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P.I.D. 3 - Entfesselte Schuld

hier erhältlich:

Ein neuer Fall für die P.I.D. Mic Thorne kämpft täglich gegen das Böse dieser Welt - und gegen die Bilder seiner Vergangenheit. Vor Jahren fiel seine Frau einem brutalen Serienmörder zum Opfer. Als nun die neue Mandantin Anna Catalano auftaucht und das Team der P.I.D. bittet, die Unschuld ihres Vaters zu beweisen, stürzt Mics mühsam geflicktes Leben erneut in sich zusammen. Obwohl sein Verstand es anders will, nimmt Mic den Auftrag an. Nicht nur, weil die atemberaubende Anna eine Sehnsucht in ihm auslöst, die er auf ewig verloren glaubte. Ihre Informationen wecken auch tiefe Zweifel in ihm: Was, wenn der Killer noch auf freiem Fuß ist?

Der dritte Teil der P.I.D.-Serie von Andrea Bugla.

P.I.D. 1 - Im Visier der Vergangenheit
P.I.D. 2 - Gefährliche Hingabe


  • Erscheinungstag: 30.04.2016
  • Aus der Serie: P.I.D.
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 460
  • ISBN/Artikelnummer: 9783733785673
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dieses Buch widme ich allen, die jeden Tag aufs Neue den Kampf gegen ihre inneren Dämonen aufnehmen. Gebt nicht auf!

PROLOG

„Du hältst dich für so schlau. Aber bist du das wirklich? Verwettest du darauf das Leben deiner Liebsten? Ich gebe dir 24h Zeit. Vielleicht hat deine Gattin ja mehr Glück als Oreithya.“

Die Nachricht, die vor Stunden unter dem Scheibenwischer geklemmt hatte, lag bei der Spurensicherung, wo sie in der Hoffnung auf eine heiße Spur analysiert und seziert wurde. Doch Special Agent Michael Thorne brauchte den Zettel nicht, um sich an die Unglück verheißenden Worte zu erinnern. Jedes einzelne brannte ein immer tiefer werdendes Loch in sein Innerstes, als er in die Wakefield Road einbog. Weil er viel zu schnell unterwegs war, konnte er nicht verhindern, dass er trotz einer scharfen Bremsung den Streifenwagen touchierte, der gleich hinter der Ecke parkte. Sein Partner neben ihm schrie auf und fluchte dann ungehalten. Letzteres galt nicht dem Aufprall, sondern dem Bild, das sich ihnen bot. Unzählige Einsatzfahrzeuge der Polizei und einige weitere des Rettungsdienstes standen kreuz und quer auf der Straße. Gelbes Absperrband fasste das Grundstück ein und hielt die Schaulustigen und die Presseleute davon ab, näher zu treten.

Michael wurde übel. Seine Finger krampften sich um das Lenkrad, sein Blick ging starr geradeaus. Er kam zu spät. Aber das durfte nicht sein. Er hatte doch noch Zeit. Die Frist war noch nicht abgelaufen, verdammt nochmal!

„Vielleicht sollte ich erst mal allein nachsehen gehen, was los ist“, schlug Simon mit dünner Stimme vor.

Ein einziger Blick genügte, um seinen Partner zum Schweigen zu bringen. Nichts und niemand würde Michael davon abhalten, es selbst herauszufinden. Er löste die Finger vom Lenkrad, öffnete die Tür und stieg aus. Den Dienstausweis bereits in der Hand eilte er auf das Haus zu, ohne auf Simon zu warten. Sein Herz raste, und sein Atem ging stoßweise. Die Beine drohten unter ihm nachzugeben, doch Michael zwang sie unnachgiebig weiter voran. Mit jedem Schritt flackerten vor seinem inneren Auge die Bilder derer auf, die diesem Wahnsinnigen bereits zum Opfer gefallen waren.

Seit Monaten schon versuchte das FBI den Eastcoast-Rubens-Killer − wie die Presse ihn medienwirksam getauft hatte −, zu fassen. Doch jedes Mal, wenn sie glaubten, es gelänge ihnen endlich, tauchten irgendwo neue Opfer auf.

Dieses Mal jedoch war alles anders. Dieses Mal hatte es eine Vorwarnung gegeben. Und dieses Mal war es wichtiger denn je, die Tat zu verhindern. Denn dieses Mal war es persönlich!

Michael schob sich durch die Menschentraube und schlüpfte unter dem Absperrband durch. Simon hatte längst aufgeholt und bückte sich ebenfalls darunter hinweg, ehe Michael das Absperrband losließ. Als sich ihnen ein Polizist in den Weg stellte, hoben sie, ohne sich aufhalten zu lassen, die Ausweise. Drei Mal mussten sie die Prozedur wiederholen, ehe sie das zweistöckige Backsteingebäude mit dem schwarzen Dach, den blau umfassten Fenstern und den bunt bepflanzten Blumenkübeln neben dem Eingang erreichten. Hier wurden sie dann doch zum Anhalten gezwungen.

Ein Detective stellte sich ihnen in den Weg. „Das FBI?“ Er betrachtete die Ausweise genauer. „Wow, Leute, ihr seid aber flott. Ich habe doch erst vor zehn Minuten angerufen.“ Er nahm seine Mütze ab und rieb sich mit dem Unterarm über die Stirn.

„Wir haben einen Tipp bekommen. Es könnte sich um ein weiteres Opfer des Eastcoast-Rubens-Killers handeln“, erklärte Michael mit belegter, aber bemüht geschäftsmäßig klingender Stimme.

„Ja, das dachte ich mir auch. Deshalb habe ich ja sofort angerufen, als wir die Tote gesehen haben.“

Eine Frau! So sehr sich Michael an den letzten Rest Hoffnung zu klammern versuchte, sie entglitt ihm mehr und mehr.

„Handelt es sich bei dem Opfer um die Hausbesitzerin?“, fragte Simon, während sein Blick über die Hausfront wanderte.

Bitte sagen Sie Ja.

„Nein. Die Stuarts befinden sich im Urlaub. Einem Nachbarn fiel auf, dass das Gartentor ein Stück weit offenstand. Deshalb hat er nach dem Rechten gesehen. Dabei hat er die Leiche gefunden.“ Der Polizist sah hinter sich und schüttelte betreten den Kopf. „Was für ein krankes Schwein. Hoffentlich kriegt ihr ihn bald.“

Michael entgingen die Polizisten nicht, die eilig und mit blassen Gesichtern aus der Haustür traten. Auch hörte er deutlich ihre Kommentare und Flüche.

„Ist … das Opfer noch da drin?“ Er warf einen Blick über die Schulter. Nirgends war ein Fahrzeug des Coroners zu entdecken.

„Ja, alles noch wie vorgefunden. Die Spurensicherung ist zwar schon da, aber der Leichenbeschauer noch nicht. An der Ausfahrt zur River Road gab es einen Unfall. Die ist noch eine Weile gesperrt. Der Doc muss also ein kleinen Umweg fahren.“ Erneut sah der Cop zum Haus. „Wenn Sie wollen, gehen Sie nur rein. Ich warte lieber hier.“

„Danke, Detective …“

„Reynolds.“

„Danke, Detective Reynolds. Wenn noch etwas sein sollte oder unsere Kollegen kommen, informieren Sie uns bitte“, sagte Simon.

Michael war ihm dankbar für die Initiative. Und für sein Vorausschauen. Denn genaugenommen durfte Michael gar nicht hier sein. Die Regeln sahen vor, dass man von einem Fall abgezogen wurde, sobald man selbst involviert war. Doch er würde den Ausgang dieser Geschichte nicht irgendwelchen Kollegen überlassen. Da konnten sie noch so kompetent sein. Er wusste mehr als jeder andere über das Profil des Täters. Er selbst hatte es geschrieben. Der Schmerz in seiner Brust und die Taubheit in seinem Kopf straften diese Überlegung Lügen. Selbst wenn er nicht seit Monaten an diesem Fall säße und den Täter nicht bis zum Erbrechen studiert hätte, würde er sich nicht davon abhalten lassen … Wut gesellte sich zu der Angst, und er unterbrach den Gedankengang. Wenn das alles nicht gewesen wäre, gäbe es für ihn keinen Grund, jetzt in das Gebäude zu gehen. Dann gäbe es jetzt keinen Grund für diese verzehrende Angst, alles, was ihm wichtig war verloren zu haben.

Mit schwerfälligen Bewegungen, die eher zu einem alten Mann als zu einem durchtrainierten Mittdreißiger passten, erklomm Special Agent Thorne die Stufen zum obersten Stockwerk.

Männer und Frauen in weißen Schutzoveralls kamen ihm entgegen. Nur die Gesichter waren frei, und sie spiegelten Fassungslosigkeit wider. Michael schluckte. Sie sahen weit mehr Tod und Grausamkeit als er und seine FBI-Kollegen. Wenn der Anblick das bei ihnen auslöste, musste es besonders heftig sein.

„Sind Sie fertig mit dem Tatort?“, fragte Simon und wies sich aus.

Michael betete stumm um ein Ja. Denn wenn nicht, müssten sie wertvolle Zeit damit vergeuden, ebenfalls eines dieser Ganzkörperkondome überzustreifen. Der Forensiker nickte und schob sich eilig an den Agents vorbei. Ihm war deutlich anzusehen, dass er einfach nur weg wollte. Michael erhaschte einen kurzen Blick auf eins der Beweissicherungstütchen, die der Mann vor sich her trug. Eine Strähne langen blonden Haares befand sich darin. Gabrielle hatte dunkles Haar. Vielleicht hatte er sich ja ganz umsonst Sorgen gemacht. Michael rieb sich über die Brust, um den Druck darin loszuwerden. Mit einem letzten Hauch Hoffnung, dass sein Leben vielleicht doch noch nicht völlig zerstört worden war, nahm er die verbleibenden Meter in Angriff.

Zwei Mitarbeiter der Spurensicherung hockten unmittelbar vor der Zimmertür im Gang und räumten ihre Ausrüstung zusammen. Proben vom Tatort, Plastikfläschchen mit Pulvern und Ampullen mit chemischen Lösungen wurden in Allerseelenruhe verstaut. Michael ballte ungeduldig die Hände zu Fäusten und machte mit einem geknurrten Gruß auf sich aufmerksam. Sie grüßten zwar zurück, rührten sich nicht vom Fleck. Warum ließen sie ihn nicht wenigstens vorbei? Ihre Arbeit schien doch beendet.

Er brauchte endlich Gewissheit.

Michael versuchte, einen Blick in den Raum und auf das Opfer zu werfen. Erkennen konnte er aber nur einige helle Möbel, die an mintgrün tapezierten Wänden standen. Der Spiegel an der Seitenwand war auch keine Hilfe. In ihm zeigte sich nur die gegenüberliegende Ecke mit einem weiteren Sideboard. Michael knirschte mit den Zähnen. Er musste da rein! Sofort! Schweiß ließ das Hemd an seinem Rücken kleben. Die Ungeduld surrte förmlich in seinen Ohren. Aus Angst wurde mehr und mehr Panik. Bisher hatte er sich trotz der Befürchtung, gleich den leblosen Körper seiner geliebten Frau vorzufinden, recht gut unter Kontrolle. Wie er das zustande brachte, konnte er selbst nicht sagen. Und wie lang dem noch so war, wagte er auch nicht einzuschätzen.

Gerade wollte er ein paar gepfefferte Worte über die Geschwindigkeit der Forensiker hervorstoßen, als diese sich erhoben und den Weg freimachten. Na endlich. In Wirklichkeit mochte keine Minute vergangen sein, ihm war es aber vorgekommen wie ein halber Tag.

