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MTB Thriller Collection 1

hier erhältlich:

EWIG BIST DU MEIN

Andrea Kanes neuer packender Thriller: Profilerin Casey Woods soll dem FBI helfen, eine mysteriöse Entführung aufzudecken …

Kann Profilerin Casey Woods dem FBI helfen, eine mysteriöse Entführung aufzudecken? Fieberhaft versucht Casey die kleine Tochter der Richterin Hope Willis zu finden. Schnell wird klar: Dies ist kein Routinefall! Bereits Hopes Zwillingsschwester wurde entführt, als sie noch ein Kind war. Die Liste der Verdächtigen ist lang, doch alle Spuren führen ins Leere. Bis ein Mord geschieht - und Casey auf ein dunkles Familiengeheimnis stößt …

SPIEL MIT DEM TOD

Ein neues Internet-Spiel von dem genialen Macher Leonardo Noble zieht alle Fantasy-Fans in seinen Bann. Doch der Einsatz von "The White Rabbit" ist hoch: Wer dem aufregenden Abenteuer mit der Hauptfigur Alice verfällt, riskiert sein Leben.

Zwei Morde wurden in New Orleans bereits begangen. Jetzt arbeiten Stacy Killian und Detective Spencer Malone eng zusammen. Alles weist auf einen wahnsinnigen Täter hin, der in dieser tödlichen Märchenwelt nicht länger zwischen Wirklichkeit und Schein unterscheiden kann ...


  • Erscheinungstag: 20.08.2015
  • Aus der Serie: E Bundle
  • Seitenanzahl: 880
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955764807
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Andrea Kane, Erica Spindler

MTB Thriller Collection 1

PROLOG

Westchester County, New York

Der Sommer vor zweiunddreißig Jahren

Als die sechsjährige Felicity Akerman an jenem Abend zu Bett ging, ahnte sie nicht, dass ihr Leben sich für immer ändern würde.

Sie kuschelte sich unter das dünne Baumwolllaken und legte den Kopf auf das Kissen. Wegen der Hitze hatte sie ihr langes blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug ihr kurzärmeliges Lieblingsnachthemd – das mit den orangefarbenen Fußbällen. In dieser Nacht musste sie es unbedingt anziehen. Es war sozusagen die Krönung eines wundervollen Tages. Wie eine Eins plus im Diktat. Der erste Preis. Der Hauptgewinn.

Genau wie das Spiel an diesem Tag. Der Arzt war sich nicht sicher gewesen, ob sie überhaupt daran teilnehmen sollte – genau wie ihre Mom und ihr Dad. Aber sie hatte so lange gebettelt, bis sie nachgaben. Vor lauter Freude hatte ihr das Herz wie wild in der Brust geklopft. Niemand konnte sich vorstellen, wie sehr sie darunter gelitten hatte, den ganzen Sommer über mit ihrem gebrochenen Arm auf der Ersatzbank verbringen zu müssen. Endlich war es vorbei. Kein Gips mehr. Keine Schmerzen. Kein Grund, noch länger zu warten.

Was sie an diesem Tag auf dem Fußballplatz in Pine Lake denn auch eindrucksvoll bewiesen hatte. Drei von den vier Toren ihres Teams gingen auf ihr Konto.

Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen drehte sie sich auf die Seite. Aus alter Gewohnheit legte sie den Arm, der sieben lange, schreckliche Wochen eingegipst war, vorsichtig neben sich. Ihr Lächeln wurde noch breiter, als ihr klar wurde, dass es gar nicht mehr nötig war. Sie wackelte mit den Fingern und beugte den Ellbogen. Frei. Endlich war sie frei. Und endlich wieder Mannschaftsführerin.

Die Schlafzimmervorhänge bauschten sich in einer Sommerbrise. Ihre Mom hatte das Fenster halb offen gelassen, ehe sie und Dad ausgegangen waren. Die warme Luft erfüllte den ganzen Raum mit Blumenduft und wirkte beruhigend wie ein Wiegenlied.

Felicity schloss die Augen. Eine Falte ihres Lieblingsnachthemds hielt sie mit den Fingern ganz fest. Neben ihr murmelte ihre Schwester etwas im Schlaf, während sie sich auf den Rücken rollte. Sie schlief nicht gern allein, wenn ihre Eltern nicht zu Hause waren. Eigentlich hätte Felicity ihr Zimmer lieber für sich gehabt – das gleiche Gesicht, die gleiche Frisur und denselben Geburtstag mit ihrer Schwester teilen zu müssen, war mehr als genug. Doch in dieser Nacht war sie so glücklich, dass es ihr nichts ausmachte. Dabei waren sie gar nicht allein. Unten im Wohnzimmer saß Deidre und sang schauerlich falsch die Songs auf ihrem Kassettenrekorder mit. Ihre Stimme war so schrecklich, dass die beiden Mädchen unentwegt kichern mussten – aber das verrieten sie ihr lieber nicht. Deidre war ihr Babysitter und sehr streng. Die Achtzehnjährige würde bald aufs College gehen. Sie war also praktisch schon erwachsen. Und Mom und Dad hatten ihnen beigebracht, sich Erwachsenen gegenüber stets respektvoll zu verhalten.

Doch selbst Deidres entsetzlicher Gesang konnte Felicity nicht vom Schlafen abhalten. Die ungewohnte körperliche Anstrengung nach wochenlangem, erzwungenem Nichtstun hatte sie total erschöpft.

Deshalb merkte sie auch nicht, wie das Fenster weiter aufgestoßen wurde. Sah nicht den schattenhaften Umriss der Person, die ins Zimmer kletterte und zielsicher auf das Bett zusteuerte, in dem ihre Schwester schlief. Ebenso wenig bekam sie mit, wie der Eindringling ihr ein feuchtes Taschentuch aufs Gesicht drückte. Aber sie hörte das leise Wimmern.

Benommen rieb Felicity sich die Augen und drehte sich auf die andere Seite. Im Halbschlaf nahm sie eine menschliche Gestalt wahr, die ein schwarzes Kapuzensweatshirt trug. Der Fremde beugte sich über das andere Bett. Kurz darauf verstummte das leise Jammern ihrer Schwester, und sie rührte sich nicht mehr.

Felicity wurde stocksteif, und sie riss die Augen weit auf. Plötzlich war sie hellwach. Wer war da in ihr Haus eingedrungen?

Doch ihr blieb keine Zeit, es herauszufinden. Der Einbrecher richtete sich auf, und eine behandschuhte Hand legte sich über Felicitys Mund. Sie wand und wehrte sich mit aller Kraft. Der Ärmel des Sweatshirts streifte ihre Stirn. Er war klamm und roch ganz seltsam. Wie Medizin, die nach Orangen schmeckte.

Die Hand verschwand, und ein nasses Taschentuch, das nach derselben Orangenarznei roch, wurde ihr auf Mund und Nase gedrückt. Der Gestank war widerlich. Felicity wollte schreien, aber sie brachte keinen Ton heraus. Und befreien konnte sie sich auch nicht.

Das Zimmer begann sich zu drehen. Felicity erhaschte einen Blick auf ihre Schwester. Plötzlich hatte sie das Gefühl, sie doppelt zu sehen. Dazu klang wie aus weiter Ferne Deidres Gesang an ihr Ohr.

Das eklig riechende Taschentuch siegte.

Und um sie herum wurde alles pechschwarz.

1. KAPITEL

Manhattan, New York
Die Gegenwart

In der Bar roch es nach abgestandenem Bier und Schweiß.

Ein wenig abseits von der quirligen Menge rutschte Casey Woods unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und rollte ihr Glas zwischen den Handflächen. Sie hatte bei der Kellnerin irgendetwas aus dem Zapfhahn bestellt; die Biersorte war ihr egal. Während sie einen Schluck trank, beobachtete sie ebenso aufmerksam wie sehnsüchtig die Gruppe Studenten, die sich in der Kneipe im East Village getroffen hatten.

Eigentlich gehörte sie auch dazu. Oder versuchte es wenigstens. Sie wäre gern eine von ihnen gewesen – eine schüchterne und naive Außenseiterin, die darauf brannte, in den inneren Zirkel aufgenommen zu werden. Was sie bis jetzt allerdings noch nicht geschafft hatte.

Beiläufig spielte sie mit einer Strähne ihres langen roten Haars, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Es ließ sie jünger aussehen. Alle paar Minuten schaute sie mit flackerndem Blick zu dem Objekt ihrer Begierde hinüber. Der Mann war Anfang dreißig und saß auf dem letzten Barhocker in der Reihe. Jedes Mal, wenn sie in seine Richtung sah, starrte er zurück.

Langsam kroch die Zeit voran. Casey konzentrierte sich auf die attraktivsten Typen, denen sie unmissverständlich, wenn auch sehr diskret, schöne Augen zu machen versuchte. Ihre Stimmung wechselte zwischen hoffnungsvoll, zögerlich und frustriert. Jeder Mann, den sie ins Auge fasste, verließ irgendwann die Kneipe – entweder mit ein paar Freunden oder einem Mädchen, das er angesprochen hatte.

Kurz nach halb vier Uhr morgens machte der Barkeeper Anstalten, das Lokal zu schließen. Es leerte sich allmählich, und als die letzten Nachzügler aufbrachen, schienen Caseys Hoffnungen für die Nacht offenbar endgültig zu schwinden. Resigniert schloss sie die Augen.

Während sie sich langsam erhob, griff sie in ihre Umhängetasche, um ein wenig Geld herauszufischen. Wie beabsichtigt glitt sie ihr von der Schulter, und der gesamte Inhalt verstreute sich über den Boden. Knallrot vor Verlegenheit hockte sie sich hin, um ihre Habseligkeiten in den Beutel zurückzustopfen – ihre Brieftasche, ihr Makeup und den gefälschten Studentenausweis.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie ein Mann am anderen Ende der Bar vom Hocker rutschte, ein paar Scheine auf die Theke warf und mit den letzten Gästen verschwand.

Inzwischen war es vier Uhr morgens. Polizeistunde.

Trotz der ärgerlichen Blicke des Barkeepers ließ Casey sich viel Zeit, um ihre Sachen aufzusammeln und sorgfältig einzupacken. Aus ihrer Börse holte sie ein paar Dollarnoten, die sie auf den Tresen warf. Dann schlenderte sie zum Ausgang.

Hinter ihr schloss der Barmann die Tür ab.

Casey holte tief Luft und achtete darauf, genau denselben Weg einzuschlagen, den sie schon die ganze Woche über genommen hatte. Schließlich bestimmte sie die Spielregeln. Heute war sie jedoch länger in der Kneipe geblieben. Die Straßen waren noch verlassener als sonst. Der Zeitpunkt war günstig.

Mit hochgezogenen Schultern passierte sie die Gasse in der Nähe des Tompkins Square Parks, ohne nach rechts oder links zu schauen.

Sie hörte Fishers Schritte nur Sekunden, bevor er sie packte. Mit dem einen Arm umschlang er ihre Taille, mit der anderen Hand drückte er ihr ein Messer an die Kehle. Zu fest. Zu schnell. Keine hämischen Bemerkungen. So hatte sie das eigentlich nicht geplant. Aber nun war sie in seiner Gewalt.

„Wehr dich nicht. Schrei nicht. Wage nicht mal zu atmen. Oder ich schlitz dir die Kehle auf.“

Casey fügte sich in ihr Schicksal. Das Zittern musste sie ebenso wenig vortäuschen wie die Angst, die sie stocksteif werden ließ. Krampfhaft versuchte sie, ganz ruhig zu bleiben und nicht zu vergessen, warum sie das tat. Widerstandslos ließ sie sich von Fisher in die Gasse zerren. Der durchgeknallte Mistkerl warf sie auf den schmutzigen Zementboden und kniete sich auf sie, ein triumphierendes Glitzern in den Augen. Während er ihr das Messer mit der einen Hand immer noch an die Kehle drückte, benutzte er die andere dazu, an ihrer Jeans zu zerren.

Der Knopf sprang auf. Aber der Reißverschluss gab nicht nach.

Dafür hatte Marc Deveraux gesorgt.

Wie ein Raubtier tauchte er aus dem Schatten auf und stürzte sich mit der ganzen Wucht seines mächtigen Körpers auf den verhinderten Vergewaltiger. Er riss Fishers Hand fort, die das Messer an Caseys Kehle drückte, und schlug auf seinen Oberam ein, bis Fishers Knochen ein knackendes Geräusch von sich gaben und das Messer klirrend zu Boden fiel.

Fisher heulte auf vor Schmerz.

„Das ist erst der Anfang“, drohte Marc. Er riss den Mann hoch und drückte ihn unsanft gegen die Wand. „Geht’s dir gut?“, rief er Casey zu, die sich mühsam aufrappelte.

„Jedenfalls besser als gerade eben noch“, stieß sie hervor.

„Okay.“ Er wandte sich wieder an Fisher. „Rede!“, befahler, während er ein Knie in seine Weichteile rammte und ihm den Ellbogen gegen die Kehle presste.

„Die Kleine hat mich angemacht“, keuchte Fisher. Schweißperlen traten auf seine Stirn. „Sie …“ Die Luft blieb ihm weg, als Marc den Druck seines Knies verstärkte, und er jaulte auf.

