für immer.

Aber nicht die dunkle Magie. Die liebt mich noch.

Nadia beschloss, nicht weiter an Magie zu denken, weder an die dunkle noch an die andere, bis sie am späteren Abend Elizabeths Aufforderung folgen musste. Sie konnte das Ziehen schon spüren, diesen seltsamen Sog, mit dem Elizabeth Nadia an ihre Seite rief. Sie würde ihm nicht mehr lange widerstehen können.

Sie schickte Mateo eine SMS, dass sie nicht ins La Catrina kommen konnte – auch wenn sie sich verzweifelt danach sehnte, ihn zu sehen. Aber wenn sie ihn traf, musste sie ihm erzählen, was passiert war, und im Moment könnte sie es nicht ertragen, darüber zu sprechen.

Also quälte sie sich durch ein Abendessen mit der Familie, nickte, wenn ihr Dad etwas sagte, und lachte über die albernen Witze ihres kleinen Bruders – und verschloss ihre wahren Gefühle tief in ihrem Herzen. Doch egal, was sie hörte oder sagte, die Stimme in ihrem Kopf wiederholte unermüdlich dieselben Worte. Du kannst niemals mehr das sein, was du warst.

Nie wieder.

„Mom? Dad? Ich gehe noch mal weg!“, rief Asa.

Die Prasads waren nicht seine Eltern. Sie waren die Eltern eines Jungen namens Jeremy, der arrogant, sexistisch, verwöhnt und grausam gewesen war. Asa wusste, dass Elizabeth trotzdem kein Recht gehabt hatte, Jeremy zu ermorden und seinen Körper Asa zu überlassen. Aber der Typ war derart scheiße gewesen, dass sein schlechtes Gewissen sich in Grenzen hielt.

Er fand, dass er einen guten Jeremy abgab. Besser als das Original. Immerhin hatte er seinen Notendurchschnitt schon deutlich hochgezogen, obwohl er seine Hausaufgaben irgendwie mit den Diensten für Jenen dort unten vereinbaren musste. Es war eben nicht sehr wahrscheinlich, dass seine Lehrer Entschuldigungen akzeptieren würden, die vom Herrn der Hölle unterzeichnet waren.

Zwar hatten Jeremys alte Kumpel ihm den Rücken gekehrt, weil er ihnen „zu langweilig“ war, aber buchstäblich jeder andere, mit dem Asa in Kontakt kam, schien freudig überrascht von der Verwandlung eines widerlichen Arschlochs in einen … nun ja, okay, Dämon, dessen Hauptaufgabe es war, ihre Welt zu zerstören, aber zumindest handelte es sich um einen höflichen Dämon.

Asa war dabei, in seinen schwarzen Mantel zu schlüpfen, als Mrs. Prasad in den Flur kam und ihm liebevoll die Schulter tätschelte. „Du bist doch zur vereinbarten Zeit wieder da?“

Jeremy hatte absurd lange Ausgang gehabt – trotzdem kam es Asa so vor, als ob er diese großzügige Erlaubnis meist nur dadurch zur Kenntnis nahm, dass er sie überzog. „Klar. Selbstverständlich.“

Sie strahlte ihn an. „Während du unterwegs bist, backe ich vielleicht ein paar Zimtcookies. Die mochtest du als kleiner Junge immer so gern!“

Offenkundig floss Mrs. Prasad vor Liebe zu ihm geradezu über, und es waren Momente wie dieser, in denen das Schuldgefühl sich in seine Seele fraß. Wenn er an seine neue Familie dachte und mitbekam, wie Mrs. Prasad ihren Sohn geradezu anbetete, wurden Erinnerungen an die Schwester wach, die er vor so langer Zeit verloren hatte, dass er kaum mehr wusste, wie ihr Gesicht ausgesehen hatte …

„Das wäre toll“, sagte er und zwang sich, ihr Lächeln zu erwidern.

Es war eine Erleichterung, endlich draußen zu sein und durch die Straßen von Captive’s Sound zu laufen. Obwohl inzwischen fast kein Laub mehr an den Bäumen hing, deren kahle Äste nach dem grauen Himmel zu greifen schienen, hatte es seit Thanksgiving nicht mehr geschneit. Asa war einer der wenigen, die wussten, dass das seinen Grund hatte.

Bald werden es alle wissen, dachte er. Nicht mal die skeptischsten Einwohner der Stadt würden darum herumkommen, zu erkennen, was Sache war.

Als er Elizabeths Haus erreichte, hatte sie den Zauber schon vorbereitet, was ihm nur recht war. Asa schaute ihr nicht gerne dabei zu, wie sie etwas tötete. Nicht dass es ihm Spaß machte, auf Krähen-Innereien zu starren, aber immer noch besser, als live mitzuerleben, wie das arme Vieh abgeschlachtet wurde. Hoffentlich hatte sie es schnell erledigt. Asa machte einen Schritt über das Vogelgedärm am Boden hinweg. „Ich bin immer wieder beeindruckt, wie stilvoll du dich hier eingerichtet hast.“

Elizabeth ignorierte seine Bemerkung. Sie war immun gegen Humor – wie auch gegen jede andere menschliche Gefühlsregung. „Nadia müsste bei dir sein.“

„Hätte ich sie etwa einsammeln sollen? Von einer Fahrgemeinschaft hat mir keiner was gesagt.“

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