Michael atmete gegen den plötzlich einsetzenden Fluchtreflex an und betrat den Raum. Seine Augen richteten sich sofort auf die nackten Arme, die über den Köpfen zweier weiterer Männer emporragten. Wie viele von diesen Laborbullen rannten hier eigentlich rum? Während der eine auf einer Trittleiter stand und sich an den Handgelenken der Toten zu schaffen machte, hatte der andere seine Arme um ihre Hüften gelegt. Offensichtlich versuchten sie gerade, sie unbeschadet auf den Boden herunter zu lassen. Michael erstarrte. Er presste die Fingerknöchel auf die Stelle zwischen Mund und Nase, um nicht laut aufzustöhnen und sich seine inneren Reaktionen zu konzentrieren, statt auf den aufsteigenden Würgereiz.

Dieser Mistkerl hatte sein Opfer mit Metallmanschetten an den Deckenventilator gehängt. Im Moment zeigte ihr Gesicht zur hinteren Wand, so dass Michael nur den Hinterkopf erkennen konnte. Blondes Haar fiel in stumpfen Strähnen über Schultern und Rücken. Der Agent senkte den Blick zu ihren nackten Füßen. Unter ihnen hatte sich eine Lache aus Blut gesammelt.

Schon jetzt schmeckte er nichts weiter als bittere Galle.

„Da seid ihr ja endlich, Jungs. Wir dachten, wir nehmen euch die Arbeit ein wenig ab und holen die Tote …“ Der Mann wandte sich um und verstummte. Offenbar hatte er jemand anderen erwartet. Da er das Opfer nach wie vor festhielt, um sie aufzufangen, sobald sein Kollege sie befreit hatte, drehte der leblose Gestalt sich mit ihm. Michael keuchte auf und ging fast in die Knie. Sein Blick lag fest auf dem verzerrten Gesicht der Frau.

„Verdammt! Michael“, ächzte Simon neben ihm, doch Michael nahm dessen Worte kaum mehr wahr. Sein Blick wanderte über den nackten, leblosen Körper und landete schließlich bei den Armen des Forensikers. Mit jeder Sekunde zerbrach mehr in ihm.

„Weg von ihr!“, brüllte Michael los und sprang auf den Mann zu. „Gehen Sie weg von ihr!“ Niemand durfte sie so berühren. Niemand! Sonst hatte niemand das Recht dazu!

Simon packte ihn, bevor er seinem Gegenüber zu nahe kommen konnte, und versuchte ihn zurück zu zerren.

„Tun Sie, was er sagt! Gehen Sie!“ Simon hielt Michael fest, der verzweifelt versuchte, sich aus dessen Griff zu befreien. „Na los!“

„Wir warten auf …“

„Verschwinden Sie schon!“ Simon holte Luft. In wesentlich ruhigerem aber nicht weniger beharrlichem Ton fügte er hinzu: „Sie war seine Frau.“

Blankes Entsetzen machte sich auf dem Gesicht des Forensikers breit. Der Mann ließ die Tote vorsichtig los und flüchtete dann, so schnell er nur konnte, aus dem Zimmer. Sein Kollege tat es ihm gleich und machte dabei den größtmöglichen Bogen um die Agents.

Simons Arm verschwand und Michael stürzte nach vorne.

Einen halben Meter vor der Leiche seiner Frau blieb er stehen und blickte erneut zu ihrem Gesicht empor. Er bekam keine Luft mehr. Alles um ihn herum verschwamm zu einem dickflüssigen Einheitsgrau. Eiseskälte umschloss sein Herz wie eine Faust. Plötzlich fühlte er sich taub. Nichts war mehr wichtig. Nichts außer der Frau, die hier vor ihm an diesem Ventilator hing.

Perseus befreit Andromeda, schoss es ihm unvermittelt durch den Kopf. Nachdem er sich wochenlang jedes berühmte und weniger berühmte Kunstwerk von Rubens eingeprägt hatte, fiel es ihm leicht, das Abbild zu erkennen. Michael schluckte Mageninhalt und Tränen runter. Er war nicht Perseus, verdammt noch mal! Und Gabrielle war nicht Andromeda.

Aber dennoch konnte er sie befreien – wenn auch nicht retten.

Langsam hob er seine zitternden Hände, doch er war nicht groß genug, um an die Eisenfesseln zu gelangen. So sehr er sich auch reckte, er kam einfach nicht ran. Etwas fiel laut scheppernd zu Boden. Wäre er nicht so auf seine Aufgabe konzentriert gewesen − und unfähig, klar zu denken −, hätte er sicher bemerkt, dass es die Trittleiter war. So aber sprang er einfach nur verzweifelt hoch.

Eine Minute später gab er den Versuch auf, die Schellen zu erreichen. Es fiel ihm nicht leicht, sich die Aussichtlosigkeit seines Vorhabens einzugestehen. Er hatte versagt, als es darum ging, sie zu retten. Und nun konnte er sie nicht mal befreien. Heiße Tränen liefen ihm über die Wangen, als er mit den Händen über ihren entblößten und von Hämatomen übersäten Körper fuhr. Er strich sanft über die blassen Lippen, den von Würgemalen verfärbten Hals und das Schlüsselbein, über die Senke zwischen ihren Brüsten und hinab zum Bauch. Dort hielt er inne. Neuer, bisher ungekannter Schmerz erfüllte ihn, während er seine Hände über die ausgeprägte Wölbung legte, als könne er noch schützen, was sich dahinter verbarg.

Um Fassung ringend legte er seine Stirn an den runden Bauch.

„Es tut mir so leid“, flüsterte er weinend.

Die Erinnerung daran, dass er sich vor nicht mal vierundzwanzig Stunden mit fast derselben Geste von seiner ungeborenen Tochter verabschiedet hatte, drohte ihn um den Verstand zu bringen. Michael sank in die Knie und ließ kraftlos den Kopf hängen.

Er würgte ein gequältes Krächzen heraus. Sein Flehen würde ungehört bleiben. Nichts und niemand konnte rückgängig machen, was geschehen war, und ihm so wiedergeben, was er verloren hatte.

Michael wurde speiübel. Er sprang auf die Füße und taumelte zurück. Dieser Scheißkerl mochte Gabrielle vielleicht erwürgt und ihm damit seine Frau und seine Tochter genommen haben. Doch er selbst trug nicht weniger Schuld an ihrem Tod. Denn er hatte versagt.

Diese Erkenntnis war zu viel für Michael. Er hörte Simon etwas rufen, spürte noch, wie er kippte und ihm die Welt entglitt.

Dann wurde alles schwarz.

1. KAPITEL

Fünf Jahre später …

Mic lenkte den Audi A5 auf den Parkplatz und schloss das Dach. Da das Thermometer bereits seit Tagen deutlich über die üblichen Januarwerte stieg, würde sich dadurch zwar das Innere binnen einer halben Stunde in einen Hochofen verwandeln, doch das war immer noch besser, als später Möwen- und Pelikanscheiße von den Ledersitzen wischen zu müssen. So nah am Ozean musste man eben Prioritäten setzen.

Während er die ehemalige Feuerwache betrat, die ihnen als Büro diente, dachte er sehnsüchtig an die eigentlichen Pläne für seinen freien Tag zurück. In der Hängematte liegen, Eistee schlürfen und einfach nur das Wetter, das Rauschen der Wellen und den Ausblick genießen. Abends ein Steak auf den Grill werfen und sich vielleicht noch ein Spiel ansehen. Stattdessen durfte er sich nun mit einer potentiellen Auftraggeberin treffen. Normalerweise übernahmen das Derek oder Trevor, doch beide waren heute vor Gericht. Coop und Juliette waren nicht in der Stadt. Genau wie Frog, der sich in West Palm Beach mit einem Freund aus Deutschland traf. Leo fiel aus offensichtlichen Gründen aus. Sie mussten langsam wirklich etwas wegen der Fahndung gegen ihn unternehmen. Blieb also nur er, um das Gespräch zu führen.

Mic schloss schnell die Tür hinter sich, um die Hitze auszusperren, und rieb sich den Schweiß aus dem Nacken. Dank der getönten Scheiben und der Klimaanlage war es im Inneren des Gebäudes herrlich kühl. Oh, er würde sich weiß Gott nicht darüber beklagen, dass hier im Januar gut dreißig Grad herrschten. In Washington lag Schnee, es war glatt und viel zu kalt. Diese Art Winter war noch nie etwas für ihn gewesen.

Mic sah auf die Uhr. Wenn die Frau pünktlich war, dann blieben ihm noch etwa dreißig Minuten. Unter anderen Umständen würde er die Zeit nutzen, um einen Blick in die Notizen zu werfen, nur gab es diesmal noch keine. Die Anfrage war vor nicht mal zwei Stunden gekommen. Derek und Trevor waren schon beim Gericht gewesen und hatten darauf gewartet, ihre Aussage zu machen. Letzterem war gerade noch genug Zeit geblieben, nach dem Namen und der Art der Ermittlungen zu fragen und Mic eine Nachricht zu schicken.

Um sich die Wartezeit zu verkürzen, räumte Mic die Spülmaschine aus, fegte durch, sortierte die Post und füllte den Kühlschrank mit neuen Getränken auf. Zum Schluss hatte immer noch zehn Minuten Zeit, also legte er sich schon mal einen Block und einen Stift bereit und notierte die spärlichen Informationen.

Anna Catalano, Lake Butler/Florida, Unschuld des Vaters beweisen, neue Spuren bzw. unbeachtete Beweise.

Viel war das nicht. Er konnte nur hoffen, dass schnell noch einiges dazu kam. Die Notizen würde er später in eine Akte übertragen.

Er beschäftigte sich gerade mit einer Einkaufsliste, als die Tür aufging. Mic sah von seinem Zettel auf. Im Türrahmen stand eine Frau. Das war allerdings auch schon alles, was er sagen konnte. Die Sonne, die wie ein Leuchten um ihren schlanken Körper lag, ließ genaueres Erkennen nicht zu.

„Sind Sie Mr. Thorne? Von der Phoenix − Investigation and Defense?“

Normalerweise hätte er sofort eine ironische Antwort auf die Frage nach dem Offensichtlichen parat gehabt. Doch im Anbetracht der Stimme, die sich gerade rauchig und samtweich wie alter Scotch über seine Sinne legte, fiel ihm kaum noch sein eigener Name ein. Gut, dass sie ihn schon kannte und er nur noch nicken musste.

Er winkte seinen Gast näher und stöhnte im nächsten Moment beinahe auf. Die Frau, die durch die Tür trat und auf ihn zukam, war nicht etwa hübsch oder sogar schön. Sie war atemberaubend. Kastanienbraunes Haar rahmte das sehr attraktive Gesicht ein und fiel in vollen Wellen über die schmalen Schultern. Das sonnengelbe Kleid verbarg nichts von der wohlgeformten Figur. Und erst diese Augen. Auch wenn ihre Farbe im Moment noch nur zu erahnen war, loderten sie geradezu vor Temperament.

Als Anna Catalano mitten im Raum stehen blieb, stand Mic auf und räusperte sich. „Setzen Sie sich doch, Miss Catalano. Dann können wir gleich anfangen.“ Er dankte Gott dafür, dass sie ihn nicht korrigierte und sich als Misses Catalano vorstellte. Warum ihn das so erleichterte, verstand er selbst nicht.

Ein gewinnendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, während sie den Stuhl zurückzog, die Tasche neben sich auf den Boden stellte und Platz nahm. „Danke, zu freundlich. Aber nennen Sie mich bitte Anna.“

Sehr gerne.