„Falsche Antwort. Was hattest du mit der Frau vor … und was hast du mit all den anderen gemacht?“ Er kam näher, bis sein Gesicht das des anderen Mannes fast berührte. „Soll ich dir mal zeigen, wozu ich fähig bin? Aber das willst du gar nicht wissen. Im Vergleich zu mir bist du nämlich ein Weichei.“ Er setzte den Ellbogen tiefer an, sodass Fisher kaum noch atmen konnte. „Jetzt erzähl mir von den Frauen – von allen. Lass nichts aus. Ich höre dir aufmerksam zu.“

Es dauerte länger als erwartet, bis Fisher gestand. Er redete erst, als das ehemalige Mitglied der Navy Seals, der USmilitärischen Elitetruppe, ihm den Daumen ins Schlüsselbein bohrte und Schmerzen verursachte, die noch anhielten, nachdem er längst von seinem Gegner abgelassen hatte. Wenn er es noch mal tun müsse, drohte Marc, würde es zehnmal qualvoller werden, falls er ihm nicht vorher schon das Genick gebrochen hätte. Bei den kaltschnäuzigen Erzählungen des Mörders kam Casey die Galle hoch. Gott sei Dank würde er sehr lange in einer Zelle schmoren. Hoffentlich werfen sie den Schlüssel weg, wünschte Casey sich im Stillen.

„Ich verschwinde, Marc“, informierte sie ihren Lebensretter. „Wenn ich noch länger bleibe, wird mir schlecht.“

„Geh“, drängte er sie leise. „Ich erledige das hier und bring ihn dann aufs Revier. Die Polizei wird die Leichen finden. Soll er ruhig behaupten, das Geständnis sei erzwungen worden. Das Wort eines Schwerverbrechers steht gegen das unsere. Was er mir gleich erzählt, wird ihm den Hals brechen. Geh ruhig nach Hause. Ich erledige das alleine.“

Das Haus war ein dreistöckiger Sandsteinbau in Tribeca, in dem sie sowohl ihre Wohnung als auch ihr Büro hatte. Die ideale Lösung. Nur eine Hypothek, die zu zahlen war. Ein einziger Platz für ihr gesamtes Hab und Gut. Keine langen Wege zur Arbeit. Geradezu perfekt.

Zugegeben, ihr Schlafzimmer im dritten Stock sah sie nur selten, und ihr Bett benutzte sie auch so gut wie nie. Sie lebte praktisch in ihrem Büro. Tag für Tag. Sie hatte es sich so ausgesucht. Aber sie bereute es nicht.

Rasch ließ sie ihren Blick durch die Eingangshalle schweifen, ehe sie sich nach links wandte und die L-förmige Treppe in den ersten Stock hinaufstieg. Direkt gegenüber vom Treppenabsatz hatte sie Fenstertüren einbauen lassen. Durch sie gelangte man auf einen Balkon, der den Blick auf einen sehr gepflegten eingezäunten Hinterhof gewährte. Farbenprächtige Blumenbeete. Dicht wachsende, kurz geschnittene Sträucher. Und zu beiden Seiten jeweils zwei zierliche Weidenbäume. Eine ebenso schöne wie beruhigende Aussicht.

Casey trat für einen Moment ins Freie und schloss rasch die Türen hinter sich. Sie hoffte, dass die kühle Luft sie erfrischen würde. Seufzend stellte sie fest, dass die Sonne bereits hoch über dem Horizont stand und schnell in den Himmel stieg. Die Zeiger ihrer Armbanduhr standen auf halb zehn. Es hatte länger gedauert als erwartet, bis Marcs unkonventionelle Verhörmethoden Erfolg zeigten und Fisher ein umfassendes Geständnis abgelegt hatte.

Noch immer spürte Casey die schmierigen Hände des Bastards auf ihrem Körper. Obwohl sie diesen Überfall geradezu provoziert hatte, hatte ihr dieser Kerl dennoch einen gewaltigen Schrecken eingejagt.

Im Nachhinein schauderte sie immer noch, wenn sie daran dachte, dass sie es tatsächlich geschafft hatten, Fisher und seine Aussagen zu den anderen Opfern zu bekommen. Widerwärtig. Doch Typen wie er, die gewissenlos die schockierendsten Verbrechen begingen und sich der abgrundtiefen Verachtung ihrer Mitmenschen sicher sein konnten, waren der Grund für sie gewesen, Forensic Instincts ins Leben zu rufen, ihr eigenes kleines Unternehmen, mit dem sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Ihre Firma hatte sie als Kapitalgesellschaft ohne persönliche Haftung angemeldet.

Über den Balkon schlenderte sie zu den anderen Fenstertüren, die in das Gebäude zurückführten. Sie hielt ihre Zugangskarte vor das Lesegerät und tippte den Sicherheitscode in das Zahlenfeld. Die Türen öffneten sich und schlossen sofort hinter ihr, nachdem sie eingetreten war. Keine Zeit zum Ausruhen – jedenfalls noch nicht. Ihre Kollegen würden gleich zu einer Abschlussbesprechung des Einsatzes zusammenkommen.

Forensic Instincts war zunächst nichts als ein schöner Traum gewesen. Doch jetzt war er Realität geworden.

Die Gründung lag zwar schon vier Jahre zurück, aber im Grunde steckte die Firma immer noch in den Kinderschuhen. Damals hatte Casey mit der Suche nach einem schlagkräftigen und kompetenten Team begonnen, dessen Chefin sie sein konnte. Dank ihrer langjährigen Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit psychologisch geschulten Fallanalytikern, ihrer Menschenkenntnis und der Zeit, in der sie sowohl im staatlichen Gesetzesvollzug als auch für private Ermittlungsdienste gearbeitet hatte, war es ihr nicht schwergefallen, selbst eine fähige Profilerin zu werden. Sie besaß einen Master vom John Jay College für Strafjustiz und einen Bachelor-Abschluss in Psychologie von der University of Columbia. Wichtiger jedoch war, dass sie ein Gefühl dafür hatte, wie Menschen tickten.

Die beiden Kollegen ihres Teams waren ziemlich beeindruckend. Aber genau deshalb hatte sie sie ja auch ausgewählt, auf Herz und Nieren geprüft und schließlich angestellt. Die beiden hätten unterschiedlicher nicht sein können. Beide brachten ganz spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten in das Team von Forensic Instincts ein. Folglich war es kaum erstaunlich, dass die Liste von aussichtslos erscheinenden Kriminalfällen, die sie erfolgreich aufgeklärt hatten, immer länger wurde.

Das Trio war einmalig und agierte vor allem sehr unkonventionell. Was so viel bedeutete, als dass sie einerseits hochwillkommen waren – und andererseits als aufdringliche Nervensägen galten.

Vor allem jedoch wuchs ihre Reputation bei den Strafverfolgungsbehörden und, wichtiger noch, bei ihren Klienten, von denen immer mehr um ihre Hilfe baten. Diejenigen, die sie engagierten, sahen in ihnen oft die letzte Hoffnung.

Sie hielten sich nur an wenige Regeln, dafür aber konsequent. Unbedingte Loyalität sowohl der Firma als auch einander gegenüber; hundertprozentiger Einsatz bei der Arbeit; Ehrlichkeit um jeden Preis – aber nur, wenn es sie gegenseitig betraf; absolute Diskretion – was bedeutete, jedes Aufsehen strikt zu vermeiden. Als unkonventionelle Ermittler, die sich erlauben konnten, die Grenzen der Gesetze sehr viel weiter zu stecken, als die reglementierte Bürokratie es erlaubte, war es besser für sie, unauffällig zu bleiben. Jedes Mitglied dieses außergewöhnlichen Trios war von der Effizienz seiner jeweiligen Arbeitsweise vollkommen überzeugt.

Drei Egos trafen hier aufeinander, von denen keines dem anderen etwas schenkte. Es gab häufig Diskussionen, hitzige Wortgefechte, bei denen die Argumente hin und her flogen, und bisweilen auch eine ausgeprägte Starrköpfigkeit aller Beteiligten. Im Fall von Fisher hatte Casey darauf bestanden, dem Täter auf die Spur zu kommen, indem sie sein Verhalten beim Umgang mit jungen Frauen observierte und die Ergebnisse ihrer Beobachtungen anhand ihrer Erfahrungen und ihres Bauchgefühls auswertete. Marc hatte dafür plädiert, Statistiken und Ermittlungsergebnisse zurate zu ziehen, um auf diese Weise ein wasserdichtes Täterprofil zu erhalten, ehe sie zuschlugen. Ryan wiederum verfolgte hartnäckig eine andere Methode. Er zog es vor, sich in Fisher und seine Gedankenwelt hineinzuversetzen, um auf diese Weise hinter die Motive seiner perversen Taten zu kommen: ein Jäger, der seine ganz eigene Strategie hatte, um seine Beute zu erlegen. Der Achtundzwanzigjährige war eine beeindruckende Kombination aus technischem Genie und strategischem Tüftler. Mithilfe eines ausgeklügelten Computerprogramms, das er mit einer Unmenge von Informationen fütterte, analysierte er das menschliche Verhalten, um sich die Ergebnisse anschließend für die Praxis nutzbar zu machen.

Jedes Teammitglied glaubte mithin unerschütterlich an seine Methoden. Und glücklicherweise war das Endergebnis stets größer als die Summe der einzelnen Teile.

Ja, sie waren eine fantastische Mannschaft, eigensinnig, unerbittlich, dickköpfig – aber auf ihrem Gebiet die beste. Genau das hatte Casey angestrebt. Und während sie das Tätigkeitsfeld beständig erweiterte, sorgte sie dafür, dass der Ruf von Forensic Instincts immer besser wurde. Ihr Großvater wäre stolz auf sie gewesen. Sie hatte das Vermögen, das er ihr vermacht hatte, klug und umsichtig investiert.

Mit einem flüchtigen Lächeln schaute sie sich um. Durch die zweite Balkontür war sie in den Besprechungsraum im ersten Stock gelangt. Es war das größte Zimmer im ganzen Haus – und das am aufwendigsten ausgestattete.

Bei ihrem Eintreten schalteten sich die Videoschirme ein, die eine gesamte Wand bis zur Decke einnahmen. Auf jedem Schirm wurde eine lange grüne Linie sichtbar, die von links nach rechts zuckte. Dann ertönte eine besänftigende Stimme, die aus einem nicht lokalisierbaren Teil des Raumes kam: „Willkommen zu Hause, Casey.“ Die grüne Linie schlug bei jeder Silbe aus. Die Stimme fuhr fort: „Warnung. Erhöhte Herzfrequenz.“

Casey erschrak. Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, von Yoda begrüßt zu werden, dem künstlichen Intelligenzsystem und der jüngsten Erfindung von Ryan McKay, dem Technikfreak bei Forensic Instincts. Irgendwie erkannte das verfluchte Ding stets, wer sich im Zimmer aufhielt. Es wusste sogar, wenn irgendetwas nicht in Ordnung war. Wie jetzt. Egal, wie oft Ryan versucht hatte, ihr die Funktionsweise von Yoda zu erklären – Casey erschienes immer noch wie Hexerei.

Das Besprechungszimmer strahlte ehrwürdige Gediegenheit aus. Glänzender Parkettboden. Ein dicker Orientteppich. Ein ausladender Mahagonitisch und ein passendes Sideboard. Und das Wichtigste: eine technische Ausstattung, die, sowohl was Design als auch Funktion anging, ihrer Zeit um Lichtjahre voraus war. Das Herzstück der Anlage war den Blicken verborgen; zu sehen waren nur die Videoschirme, die eine Längswand des Raumes einnahmen und es Ryan ermöglichten, eine Unmenge an Informationen entweder in einem einzigen großen Bild oder in mehreren kleineren Teilen zu erfassen. Vervollständigt wurde die aufwendige Einrichtung von einer Anlage für Videokonferenzen, einem ausgeklügelten Telefonsystem und einem Computerarbeitsplatz für jedes Teammitglied.

Das alles wurde von Yoda kontrolliert, der mit stoischer Gelassenheit auf ihre Anfragen reagierte. Hinter dem beindruckenden Yoda-Interface verbargen sich eine Reihe von Servern, die im gesicherten Bürotrakt im unteren Teil des Hauses standen. Wie ein stolzer Papa hatte Ryan den speziell angefertigten Servern Namen gegeben: Lumen, Aequitas und Intueri, die lateinischen Begriffe für Licht, Gerechtigkeit und Erkennen. Die Namen waren so sehr zu einem Teil von Forensic Instincts geworden, dass sie sogar im Firmenlogo auftauchten.

Nach wie vor war Casey schwer beeindruckt von der Raffinesse, der Leistung dieser Rechner und den Möglichkeiten ihrer Anwendung. Insgeheim musste sie sich eingestehen, dass sie kaum Ahnung hatte, wie sie funktionierten. Im Gegensatz zu Ryan. Hauptsache, er wusste Bescheid.

Casey durchquerte das Zimmer und blieb kurz auf dem Teppich stehen, ehe sie einen Stuhl hervorzog und sich an den langen ovalen Konferenztisch setzte.

Sie lehnte sich zurück und befahl: „Zeig mir bitte die neuesten Fernsehnachrichten, Yoda.“

„Möchten Sie Nachrichten weltweit, national oder lokal?“, erkundigte Yoda sich freundlich.

„Lokal.“

„CBS, NBC, Fox, ABC oder alle?“, fragte Yoda.

„Alle.“

Umgehend führte Yoda den Befehl aus und zeigte alle vier Kanäle, von denen jeder ein Viertel der Wandfläche einnahm.

Casey drehte ihren Stuhl, sodass sie die Schirme im Blick hatte. Während sie die Bilder betrachtete, streifte sie das Stirnband ab, das sie in der Nacht getragen hatte, schüttelte ihre lange rote Mähne und fuhr sich mit den Fingern durch die zerzausten Strähnen. Als Glen Fisher auf dem Schirm mit den Fox-Nachrichten erschien, befahl sie: „Yoda, Fox-Nachrichten, ganzer Bildschirm.“

Sofort nahm Glen Fisher die gesamte Wand ein. Vor Nervosität schwitzend, wandte er rasch den Kopf ab, als die Kameras näher kamen, während er aus der schmalen Straße geführt und zum Streifenwagen gebracht wurde.