„Gut. Dann also Anna. Ähm, kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

„Eine Coke light, wenn Sie haben. Sonst nehme ich auch einfach ein Wasser.“

Mic beeilte sich, ihrem Wunsch nachzukommen, und setzte sich dann wieder auf seinen Platz. Er hatte Mühe, mit den Gedanken bei der Sache zu bleiben. Er verstand nicht, was hier gerade geschah. Seit Jahren hatte er nicht mehr auch nur ansatzweise so auf eine Frau reagiert.

Er nahm den Stift und zog einen Strich unter ihren Namen. „Also dann, erzählen Sie mal, Anna. Was führt Sie zur P.I.D.?“ Sofort verschwand das Lächeln wieder und wurde von tiefem Kummer ersetzt. Mic schalt sich aus unerfindlichen Gründen selbst dafür. Doch hier ging es nicht darum, dass sein Gegenüber gute Laune hatte. Oder dass ihr Lächeln so eine seltsame Wirkung auf seine Libido hatte. Die Frau brauchte ganz offensichtlich dringend Hilfe. Und sie war überaus nervös.

Anna knetete ihre Fingerknöchel und schürzte die Oberlippe. Den rasenden Puls, der die Haut an ihrem Hals in schnellen Intervallen anhob, konnte Mic selbst von seinem Platz auf der anderen Seite des Tisches aus deutlich erkennen.

Schließlich richtete sich Anna auf und atmete tief durch. „Am 17. März soll mein Vater hingerichtet werden. Für Morde, die er gar nicht begangen hat. Er hat Alibis für drei der Morde und wäre rein körperlich gar nicht in der Lage dazu gewesen, die Leichen …“ Sie unterbrach sich und trank hastig einen Schluck. „Aber das interessierte die Ermittler nicht. Der Staatsanwalt und der Richter haben mich erst gar nicht angehört. Nicht mal diesen unfähigen Schnösel von Verteidiger interessiert das. Aber er war es nicht. Bitte, Sie müssen das beweisen!“

Mic hatte längst aufgehört, sich Notizen zu machen. Anna sprach so unzusammenhängend, dass es nichts brachte. „Fangen Sie doch am Anfang an. Und lassen Sie sich Zeit.“

Sie trank einen weiteren Schluck und nickte dann. Wieder brauchte sie einen Moment. „Es gab vor ein paar Jahren in DC und Umgebung eine Reihe von Morden. Furchtbare Morde.“ Sie stockte erneut. „Also, nicht, dass Morde nicht sowieso furchtbar sind. Auf jeden Fall geriet mein Vater irgendwie ins Visier der Ermittlungen. Dabei hatte er wie gesagt für drei der Morde ein Alibi. Außerdem hat er nach einem Unfall eine irreversible Muskelschädigung in der Schulter und kann mit dem einen Arm kaum mehr als fünf Kilo heben. Wie hätte er die Leichen also derart herrichten können? All das hat jedoch weder den Richter noch die Geschworenen von seiner Unschuld überzeugen können. Mal ganz davon abgesehen, dass die Verhandlung eher einer Show als einem fairen Prozess geglichen hat. Hauptsache, die Sensationslust der Leute ist befriedigt. Er wurde … Er wurde zum Tode verurteilt. Eigentlich sollte das Urteil später vollstreckt werden. Aber jetzt haben sie es plötzlich vorgezogen.“ Anna hielt erneut inne. Ihre Flasche war längst leer, und doch wollte sie sie an ihre Lippen führen. Zerstreut stellte sie das Glasgefäß ab und begann erneut, ihre bereits stark geröteten Fingerknöchel zu malträtieren.

Mic stand auf und holte eine neue Coke light. Dankbar nickend nahm Anna das eiskalte Getränk zwar entgegen, machte jetzt aber keinerlei Anstalten, etwas zu trinken.

„Wir können eine Pause machen.“ Mic hatte sich längst dazu entschlossen, den freien Tag abzuschreiben. Er wollte unbedingt wissen, wie er Anna Catalano helfen konnte. Doch er durfte sie nicht drängen. Auch wenn sie erst wenig erzählt hatte, war sie bereits sichtlich blasser geworden.

„Nein, es geht schon, danke. Ich muss das jetzt hinter mich bringen. Meinem Vater läuft die Zeit weg, und ich weiß einfach nicht weiter.“ Endlich ließ sie von ihren Knöcheln ab und begann stattdessen an einer ihrer Strähnen zu spielen. Das kontinuierliche Zwirbeln schien sie ein wenig zu beruhigen.

„Erzählen Sie mir von den Alibis. Und wie es dazu kam, dass Ihr Vater zum Hauptverdächtigen wurde. Wie viele Morde werden ihm angelastet?“

Anna hob langsam die Schultern und beugte sich zu ihrer Tasche hinab. Einen Moment später schob sie eine Akte über den Tisch. Mic ignorierte den Stapel Unterlagen allerdings vorerst. Er wollte sich erst ein genaues Bild von der Frau und ihren Eindrücken machen. Papier konnte bekanntermaßen sehr geduldig sein.

„Er war bei meiner Mutter. Einmal war ich mit ihm zusammen da. Also, ich war öfter mit ihm zusammen da. Eben zum Teil auch, während die Morde begangen wurden. Sie erlitt bei dem Unfall, bei dem auch mein Vater an der Schulter verletzt wurde, schwere Hirnschäden. Seitdem lebt sie in einem Pflegeheim. Die Ermittler sagten, sie hätten das nachgeprüft. Aber sie kamen zu dem Schluss, dass mein Vater unbeobachtet hätte verschwinden und zurückkommen können. Und da ich seine Tochter bin, ist meine Aussage in deren Augen wertlos.“ Anna stand auf und lief zum Fenster. Sie lehnte sich seitlich gegen die Scheibe und sah eine Zeitlang einfach nur schweigend auf die Straße hinaus.

Mic legte den Stift beiseite und wartete geduldig, bis sie sich gerade weit genug umdrehte, um ihn wieder ansehen zu können. Als wolle sie sich vor dem schützen, was sie als nächstes erzählen würde, schlang sie die Arme um den Leib. „Es gab acht Funde mit insgesamt elf Opfern. Sie alle waren auf die gleiche Weise ermordet und nach dem gleichen Muster arrangiert worden.“

Etwas in Mics Innerem verkrampfte sich. Seine Kehle wurde trocken, und sein Herz begann zu rasen. Nein, das kann nicht sein! Oder? Unruhig wischte er sich vom Tisch verdeckt die Hände an der Jeans ab.

Bitte, nicht ausgerechnet dieser Fall …

Seine Chancen standen alles andere als gut. In den letzten Jahren hatte es in DC nur zwei Mordserien mit einer so hohen Opferzahl gegeben.

Catalano. Catalano. Nein, der Name war in keinem der beiden Fälle aufgetaucht − zumindest solange er mit ermittelt hatte.

Und dieser Frau war er auch nie begegnet. Daran würde er sich erinnern. Auch, wenn er damals zum Schluss von Trauer, Wut und Alkohol geradezu benebelt war. Er ahnte, was Anna als nächstes sagen würde, noch ehe sie es tat. Schon damals war das Glück nicht auf seiner Seite gewesen. Wieso sollte es das dann jetzt sein?

„Als Professor der Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt Europa im späten Mittelalter war er anscheinend der perfekte Hauptverdächtige. Dass er seine Dissertation dann auch noch über genau den Maler verfasst hat, nach dessen Gemälden der Mörder …“ Sie schluckte schwer. „Warum weitersuchen, wenn man doch ein solches Prachtexemplar von Mörder präsentieren kann?“ Dass Anna resigniert den Kopf schüttelte, bekam Mic nur am Rande mit. Ein Wirbel aus Bildern – real und auf Leinwand gebannt – versuchte ihn mit aller Macht zu verschlingen. „Vom Tag seiner Verhaftung an haben sie ihn ständig mit diesem furchtbaren Namen betitelt …“

„Eastcoast-Rubens-Killer“, flüsterte Mic und musste gegen den plötzlichen Brechreiz ankämpfen, der in ihm aufstieg.

„Ja, genau. Aber er war es nicht. Er ist nicht dieser Irre.“ Anna kam zum Tisch zurück und stützte sich auf die Stuhllehne. „Bitte sagen Sie mir, dass Sie ihm helfen werden. Sie sind seine letzte Chance.“

Mic schluckte mehrfach, bis er sich sicher war, den Mageninhalt bei sich zu behalten. Sie schien nicht zu wissen, wen sie hier vor sich hatte. Andernfalls würde sie doch nicht ausgerechnet ihn – oder die Organisation, für die er tätig war – um Hilfe bitten. Sein Name war nach Absprache mit dem Richter und dem Staatsanwalt aus den Akten entfernt worden. Bei seiner Frau hatten sie den Mädchennamen verwendet. Keiner von ihnen hatte das Risiko eingehen wollen, der Fall könne durch vermeidliche Ermittlungsfehler oder Ähnliches platzen.

Mic erhob sich und stemmte seine Fäuste auf den Tisch. Es diente weniger dazu, den Worten, die nun folgen würden, Nachdruck zu verleihen, als ihn überhaupt auf den Beinen zu halten. Er musste das hier beenden. Sofort. „Wir können Ihnen und Ihrem Vater nicht helfen. Es tut mir leid“, hängte er zähneknirschend an.

„Wie bitte? Aber man sagte, mir … Ihr Kollege meinte, Sie könnten uns helfen!“, empörte sich Anna und stieß sich vom Stuhl ab.

Wieso sagte Trevor sowas, ohne den Fall – und die Hintergründe − zu kennen? „Da hat er sich geirrt. Dürfte ich Sie jetzt bitten, zu gehen.“

„Bitte, Mr. Thorne – Michael. Ich brauche Ihre Hilfe. Wenn Sie sich nur mal ansehen würden, was ich inzwischen gesammelt habe.“ Natürlich entging Mic die Verzweiflung in ihrer Stimme nicht. Doch er hatte gerade genug damit zu tun, sich nicht vor den nächsten Sightseeing-Bus zu werfen. Kopfschüttelnd deutete er zur Tür. „Wie gesagt, Miss Catalano, ich kann nichts für Sie tun.“

Anna nickte resigniert und schniefte. „Okay, ich verstehe. Er ist halt nur irgendein Killer. Warum sollte man auch nur annehmen, dass er unschuldig sein könnte?“ Mit einem letzten Blick aus tränenerfüllten Augen wandte sie sich ab. „Ich sagte Simon, dass es sinnlos ist.“

Wie Mic den Weg überwand, der ihn von ihr trennte, wusste er nicht. Doch im nächsten Moment packte er Anna beim Handgelenk und riss sie herum.

„Welcher Simon?“, verlangte er zu wissen.

Die Frau entriss sich ihm und wich einen Schritt zurück. Sie schien erschrocken aber nicht ängstlich.

„Welcher Simon?“, wiederholte Mic, ohne ihr zuvor wirklich eine Chance zur Antwort gegeben zu haben.

„Agent Simon Riddick. Er ist beim FBI in Washington. Er war der einzige, der sich Zeit nahm, um sich alles anzuhören.“ Besorgt sah sie ihn an. „Ist Ihnen nicht gut?“

„Erzählen Sie weiter.“ Mic konnte nicht glauben, dass Simon diese Frau mit ausgerechnet diesem Fall zu ihm geschickt haben könnte. Und doch musste er nun auch den Rest hören.

„Simon bat mich, meine Aufzeichnungen in Ruhe durchsehen zu dürfen, nachdem ich ihm alles erzählt habe. Zwei Tage später rief er mich an und gab mir Ihren Namen. Er sagte, wenn mir jemand helfen könne, dann Sie. Es gäbe niemanden auf der Welt, der das Profil des Täters besser kenne.“

Anna wusste nicht, was sie von dem Verhalten des Mannes halten sollte. Erst total hilfsbereit, dann extrem abweisend und schließlich von jetzt auf gleich wieder ruhig, aber rein geschäftsmäßig.

Mit einem knappen „Man wird sich bei Ihnen melden“ hatte er sie schließlich regelrecht rausgeworfen und die Tür dann so schnell hinter ihr geschlossen, dass er dabei fast einen Zipfel ihres Kleides erwischt hätte. Selbst jetzt noch, eine Stunde später, konnte sie das Klicken des Schlosses hören. Es hatte sogar den Verkehrslärm übertönt, so war es ihr zumindest vorgekommen. Aber nicht nur sein Verhalten hatte etwas leicht Beunruhigendes. Michael Thorne hatte eine Wirkung auf sie gehabt, mit der sie nicht gerechnet hätte. Er war ein gut aussehender Mann, keine Frage. Seine muskulöse Statur war ein absoluter Hingucker. Das blaue T-Shirt hatte eng angelegen, so dass sich jeder Zentimeter seines durchtrainierten Oberkörpers darunter abzeichnete. Die kurzen Ärmel hatten sich bei jeder Bewegung um seine Oberarme gespannt. Auch sein Hintern war schlichtweg spektakulär. Und doch war es etwas ganz anderes, das sie in den Bann gezogen hatte. Anna war immer schon schlecht darin gewesen, das Alter eines Menschen zu schätzen. Doch sie war sich sicher, dass Michael Thorne kaum älter als vierzig war. Wahrscheinlich war er eher noch jünger. Und trotzdem lag in den blau-grauen Augen etwas, das nicht so recht dazu passen wollte.

Als hätten sie bereits mehr gesehen, als gut war.

Die kurzen − ebenfalls für das Alter ungewöhnlichen − grau melierten Haare und der Drei-Tage-Bart taten ihr Übriges, um ihm ein reiferes Aussehen zu verleihen. Anna hatte nie auf diesen Typ Mann gestanden. Ihr Fall war eher der erfolgsorientierte Crack, der zwar was im Kopf hatte, aber auch ab und an mal auf alles pfiff. Michael Thorne passte augenscheinlich so gar nicht in diese Kategorie. Dessen ungeachtet fragte sie sich, wie er wohl schmeckte und ob sein Bart nur kratzte oder angenehm reizte.

Das ungeduldige „Hey Lady!“ des Taxifahrers holte sie glücklicherweise aus ihren Gedanken, ehe diese noch seltsamere Wege einschlagen konnten. Sie hatte wahrlich wichtigere Probleme, über die es nachzudenken galt als diesen Mann und ihre Reaktion auf ihn.

Anna bezahlte schnell und verließ das Taxi. Für einen Moment stand sie ratlos auf dem Gehweg in der Sonne und überlegte angestrengt. Sollte sie ins Hotel zurück oder ein wenig runter zum Strand gehen? Bei der Ruhe im Zimmer würde sie sich besser konzentrieren können. Allerdings war ein Strandspaziergang entspannend und machte den Kopf ein wenig frei. Letzteres brauchte sie jetzt auf jeden Fall dringender. Die vergangenen Wochen und Monate waren mehr als aufreibend gewesen. Seit der Hinrichtungstermin vorverschoben worden war, hatte sie umso emsiger versucht, die Unschuld ihres Vaters zu beweisen. Natürlich hatte sie auch vorher schon die Erfahrung gemacht, mit ihren Bitten und Anträgen auf Revision nicht unbedingt offene Türen einzurennen. Aber die letzten Wochen war sie nur noch gegen Mauern gerannt. Dann noch die Sorge um ihre Mutter, die stetig abnehmende Geduld ihres Arbeitgebers und die Rechnungen, die mit ihrem Gehalt kaum noch zu bezahlen waren.

Anna zog die Schuhe aus und tauchte mit den Zehen in den warmen Sand. Sie beneidete die Menschen, die sich hier einfach sorglos in die Sonne legen und alles vergessen konnten. Wenn es für sie doch nur auch so einfach wäre.

Den Blick starr auf die Wellenbrecher gerichtet, lief sie los. Vorbei an Volleyballspielern, Sonnenanbetern und Sandburgen, bis der Strand leerer wurde und sie schließlich allein war. Nur noch das Rauschen der Wellen, der Wind in ihrem Haar und die Wärme auf ihrer Haut umgaben sie, als sie die großen Steine des Wellenbrechers erklomm. Sie suchte sich einen bequemen Platz und ließ ihren Blick über das Meer wandern. Wie schön wäre es, wenn sie sich nur irgendein Boot schnappen und einfach losschippern könnte. Alles hinter sich lassen und der Welt den Stinkefinger zeigen. Allen voran Dwayne, diesem blöden … Anna schluckte den Fluch herunter, der ihr auf der Zunge lag. Wie leidenschaftlich hatte er ihr doch seine Liebe geschworen. Und seine Treue. Und dass er immer für sie da wäre, egal, was die Zukunft auch bringen mochte. Dieses Immer hatte genau bis zum Tag ihrer Hochzeit gehalten. Dem Tag, an dem ausgelassen das Ja-Wort bejubelt und gefeiert wurde, das sie sich gegeben hatten. Dem Tag, an dem plötzlich der Ballsaal gestürmt und ihr Vater abgeführt wurde. Dwayne hatte sie nicht getröstet, dass das alles nur ein Irrtum sei und sich alles ganz bald aufklären würde. Er hatte sie nicht in den Arm genommen und gehalten, als sie es am dringendsten brauchte. Er hatte ihr empört eine Szene gemacht und noch am gleichen Tag den Antrag auf Annullierung gestellt. Ja, wie sehr er sie doch liebte!

Anna wischte sich energisch über die Wangen und das Kinn. Doch es half nichts. Ihre Tränen wollten einfach nicht versiegen. Der Gedanke an Dwayne hatte eine Lawine von Erinnerungen losgetreten, die sich nun nicht mehr aufhalten lassen wollte. Erinnerungen und Zweifel. Sie schämte sich dafür, die gelegentlich auftretende Unsicherheit bezüglich ihres Vaters nicht niederringen zu können. Sie hatte Edward Brennings erst wenige Jahre vor seiner Verhaftung kennengelernt und wusste von der Zeit davor nicht viel von ihm. Aber sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Er war freundlich, aufgeschlossen und zuvorkommend. Er war ein toller Lehrer und behandelte seine Schüler so respektvoll, wie er ihr und ihrer Mom gegenüber fürsorglich war. Es hatte ihn schwer getroffen, nicht früher von seiner Tochter erfahren zu haben, und er hat sich redlich Mühe gegeben, die verlorene Zeit irgendwie wieder gutzumachen.

Anfangs war Anna wütend auf ihre Mutter gewesen, weil sie verschwiegen hatte, dass ihr Vater nur eine Autostunde entfernt lebte und nichts von ihr wusste. Immerhin hatte sie sich stets einen Vater gewünscht und fest geglaubt, ihrer würde sie nicht wollen. Doch nach einem klärenden Gespräch hatte sie ihrer Mutter schließlich verziehen. Zwei Jahre später – ihre Eltern hatten sich gemeinsam auf den Weg zur Verlobungsfeier gemacht − passierte dann der schreckliche Unfall und nichts war mehr wie vorher. Bis heute plagten sie deshalb furchtbare Schuldgefühle. Hätte sie früher erkannt, was für ein Arschloch ihr damals frisch Verlobter war, wäre das alles nicht geschehen. Dieser Unfall schien der Startschuss für die Serie von Katastrophen gewesen zu sein, und Anna fragte sich viel zu häufig und sinnloserweise, was gewesen wäre, wenn …

Eine Windböe streifte ihre nackten Schultern und ließ sie erschauern. Die Luft hatte sich ganz schön abgekühlt, während sie ihren Gedanken nachgehangen hatte. Tatsächlich verriet ihr ein Blick auf die Uhr, dass es fast Abend war. Ihr war gar nicht mal aufgefallen, dass sie bereits seit gut drei Stunden hier hockte. Wenigstens zeigte ihr Telefon keine verpassten Anrufe an. Natürlich ärgerte sie das, immerhin ging es hier um eine dringende Angelegenheit. Doch gleichzeitig war sie auch erleichtert, dass sie den betreffenden Anruf nicht überhört hatte.

Durch das tiefe Grollen in ihrem Magen veranlasst, beschloss Anna, den Leuten von der P.I.D. noch Zeit zu geben, bis sie gegessen hatte. Sollen sie sich bis dahin nicht gemeldet haben, würde sie erneut zum Büro fahren. Sollte dort niemand sein, hatte sie immer noch die Telefonnummer, die Simon ihr gegeben hatte. Im Zweifelsfall würde sie eben versuchen, Michael Thorne ausfindig zu machen.

So oder so, noch heute würde sie herausfinden, ob die Männer den Auftrag annahmen oder nicht!

Zufrieden mit ihrem Plan steuerte Anna das kleine Restaurant an, das sie in der Nähe des Hotels gefunden hatte.

2. KAPITEL

Mic hockte auf den Stufen seiner Veranda und starrte abwechselnd auf den Ozean und auf die Flasche, die neben ihm stand. Seine Hände zitterten so stark wie schon lange nicht mehr. Sein Herz hörte nicht mehr auf zu rasen, und auch die tiefsitzende Übelkeit ließ sich einfach nicht vertreiben. Er wusste, was er vorhatte, war falsch. So falsch. Doch der Drang wurde von Minute zu Minute stärker.

Das Gespräch mit Anna Catalano und der anschließende Blick in die Akte hatten ihn wie eine Zeitmaschine zurück zu den schlimmsten Momenten seines Lebens katapultiert. Warum hatte er auch nicht die Finger von dieser verfluchten Akte gelassen? Warum hatte er nicht einfach Derek angerufen und sich dann aus dem Staub gemacht? Die Antwort darauf war ganz einfach. Weil er, naiv, wie er war, gedacht hatte, stark genug für ein paar gekritzelte Aufzeichnungen einer Hobbydetektivin zu sein.

Aber wie hätte er auch ahnen können, dass es weit mehr als das war?

Anna Catalano hatte in ihrem Eifer, diesen Mann aus dem Gefängnis zu bekommen, alles zusammengetragen, was sie in ihre schlanken Finger bekommen hatte. Das schloss nicht nur Zeitungsberichte über die Morde und den Prozess und kurze Notizen mit ein, sondern auch Fotos von den Opfern, Lebensläufe und Zeit- und Lagepläne. Dazu kamen noch Statistiken, eine Liste der Orte, an denen sich ihr Vater zum Tatzeitpunkt aufgehalten haben sollte, detaillierte Zusammenfassungen von Gesprächen mit Richtern, Reportern, dem Staatsanwalt und Psychologen, vermeintliche Zeugen für Brennings Alibis und Indizien, die gegen ihren Vater als Täter sprachen. Sogar ein Teil des von ihm erstellten Profils befand sich in dem beigen Einband. Alles ordentlich sortiert und in verschiedene Kategorien unterteilt.

Selbstverständlich hatte Mic nichts Besseres zu tun gehabt, als sich alles Seite für Seite, Foto für Foto, Wort für Wort anzusehen. Bis er hatte kotzen müssen.

Danach hatte er die Feuerwache so schnell verlassen, dass er die Klospülung beim Rausgehen noch sprudeln hörte. Wie er zurück zum Strand gekommen war, konnte er im Nachhinein beim besten Willen nicht mehr sagen. Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass er überhaupt heil hier gelandet war.