Für die Medien war er ein gefundenes Fressen. Die Fernsehmoderatorin wirkte total aufgedreht – einerseits vollkommen aus dem Häuschen, über das Ereignis berichten zu können, andererseits schockiert, dass so etwas überhaupt geschehen konnte. Casey erkannte es an ihrer Mimik, hörte es in ihrer Stimme, bemerkte es an ihrer Körpersprache. Diese Frau stand unter Volldampf, wenn auch widerstreitende Gründe in ihr kämpften. Das Kinn nach vorn gereckt, der Rücken gestrafft, vor Wichtigkeit glänzende Augen. Doch alle paar Sekunden flackerte ihr Blick unruhig hin und her. Vermutlich dachte sie bereits an den nächsten Schritt auf ihrer Karriereleiter. Hinzu kam ein gewisses Schuldbewusstsein, das nicht zu verkennen war. Sie war eine Frau. Es passte ihr ganz und gar nicht, aus den Verbrechen an anderen Frauen Kapital für sich persönlich zu schlagen.

Sie redete viel zu schnell, während sie von Fishers abscheulichen Verbrechen berichtete und die widerwärtigen Details bewusst übertrieb – etwa die Tatsache, dass er trotz einer wohlbehüteten Kindheit und einer unauffälligen Lebensweise schwere Persönlichkeitsstörungen aufwies. Er hatte einen anständigen Job in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und eine Frau, die ihn anbetete und offenbar nicht wusste, was für ein Monster sie geheiratet hatte. Und ein hübsches Apartment in Manhattan mit Nachbarn, die keine Ahnung hatten von der Gefahr und der Verderbtheit ganz in ihrer Nähe. Schlimmer noch: Er hatte es irgendwie geschafft, die New Yorker Polizei monatelang an der Nase herumzuführen und so unscheinbar zu bleiben, dass er nicht einmal als blinkender Punkt auf ihrem Radarschirm auftauchte – ganz zu schweigen von konkreten Verdachtsmomenten gegen ihn. Erstaunlich, dass es der ungewöhnlichen Initiative einer jungen, florierenden und privat geführten Firma bedurfte, Glen Fisher einzukreisen und Dinge in Bewegung zu setzen, damit es zu diesem Tag der Vergeltung kommen konnte.

Verärgert über die melodramatische Präsentation und die Spitzen gegen die Polizei, stieß Casey einen lauten Fluch aus und ballte die Hände zu Fäusten, sodass ihre Fingernägel sich in die Handflächen bohrten. Sie nahm die ganze Angelegenheit viel zu persönlich, was sehr ungewöhnlich für sie war. Aber es gab Gründe für ihre mangelnde Objektivität. Fishers Verbrechen weckten Erinnerungen, die ihr Übelkeit verursachten.

„Wie die sprichwörtliche Fliege im Spinnennetz“, unterbrach eine männliche Stimme ihre Gedanken. „Du warst der ideale Köder.“

Casey warf einen Blick über ihre Schulter. Marc Deveraux, ihr zuverlässiger Unterstützer und Kollege, schlenderte ins Zimmer. Mit einem raschen Blick auf den Bildschirm hatte er die Situation erfasst. Seine Miene blieb ausdruckslos. Nur in seinen Augen lag eine kühle Befriedigung. Marc verhielt sich in jeder Situation durch und durch professionell.

Außerdem war er Caseys erfahrenster Mitarbeiter. Er war beim FBI gewesen, hatte in der Verhaltensanalyseeinheit gearbeitet und bei den Navy Seals gedient. Seine Abstammung war bemerkenswert: asiatische Großeltern mütterlicherseits und ein weit zurückreichender französischer Stammbaum seitens des Vaters. Deshalb beherrschte er drei weitere Sprachen fließend: Mandarin, Französisch und Spanisch. Mit einem derart schillernden Hintergrund war er vom FBI umgehend eingestellt worden und hatte im Alter von neununddreißig Jahren schon eine Menge Erfolge vorzuweisen. Er war ein attraktiver, grüblerischer Typ und Single – was er auch zu bleiben gedachte. Ein besserer Mann für diese Art von Tätigkeit war kaum zu finden.

„Dafür musste ich aber auch stundenlange Verschönerungsarbeiten über mich ergehen lassen“, entgegnete Casey. „Das kannst du dir nicht vorstellen.“

„Verschönerungsarbeiten?“, fragte Marc trocken. „Ich hätte eher auf Schauspielunterricht getippt. Du als graue Maus ohne soziale Kontakte – das ist schon ein bisschen weit hergeholt.“

„Sehr komisch, Klugscheißer. Aber ich bin schon lange nicht mehr achtzehn. Ich brauchte tatsächlich eine Kosmetikerin, um die Uhr zurückzudrehen.“

„Unsinn.“ Marc hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen. „Um überzeugend zu wirken, musstest du dir doch nur ein bisschen Jungmädchenschminke aufs Gesicht spachteln und dein Haar mit einem Gummiring zum Pferdeschwanz binden. Alles andere an dir war restlos überzeugend, das kannst du mir glauben. Frag doch nur die geilen Studenten, die dich den ganzen Abend angestarrt haben. Ich hab sie beobachtet. Ich weiß, wie so was läuft. Hättest du nicht die verängstigte Jungfrau gespielt, dann hätten sie Schlange gestanden, um dich abzuschleppen.“

„Klingt ja so, als hättest du in der ersten Reihe gesessen.“

„Hab ich auch.“

Verblüfft schüttelte Casey den Kopf. „Ich habe dich überhaupt nicht gesehen.“

„Genau darum geht’s doch, oder? Ich bin gut darin, mich unsichtbar zu machen. Und dafür zu sorgen, dass niemand für mich unsichtbar ist. Inklusive geiler Studenten, die …“

„Okay, das reicht“, unterbrach Casey ihn, um das Thema abzuschließen. Sie verspürte keine Lust, sich auf den Arm nehmen zu lassen. Stattdessen wollte sie Marc lieber das Lob geben, das er verdiente. „Reden wir lieber von dir. Wie du die Sache durchgezogen hast – das war perfekt. Dein Auftritt war Angst einflößend. Genau zur richtigen Zeit. Selbst ich bin fast ausgeflippt, als du mit diesem mordlüsternen Blick in die Gasse gestürmt bist. Und ich muss zugeben, dass es mir richtig Spaß gemacht hat, Fisher dabei zuzusehen, wie er durchgedreht ist und sich vor Angst in die Hose gepinkelt hat. Besser hättest du es nicht anstellen können – den Irren zu fassen und ein komplettes Geständnis zu bekommen. Hut ab!“

Marc zog den Stuhl neben Casey hervor, ließ sich auf den Sitz fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Tut mir leid, dass es für dich so unangenehm war, ehe ich alles aus dem Kerl herausquetschen konnte.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Darum haben uns die Cops schließlich ‚stillschweigend‘ gebeten.“

„Ja, aber sie hatten auch nicht Fishers Messer an der Kehle und seine Hände auf ihrer Jeans.“

„Vergessen wir’s, okay?“

Marc musterte sie aus den Augenwinkeln. Dann wandte er sich dem Bildschirm zu und lauschte den Einzelheiten, die ihm alle schon aus erster Hand bekannt waren. Drei rothaarige Studentinnen, alle als vermisst gemeldet, waren vergewaltigt und ermordet worden. Drei schmuddelige Kneipen, jede nur einen halben Häuserblock von einer düsteren Gasse entfernt. Mädchen, die dort ihre Abende verbrachten und auf gleichaltrige Bekanntschaften hofften, aber immer allein nach Hause gingen.

Dank Fishers Geständnis konnten weitere unbekannte Opfer identifiziert und ihre Leichen geborgen werden. Sie alle waren noch halbe Kinder gewesen und hatten erst seit Kurzem in Manhattan gewohnt – entweder als Besucherinnen oder als Austauschstudentinnen. Mädchen, deren Leben Fisher erkundet und dabei herausgefunden hatte, dass sie weder Freunde noch Familien hatten, die sie vermissen würden. Sie alle ähnelten den bereits bekannten Opfern.

Marc atmete tief aus. Er war froh, dass der Fall gelöst war. Hoffentlich würde Fisher in seiner Zelle vermodern. Jetzt wurde es Zeit, etwas Neues in Angriff zu nehmen.

Etwas Neues in Angriff nehmen hieß für Marc, ein paar Stunden zu schlafen, ehe das Team den nächsten Auftrag bekam. Bis dahin wollte er eine Weile entspannen. Was bei Marc bedeutete, den Adrenalinspiegel auf den Level zu bringen, auf dem er sich zu seiner Zeit als Navy Seal bewegt hatte. Deshalb betrieb er Extremsportarten, die andere Leute als Wahnsinn betrachteten. Seine derzeitige Lieblingsbeschäftigung war Base-Jumping, bei dem man mit einem Fallschirm von Hochhäusern, Sendemasten, Brücken und Felsen sprang. Aus diesen gefährlichen Höhen stürzte Marc sich nicht nur wegen des Nervenkitzels in die Tiefe, sondern auch, um sich zu vergewissern, dass er den riskanten freien Fall beherrschte. Erst in letzter Sekunde pflegte er seinen Fallschirm zu öffnen und zu Boden zu schweben.

Ungeduldig rutschte er jetzt auf seinem Stuhl hin und her. Er wollte endlich nach Hause. „Wo ist Ryan?“, fragte er. „Unten in seiner Höhle?“

„Nein. Hier oben. Direkt hinter dir. Bereit für die abschließende Besprechung, damit wir für heute Schluss machen können.“ Unbemerkt von Marc hatte Ryan McKay das Zimmer betreten. Er war das komplette Gegenteil eines Computerfreaks. Er war nicht nur ein technisches Genie, sondern auch ein Sportfanatiker, der jeden Morgen zwei Stunden intensiv trainierte. Zu seinem körperlichen Fitnessprogramm gehörten Mountainbiking ebenso wie Extrem-Marathonläufe – am liebsten im Death Valley oder in der marokkanischen Wüste. Dank Marc hatte er vor Kurzem seine Fallschirmspringerprüfung bestanden und sich von ihm für weitere halsbrecherische Sportarten begeistern lassen.

Ryan besaß nicht nur einen muskulösen Brustkorb; er war außerdem von imposanter Statur und sah aus wie ein „schwarzer Ire“ – so nannten die „echten“ Iren ihre Landsleute, die statt der sprichwörtlichen roten Haare und Sommersprossen dunkle Haare und einen braunen Teint hatten, der die Frauen dahinschmelzen ließ. Dummerweise ließen ihn diejenigen, die sich ihm begeistert an den Hals warfen, ziemlich kalt und gingen ihm erheblich auf die Nerven. Jene Frauen, die ihn interessierten und mit denen er sich verabredete – wenn er denn einmal die Zeit dafür fand, was selten genug vorkam –, waren selbstbewusst, unabhängig und gaben sich unbeeindruckt von seinen körperlichen Vorzügen und Fähigkeiten.

„Erstaunlich“, begrüßte Casey ihn. „Du überlässt deine kostbaren Roboter tatsächlich sich selbst, um uns deinen Abschlussbericht vorzutragen?“

„Diesmal keine Roboter. Ich habe unser neues verschlüsseltes Funksystem getestet. So weit, so gut.“ Ryan hatte sich bereits vor den Sensorbildschirm gestellt. Seine Präsentation würde jede Einzelheit ihrer Ermittlungen kritisch beleuchten und Details berücksichtigen, die bei künftigen Aufträgen eine Rolle spielen konnten – eine Bilanz, die er nach jedem abgeschlossenen Fall zog.

Jetzt ließ er sich auf einen Stuhl fallen und warf Casey einen prüfenden Blick zu.

Ebenso wie Marc wusste er Bescheid über die Vergangenheit seiner Chefin. Und ebenso wie seinem Kollegen war ihm klar, dass Casey dieser Fall, auch wenn sie es niemals zugeben würde, sehr zugesetzt hatte.

Im Zimmer war es ganz still geworden. Schließlich begann Ryan mit seiner Zusammenfassung. Dabei wählte er die Worte mit Bedacht, um seine Chefin nicht zu sehr aufzuwühlen.

Casey schreckte aus einem unruhigen Schlummer voll brutaler und grausamer Albträume hoch. Das Klingeln ihres Handys ließ sie zusammenzucken. Ihr Blick fiel auf den Wecker. Halb fünf nachmittags. Eine ganz normale Zeit, jemanden anzurufen – wenn der Angerufene nicht gerade mehr als fünfzig Stunden auf den Beinen gewesen war. Warum bloß hatte sie das Telefon nicht ausgeschaltet, ehe sie ins Bett gekrochen war?

Aber da sie es nun mal vergessen hatte, konnte sie den Anruf auch genauso gut entgegennehmen.

Mit einer bösen Vorahnung tastete sie auf dem Nachttisch nach ihrem Handy.

Das Letzte, das Casey Woods im Moment gebrauchen konnte, war ein weiterer Fall, der ihr genauso an die Nieren ging.

Unglücklicherweise war es exakt das, was sie erwartete.

2. KAPITEL

White Plains, New York Der erste Tag

Familienrichterin Hope Willis hatte den letzten Fall auf ihrer Prozessliste abgeschlossen, verkündete ihren Urteilsspruch und beendete die Verhandlung. Sofort eilte sie in ihr Büro, schlüpfte aus der Robe, sammelte ihre Akten ein, wechselte ein paar Worte mit ihrer Sekretärin und verließ das Gerichtsgebäude in Windeseile. Wie immer hatte sie nur wenige Minuten gebraucht, um von der Richterinnen- in die Mutterrolle zu wechseln.