Er sollte wirklich Derek anrufen. Er brauchte seine Hilfe. Anders würde er sich dem, was gleich kommen würde, nicht widersetzen können. Doch er rief nicht an. Er wollte nicht anrufen. Er wollte sich in das so wohlvertraute Vergessen stürzen und den Schmerz betäuben, so wie er es schon früher getan hatte. Einmal war keinmal, hieß es doch so schön. Er machte sich was vor, das war ihm natürlich völlig klar. Hierbei gab es kein Einmal war keinmal. Doch das schlechte Gewissen, das sich in ihm breitmachen wollte, war viel zu leicht weg zu schieben. Es hatte dem, was ihn antrieb, einfach nichts entgegenzusetzen. Sich völlig im Klaren darüber, was das alles nach sich ziehen würde, griff er neben sich und zog die Flasche auf den Schoß.

Der Verschluss knirschte beim ersten Aufdrehen einen Moment, dann löste er sich und gab den einst so vertrauten herb-rauchigen Geruch frei. Der letzte Rest Widerstand wurde unbarmherzig niedergemetzelt, als Mic einen tiefen Atemzug nahm. Er hob die Flasche, öffnete den Mund und lächelte, als der erste Schluck seinen Lippen entgegen und zwischen ihnen vorbei floss.

Derek zerrte die Krawatte vom Hals und warf sie auf die Küchenzeile. Er hasste es, vor Gericht aussagen zu müssen. Vor allem, wenn der Verteidiger ein Arschloch war und der Staatsanwalt seinen Job scheinbar bei der Weihnachtslotterie gewonnen hatte. Doch dank der guten Arbeit seines Teams, einer Jury, die sich schnell einig war, und einem Richter, der nicht nur gerne mit dem Hammer Kerben in den Richtertisch trieb, war der Verbrecher nun für Jahre im Knast und die Familie in Sicherheit. Nun konnten sie ein neues Leben beginnen und mussten sich nicht mehr vor dem Typen fürchten. Das entschädigte Derek zumindest ein wenig dafür, dass sie letztendlich den ganzen Tag bei Gericht zugebracht hatten. Natürlich hätten sie gleich nach Trevors Aussage verschwinden können. Doch sie waren sich einig gewesen, das Urteil abzuwarten.

„Auch ein Bier?“

Derek schüttelte den Kopf. „Ist noch Cola da?“

Sunny nickte und warf ihm eine Flasche zu. „Mic hat den Kühlschrank aufgefüllt – ey, und die Maschine hat er auch ausgeräumt. Unser Doc war ja richtig fleißig.“

Sunny schlenderte durch den Raum und stoppte am Tisch. Derek beobachtete, wie sein Freund und Teamkollege ein ums andere Blatt zur Seite schob. Merkwürdig. Es war gar nicht Mics Art, so ein Chaos zu verbreiten und dann einfach zu verschwinden. Auf einen plötzlichen Notfall, der ihn zu einem überstürzten Aufbruch veranlasst haben könnte, deutete nichts hin. Die Tür war abgeschlossen gewesen, und es hatte auch keinen Anruf gegeben, der etwas Derartiges besagte. „Sind das die Unterlagen, die Miss Catalano mitbringen wollte?“ Sunny tippte mit der Fingerspitze auf den Blätterhaufen.

Derek zuckte mit den Schultern. Woher sollte er das denn wissen? Er hatte sich doch gerade mit dem dusseligen Staatsanwalt rumgeärgert, als die Frau mit Sunny Kontakt aufnahm. Von ihm aus war dann alles ohne Umweg an Mic gegangen. Derek hatte sich nicht weiter darum gekümmert, schließlich wollten sie sich später ohnehin briefen lassen. Er musste spontan grinsen. Der arme Kerl. Er war sicher alles andere als begeistert gewesen.

„Hey! Kann es sein, dass wir hier einen von Mics alten Fällen haben? Von Ort und Datum her könnte es noch in seine Zeit beim FBI passen“, grübelte Sunny.

Derek trat neben ihn und blickte auf den Tisch. Er runzelte die Stirn, als er all die Listen und Ausdrucke sah. Im nächsten Moment schnappte er nach Luft. Seine Finger wurden eiskalt, was nicht an dem gekühlten Getränk in seiner Hand lag. Hektisch und mit steigender Besorgnis wischte er die Zettel beiseite. Vergessen waren die Listen und Ausdrucke. Ebenso wie die Berichte, auf deren Kopf die verschiedensten Stempel und offiziellen Logos prunkten. Wichtig waren nur noch die unzähligen Bilder. Auch wenn es schon Jahre her war, brauchte er nicht erst tief in seinen Erinnerungen zu kramen, um zu wissen, wann und aus welchem Grund er sie zu Gesicht bekommen hatte. Die schrecklichen Hintergründe blitzten sofort wie Artilleriefeuer auf.

Nein, das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein!

„Ey, Derek!“ Sunny stieß ihn gegen die Schulter und hielt ihm ein Blatt vor die Nase. „Sagt dir das was?“

Obwohl noch einige andere Dinge notiert worden waren, stach Derek eine Sache sofort ins Auge. „Scheiße! Scheiße! Scheiße!“ Ihm entwichen noch derbere Flüche, ehe Sunnys drängende Frage nach dem Grund seiner Reaktion zu ihm durchdrang. „Ruf Mic an! Versuch ihn zuhause zu erreichen. Ich versuche es auf dem Mobiltelefon!“, donnerte er, statt auch nur eine zu beantworten.

Er zog sein Telefon hervor und drückte auf die Schnellwahltaste, als er Sunnys verwirrten Blick bemerkte. „Ich erkläre es dir gleich. Tu einfach, was ich dir gesagt habe!“ Sunny nickte und folgte Dereks Bespiel.

Sämtliche Versuche, den Teamarzt zu erreichen, schlugen erwartungsgemäß fehl. Mit jeder verstreichenden Minute wurde Derek unruhiger.

Bitte, lass den Kerl keine Dummheiten machen, dachte er, während er diesmal Leos Nummer wählte.

„Hast du deinen PC in Reichweite?“, kam er gleich auf den Punkt.

Eine knappe Bestätigung folgte.

„Gut, dann orte sofort Mics Handy!“ Derek drehte eine weitere Runde um den Tisch, während wildes Getippe zu hören war. Immer wieder fiel sein Blick auf die Unordnung.

„Ich habe ihn. Er ist bei sich zuhause. Was ist denn los? Gibt’s Ärger?“, fragte der jüngste des Teams besorgt.

„Das weiß ich noch nicht“, antwortete Derek wahrheitsgemäß und wollte schon auflegen. „Ach, eins noch. Finde alles über eine gewisse Anna Catalano heraus. Ich will alles wissen! Sie steht irgendwie mit Edward Brennings in Verbindung.“

Das Schnaufen, das ertönte, legte die Vermutung nahe, dass der Filius mehr wusste als der Rest des Teams.

„Ja, Boss. Melde dich, wenn es was Neues gibt.“ Damit legte er auf.

„Kannst du mir jetzt mal bitte sagen, was los ist?!“, forderte Sunny, als Derek ihn mit sich hinaus zog und die Tür schloss.

„Unterwegs. Ruf weiter bei Mic an!“

Mics Ohren klingelten unangenehm. Es nervte und zerrte an ihm. Ab und zu konnte er sich genug konzentrieren, um es abzustellen. Doch viel zu schnell ertönte es wieder. Der Alkohol hatte nach der langen Abstinenz schnell Wirkung gezeigt. Verstand und Glieder wurden herrlich schwer. Seine Zunge klebte dick und geschwollen am Gaumen und fühlte sich gleichzeitig seltsam locker an. Soweit hatte das Zeug also seinen Zweck erfüllt. Die Erinnerungen und den damit verbundenen Schmerz konnte es jedoch nur bedingt fortspülen.

Gabrielles Gesicht tauchte immer wieder vor ihm auf. Ihr wunderschönes Gesicht mit den ausdrucksstarken, mandelförmigen Augen und den vollen Lippen. Sie stand im Türrahmen und winkte ihm hinterher, wünschte ihm einen schönen Tag und rieb über den dicken Bauch, in dem seine kleine Tochter heranwuchs. Das Bild wurde von der blassen Leiche ersetzt, die in der ersten Etage des unauffälligen Vorstadthauses am Deckenventilator hing. Mic stöhnte gequält auf und suchte die Flasche. Er fand sie und hob sie auf. Nur damit ihm wieder einfiel, dass sie längst leer war. Der Nachteil eines beginnenden Vollrauschs war die nachlassende Koordinationsfähigkeit. So hatte Mic die Flasche umgestoßen, kaum dass sie halb geleert war. Mehr als einen guten Schluck hatte er nicht mehr retten können. So eine Verschwendung.

Er sollte … was sollte er?

Irgendjemanden anrufen. Derek?

Ja, den sollte er anrufen.

Aber ihm fiel nicht mehr ein, warum es eine bessere Idee war, als …

Wieder setzte dieses Klingeln ein und lenkte ihn ab. Woran hatte er gerade gedacht? Vielleicht sollte er ein paar Schritte gehen und sich mit einem kurzen Sprung ins Wasser abkühlen.

Ja, das klang nach einem Plan.

Jetzt musste er ihn nur noch umsetzen.

Langsam und schwerfällig stand Mic auf und wartete, bis die Welt aufhörte, sich hin und her zu bewegen. Vorsichtig machte er die ersten Schritte.

Der lose Sand unter seinen nackten Füßen und das leichte Gefälle zum Wasser hin verstärkten das schwankende Gefühl um ein Vielfaches. Doch irgendwie schaffte er es, sich dem Rauschen des Meeres zu nähern. Bis er in eine Kuhle trat und der Länge nach im Sand landete.

Mic spuckte aus, was ihm in den Mund geraten war, und versuchte, sich hochzustemmen. Als er nicht die Kraft aufbringen konnte, fluchte er ungehalten. Es kitzelte ihm in der Nase. Er nieste und tauchte erneut mit dem Gesicht in die beigen Körner ein. Nur unter Aufbringung erheblicher Anstrengungen gelang es ihm, sich umzudrehen. So lag er zwar immer noch an der gleichen Stelle, sog aber wenigstens nicht mehr bei jedem Atemzug Sand ein. Mic nieste weitere zwei Male, ehe das Kribbeln in seiner Nase nachließ. Er dankte Gott dafür. Jedes Mal, wenn er nieste, schoss eine Welle der Übelkeit durch ihn hindurch.

Als auch die erneuten Versuche, aufzustehen, ohne Erfolg blieben, schob er resigniert seine Arme von sich. Dann würde er eben hier liegen bleiben. Das machte doch nun auch nichts mehr.

Anna bezahlte den Taxifahrer, steckte ihm noch ein kleines Trinkgeld zu und stieg aus. Ihr Abstecher zum Hotel, um sich umzuziehen, und vor allem der Restaurantbesuch hatten länger gedauert als erwartet. Inzwischen war es fast dunkel, doch sie hatte ihren Besuch bei Michael Thorne nicht noch länger hinaus zögern wollen.

Etwas mulmig war ihr nun aber doch, als sie so dastand und zu dem abgelegenen Strandabschnitt hinunterblickte, an dem sich sein Haus befand. Auf keinen Fall durfte sie das hier vermasseln. Die Sache war einfach zu wichtig.

Er wird dich schon nicht gleich davon jagen. Er hat doch auch ein Interesse daran, den wahren Täter zu finden. sprach sie sich Mut zu.

Anna schlüpfte aus den Schuhen und betrat den schmalen Weg, der zum Wasser hinunter führte. Der Sand war weich und sie sackte bei jedem Schritt ein wenig ein. Anna seufzte leise. Wenn es nicht diesen überaus ernsten Grund für ihren Ausflug an den Strand geben würde, könnte sie fast ein wenig Urlaubsfeeling bekommen. Das fröhliche Lachen und die wunderbaren Gerüche, die der Wind an sie herantrug, taten ihr übriges.

Anna betrachtete das kleine Haus. Es könnte wirklich mal einen Anstrich gebrauchen. Wo die Farbe nicht abgeblättert war, war sie verblasst und vom Salz angegriffen. Hier und da waren auch ein paar neue Latten an dem Geländer der Veranda fällig. Doch das war nicht der Grund dafür, dass sie jetzt den Mund verzog. Obwohl es immer dunkler wurde, brannte innen kein Licht. War Thorne nur früh schlafen gegangen oder noch nicht nach Hause gekommen? Anna vermutete letzteres. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er sich seelenruhig ins Bett legte, während jemand da draußen war, der nach dem alten Schema mordete.

Nach einem verstimmten Schnaufen hielt sie einen Moment inne. Okay, es brachte ja alles nichts. Sie würde eine halbe Stunde warten. Wäre er bis dahin nicht aufgetaucht, müsste sie es eben morgen früh erneut beim Feuerwehrhaus versuchen.

Anna wandte sich vom Haus ab und betrachtete den Strand. Michael Thorne hatte sich eine nette kleine Bucht zum Leben ausgesucht. Auf der rechten Seite schützte ein riesiger Wellenbrecher von ungewollten Blicken und Besuchern.

Auf der anderen Seite ...

Annas Blick ruckte zurück und blieb an etwas hängen, das weiter unten im Sand lag. Aus einem Impuls heraus ließ sie die Tasche auf die Stufen zur Veranda fallen und lief los. Sie beschleunigte ihr Tempo für wenige Schritte, nur um dann abrupt stehenzubleiben. Nur wenige Meter vor ihr lag ein Mann im Sand. Ein Mann, der sich nicht rührte – obwohl das Wasser immer wieder seine Beine umspülte. Langsam und auf alles gefasst näherte sie sich. Unwillkürlich wünschte sie sich, in einem der Bücher zu sein, die sie las, wenn sie mal etwas Zeit hatte. Oder in einer der Serien, die sie sich abends ansah. Kam es dort zu solchen Szenen, konnte man sich stets darauf verlassen, dass ein riesiger Vollmond alles in helles Licht tauchte. Hier und jetzt war dem natürlich nicht so. Die daumendicke Sichel des zunehmenden Mondes brachte gerade mal genug Helligkeit zustande, um sein direktes Umfeld zu erhellen. Zähneknirschend holte sie ihr Smartphone aus der Hosentasche und rief die Taschenlampen-App auf. Es störte sie, so nur eine Hand zur Verfügung zu haben. Der Vorteil, alles erkennen zu können, überwog jedoch diese kleine Einschränkung. Schon wenige Schritte später verlor Anna bereits keinen Gedanken mehr an diese Nebensächlichkeit. Sie war plötzlich viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Augen nicht zu trauen. Graumeliertes, fast silbernes Haar und ein Gesicht, das im Vergleich dazu viel zu jung wirkte. Würde der Mann die Augen aufschlagen, würden sie ihr eisengrau entgegenblicken.

Kein Zweifel, sie hatte Michael Thorne gefunden.

Blieb nur zu klären, warum er hier vor ihr im Sand lag. Und warum er sich nicht rührte, obwohl das kalte Wasser inzwischen bis an seine Oberschenkel schwappte.

Dank des Scheins ihrer Lampe entdeckte sie schließlich die augenscheinliche Antwort. Gleich neben Thorne lag eine fast leere Flasche Jack Daniels. Ob der Inhalt komplett in den Mann oder zum Teil in den Sand gelaufen war, konnte Anna nicht sagen. Aber allem Anschein nach war die Aufteilung wenigstens fifty-fifty.

Anna wechselte die Seite und entfernte als erstes die Flasche aus seiner Reichweite. Sie wollte Thorne wecken und ihm, wenn nötig, ins Haus helfen. Doch als Dank dafür das schwere Glas über den Schädel gezogen zu bekommen, darauf hatte sie keine Lust. Wer wusste schon, wie er reagieren würde, wenn er zu sich kam.

Anna streckte den Arm aus und stieß den Mann gegen die Schulter. „Hey, aufwachen!“ Er zuckte zusammen, brummte etwas Unverständliches, dann lag er wieder still da. „Kommen Sie, wachen Sie auf!“

Er brummte erneut, öffnete dieses Mal aber wenigstens die Augen. „Was …“

Was auch immer er noch sagen wollte, es ging in einem hohen Quieken unter, als die nächste, eiskalte Welle heranrollte und gegen seinen Schritt schwappte.

Anna konnte das Lachen nicht unterdrücken. „Okay, Sie sollten wirklich aufstehen, Michael“, gluckste sie und erlangte mit der Erwähnung seines Namens seine volle Aufmerksamkeit. Benommen blickte er zu ihr empor, musterte sie einige Sekunden – bis ihn die nächste Welle erwischte. Thorne blickte an seinem Körper hinab, keuchte noch einmal und ließ dann seinen Kopf wieder zurückfallen.

„Wenn Sie nicht ersaufen wollen, bewegen Sie endlich Ihren Hintern.“ Okay, das war vielleicht ein wenig drastisch. Auch wenn sich das Wasser inzwischen nicht weiter als bis zu seinen Knien zurückzog, würde er in dieser Position sicher nicht ertrinken. Allerdings hatte Anna weiß Gott keine Lust, die halbe Nacht hier unten zu verbringen. Die Luft kühlte nun ziemlich rasch ab, und so langsam rächte es sich, dass sich Anna – wie sollte es auch anders sein – ein T-Shirt angezogen hatte, bevor sie essen gegangen und hierhergekommen war.

„Zur Seite! Wir übernehmen das!“

Anna schrie erschrocken auf. Vertieft in ihre Bemühungen hatte sie gar nicht mitbekommen, dass sich jemand genähert hatte. Schnell und mehr als dankbar für die unerwartete Hilfe machte sie Platz und sah schweigend zu, wie die zwei Hünen Thorne unter den Armen packten und ihn mit sich zogen, als wöge er nichts. Auf halber Strecke zwischen der Wasserlinie und dem Haus ließen sie ihn sanft zurück in den Sand gleiten.

„Bleiben Sie, wo Sie sind!“, sagte der Typ mit den langen Haaren, während sich der andere über Michael beugte. Michael murmelte etwas Unverständliches und versuchte sich dessen Griff zu entziehen, als der eines seiner Augenlider anhob.

„Sturzbetrunken.“ Er tastete den Kopf und den Oberkörper mit routinierten Griffen ab. „Sonst scheint er okay zu sein. Aber wir sollten ihn rein bringen. Mit den durchnässten Klamotten holt er sich sonst ganz schnell eine Unterkühlung.“

Trotz des Befehls, stehenzubleiben, und in Ermangelung eines anderen Plans trottete Anna dem Dreiergespann hinterher, stoppte aber an der Tür. Sie fühlte sich nicht wohl dabei, einfach hineinzugehen. Sie war ganz sicher nicht willkommen. Das wäre vorhin natürlich auch nicht der Fall gewesen, nur hatte sich die Situation jetzt geändert. Michael ging es alles andere als gut. Ihn zusätzlich noch zu belästigen, kam Anna falsch vor. Egal, wie sehr die Zeit drängte.

Anna griff nach ihrer Tasche und wandte sich zum Gehen.

„Kommen Sie rein!“ Sie zuckte ob der lauten Stimme hinter sich zusammen.

Zögerlich drehte sie sich wieder um und starrte den braungebrannten Mann an. „Warten Sie darauf, dass ich ihnen erst einen roten Teppich ausrolle?“

Anna schüttelte den Kopf und schob sich an ihm vorbei.

„Setzen Sie sich in die Küche und warten Sie da!“

Ging das nicht auch ein wenig höflicher? Sie war doch kein Pinscher, den man auf seinen Platz verwies. Trotzdem kam Anna der Aufforderung wortlos nach und setzte sich auf einen der Hocker, die vor der Küchentheke standen. Da sie nun einmal hier war, würde sie die Chance auch nutzen.

Den Wortfetzen, die sie aus dem Nebenraum auffing, nach zu urteilen, gab einer der beiden dem anderen, einem gewissen Sunny, den Auftrag, für trockene Sachen zu sorgen. Er selbst, bisher namenlos, würde Michael in der Zwischenzeit von den nassen Klamotten befreien. Diese Aufgabe wäre ihr zugefallen, hätte sie es geschafft, Michael hineinzubringen. Anna hatte Mühe, die Bilder zu unterdrücken, die umgehend aufflackerten. Sie biss sich auf die Zunge, um nicht wie ein junger Hund zu janken.

Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis die beiden Männer endlich mit der Versorgung ihres Freundes fertig waren und zu Anna kamen. Sie wollte schon nachfragen, wie es Michael ging, doch das schluckte sie schnell wieder runter, als sie die finsteren Blicke sah, mit denen sie beäugt wurde.

Der Langhaarige räusperte sich. „Danke, dass Sie versucht haben, ihm zu helfen. Aber was haben Sie hier überhaupt gemacht? Das Haus liegt immerhin ziemlich abgelegen vom normalen Strandbetrieb.“

Anna rutschte unruhig auf der Sitzfläche hin und her. Der Mann versuchte vielleicht ruhig und freundlich zu klingen, scheiterte aber komplett.

„Ich wollte nochmal mit ihm sprechen. Wir hatten heute Mittag einen Termin und …“

„Moment! Sie sind Anna Catalano?“, schnappte der Braungebrannte, der sie gerade so höflich hereingebeten hatte. Er warf die Arme hoch und murmelte einen Fluch. Dann fuhr er sich durch die Haare. „Das wird ja immer besser.“

„Sie sind Trevor OʼNeill, oder?“ Jetzt, wo seine Stimme nicht mehr vom Adrenalin gedämpft und verzerrt wurde, erkannte sie sie von dem Telefonat wieder.

„Ja, wir haben heute Vormittag telefoniert. Das ist Derek. Er gehört ebenfalls zur P.I.D. Wie sind Sie und Mic – Mr. Thorne – nach dem Gespräch verblieben?“

Anna nickte dem zweiten Mann zu und sah dann Trevor an. „Wir haben uns über den Fall unterhalten. Mr. Thorne wollte, dass ich ihm einen kurzen Bericht gebe. Er machte sich …“

„Wie sind Sie verblieben?“, wiederholte Trevor unwirsch.

Sie kaute auf ihrer Unterlippe. „Ich sollte auf ihren Anruf warten. Er meinte, man würde sich bei mir melden. Dann hat er mich regelrecht rausgeworfen.“ Sie verzog den Mund. „Die ganze Zeit ist mir das Gespräch nicht aus dem Sinn gegangen. Und als auch nach Stunden noch kein Anruf kam … Naja, ich wollte noch mal mit ihm reden. Nicht nur, um die Dringlichkeit zu verdeutlichen, sondern …“ Sie stockte. Ihnen zu offenbaren, dass sie herausfinden wollte, was hinter ihrem plötzlichen Interesse an diesem Mann steckte, wäre sicher unklug.

„Was?“ Derek kam näher und lehnte sich an die Theke.

„Seine Reaktion. Ich wollte ihn fragen, warum er … Ach, keine Ahnung. Ich hatte einfach ein seltsames Gefühl.“ Das entsprach sogar der Wahrheit. „Als ich dann hier ankam, lag er da unten am Strand.“

Das Schweigen, das sich über die kleine offene Küche legte, war erdrückend. Die Männer hatten eindeutig etliche Fragen, vielleicht auch Einwände, doch sie blieben stumm.