Glücklich, früher als erwartet nach Hause zu kommen, durchquerte sie die Garage. Sie würde die gewonnene Zeit mit Krissy verbringen – sich nach ihrem Tag im Vorschulkindergarten erkundigen, ihr bei den Hausaufgaben helfen und die Gelegenheit nutzen, ausgelassen mit ihr herumzualbern.

Leider hatte sie dafür in den vergangenen Monaten viel zu wenig Zeit gehabt. Seit der Versetzung von Sophia Wolfe, der zweiten Familienrichterin am Gericht von White Plains, war Hopes Arbeitspensum enorm gestiegen. Deshalb musste sie immer mehr Überstunden machen. Das hatte sie nicht zuletzt Claudia zu verdanken, ihrer ehemaligen Sekretärin, die launisch und unberechenbar geworden war, nachdem sie mit ihrem Verlobten Schluss gemacht hatte. Nicht nur, dass sie ihre Stimmungen an Hope ausließ – sie vernachlässigte auch noch ihre Arbeit und verschlampte Prozesslisten, sodass Hope die meisten Stunden des Tages mit Schadensbegrenzung beschäftigt war. Da sie allerdings so lange zusammengearbeitet hatten, war Hope zunächst nachsichtig mit ihr gewesen, aber schließlich hatte sie Claudia entlassen müssen. Die neue Sekretärin einzuarbeiten, war ziemlich anstrengend und sehr zeitaufwendig. Kein Wunder, dass Hope unter diesen Umständen kaum Zeit für andere Dinge blieb.

Zum Beispiel, sich intensiv um Krissy zu kümmern.

Und was Edward anging – in ihrer Beziehung war es schon vor langer Zeit zu einer Entfremdung gekommen. Darunter litt natürlich auch das Familienleben. Hopes Ehemann war fast nie zu Hause. Er arbeitete als Strafverteidiger für eine renommierte Kanzlei mit Filialen in Manhattan und White Plains und saß oft bis tief in die Nacht an seinem Schreibtisch. Abgesehen von seltenen und unerwarteten Treffen im Gerichtsgebäude sah Hope ihren Mann nur selten – und Krissy noch seltener.

Es gab also ziemlichen Nachholbedarf. Heute hatte Hope endlich einmal die Gelegenheit, sich eine schöne Zeit mit ihrer fünfjährigen Tochter zu machen.

Sie eilte durch die Garage, setzte sich hinter das Steuer ihres GMC Acadia und fuhr auf die Bundesstraße 287, die in den kleinen Ort Armonk führte, in dem sie wohnte.

Natürlich herrschte dichter Verkehr. Die Straßen von White Plains waren in letzter Zeit fast genauso verstopft wie die Straßen von Manhattan. Man brauchte ewig, um die Stadt hinter sich zu lassen.

Im Schritttempo erreichte Hope schließlich den Highway, auf dem sie endlich Gas geben konnte. Kurz darauf verließ sie die 287 und bog auf die Bundesstraße 684 in nördliche Richtung ein.

Genau in diesem Moment veränderte sich Hopes Leben für immer.

Alles wäre anders gekommen – falls Hope aus dem Fenster gesehen hätte. Falls sie auf den Geländewagen geachtet hätte, der ihr entgegenkam. Falls sie die kleine Mitfahrerin auf dem Rücksitz bemerkt hätte, die beim verzweifelten Versuch, zu entkommen, am Türgriff zog und auf ihn einhämmerte. Vergeblich – die Tür war mit einer Kindersicherung versehen.

Falls …

Aber Hope tat nichts von alledem. Sie dachte nur daran, so schnell wie möglich nach Hause und zu Krissy zu kommen.

Also fuhren die beiden Geländewagen aneinander vorbei wie zwei Schiffe, die in dunkler Nacht auf verschiedenen Routen unterwegs waren. Hope nahm die Person am Steuer des anderen Wagens überhaupt nicht wahr. Und die Person sah sie ebenfalls nicht.

Ganz auf den Verkehr konzentriert, hatte Hope keine Ahnung, welche Chance sie soeben verpasst hatte: dass sie um Haaresbreite den Höllentrip hätte verhindern können, der nun beginnen sollte.

Sie hatte die Ausfahrt nach Armonk fast erreicht, als ihr Handy klingelte. Ein kurzer Blick auf das Display des Navigationssystems verriet ihr, dass Liza Bock sie anrief. Hope runzelte die Stirn. Lizas Tochter Olivia ging zusammen mit Krissy in den Vorschulkindergarten. An diesem Tag war Liza an der Reihe gewesen, die Kinder nach Hause zu bringen.

Ihr Mutterinstinkt reagierte mit einem leichten Unbehagen, als sie die Taste drückte, um die Verbindung herzustellen. „Liza?“

„Hope, Gott sei Dank, dass ich Sie erreiche. Ich habe schon befürchtet, dass Sie noch bei der Arbeit sind.“ Lizas aufgeregte Stimme war nicht dazu angetan, Hopes wachsende Unruhe zu beschwichtigen.

„Was ist denn los?“, wollte sie wissen.

„Ist Krissy bei Ihnen?“

„Bei mir?“ Panik erfasste sie. „Natürlich nicht. Ich dachte, Sie würden sie heute von der Vorschule abholen und nach Hause zu Ashley bringen.“ Seit Krissys Geburt war Ashley Kinderfrau bei den Willis’.

„Da ist sie aber nicht.“ Jetzt begann Lizas Stimme zu zittern. „Ich habe gerade mit Ashley gesprochen. Sie war sehr besorgt; deshalb hat sie mich angerufen. Krissy ist nicht dort.“

„Was soll das heißen?“

„Als ich beim Kindergarten eintraf, sagten mir die anderen Kinder, Sie hätten sie bereits abgeholt“, erklärte Liza. „Ich habe mich sofort mit den anderen Müttern, die in dieser Woche mit der Fahrgemeinschaft an der Reihe sind, in Verbindung gesetzt, und die haben es mir bestätigt. Alle haben Krissy aus dem Kindergarten kommen sehen, und alle haben gehört, wie sie rief: ‚Meine Mommy ist hier!‘, und zu Ihrem Wagen gelaufen ist. Sie haben Ihren silberfarbenen Acadia erkannt. Natürlich sind sie gar nicht auf die Idee gekommen … und ich auch nicht …“

„Wollen Sie damit sagen, dass Krissy verschwunden ist?“ Plötzlich bekam Hope kaum noch Luft.

„Ich weiß es nicht. Ich habe bei den anderen Eltern zu Hause angerufen. Niemand hat sie gesehen. Ich verstehe das alles nicht …“

„Liza, legen Sie auf und verständigen Sie die Polizei. Erzählen Sie ihnen, was passiert ist. Ich rufe Edward an.“ Hope beendete das Gespräch.

Als sie zwanzig Minuten später zu Hause eintraf, war bereits die Hölle los. Polizisten, Freunde, Nachbarn. Ashley lief Hope weinend entgegen und berichtete ihr, dass Mr Willis mit dem Staatsanwalt gesprochen habe, der umgehend das FBI benachrichtigt hatte. Eine Sondereinheit sei auf dem Weg zum Haus und auch zu Krissys Vorschule, wo die Ortspolizei bereits mit ihren Ermittlungen begonnen habe. Sie wollten auch die Eltern, die für diesen Tag die Fahrgemeinschaften organisiert hatten, befragen. Dafür sollten sie zur Schule zurückkommen.

Hope achtete kaum auf die Worte ihrer Kinderfrau. Achtlos ging sie an allen vorbei – auch an den Polizisten, die auf sie gewartet hatten, um mit ihr zu sprechen – und lief nach oben. Sie duckte sich unter das gelbe Absperrband und stürmte in Krissys Zimmer.

Es war absolut ordentlich. Alles stand an seinem Platz. Nichts fehlte.

Jedenfalls nichts, was einem Fremden aufgefallen wäre. Nur Krissys Mutter, sie bemerkte es sofort.

Oreo, Krissys geliebter Pandabär, war verschwunden. Er schlief jede Nacht in ihrem Bett, und wenn sie in der Schule war, saß er, eingekuschelt in eine kleine Wolldecke, mitten auf dem Bett.

Hope stürzte zum Bett und warf die Kissen beiseite. Anschließend kniete sie sich hin und schaute nach, ob der Pandabär vielleicht unters Bett gerutscht war. Sie tastete in jede Ecke, und als sie nichts fand, zerrte sie die Decke und das Laken herunter und schüttelte sie heftig aus. Nichts. Anschließend durchsuchte sie den Schrank, riss die Schubladen der Kommode auf und warf Krissys Kleidungsstücke auf den Boden.

„Mrs Willis – hören Sie auf. Wir haben dieses Zimmer versiegelt.“ Officer Krauss vom North Castle Police Department in Armonk betrat den Raum. Er hatte Geräusche aus Krissys Zimmer gehört. Mit einem raschen Blick schätzte er die Situation ein und stellte sich mit erhobenem Arm vor Hope, um sie zu beruhigen. „Möglicherweise verwischen Sie Spuren, die uns zu Ihrer Tochter führen können. Wir brauchen ihre Bettwäsche, Kleidungsstücke – alles, was uns dabei helfen kann, sie zu finden. Außerdem ein aktuelles Foto, eine genaue Beschreibung ihrer Kleidung, ihre Krankengeschichte – und sämtliche Informationen, die uns einen Hinweis auf ihren Entführer geben können. Bitte beruhigen Sie sich und helfen Sie uns. Sie dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren.“

Hope schob seinen Arm beiseite und sah sich mit gehetztem Blick im Zimmer um. „Ihnen helfen? Sie sollen mein Kind finden. Warum sind Sie alle hier, anstatt da draußen nach Krissy zu suchen? Sie ist erst seit einer Stunde verschwunden. Jetzt ist der Zeitpunkt, sie zu finden – ehe es zu spät ist. Sie benötigen ihre Sachen? Nehmen Sie sich, was Sie brauchen. Fotos, ihre Kleider von gestern, ihre Zahnbürste. Untersuchen Sie die Bettdecke auf Fingerabdrücke. Wahrscheinlich werden Sie keine finden. Dieser Mistkerl ist wahrscheinlich zu gerissen, um keine Handschuhe zu tragen. Versuchen Sie es trotzdem. Und was ist mit Krissys Kindergarten? Dort wurde sie entführt. Haben die Überwachungskameras irgendetwas aufgezeichnet? Wissen Sie überhaupt irgendetwas?“

„Nichts von den Kameras. Die Kollegen befragen natürlich sämtliche Mitarbeiter des Kindergartens.“ Krauss kniff die Augen zusammen und musterte Hope durchdringend. „Ich wundere mich allerdings, dass Sie Krissys Zimmer auseinandernehmen und darauf bestehen, dass wir auf der Bettdecke nach Fingerabdrücken suchen. Haben Sie eben nicht selbst gesagt, dass sie im Kindergarten entführt wurde? Was verschweigen Sie uns?“

„Nichts, was Sie nicht längst selbst herausgefunden haben sollten“, entgegnete Hope scharf. „Das war keine spontane Entführung. Sie ist sehr sorgfältig geplant worden. Weiß der Himmel, wie lange schon. Offenbar fährt das Monster, das mein Baby entführt hat, den gleichen Wagen wie ich, gleiche Farbe, gleiches Fabrikat, damit er mit meinem verwechselt wird. Er muss sehr genau recherchiert haben. Außerdem muss er Krissy eine Weile intensiv beobachtet haben, um herauszufinden, was ihr am meisten bedeutet. Dann hat er es genommen und dazu benutzt, sie in seinen Wagen zu locken …“

„Was genau hat er mitgenommen?“

„Genau deshalb stelle ich ja ihr Zimmer auf den Kopf. Um es zu finden. Aber es ist nicht mehr da …“ Hope versagte die Stimme, als sie das zerwühlte Bett betrachtete. „Er war hier. Heute. Aber nicht, um Krissy zu holen. Sondern …“ Sie vergrub das Gesicht in den Händen.

Ehe Krauss sie bitten konnte, ihren Satz zu beenden, schwang Edward seine Beine über das Absperrband und kam ins Zimmer.

„Hope?“ Hektisch schaute er sich um, als ob er sein Kind entdecken könnte, wenn er jeden Quadratzentimeter des Raumes in Augenschein nahm. „Was haben Sie herausgefunden …“, er wandte sich an den Polizisten, „… Officer …“

„Krauss“, stellte sich der Mann vor.

„Officer Krauss“, wiederholte Edward. „Haben sich die Entführer schon gemeldet?“

Krauss fragte nicht, warum Edward vermutete, dass es sich um einen Lösegeldfall handelte. Er speicherte die Information jedoch für später und schüttelte den Kopf. „Keinerlei Kontakt. Aber es ist ja auch noch früh.“

„Früh?“, blaffte Edward zurück. „Wir reden hier nicht von einem Morgenspaziergang. Das Leben meiner fünfjährigen Tochter steht auf dem Spiel.“

„Dessen sind wir uns bewusst, Sir. Unser Sergeant und zwei Officer hören sich bereits im Kindergarten Ihrer Tochter um – ebenso wie Detectives von der Westchester County Police und FBI-Agenten vom Büro in White Plains. Sie befragen Krissys Lehrerin, die Leiterin und das gesamte Personal. Außerdem sind weitere FBI-Beamte aus der Abteilung Gewaltverbrechen auf dem Weg hierher, um die Kollegen vor Ort zu unterstützen. Und die für diesen Bezirk zuständige Spurensicherung. Wir werden Ihr Haus auf Hinweise durchsuchen und keinen Stein auf dem anderen lassen.“

„Ich habe mit dem Staatsanwalt gesprochen. Er hat das FBI-Büro in New York verständigt“, teilte Edward ihm mit. „Außerdem habe ich persönlich dort angerufen. Ich kenne da einen Kontaktmann, der auf Verbrechen an Kindern spezialisiert ist.“

„Das wäre nicht nötig gewesen, Sir. Wie ich bereits sagte, haben wir sofort das FBI um Unterstützung gebeten, nachdem Mrs Bock uns verständigt hatte. Die Kollegen waren bereits informiert. Außerdem wissen die Beamten vor Ort Bescheid. Sie haben sich mit der New Yorker Abteilung in Verbindung gesetzt, die für Verbrechen an Kindern zuständig ist, und ihr stellvertretender Direktor hat das FBI-Hauptquartier informiert. Ein Team wurde angefordert, das auf Kindesentführungen spezialisiert ist. Die Leute sind unterwegs. Ebenso wie die Kollegen vom New Yorker Büro. Sie werden hier eine Außenstelle einrichten und mit uns zusammenarbeiten, damit wir Ihre Tochter wiederfinden. Die Medien sind auch schon informiert.“

„Was ist mit dem Zentralregister für vermisste Personen?“, hakte Edward nach. Im National Crime Information Center, kurz NCIC, wurden landesweit sämtliche Vermisstenfälle registriert. „Haben Sie …“

„Es wurde sofort eine Eingabe gemacht“, unterbrach Krauss ihn ruhig. „Da Sie selbst Anwalt sind und sich mit dem Gesetz auskennen, wissen Sie vermutlich, dass es bei Kindesentführungen keine Wartefristen gibt. Unser Polizeirevier ist zwar nicht so groß wie das New York Police Department, aber auch wir wissen, was wir zu tun haben. Und wir tun unsere Arbeit … ordentlich.“

Der Hieb saß, und schlagartig wurde Edward sich bewusst, wie unmöglich er sich gegenüber Krauss aufführte. „Entschuldigen Sie. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber unter den gegebenen Umständen …“

„Schon gut. Sie müssen durch die Hölle gehen.“

„Ed.“ Hope packte ihren Mann am Arm. „Wer tut so etwas? Wer hat unser Baby gestohlen?“

„Ich weiß es nicht.“ Schützend nahm er Hope in die Arme. „Aber wir werden es herausfinden. Und wir werden Krissy nach Hause holen.“ Erneut ließ er seinen Blick durchs Zimmer schweifen. „Wer hat dieses Chaos angerichtet?“

„Ich.“

Edward schob Hope von sich und runzelte die Augenbrauen. „Das verstehe ich nicht. Du hast doch gesagt, dass Krissy im Kindergarten entführt wurde. Direkt nach Unterrichtsende. Warum …“

„Ihre Frau wollte mir diese Frage gerade beantworten“, schaltete Officer Krauss sich ein. „Wir haben dieses Zimmer zuerst durchsucht, bevor wir es für die Spurensicherung aus Westchester County versiegelt haben. Alles schien in Ordnung und unberührt zu sein – jedenfalls bis Ihre Frau alles durchwühlt hat. Ihre Kinderfrau hat ausgesagt, sie sei eingetroffen, kurz nachdem Sie das Haus verlassen haben. Sie wollte Kekse für Ihre Tochter backen, die Wäsche machen und ein wenig für ihr Studium arbeiten. Laut ihren Aussagen war heute niemand im Haus oder in diesem Zimmer.“

„Ashley irrt sich“, widersprach Hope. „Genau wie die Polizei.“ An ihren Wimpern hingen Tränen. „Wer auch immer Krissy entführt hat, war in diesem Zimmer. Heute. Als Krissy in der Schule war. Ed …“, sie wandte sich an ihren Mann, „… ich habe alles durchsucht. Oreo ist nicht mehr da.“

Sein Blick fiel erneut auf das Bett. „Bist du sicher?“

„Vollkommen. Er und seine Decke sind verschwunden. Der Entführer muss eigens deswegen hierhergekommen sein.“

„Verdammt.“ Edward schluckte hart und wandte sich an Krauss. „Oreo ist der Teddybär meiner Tochter“, erklärte er.

„Panda“, korrigierte Hope.

„Panda. Sie schleppt ihn durchs ganze Haus und trennt sich nur von ihm, wenn sie in den Kindergarten geht. Dann wickelt sie ihn in eine kleine Decke ein. Sie ist …“ Er hielt inne und versuchte, sich zu erinnern.

„Fliederfarben“, ergänzte Hope. „Eigentlich gehört sie zu einer ihrer Puppen, aber sie hat sie Oreo geschenkt. Sie sagte, sie habe Angst, er würde frieren, wenn sie im Kindergarten sei und ihn nicht in den Arm nehmen könne. Deshalb hat sie ihn jeden Tag in … ihr Bett gelegt.“ Nun war es endgültig um ihre Beherrschung geschehen. Sie ließ den Kopf hängen, und ihr ganzer Körper wurde von unkontrollierten Schluchzern geschüttelt.

Edward wollte die Hand auf ihre Schulter legen, aber sie trat beiseite und schlang entschlossen die Arme um sich, als wollte sie diese schreckliche Tortur allein durchstehen. Weinend zog sie sich in sich selbst zurück, um dort Trost zu suchen, wo es keinen gab.

Es war, als erlebte sie den Albtraum noch einmal. Nur schlimmer. Jetzt war sie erwachsen. Und jetzt war das Opfer ihr Kind, ihr heiß geliebtes kleines Mädchen. Officer Krauss machte sich Notizen auf einem Block. „Sie sind ganz sicher, dass der Bär hier war, als Krissy in den Kindergarten gegangen ist?“

„Ganz sicher“, stieß Hope hervor. „Ich habe ihn gesehen, als ich Krissys Jacke geholt habe. Sie wartete schon an der Haustür auf mich. Wir waren spät dran. Ich habe sie sofort zur Schule gebracht. Sie ist nicht mehr hier oben gewesen.“

„Was bedeutet, dass sie nicht mehr in ihr Zimmer gekommen ist.“ Krauss kontrollierte die Fenster. „Wie ich schon sagte – es gibt keine Anzeichen von einem gewaltsamen Eindringen.“ Er ging zur Tür. „Meine Leute und ich werden noch einmal die Sicherheitsanlage überprüfen und jede Tür und jedes Fenster im Haus. Anschließend benötige ich die persönlichen Dinge, über die wir gesprochen haben.“

Als Hope und Edward allein waren, entstand ein langes Schweigen.

„Das FBI müsste jeden Moment eintreffen“, sagte er schließlich.

„Bestimmt. Sie werden eine Kommandozentrale einrichten und auf den Anruf warten, mit dem die Entführer Lösegeld verlangen, während sie uns ausfragen. Sie werden mit unserer Beziehung anfangen, weil wir Krissys Eltern und damit die Hauptverdächtigen sind. Dann werden sie die Namen von sämtlichen Leuten wissen wollen, die etwas gegen uns haben. Bei unseren Berufen sind das wohl eine ganze Menge. Inzwischen ist Krissy irgendwo da draußen. Verängstigt. Allein. Und Gott weiß was sonst noch.“ Mit zitternden Fingern zog sie ihr Handy hervor. „Natürlich bin ich froh, dass wir die Polizei und das FBI an Bord haben. Aber das ist nicht genug.“ Sie wählte die Telefonauskunft an.

„Wen rufst du an?“

„Forensic Instincts.“

Edward blinzelte erstaunt. „Diese Profiler?“

„Ja“, bestätigte Hope. „Du kennst ihre Erfolgsquote. Fünf Fälle, fünf Erfolge. Sie finden Verbrecher, Serienmörder, Vergewaltiger … und Entführer. Sie sind von der schnellen Truppe. Und sie müssen nicht an zwölf Fällen gleichzeitig arbeiten.“

Missbilligend runzelte er die Stirn. „Wir sollten erst mit dem FBI sprechen. Vielleicht gerät Krissy noch mehr in Gefahr, wenn wir eine private Ermittlungsfirma mit ins Boot nehmen.“

„Bestimmt nicht. Ich kenne ihre Arbeitsweise. Sie wissen, was in solchen Fällen zu tun ist.“ Hope sprach so schnell, dass sie fast über ihre Worte stolperte. „Deinen Freunden vom FBI gefällt das wahrscheinlich nicht, aber das ist mir egal.“ Scharf musterte sie Edward, während ihr Zeigefinger über der Sendetaste schwebte. „Ich habe diesen Albtraum schon einmal miterlebt. Ich will Krissy nicht auch noch verlieren.“

„Ich weiß, was du durchgemacht hast. Aber du kannst die beiden Fälle nicht miteinander vergleichen. Das ist über dreißig Jahre her. Sie haben rasante Fortschritte gemacht, was die Ermittlungsmethoden anbelangt.“

„Ist mir egal. Ein zweites Mal stehe ich das nicht durch. Vor allem nicht, wenn es um meine Tochter geht.“

„Ich verstehe dich ja. Aber …“

„Hör zu, Edward. Dreißig Jahre hin oder her – manche Dinge haben sich eben nicht geändert. Zum Beispiel die Tatsache, dass nur innerhalb eines bestimmten Zeitraums ermittelt werden kann. Beim letzten Mal ist der Fall nach zwei Jahren eingestellt worden, nachdem alle Spuren im Sande verlaufen waren. Dieses Risiko gehe ich nicht noch mal ein. Nicht mit meinem Baby. Du brauchst gar nicht mit mir darüber zu diskutieren. Das ist meine Sache. Ich werde sie bitten, sich ausschließlich um diesen Fall zu kümmern. Ich zahle, was sie wollen.“ Hope wartete nicht länger. Sie drückte auf die grüne Taste und stellte die Verbindung her.

„Ich brauche einen Anschluss in Manhattan. Forensic Instincts.“ Hope griff nach einem Notizblock und einem Kugelschreiber.

„Gut. Wenn du so sehr davon überzeugt bist, dann tu es“, stimmte Edward zögernd zu. „Aber ich möchte, dass sie mit den offiziellen Stellen zusammenarbeiten. Keine Extrawürste.“

„Wenn es machbar ist – umso besser. Wenn nicht …“ Hope zuckte mit den Achseln und notierte die Nummer. Kaum hatte sie die Verbindung unterbrochen, hämmerte sie die Ziffern aufgebracht in die Tasten. „Um die Wahrheit zu sagen, sind mir die Befindlichkeiten der Polizei oder des FBI vollkommen egal. Ich pfeife auf all das. Ich will nur Krissy gesund und wohlbehalten nach Hause bringen. Wenn die Methoden von Forensic Instincts dir zu unkonventionell sind … Hallo?“ Hope hielt sich das Handy dicht vor den Mund, während ihr Kehlkopf erregt auf und ab hüpfte. „Spreche ist mit Casey Woods?“

„Am Apparat“, antwortete eine verschlafene Stimme. „Und Sie sind …?“

„Mein Name ist Hope Willis. Richterin Hope Willis. Ich wohne in Armonk. Vor anderthalb Stunden ist meine fünfjährige Tochter aus dem Vorschulkindergarten entführt worden. Die Polizei ist hier. Ebenso das FBI. Aber die Minuten verstreichen. Und die Liste der Verdächtigen ist viel zu lang, als dass die Behörden sie alleine abarbeiten könnten.“

„Wirklich? Und wieso?“

„Weil ich Familienrichterin bin, und mein Mann ist Strafverteidiger. Wir können uns gar nicht mehr an all die Leute erinnern, die wir gegen uns aufgebracht oder zu Feinden gemacht haben. Wir werden versuchen, eine Liste zusammenzustellen, aber sie wird ziemlich lang. Außerdem sind gewisse Umstände zu berücksichtigen, die vielleicht die ganze Sache noch viel schlimmer machen. Ich brauche die Unterstützung von Forensic Instincts. Umgehend. Und auf exklusiver Basis.“

Am anderen Ende der Leitung entstand ein langes Schweigen.

Gewisse Umstände. Eine ebenso interessante wie bemerkenswerte Wortwahl. Casey entging die unterdrückte Panik in der Stimme der Juristin nicht. Die Frau ging wahrscheinlich durch die Hölle, aber es war ganz offensichtlich, dass sie etwas verheimlichte. Auf jeden Fall wusste sie ganz genau, was sie wollte – egal, wie verzweifelt ihre Lage war.

„Das mit Ihrer Tochter tut mir schrecklich leid“, antwortete Casey. „Aber mein Team und ich haben gerade eine ziemlich anstrengende Untersuchung abgeschlossen. Außerdem müssen wir uns noch um ein paar andere Fälle kümmern, die wir deswegen haben ruhen lassen müssen. Ich bin sicher, dass das FBI und die Polizei alles Menschenmögliche …“

„Das ist nicht genug“, unterbrach Hope sie. „Ich will mehr als die übliche Vorgehensweise. Wir können es uns nicht leisten, auch nur eine Sekunde zu verschwenden. Bitte, Sie wissen doch selbst, wie entscheidend die ersten drei Stunden sind.“

„Ja, das weiß ich“, antwortete Casey sachlich. Und im Moment verstreichen sie ungenutzt, fügte sie im Stillen hinzu.

„Dann kommen Sie also? Ich werde alles tun, was Sie verlangen. Ich zahle Ihnen jeden Preis. Und ich werde mich minuziös an Ihre Anweisungen halten.“ Hope konnte sich nicht länger beherrschen. „Bitte, Miss Woods. Ich flehe Sie an. Finden Sie mein Baby!“

Casey blieb nichts anderes übrig, als einzuwilligen. Nicht nur, weil dieser Fall ihrer Firma viel Geld einbringen würde. Sondern weil ihr Instinkt ihr sagte, dass die Frau es ernst meinte und dass sich das gegenseitige Vertrauen einstellen würde, wenn sie einander persönlich kennenlernten. Falls nicht, könnten sie und ihre Kollegen den Auftrag immer noch ablehnen.