Das machte Anna umso nervöser.

„Er wird doch wieder, oder?“, hauchte sie.

Derek wusste nicht genau, was er darauf erwidern sollte. Rein körperlich würde er ganz sicher wieder genesen. Der Rest aber blieb noch abzuwarten. Er hatte Mic damals erlebt. Der Mann war völlig am Ende gewesen, als er zur P.I.D. kam. Noch heute – oder gerade heute, da das Thema wieder aktuell wurde – fragte sich Derek, wie sein Freund es geschafft hatte, sich vor den anderen nichts anmerken zu lassen. Nicht mal Leo, der von Mics Alkoholproblem wusste, kannte vermutlich die ganze Wahrheit. Mic hatte sich alle Mühe gegeben, sich wieder zu fangen. Noch heute besuchte er, wann immer es möglich war, die Treffen der AA und kam sofort zu Derek, wenn er merkte, dass es ihm schlechter ging. Derek war erleichtert darüber gewesen, dass er ihn immer seltener deswegen aufsuchte. Umso mehr fürchtete er sich jetzt davor, was die Sache bei Mic anrichten könnte.

„Wenn er erst seinen Rausch ausgeschlafen hat.“, sagte er unbestimmt.

„Werden Sie meinen Fall übernehmen?“

Aus großen, türkisenen Augen schaute sie ihn flehend an. Und wieder wusste er keine Antwort auf ihre Frage. Sein Kopf sagte eindeutig Nein. Sein Bauchgefühl widersprach dem jedoch. Derek hatte nur einen kurzen Blick auf die Akte werfen können, die Miss Catalano hinterlassen hatte. Doch das hatte ausgereicht, um seine Instinkte zu wecken. Und etwas sagte ihm, dass das nicht nur beim ihm der Fall war.

„Ich werde Ihnen nichts versprechen. Morgen ist mein Team wieder komplett. Wir werden uns Ihre Unterlagen und den Fall genau ansehen. Fahren Sie nach Hause oder zum Hotel oder wo auch immer Sie zurzeit wohnen. Wir melden uns.“ Er begleitete sie zur Tür. „Und diesmal warten Sie, bis wir uns melden!“

Anna Catalano wirkte zerknirscht, nickte aber schweigend. Derek fühlte sich augenblicklich mies. Immerhin war es vermutlich rein ihrer Ungeduld zu verdanken, dass Mic nicht ertrunken war. Das Wasser konnte hier bei Flut recht hoch steigen. Vor allem, wenn draußen über dem offenen Meer ein Sturm tobte. Wie sie den Mann auch nur die wenigen Schritte hoch ziehen konnte, war ihm nach wie vor ein Rätsel. Er wog mindestens fünfzig Pfund mehr als sie.

„Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass wir den Fall übernehmen. Aber ich verspreche Ihnen, dass wir uns alles genau ansehen und ich mich morgen melde.“

Mit dieser Antwort offenbar zufrieden verließ die Frau das Haus.

Sunny empfing Derek mit einem mehr als skeptischen Blick. Die Ader an seinem Hals pulsierte sichtbar. „Du hast tatsächlich vor, der Sache nachzugehen, oder? Derek, das kannst du nicht machen! Wenn das, was du mir erzählt hast, stimmt …“ Auf seinen finsteren Blick hin hob der Ire kapitulierend die Hände. „Okay, okay. Das war falsch formuliert. Ich bezweifle ja nicht, dass es stimmt. Aber gerade dann kannst du doch nicht ernsthaft in Betracht ziehen, der Frau zu helfen.“

Derek wusste, dass Sunny nicht ganz Unrecht hatte. Die Sache war heikel. Er wollte sich nicht mal vorstellen, was das für seinen Freund bedeuten würde. Das Gespräch und die Durchsicht der Papiere hatten offenkundig schon jetzt alte Wunden aufgerissen. Aber wenn er ihn auch nur ansatzweise so gut kannte, wie er glaubte, hatte es auch in ihm den Keim des Zweifels gepflanzt. Und der musste beseitigt werden, wenn Mic jemals wieder in Ruhe leben wollte.

„Ich werde mein Wort halten. Ich werde mir die Sache ansehen. Ich gehe nicht davon aus, dass Brennings unschuldig ist. Aber was, wenn doch? Und ich glaube, dass auch Mic nach einem Blick über die Seiten genau diese Sicherheit braucht.“

„Also gut.“ Sunny atmete tief durch. „Wie verfahren wir dann weiter?“

Verdammt, war das der Abend der offenen Fragen? Manchmal hasste Derek seine Stellung als Teamleader wirklich. „Ich würde sagen, wir rufen Leo an und bestellen ihn …“ Derek verstummte. Er wusste nicht, wohin. Ihr Büro wäre sicher der logischere Treffpunkt. Dort hatten sie alles, was sie brauchten, um an die Arbeit zu gehen. Angefangen bei der Akte bis hin zum Equipment. Andererseits wollte er Mic nicht alleine lassen. Im Moment schlief der zwar, aber was, wenn er aufwachte? Derek hatte keine Ahnung, in welcher Verfassung sein Freund dann wäre.

Außerdem musste er mit Mic sprechen, bevor die anderen von dessen privater Verbindung zu dem Fall erfuhren. Dass es auf den Tisch musste, stand außer Frage. Doch er wollte Mic überlassen, was preisgegeben werden sollte. Derek hatte sich auf der Fahrt zum Haus nur die nötigsten Informationen entlocken lassen. So wusste Sunny zumindest schon mal, dass eines der Opfer Mic sehr nahe gestanden hatte. Sicher konnte er sich nach Betrachten der Bilder einiges denken. Statt nachzufragen, hatte Sunny nur genickt. Sein Gespür dafür, wann man nachbohrte und wann man sich besser zurückhielt, war eine seiner besten Eigenschaften.

„Ich denke, wir treffen uns erst mal hier. Du rufst Coop und Frog an und fragst, wann sie hier sein können. Sag ihnen, es drängt. Sag ihnen aber nichts von Mics Verbindung zu der Sache. Das ist kein Thema fürs Telefon. Ich setzte mich mit Kid in Verbindung.“

3. KAPITEL

Mic fühlte sich, als habe ihn ein Bus gerammt. Und was immer da auf seiner Zunge lag; es war pelzig und schon vor einer Weile gestorben. Er rieb sie über Gaumen und Zähne und verzog angewidert das Gesicht. Ja, sogar schon vor einer ganzen Weile.

Vorsichtig versuchte er die Augen einen Spalt weit zu öffnen, kniff sie aber sofort wieder fest zusammen. Der schwache Lichtstrahl, der vom Wohnzimmer hereinschien, reichte schon aus, um Teile seines Hirns in Brand zu stecken. Mic seufzte. Er wollte nicht herausfinden, welche Folgen das vollständige Öffnen der Augen für seinen Kopf haben würde.

Aber es musste sein. Er konnte nicht ewig hier liegen. Und schließlich war es ja auch nicht so, dass er nicht bereits ausreichend Erfahrung darin gesammelt hatte, den Preis zu zahlen, den man am Boden einer Flasche fand.

Also zählte er bis Zehn und schob die Lider hoch. Erwartungsgemäß ergoss sich brennender Schmerz über seine Gedanken und löschte sie für eine Sekunde vollkommen aus. Diesen Effekt hätte er sich von dem Genuss des Scotchs gewünscht und nicht erst von dem Kater hinterher.

Die Erinnerung an die Ereignisse des Mittags kehrte zurück und mit ihr eine ganz andere Art von Schmerz. Anna Catalano war durch die Tür getreten und hatte innerhalb weniger Augenblicke sämtliche schrecklichen Momente seines Lebens zurückgebracht. Dass er anschließend einen Blick in die Akte geworfen hatte, hatte seine emotionale Balance nicht gerade stabilisiert. Aber er hatte sie auch nicht einfach ungelesen liegen lassen können, ohne sich immerzu zu fragen, was sie beinhaltete.

Es war einfach unmöglich gewesen!

Was ihn letztendlich hatte zur Flasche greifen lassen, waren jedoch nicht die Bilder der Tatorte. Oder die Berichte. Oder die Erinnerungen. Und auch nicht das, was Anna Catalano in ihm ausgelöst hatte. Nein, so schlimm – und seltsam – das alles auch war, hatte es nichts mit dem Rückfall zu tun gehabt. Es war einzig und allein die Erkenntnis, zu der er gelangt war: Sollten die Angaben, Aussagen und Vermerke nicht erfunden sein, bestand die reelle Möglichkeit, dass Edward Brennings wirklich unschuldig war.

Sein Magen fühlte sich augenblicklich an, als hätte jemand darin einen Gong geschlagen. Bittere Übelkeit stieg in Mic auf. Wenn das wirklich wahr war …

Das Zuschlagen der Haustür und die Stimmen, die sich hörbar der Küche näherten, lenkten Mics Aufmerksamkeit auf seine Umgebung. Jetzt, da sein träger Verstand die Arbeit langsam wieder aufnahm, bemerkte er zum ersten Mal, dass er sich gar nicht mehr auf seiner Veranda befand. Wie desolat sein Zustand wirklich war, zeigte die Tatsache, dass er zwar das Wohnzimmerlicht als Ursache für seine Kopfschmerzen identifiziert, jedoch keinen Zusammenhang zu seinem Aufenthaltsort hergestellt hatte.

Mic schlug die Decke weg und erhob sich schwerfällig. Dass er nur Boxershorts trug, irritierte ihn kaum angesichts der Tatsache, dass er sich auch nicht erinnerte, hineingegangen zu sein. Sich eine Jogginghose und ein Shirt anzuziehen, bedurfte einiger Anstrengung, da sowohl Kopf als auch Magen bei jeder Bewegung energisch protestierten, aber schließlich schaffte er es, ohne sich zu übergeben.

Die ersten Schritte noch leicht wankend hinter sich bringend steuerte Mic die Tür an, die sein Schlafzimmer von Wohnzimmer und Küche trennte, und blieb im Türrahmen stehen. Sofort hoben sich fünf Köpfe und starrten ihn an.

Derek schob sich gleich vor den Tisch. Das war nett gemeint, aber völlig sinnlos. Mic hatte die Unterlagen längst wiedererkannt, die sein Freund zu verdecken versuchte.

„Schon gut. Ich kenne das alles doch“, krächzte Mic und ging an der Gruppe vorbei zur Padmaschine. Eigentlich zog er Filterkaffee vor. Doch in der Glaskanne befand sich nur noch ein kleiner Rest. Da Mic nicht warten wollte, bis neuer durchgelaufen war, würde es auch eine Tasse hiervon tun. Er legte ein Pad ein, stellte ein Tasse darunter und startete die Maschine.

„Nun guckt nicht so. Es geht mir gut“, brummte er, sich ihrer zweifelnden Blicke nur allzu bewusst.

Bis die Maschine die letzten Tropfen Kaffee ausgespuckt hatte, ignorierte er das jedoch. Erst nachdem er die Tasse unter der Düse hervorgezogen hatte, drehte Mic sich um – und zuckte innerlich zusammen.

Das Schweigen war schon unerträglich. Der Ausdruck in den Augen seiner Freunde brachte ihn hingegen fast um. Oh Gott, wie sehr er sich plötzlich wünschte, im Bett geblieben zu sein. „Okay, okay. Aber ich komme klar.“

Es wunderte ihn kaum, dass es ausgerechnet Juliette war, die die Spannung von allem nahm, indem sie auf ihn zu kam.