Zunächst einmal ging es nur darum, dass eine Fünfjährige vermisst wurde.

„In Ordnung. Bewahren Sie Ruhe. Wir tun alles, was in unserer Macht steht“, versprach sie. Ihre anfängliche Zurückhaltung war verschwunden. „Bleiben Sie am Apparat.“ Papier raschelte, als Casey zu einem Zettel und einem Stift griff. „Geben Sie mir Ihre Adresse. Und lassen Sie uns eine Stunde Zeit.“

3. KAPITEL

Das Team von Forensic Instincts traf gleichzeitig mit dem FBI vor dem Haus der Familie Willis ein. Casey erkannte die vier Special Agents sofort, als sie in die Einfahrt einbogen. Sie gehörten zu der Abteilung, die sich in der Washingtoner FBI-Zentrale um Verbrechen an Kindern kümmerten – eine von zwei schnellen Eingreiftruppen im Nordosten. Sie setzte sich zusammen aus eigens ausgebildeten Beamten aus verschiedenen Außenstellen. Sie hatten ihre Arbeit stehen und liegen lassen und sofort dem Einsatzbefehl Folge geleistet, denn sie wussten, wie entscheidend die ersten Stunden nach einer Entführung waren. Die Sondereinheit sollte die Leute der Abteilung C-20 – Kollegen aus New York, die auf die Aufklärung von Verbrechen an Kindern spezialisiert waren – dabei unterstützen, Krissy Willis zu finden und wohlbehalten nach Hause zu bringen.

Bei den Männern, die Sekunden später aus dem Wagen sprangen, handelte es sich um den leitenden Special Agent Don Owens sowie die Special Agents Will Dugan, Guy Adams und Jack McHale. Casey wusste bereits, wer von den Männern sie freundlich begrüßen und wer sie zum Teufel wünschen würde.

„Hallo, Don.“ Als Casey vom Fahrersitz kletterte, winkte sie dem gestandenen Agenten zu, der bald siebenundfünfzig Jahre alt werden und in den planmäßigen Ruhestand gehen würde. Er war ein harter Bursche und praktisch mit seinem Büro verheiratet. Dennoch war er toleranter gegenüber Casey und ihrem Team als manch einer seiner jüngeren Kollegen. Was eigentlich nicht erstaunlich war, denn obwohl er es vermutlich nicht laut sagen würde, bewunderte er die Leistungen des Forensic Instincts-Teams.

„Casey Woods! Warum überrascht es mich nicht, Sie hier zu sehen?“ Owens begrüßte sie mit einem feinen Lächeln, das den penibel gepflegten grauen Oberlippenbart in Bewegung versetzte. „Bin ich froh, dass ich rechtzeitig am Flughafen in Boston war und meine Maschine etwas früher gelandet ist. Sonst hätten Sie wahrscheinlich das FBI schon übergangen und die halbe Nachbarschaft ausgefragt.“

„Darauf kannst du Gift nehmen“, murmelte Ryan.

Casey verdrehte die Augen. Ryan war ziemlich schlecht gelaunt. Nach Abschluss des letzten Falls hatte er auf ein paar Stunden Schlaf gehofft. Sie waren ihm nicht vergönnt gewesen. Casey dagegen war umso aufgedrehter, je weniger Pausen sie hatte. Es gehörte zu ihrem Naturell. Selbst wenn ihre Akkus so gut wie leer waren, holte sie immer noch genügend Power aus ihnen heraus. Sie konnte ihre Erschöpfung sehr gut überspielen, solange sie bei der Arbeit war. Und Marc war durch und durch ein Navy Seal. Ihm reichte ein wenig Adrenalin, um wieder volle Leistung zu bringen. Nur Ryan fiel aus der Rolle. Er konnte ein richtiges Ekel sein, wenn er nicht genügend Schlaf bekam. In solchen Momenten mieden Casey und Marc ihn wie die Pest, wenn sie nicht unbedingt mit ihm reden mussten.

„Hier wird’s gleich zugehen wie in einem Bienenstock“, murrte Ryan weiter. „Die Leute aus der Abteilung Kriminalität an Kindern. Das FBI. Die Bundes- und Ortspolizei. Können wir die nicht alle einfach an ihre Schreibtische zurückschicken?“ Ein missbilligendes Grunzen. „Die sollen uns einfach in Ruhe arbeiten lassen.“ Dann wurde er wieder dienstlich. „Ich schau mir zunächst mal den Computer des Mädchens an. Casey, du arbeitest die Liste der Verdächtigen ab – und knöpf dir die Richtigen vor. Und Marc prügelt wie immer dem Mistkerl, der das getan hat, sämtliche Knochen aus dem Leib. Wetten, dass der Typ ganz schnell den Mund aufmacht und uns erzählt, wo er das arme Ding versteckt hält? Und ehe ihr das Schwein noch Schlimmeres antun kann, liegt Krissy Willis wieder wohlbehalten in ihrem Bett. Anschließend gehen wir alle nach Hause und hauen uns aufs Ohr.“

Ehe Casey etwas erwidern konnte, hatte Ryan schon die große schlanke Frau entdeckt, die vor der Garage der Willis’ hockte und konzentriert die Brauen hochgezogen hatte. Mit ihren zierlichen Fingern fuhr sie über die Wimpel, die am Lenker eines Fahrrads hingen, das zweifellos dem kleinen Mädchen gehörte.

„Na toll.“ Ryan wurde lauter. „Seht mal, wer da ist. Das Claire-Werk in voller Aktion. Die beliebteste Psychotante der Cops. Während wir uns mit den Verdächtigen herumschlagen, nimmt sie sich Krissy Willis’ schmutzige Socken vor, um sich in den Täter hineinzuversetzen. Nicht zu fassen!“

Casey verbiss sich ein Grinsen. Claire Hedgleigh – oder „das Claire-Werk“, wie Ryan sie beharrlich nannte – war eine weithin bekannte Fallanalystin, die als freiberufliche Profilerin mit verschiedenen Polizeiabteilungen an der Aufklärung von Verbrechen arbeitete. Casey und ihr Team waren ihr dabei schon des Öfteren über den Weg gelaufen. Casey war jedes Mal sehr beeindruckt gewesen. Sie hatte ausführliche Nachforschungen über Claire angestellt – sowohl über ihr Privatleben als auch ihren beruflichen Werdegang.

Claire hatte einen Abschluss in Entwicklungspsychologie sowie in Psychotherapie. Außerdem unterrichtete sie alles von Psychologie bis zu metaphysischen Wissenschaften an renommierten Universitäten in Amerika, Großbritannien und Australien. Sie verfügte über einen erstklassigen Ruf und drei Jahre Erfahrung in der Polizeiarbeit. Weil sie so brillant war, hatte Casey schon öfters daran gedacht, sie zu Forensic Instincts zu holen. Sie wäre eine großartige Bereicherung für das Team. Es wäre allerdings nicht einfach, Ryan an den Gedanken zu gewöhnen. Er würde sich bestimmt in seiner professionellen Ehre gekränkt fühlen. Im Stillen glaubte Casey manchmal jedoch, dass er sich aus einem anderen Grund so feindselig verhielt. Er und Claire spielten nur vordergründig die verbissenen Konkurrenten. Marc und Casey hatten längst mitbekommen, dass ihr Verhalten nur Show war. Die beiden wollten sich einfach nicht eingestehen, dass sie insgeheim durchaus Sympathien füreinander hegten.

In diesem Moment kam Claire aus der Hocke. Sie war groß und gertenschlank, hatte aschblondes Haar und hellgraue Augen und eine sanfte, beinahe ätherische Ausstrahlung. Jetzt ließ sie den Fahrradlenker los, strich sich eine Haarsträhne von der Wange und schaute zu den dreien hinüber. Als ihr Blick auf Ryan fiel, stockte ihr der Atem. Ganz offensichtlich war sie nicht in der Stimmung für ein spitzzüngiges Wortgefecht, wie es Ryan am liebsten sofort vom Zaun gebrochen hätte.

Caseys Grinsen wurde breiter. Zweifellos stand ein knisterndes Tête-à-tête unmittelbar bevor. Casey und Marc hatten bereits Wetten über den Zeitpunkt – und das Ergebnis – abgeschlossen.

Im Moment jedoch hätte sie nichts gegen ein paar Frotzeleien einzuwenden gehabt. Ein paar Sekunden Unbekümmertheit hätten ihnen allen jetzt gutgetan. Mehr als gut. Es wäre wie eine Betäubungsspritze vor der Wurzelbehandlung gewesen. So etwas Ähnliches stand ihnen schließlich bevor. Von allen Verbrechen gehörten Kindesentführungen zu den widerwärtigsten.

„Benimm dich, Ryan“, ermahnte sie ihn trocken, während sie zur Garage gingen. „Claire weiß, was sie tut. Treib es also nicht zu bunt.“

„Wer? Ich?“ Ryan war die Unschuld in Person.

„Ja. Du siehst aus wie ein Löwe, den man mit einem Stock gereizt hat. Entspann dich. Sobald wir hier alles abgecheckt haben, kannst du dich wieder in deine Höhle verkriechen.“ Casey blieb vor Claire stehen. „Hallo, Claire. Sie kümmern sich um den Fall?“

Ein freundliches Nicken. „Genau wie Sie offensichtlich auch. Wenn ich irgendetwas tun kann, um Ihnen zu helfen, lassen Sie es mich wissen.“

Ryan schnaubte abfällig. „Ich denke, wir verlassen uns lieber auf die Wissenschaft. Botschaften von toten Gegenständen geben nicht allzu viel her – jedenfalls nicht für mich. Trotzdem vielen Dank, Claire …“ Um ein Haar hätte er „Werk“ hinzugefügt.

„Ah, Ryan! Noch verbissener als sonst, wie ich sehe. Was ist los? Haben Sie Ihre Batman-Frühstücksdose vergessen?“

„Beachten Sie ihn gar nicht“, riet Casey ihr. „Er hat seit ein paar Tagen nicht mehr richtig geschlafen.“

„Das erklärt natürlich alles.“ Claire wirkte eher amüsiert als verärgert, was Ryan noch gereizter werden ließ. „Danke für die Informationen. Jetzt bin ich wenigstens vorgewarnt.“

Auf dem Weg zum Haus rief sie ihnen über die Schulter zu: „Höchste Zeit, sich mit toten Gegenständen zu beschäftigen. Sie wären überrascht, wie viel sie zu erzählen haben – in einer Welt, die realer ist als der Cyberspace.“

Ryan hätte gern etwas darauf erwidert, aber er presste die Lippen zusammen und zog es vor zu schweigen, während er mit Casey und Marc zu den Ermittlern von der Abteilung Kriminalität an Kindern ging.

„Ach, die Willis’ haben Sie bereits beauftragt.“ Beim Gedanken an die bevorstehende Zusammenarbeit sah Special Agent Guy Adams noch unglücklicher aus als Ryan. Adams’ Spezialität bestand darin, mit den Entführern Verhandlungen zu führen. Er war Mitte dreißig, intelligent und ebenso kompetent wie Ryan und Marc, und er hatte wenig Verständnis für andere Methoden als jene, die er beim FBI gelernt hatte – am allerwenigsten für die ebenso erfolgversprechenden wie ungewöhnlichen Vorgehensweisen von Forensic Instincts.

„Haben Sie ein Problem damit?“, fragte Marc herausfordernd.

„Nein, solange Sie Ihre Grenzen nicht überschreiten.“

„Wir sind hier, um mit Ihnen zusammenzuarbeiten, Guy. Mit Ihnen und den New Yorkern“, versuchte Casey die aufkommende Feindseligkeit im Keim zu ersticken. „Wir wollen alle dasselbe – Krissy Willis wohlbehalten und möglichst ohne größere seelische Schäden nach Hause bringen. Für Platzhirsche ist hier nicht der richtige Ort.“

„Unsere Agenten sind schon im Haus“, informierte Guy sie, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen. „Die New Yorker Filiale hat Harrington und Barkley geschickt. Sie sprechen gerade mit den Eltern und arbeiten den Fragebogen bezüglich des Opfers ab. Der Rest vom New Yorker Team ist zu Krissys Kindergarten gefahren – zusammen mit ein paar Kollegen aus dem Büro in White Plains. Harrington leitet die Ermittlungen. Sie und Barkley werden uns gleich einen Zwischenbericht geben.“

„Eine gute Wahl“, lobte Casey.

„Schön, dass Sie damit einverstanden sind.“

„Auf jeden Fall.“ Casey ignorierte seinen Sarkasmus. Sie dachte über die Agenten nach, mit denen sie es in Kürze im Haus der Willis’ zu tun haben würde. Peg Harrington und Ken Barkley waren erfahrene Beamte, die sich seit mehr als zehn Jahren mit Verbrechen an Minderjährigen beschäftigten. Sie waren kompetent und selbstbewusst – das hieß, sie hatten es nicht nötig, sich Hahnenkämpfe zur Unterstützung ihres Egos zu liefern. Was die Zusammenarbeit mit ihnen sehr erleichterte. Erfreulich auch, dass Peg die Ermittlungen leitete. Selbst unter größtem Druck arbeitete sie effizient und behielt stets einen kühlen Kopf.

„Haben Ihre Auftraggeber Sie schon über alle Einzelheiten informiert?“, wollte Guy von Casey wissen.