„Schön, dich wiederzusehen. Ich habe dich vermisst.“ Sie lächelte zu ihm empor und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Er tat es ihr gleich und legte ihr den Arm um die Schulter. „Ja, ging mir auch so. Ohne deine ständige Nerverei war es hier viel zu ruhig.“

Während Juliette ihn liebevoll neckend in die Seite knuffte, als wäre das hier nicht einer der schlimmsten Momente seines neuen Lebens, beruhigten sich Mics Nerven und sein Magen allmählich. Es stimmte wirklich. Kaum war Coop vor ein paar Monaten mit dieser vorlauten, spitzzüngigen Person aufgetaucht, hatte er sie schon ins Herz geschlossen. Nachdem feststand, dass sie bei ihnen bleiben würde, war Mic etwas besorgt gewesen. Diese innige Liebe, die die beiden verband, die ganze Turtelei und die Leidenschaft, die sie zur Schau trugen.

Doch statt Eifersucht und Kummer hatte ihn nur ehrliche und aufrichtige Freude beherrscht. Nach der schlimmen Zeit, die sie hinter sich hatten, hatten sie ihr Glück wahrlich verdient.

Mit Juliette im Arm fühlte sich Mic bereit für die wohl schwerste Offenbarung seines Lebens. Er atmete tief durch und sah einen nach dem anderen an. „Der Mann, von dessen Unschuld Anna Catalano so überzeugt ist, ist besser bekannt als Eastcoast-Rubens-Killer. Er wurde vor fast vier Jahren zum Tode verurteilt. Ihm wurden elf Morde zur Last gelegt.“

„Das musst du nicht tun, Michael.“ Derek sah ihn eindringlich an. „Nicht jetzt sofort.“

„Doch, ich muss, Derek. Ich hätte es ihnen längst sagen sollen. Ich bin hier umgeben von meinen Freunden. Nein, meiner Familie. Es war nicht richtig, so lange zu schweigen.“ Er ließ sich noch genau einen Atemzug lang Zeit und begann zu erzählen: „Die Morde um den Eastcoast-Rubens-Killer waren mein letzter …“ Er sah zu Leo und verbesserte sich „Mein vorletzter Fall. Wie ihr aus der Akte erfahren konntet, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, die Leichen seiner Opfer in den Posen verschiedener Rubens-Gemälde zu hinterlassen.“ Mic kniff sich in die Nasenwurzel. Das stehst du durch. „Wir kamen ihm wohl zu nahe. Er holte zum Gegenschlag aus. Wahrscheinlich um uns zu beweisen, wie überlegen er uns ist.“

„Wen hat er getötet?“ Juliette klang so betroffen, dass Mic nur noch fliehen wollte. Allein, weil ihm ihre Nähe nach wie vor den Halt bot, den er gerade brauchte, wich er nicht von ihr zurück.

Jetzt oder nie. „Meine Frau.“ Mic schluckte schwer gegen die Emotionen an. „Und unsere ungeborene Tochter.“

Entsetztes Gemurmel wallte auf, wurde von wütenden Flüchen und schließlich von Mitleidsbekundungen abgelöst. Damit hatte er gerechnet. Darauf war er gefasst gewesen. Das hielt er aus.

Nein, er hielt es nicht aus. Nicht mehr lange zumindest. Bereits jetzt verlor er unter dem Druck, der sich in seiner Brust aufbaute, fast den Faden. Nur die Tasse, die seine Hände nun trotz der Hitze fest umklammerten, verhinderte, dass er sie zu Fäusten ballte.

Mic trank einen großen Schluck und wünschte sich, etwas Stärkeres in der Tasse zu haben. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren, alles schnell und gradlinig abzuarbeiten. Wie ein Bericht – und nicht wie ein persönliches Erlebnis – würde er die Details zusammenfassen. Die kurze Unterbrechung und die Art, wie sein Publikum ihn jetzt ansah, machte ihm das trotz aller guten Vorsätze nicht leicht. „Ich war bereits Stunden vor dem Mord an meiner… Ich wurde abgezogen, weil ich durch ihre Entführung persönlich involviert war.“

„Du hast dich einfach so abziehen lassen?“ Unverständnis – und vielleicht auch eine Spur Missbilligung – schwang in Coopers Worten mit.

„Ganz sicher nicht, weil ich es so wollte!“ Er schraubte den barschen Ton etwas herunter. Es war unfair, seinen Frust an Coop auszulassen. „Und ich mischte auch weiter mit. Meine Kollegen hatten Verständnis dafür. Sogar mein Vorgesetzter stand inoffiziell auf meiner Seite und ließ mich antun.“

„Was hat seine Meinung geändert?“

„Dass ich am Tatort besinnungslos zusammengebrochen bin. Ich sollte Urlaub nehmen. In Anbetracht der Lage nur verständlich und nachvollziehbar. Aber das kam natürlich gar nicht erst infrage. Dass mir nur die Alternative Innendienst blieb und ich so an den Schreibtisch gefesselt war, gab mir schließlich den Rest. Zumal der Killer noch zwei weitere Kunstwerke hinterließ, ehe man ihn fasste.“ Dass letzteres vielleicht doch nicht der Fall war, registrierte er zwar schmerzhaft, ließ es aber im Moment unerwähnt. „Ich vergrub mich in meiner Trauer, wurde unbeherrscht und bekam ein Alkoholproblem. Mein Boss sah sich meinen Zustand eine Weile mit an und gab mir dann eine letzte Chance, meinen Job zu behalten, ohne eine Suspendierung oder ein Verfahren zu riskieren. Ich sollte einen Entzug und eine Therapie machen, konnte aber indes weiter Innendienst schieben.“

Juliette schob ihren Arm hinter ihn und begann sanft über seinen Rücken zu streicheln. Er lächelte ihr zu, was ihm überraschend leichtfiel.

„Offensichtlich muss ich recht überzeugend gewesen sein, denn einige Wochen später bekam ich den Auftrag, unseren lieben Leo hier aufzuspüren.“ Mic hob die Schultern an und blinzelte angestrengt gegen das Brennen seiner Augen an. „Den Rest kennt ihr. Es tut mir leid, dass ich es euch nicht eher erzählt habe.“

Sofort schlug die Stimmung um. Mic durfte sich für den letzten Satz einiges anhören: Was ihm einfiele, sich dafür zu entschuldigen? Ob er wirklich glaubte, sie würden das nicht verstehen? Ob er sie nach all der Zeit immer noch so wenig kenne?

Auch wurde ihm weiterhin viel Mitgefühl entgegengebracht. Zu viel für den Moment. Sie meinten es gut, keine Frage. Aber er ertrug es einfach nicht.

Mic entzog sich Juliettes Umarmung und löste sich von der Anrichte. Energisch ging er um die Küchentheke herum und auf den Tisch zu. „Wir sollten den Fall übernehmen.“

Der Satz war kaum zu Ende gesprochen, da brach bereits erneuter Protest aus. Mic hob die Hand. „Ich weiß, ihr meint es gut. Aber nicht nur Anna Catalano braucht Gewissheit. Ich habe mir nach dem Gespräch alles angesehen. Ich weiß nicht, was an der Sache dran ist. Aber ich will es herausfinden! Alleine schaffe ich das nicht. Ich brauche euch.“

In den letzten anderthalb Stunden war der Wunsch nach einem Drink zum schmerzhaften Verlangen herangewachsen. Da machte es auch nichts, dass sich sein Blickfeld auch jetzt noch bei jeder schnellen Bewegung leicht verzerrte oder sein Körper zeitweise wie der Zeiger eines Metronoms hin und her pendelte.

Derek hatte das Team mit Aufgaben für den Tag versorgt und sie schließlich rausgeworfen. Nun stand er neben Mic auf der Veranda und schaute in die Dämmerung hinaus. Er sah wahrscheinlich ebenso wenig wie Mic. Wenn auch aus anderen Gründen. Okay, vielleicht auch nicht aus gänzlich anderen. Als Mic sich darüber aufgeregt hatte, dass sein Boss ihn bei der Planung außen vor ließ, war dessen einziger Kommentar gewesen, er solle erst mal richtig nüchtern werden. Vorher würde er ihn nicht einsetzen. Auf eine Diskussion hatte Derek sich gar nicht erst eingelassen. „Wenn es dir nicht passt, auch gut. Aber dann bist du komplett raus!“, war sein einziger und abschließender Kommentar dazu gewesen.

„Du musst das in den Griff kriegen“, brach Derek nach einer Weile das Schweigen. Er betrachtete dabei weiter das bunte Schimmern, das die aufgehende Sonne auf die Wasseroberfläche zauberte.

„Ich habe alles im Griff, keine Sorge.“ Ja, genau. Deshalb listete sein Verstand auch schon geraume Zeit die Drinks in alphabetischer Reihenfolge auf.

„Du schwankst, bist fahrig, aufbrausend und lallst immer noch leicht. Du bist unkonzentriert und deine Hände zittern.“ Derek blickte hinunter. „Da hilft es auch nicht, sie zu Fäusten zu ballen.“

Mic löste die Finger und schob die Hände in die Taschen der Jeans, die er nach einer viel zu kurzen Dusche angezogen hatte. „Das ist nur der Restalkohol. Wenn der erst raus ist … Ach, Mann! Ich krieg das in den Griff, Boss. Ich geb dir mein Wort.“ Mic schrubbte sich den Kopf und seufzte. „Dass ich mir gestern die Flasche besorgt habe, war scheiße. Ich weiß.“

Derek wandte sich seinem Freund zu und legte einen Arm aufs Geländer. „Michael, ich rede hier nicht als dein Teamleader, sondern als dein Freund. Ich kann mir natürlich nur ansatzweise vorstellen, was das Treffen in dir ausgelöst hat. Wenn wir – wenn ich gewusst hätte, worum es sich im Einzelnen bei diesem Auftrag handelt … Aber … Verdammt, Mic! Warum hast du mich nicht angerufen?! Ich wäre sofort da gewesen, das weißt du.“

Mic nickte. Ja, das wusste er. Derek war immer da gewesen, wenn es ihm schlecht gegangen war. Gerade in der Anfangszeit hatte der Mann mehr Zeit in diesem Haus verbracht, als in seinem eigenen. Und das, obwohl sie sich kaum kannten.

„Was hast du am Wasser gewollt?“, fragte Derek unvermittelt.

„Am Wasser? Was? Ich war nicht am Wasser! Oder doch?“ Mic wusste es nicht. Er erinnerte sich an kaum etwas, das nach den ersten Schlucken passiert war. Und zu diesem Zeitpunkt hatte er noch hier auf den Stufen gesessen.

„Mann, Alter. Wie viel hast du denn getankt? Als wir hier ankamen, hast du da unten am Strand gelegen und alle Viere von dir gestreckt. Wenn Anna Catalano nicht dagewesen wäre und dich …“

„Anna war hier?“, fiel Mic ihm ins Wort. Natürlich war ihm bewusst, dass er wie selbstverständlich ihren Vornamen verwendet hatte. Und dass sich sein Puls sofort beschleunigte.

„Ja, sie war gerade dabei, dich irgendwie den Strand hochzuhieven. Du hattest ja scheinbar nichts Besseres zu tun, als dich rechtzeitig zum Einsetzen der Flut ans Wasser zu legen.“ Derek zog die Augenbrauen zusammen. „Du bist doch nur aus Versehen dort eingeschlafen.“ Und hattest nicht vor, allem ein Ende zu setzen.

Auch, wenn Mics „Ja“ spontan kam, fragte er sich insgeheim sofort, ob das auch der Wahrheit entsprach. Es schockierte ihn, die Frage nicht zweifelsfrei beantworten zu können.

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