Sie machte eine nichtssagende Handbewegung. „Ich habe auf der Fahrt hierher mit Hope Willis gesprochen. Das Wesentliche ist mir bekannt. Hat irgendjemand das Nummernschild vom Wagen des Entführers gesehen?“

„Nur ein oder zwei Buchstaben. Nichts, womit man etwas anfangen könnte. Die Polizei hat eine Fahndung veranlasst. Aber bis jetzt hat sich noch nichts ergeben. Sie haben auch die Kollegen von Westchester County alarmiert, die Medien informiert und den Fall an den FBI-Zentralcomputer weitergeleitet. Die Beamten sind sowohl hier im Haus als auch im Kindergarten präsent – zusammen mit der Bundespolizei und der Spurensicherung.“

Casey fiel auf, dass Guy, in Anbetracht seiner anfänglichen Feindseligkeit, sehr redselig und auskunftsfreudig geworden war. Sie schaute an ihm vorbei und bemerkte McHale und Dugan, die ins Haus eilten. Daher also wehte der Wind. Er wollte sie in eine Unterhaltung verwickeln, um seinen Kollegen und dem Rest des Teams einen Vorsprung zu verschaffen.

Widerwillig musste sie die Hartnäckigkeit, mit der Guy sie auszubooten versuchte, bewundern – selbst wenn er nicht besonders erfolgreich gewesen war. Im Stillen gestand sie sich ein, dass sie es an seiner Stelle genauso gemacht hätte. Tatsache war, dass die New Yorker Beamten bestimmten, wo es langging. In erster Linie oblag die Strafverfolgung ihnen – nicht ihr und ihrem Team.

Dennoch würde sie ins Haus gehen und mit den Willis’ reden. Das konnte ihr das FBI nicht verbieten. Die Willis’ waren schließlich ihre Auftraggeber. Im Moment hätte sie sich allerdings am liebsten auf die Rolle der stillen Beobachterin beschränkt, anstatt sofort mit ihnen zu reden. Sie musste in Erfahrung bringen, was Hope Willis verschwieg. Und sie musste mit eigenen Augen sehen, wie Hope und Edward Willis in diesen ersten Stunden nach der Entführung ihrer fünfjährigen Tochter mit der Situation umgingen – jeder für sich und natürlich auch als Paar.

Denn Körpersprache konnte ausgesprochen verräterisch sein.

Das FBI und die Polizei hatten ihre offizielle Vernehmung der Willis’ bereits beendet und wollten gerade die Spezialisten von der Kindesentführung informieren. Die ganz normale Vorgehensweise. Doch während das Team von Forensic Instincts vor verschlossenen Türen stand, ließen die drei die Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen, Hinweise aus der Umgebung und von den Menschen in der Nähe zu erhalten. Casey und ihre Kollegen waren jeder auf seine Weise wahre Meister auf diesem Gebiet.

„Die Spielstunde ist vorbei, Guy“, verkündete Casey freimütig. „Aus Ihrer Einsatzbesprechung können Sie uns heraushalten, aber nicht aus dem Haus. Hope Willis hat uns engagiert. Wir werden jetzt mit ihr und ihrem Mann reden. Wir werden sehr diskret sein und Sie nicht in Ihren Untersuchungen behindern.“

„Wie schön“, meinte Don seufzend. „Alles, was Sie herausbekommen, ist uns bei unseren Ermittlungen willkommen. Es geht schließlich um das Leben eines fünfjährigen Mädchens. Ich habe eine Enkelin in dem Alter. Bündeln wir also unsere Kräfte und lösen den Fall gemeinsam – erfolgreich.“

„Einverstanden.“ Casey bedeutete ihren Kollegen, Don und Guy ins Haus zu folgen. Fantastisch. Sie hatte soeben mit dem Einsatzleiter die Friedenspfeife geraucht. Barkley und Harrington hatten schon oft mit ihnen zusammengearbeitet und respektierten sie. Das Gleiche galt für die Abteilung für Gewaltverbrechen in White Plains und für die Polizei von Westchester County.

„Niedlich“, murmelte Marc leise. „Jetzt müssen wir nur noch die Ortspolizei überzeugen. Das ist leider der härteste Brocken.“

Seine Kollegen widersprachen ihm nicht. Die Ortspolizisten – besonders aus den kleineren Revieren – waren oft misstrauisch gegenüber Außenstehenden, die sie nicht kannten. Einige waren darüber hinaus fest entschlossen, sich selbst zu beweisen, und behandelten alle anderen mit Geringschätzung. Für das unabhängig agierende Forensic Instincts hatten sie nur Spott und Verachtung übrig.

„Wir könnten auf Widerstand stoßen, aber nicht auf Anfänger“, meinte Ryan. Er hatte im Internet Erkundigungen über die Polizeiwache in North Castle eingeholt. „Die Jungs sind sehr kompetent.“

Marc warf ihm einen fragenden Blick zu. „Was hast du denn herausgefunden?“

„Ihre Ausdauer ist phänomenal. Die Cops und Detectives sind seit Jahren dabei. Sie mögen ihren Job. Sie haben eine exzellente Ausbildung und sind sehr engagiert. Mit Gewaltverbrechen müssen sie sich eher selten beschäftigen. Meistens geht es bei ihnen um Autodiebstähle und Hauseinbrüche. Aber für die großen Fälle sind sie auch gewappnet. Ihre Noteinsatzabteilung ist beeindruckend. Die gibt es schon seit mehr als zwölf Jahren. Außerdem ist der Zusammenhalt in der Truppe sehr ausgeprägt. Jeder geht für jeden durchs Feuer.“

„Klingt gut“, meinte Marc. „Hoffentlich mauern sie nicht und verweigern uns die Zusammenarbeit.“

„Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.“

Casey nickte. Das bestmögliche Arbeitsklima. Die besten Ermittler. Die beste polizeiliche Unterstützung.

Jetzt musste sie nur noch herausbekommen, was Hope Willis verschwieg.

Hope lief im Wohnzimmer ihres geräumigen Hauses auf und ab, während sie sich immer wieder Strähnen ihres blonden Haares hinter die Ohren schob. Ihre Gesten waren unsicher und zwanghaft, als Casey ihr zum ersten Mal gegenüberstand.

Es dauerte nur etwa zehn Sekunden, bis Casey sich in ihrer Vermutung bestätigt fühlte. Die Frau mit dem gehetzten Blick und der Unfähigkeit, still zu sitzen, hatte nichts mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun.

Edward Willis dagegen war nicht ganz so leicht zu durchschauen. Der Anwalt war von Natur aus zurückhaltend und verfügte über eine große Selbstbeherrschung. Schon von Berufs wegen war er daran gewöhnt, seine Fassade aufrechtzuerhalten. Aber die Unruhe dahinter war durchaus spürbar – ebenso wie die Anspannung, die zwischen ihm und seiner Frau herrschte. Eine körperliche und gefühlsmäßige Distanz. Zwei getrennte Wesen statt eines glücklichen Paares, das diese Belastung gemeinsam zu meistern versuchte. Edward war ausgesprochen nervös. Außerdem war er viel zu sehr mit dem Gesetz vertraut, um nicht zu wissen, dass er zu den Verdächtigen gehörte.

Ohne Umschweife trat Casey auf die beiden zu. „Mr und Mrs Willis? Ich bin Casey Woods.“

Sofort unterbrach Hope ihre hektische Wanderung und kam Casey entgegen. „Kein Wort“, brach es aus ihr hervor. „Keine Lösegeldforderung, kein Anruf. Nicht einmal eine Drohung per E-Mail.“ Hilflos schaute Hope von Casey zu den FBI-Agenten, mit denen sie gerade gesprochen hatte, und zu den Spezialisten für Kindesentführungen, die soeben den Raum betraten. „Bedeutet das jetzt, dass er ihr wehtut? Oder noch Schlimmeres? Wenn er kein Geld will, was könnte er denn sonst noch … Oh Gott.“ Hope schnappte nach Luft. Ihr Gesicht war angstverzerrt.

„Wir wollen nichts überstürzen, Mrs Willis.“ Don trat neben Casey und stellte sich vor. Er sprach mit beruhigender und leiser Stimme. „Ich bin Special Agent Don Owens, Leiter der Ermittlungen. Dies sind die Special Agents Will Dugan, Guy Adams und Jack McHale. Wir gehören zu einem Team, das eigens dafür ausgebildet wurde, entführte Kinder zu finden. Wir sind hier, um Ihre Tochter zurückzuholen. Haben Sie den Special Agents Barkley und Harrington und der Polizei schon eine genaue Personenbeschreibung, ein Foto und Kleidungsstücke von Krissy gegeben?“

„Ja.“ Edward Willis stellte sich neben seine Frau. „Danke, dass Sie gekommen sind, Mr Owens. Ich bin Edward Willis, Krissys Vater. Um Ihre Frage zu beantworten – wir haben einen Fragebogen ausgefüllt und der Polizei sowie dem FBI eine vorläufige Liste mit den Namen unserer Nachbarn, Freunde, Verwandten, von Krissys Freunden, Klassenkameraden und Lehrern gegeben. Im Moment sitzen wir an einer Aufstellung von Hopes und meinen potenziellen Gegnern. Das Foto und die Kleidungsstücke, von denen Sie sprachen, haben wir ebenfalls besorgt – auch Krissys Kamm und Zahnbürste. Ebenso haben wir über alle Einzelheiten zur Entführung gesprochen, soweit sie uns bekannt sind. Viel ist das allerdings nicht. Was können wir sonst noch tun?“

„Seien Sie auf alle Eventualitäten vorbereitet“, riet Don. „Die Medien werden sich auf Sie stürzen. Sollte der Entführer anrufen, halten Sie ihn so lange wie möglich hin. Wir zeichnen die Telefonate auf und brauchen eine gewisse Zeit, um den Anruf zu lokalisieren. Arbeiten Sie mit uns zusammen, um herauszufinden, was Fakten und was falsche Hinweise sind, wenn die Öffentlichkeit anfängt, uns auf Spuren hinzuweisen. Das wird bestimmt geschehen. Ein paar Leute werden sich auf unseren Hotlines melden. Einige werden sich an die landesweite Zentralstelle für vermisste Kinder wenden. Andere wiederum werden den Behörden Hinweise geben. Man wird Sie beide bitten, sich einem Lügendetek– tortest zu unterziehen. Ich versichere Ihnen, dass es reine Routine ist. Nehmen Sie es nicht übel – tun Sie es einfach. Verdächtige von der Liste zu streichen kann genauso hilfreich sein, wie sie zu verfolgen. Und das Wichtigste: Haben Sie Vertrauen.“

„Verfolgen“, wiederholte Hope. Einmal mehr wurde sie an das Risiko einer möglichen Flucht erinnert. „Was ist mit Straßensperren?“

„Die sind landesweit und darüber hinaus eingerichtet“, versicherte ihr Don. „Auf den Highways sind ebenfalls Streifenwagen unterwegs. Vertrauen Sie mir, Mrs Willis. Wir wissen alle genau, was wir tun.“

Hope nickte und senkte den Kopf, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Dons Miene war anzusehen, dass er Hopes Ängste nachempfinden konnte. Ebenso war ihm klar, dass es nur einen Weg gab, sie zu beseitigen.

„Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen – ich muss meine Leute informieren“, schloss er. „Je schneller, desto besser. Auf diese Weise verlieren wir keine Zeit. Welchen Raum können wir benutzen?“

„Mein Arbeitszimmer“, erwiderte Hope sofort. Sie streckte die Hand aus. „Gehen Sie durch die Halle – es ist die zweite Tür rechts. Dort sind auch schon die anderen FBI-Agenten und die Polizisten. Es gibt einen Konferenztisch und genügend Stühle.“

Don bedankte sich mit einem kurzen Nicken und machte sich mit seinen Leuten in die angegebene Richtung auf.

Erwartungsvoll wandte Hope sich an Casey.

„In Ihren Antworten ist mir eine gewisse ausweichende Art aufgefallen“, begann Casey unverblümt. „Sie verbergen etwas. Ehe wir uns weiter unterhalten, würde ich gerne wissen, was das ist.“

Hope atmete hörbar ein, ehe sie Casey vorwurfsvoll fragte: „Glauben Sie im Ernst, ich könnte meinem Kind etwas antun? Glauben Sie, das ist der Grund für meine ausweichende Art?“

„Darüber habe ich tatsächlich nachgedacht.“ Casey beschloss, freimütig zu bleiben. Gleichzeitig behielt sie die Küche auf der gegenüberliegenden Seite im Auge, in der sich gerade eine interessante Szene abspielte. Doch die Antwort, die sie Hope gab, war entschieden und eindeutig. „Aber nachdem ich Sie persönlich kennengelernt habe, hat sich mein Verdacht nicht bestätigt. Das beantwortet allerdings nicht meine Frage. Sie verbergen tatsächlich etwas. Aber was? Und warum?“

„Weil es nichts mit dem Verschwinden unserer Tochter zu tun hat“, schaltete Edward Willis sich barsch ein.

Mit einem raschen Blick über ihre Schulter gab Casey Marc und Ryan zu verstehen, aktiv zu werden. Kaum hatten die beiden den Raum verlassen, schaute Casey Edward direkt in die Augen.

„Korrigieren Sie mich, falls ich mich irre, Mr Willis, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie nicht glücklich sind mit der Entscheidung Ihrer Frau, uns zu engagieren.“

„Sie irren sich nicht. Ich glaube fest an die Effizienz unserer staatlichen Behörden und des Rechtssystems.“

„Ihnen als Anwalt glaube ich das gern.“ Casey klang höflich, obwohl sie diesen Mann nicht leiden konnte. Er war überheblich und herrisch. Selbstverständlich glaubte er an die Wirksamkeit des Rechtssystems – seines Rechtssystems. Seine Spezialität war es, Freisprüche für Gewaltverbrecher zu erwirken. Es mehrte seinen Bekanntheitsgrad, steigerte sein Selbstbewusstsein und füllte sein Konto.

Laut sagte sie nur: „Ich kenne Ihre Beweggründe. Seien Sie versichert, dass meine Kollegen weder die Anweisungen der Beamten noch die Abmachungen, die Sie mit ihnen treffen, ignorieren werden. Wir sind hier, um mit ihnen zusammenzuarbeiten – falls wir uns nach diesem Gespräch darüber einig sind, dass wir kooperieren sollten.“

„Falls?“ Edward war sprachlos. Der Mann war es offensichtlich gewohnt, seine Ansichten durchzusetzen – selbst wenn es, wie in diesem Fall, bedeuten konnte, dass Casey und ihr Team auf der Stelle verschwanden.

Seine Kiefermuskeln spannten sich. „Ich verstehe nicht recht, Miss Woods. Meine Frau hat Sie engagiert.“

„Richtig. Aber unter einer Bedingung: Ich benötige eine Antwort. Was wird mir hier verschwiegen?“

Eine Minute lang starrte Hope auf den Boden. Die Art, wie sie hart schluckte, den Rücken straffte und ihre Gefühle zu beherrschen versuchte, verriet Casey, dass ihr diese Geschichte, die sie wahrscheinlich immer wieder zu verdrängen versuchte, nach wie vor zu schaffen machte.

„Meine Schwester Felicity ist vor zweiunddreißig Jahren entführt worden“, antwortete sie leise. Ihre Stimme zitterte, weil die Emotionen sie zu überwältigen drohten. „Wir waren sechs Jahre alt. Sie schlief neben mir, als es passierte. Man hat mich betäubt. Mit Chloroform. Sie auch. Aber der Entführer hat sich für Felicity entschieden. Ich habe nie verstanden, wieso. Wir sind …“, eine qualvolle Pause entstand, „… wir waren eineiige Zwillinge. Die wenigsten Leute konnten uns auseinanderhalten – nur die, die uns wirklich sehr gut kannten. Deshalb glaube ich, dass der Entführer uns ganz gut kannte. Und ehe Sie fragen – Felicitys Leiche wurde niemals gefunden. Alle Spuren verliefen im Sande, und zwei Jahre nach der Entführung wurde die Akte geschlossen. Jetzt wiederholt sich die Geschichte … mit meinem Baby.“ Hope presste die Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken.

„Nun verstehen Sie wohl, warum ich nicht wollte, dass Sie das Gespräch in diese Bahnen lenken“, sagte Edward barsch. Erneut legte er den Arm um seine Frau, doch die Geste wirkte seltsam linkisch – geradezu einstudiert. „Ein schreckliches Ereignis aus Hopes Vergangenheit ans Tageslicht zu zerren, ist absolut sinnlos.“

„Das sehe ich nicht so.“ In Windeseile verarbeitete Casey die Bedeutung dessen, was sie soeben erfahren hatte, während ihr Blick erneut zu der offenen Küchentür schweifte.„Es ist eine Erklärung dafür, dass dieses entsetzliche Verbrechen für Ihre Frau noch viel schlimmer sein muss als für eine andere Mutter. Zwei geliebte Menschen, die in ihrem Leben entführt wurden – das erste Verbrechen unaufgeklärt und zu einer Zeit geschehen, als Ihre Frau ein sehr kleines Kind war. Solche Wunden verheilen nie, Mr Willis. Vor allem dann nicht, wenn das Opfer der eigene Zwilling ist, von dem die meisten Menschen behaupten, dass er die andere Hälfte der eigenen Persönlichkeit ist. Und jetzt das Kind – etwas, das einer Mutter das Liebste auf der Welt ist. Ich verstehe sehr gut, dass Mrs Willis außer sich ist, wenn sie jetzt die Ereignisse aus der Vergangenheit noch einmal erleben muss, und bereit, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um eine Wiederholung zu vermeiden.“

„Sie verstehen mich also.“ Hope musterte Casey mit einem angsterfüllten Blick.

„Ja“, antwortete Casey, ohne zu zögern. „Ich verstehe Ihre Angst. Und ich verstehe auch, dass Sie es mir am Telefon nicht gesagt haben. Betrachten Sie sich als unsere wichtigste Klientin.“

Vor Erleichterung wurde Hope ganz schwach in den Knien.

Casey verschwendete keine Zeit, um zum Wesentlichen zu kommen. „Ihre Kinderfrau heißt Ashley, stimmt’s?“ Sie deutete zur Küche.

Verwirrt von dem abrupten Themenwechsel, schaute Hope in die Richtung, in die Casey zeigte. Auch Edward drehte sich sofort um.

„Meine Kinderfrau?“, antwortete Hope. „Ja, das ist Ashley Lawrence. Obwohl, eigentlich ist sie keine richtige Kinderfrau. Seit Krissys Geburt ist sie ihre Nanny. Für uns ist sie keine Angestellte. Sie gehört zur Familie. Und sie betet Krissy an.“

„Das macht meine Neugier nur noch größer. Wenn alles, was Sie sagen, der Wahrheit entspricht, warum telefoniert sie dann die ganze Zeit, seitdem ich in dieses Zimmer gekommen bin, auf ihrem Handy? Offenbar streitet sie sich mit jemandem.“

Mit einer Handbewegung wischte Edward ihre Frage weg. „Das ist vermutlich ihr Freund. Ich bin sicher, es passt ihm nicht, dass sie so lange hierbleiben will, bis wir Neuigkeiten von Krissy haben.“

„Verstehe.“ Casey spürte Edwards wachsende Anspannung. „Es ist also eine engere Beziehung. Wie heißt er?“

„Frank. Frank Barber.“

Casey notierte den Namen. „Sie haben gesagt, dass Krissys Pandabär irgendwann im Laufe des Tages gestohlen wurde. Hat die Polizei Hinweise auf einen Einbruch ins Haus gefunden?“

„Nein.“

„Und zum Haus hat niemand Zugang außer Ashley, die behauptet, dass den ganzen Tag niemand hier gewesen sei, und die sich jetzt mit ihrem Freund streitet.“

„Oh nein.“ Energisch wandte Hope sich gegen die Unterstellung, dass Ashley etwas mit der Entführung zu tun haben könnte. „Wie ich bereits sagte: Ashley vergöttert Krissy, und das beruht auf Gegenseitigkeit. Das arme Mädchen hatte einen hysterischen Weinkrampf, als ich nach Hause kam. Sie steht unter Schock. Wahrscheinlich spricht sie mit ihrem Freund, weil sie Trost braucht.“

„Das glaube ich nicht. Sie wirkt mehr erregt als verwirrt. Erregt und, wenn ich ihre Körpersprache richtig deute, verängstigt.“ Nachdenklich spitzte Casey die Lippen. „Vielleicht hat sie gerade gemerkt, dass sie sich zu viel zugemutet hat und die Sache außer Kontrolle gerät.“

„Sie sind auf dem Holzweg, Miss Woods“, widersprach Hope. „Ashley könnte Krissy nie etwas zuleide tun.“

„Vielleicht muss sie das ja auch gar nicht – wenigstens nicht persönlich.“ Caseys Blick schweifte zu dem Stapel Lehrbücher auf dem Küchentisch. „Sieht so aus, als ob sie studiert. Ich nehme an, sie bekommt ein Stipendium. Oder bezahlen Sie Ashley so großzügig? Was macht Frank denn beruflich?“ Das Schweigen beantwortete ihre Frage. „Offenbar nichts Lukratives, vermute ich.“

„Er jobbt“, erwiderte Hope zögernd. Ihre Stimme klang verunsichert. „Mal als Kellner und mal als Türsteher. Nichts Festes.“

„Ein unerwarteter Geldregen wäre also außerordentlich hilfreich.“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. „Denken Sie mal darüber nach – eine sensible junge Frau, die den falschen Mann liebt. Eine junge Frau, die unbeschränkten Zugang zu Ihrem Haus hat, zu Ihren Terminkalendern und zu Ihrer Tochter.“

Zum ersten Mal musterte Casey Edward mit einem kühlen Blick. Es wunderte sie nicht, dass er sehr schweigsam geworden war. „Ich halte das für eine heiße Spur, der man unbedingt nachgehen sollte. Was meinen Sie, Herr Anwalt?“

Seine Kiefer mahlten nervös, doch sein Blick war messerscharf. „Ich würde sagen, das ist Ihre Entscheidung, Miss Woods.“

4. KAPITEL

Es war ein schrecklicher Tag. Ich weiß, dass du Angst hast. Aber du bist ein ganz besonderes Kind.

Einzigartig. Kostbar.

Die Schlaftablette wirkt. Deine Augen sind geschlossen. Dein Atem geht regelmäßig. Dein langes blondes Haar ist zerzaust, ausgebreitet auf dem Kissen. Ich wünschte, deine Wimpern wären nicht so verklebt und feucht von den Tränen, die du stundenlang vergossen hast, und dein Nacken nicht schweißnass, weil du dich so sehr gewehrt hast.

Du siehst aus, als würdest du hierhin gehören. Das ist auch gut so, denn es gibt kein Entkommen. Obwohl es genau das ist, was du dir am meisten wünschen wirst.

Wenn du aufwachst, wirst du weinen. Betteln. Und schließlich aufgeben. Und in deinen ausdrucksvollen blaugrünen Augen wird wieder dieser gequälte Blick liegen.

Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass er verschwindet. Dich daran zu gewöhnen, hier zu sein. Dich dazu zu bringen, dies als dein Zuhause zu betrachten.

Ich werde es schaffen. Ich bin der einzige Mensch, der das kann.

Alles, was ich dazu benötige, liegt in deinem Schulranzen. Du musst dich nur fügen.

Träum süß, Krissy. Wenn du aufwachst, wird alles beginnen.

Hastig beendete Ashley ihr Telefongespräch, als Casey die Küche betrat. Sie wirkte nervös – wie jemand, der nicht weiterwusste oder etwas zu verbergen hatte –, während sie Casey verunsichert anschaute.

„Hallo“, begrüßte sie Casey zögernd.

„Guten Tag, Ashley, ich bin Casey Woods, und meine Firma unterstützt die Willis’ dabei, Krissy zu finden.“

„Firma?“ Ashley ergriff Caseys Hand. Ihre eigene war warm vom Handy und feucht vor Aufregung. „Sie sind nicht von der Polizei oder dem FBI?“

„Nein. Wir sind ein privates Unternehmen. Forensic Instincts. Wir sind darauf spezialisiert, Fälle wie diesen aufzuklären. Ich würde Ihnen gern einige Fragen stellen.“

Ashley befeuchtete ihre Unterlippe. „Ich habe den Beamten doch schon alles erzählt, was ich weiß.“

„Davon bin ich überzeugt. Aber da meine Kollegen und ich gerade erst eingetroffen sind, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich ebenfalls informieren würden.“ Casey musste sich nicht umdrehen, um zu sehen, dass Hope und Edward Willis ihr in die Küche gefolgt waren. Sie hätte auch nicht ihre Schritte zu hören brauchen – sie erkannte es an Ashleys Gesichtsausdruck und ihrem unsicheren und Hilfe suchenden Blick, mit dem sie an Casey vorbeischaute.

„Das geht schon in Ordnung, Ashley“, beruhigte Hope sie, obwohl Casey davon überzeugt war, dass ihr Blick nicht Krissys Mutter galt. „Sagen Sie Miss Woods alles, was sie wissen muss.“

Casey drehte sich zu Hope um. „Könnte ich mit Ashley allein sprechen? Vielleicht in einem ruhigen Zimmer, wo wir uns gemütlich hinsetzen können? Ich bin sicher, dass die Ereignisse sie überfordert haben.“

„Natürlich. Neben der Küche ist der Wintergarten.“ Hope deutete mit dem Finger in die Richtung. „Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie benötigen.“ Sie ging zum Kühlschrank und holte zwei Flaschen Wasser heraus. Eine reichte sie Casey, die andere Ashley. Edward blieb stocksteif und ausdruckslos stehen.

„Danke.“ Casey folgte Ashley in den Wintergarten. Das Mädchen stand sichtlich unter Schock. Vielleicht lag es nur an den Ereignissen des Tages. Vielleicht war es aber auch ihr Schuldbewusstsein.

Casey vermutete von beidem etwas.

„Ich würde Ihnen zunächst gern ein paar grundsätzliche Fragen stellen“, begann Casey, sobald sie auf den bequemen Sesseln im verglasten Wintergarten Platz genommen hatten. „Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn ich mir Notizen mache?“ Sie zog einen Block und einen Kugelschreiber hervor.

„Nein.“ Verwirrt wedelte Ashley mit einer Hand durch die Luft. „Wäre es nicht einfacher für Sie, wenn Sie eine Kopie von meinem Gespräch mit der Polizei bekämen?“

„Die werde ich mir auch beschaffen. Aber meinen Kollegen und mir kommt es mehr auf das Persönliche als auf das Formale an. Vielleicht erzählen Sie mir ja etwas, das uns in die Lage versetzt, der Polizei zu helfen.“

„Was könnte das sein?“

Casey klickte auf ihren Kugelschreiber und beugte sich nach vorn. „Beschreiben Sie mir Krissy. Nicht ihr Aussehen – dafür kann ich einen Blick auf das Foto werfen, das die Polizei hat. Ich kann auch die Aussage der Eltern lesen, in der sie über die Gewohnheiten ihrer Tochter sprechen. Aber all das ist oft nicht so umfassend, wie ich es gerne hätte. Nicht wenn es um Krissys Schwächen geht, ihre Vorlieben, ihre Abneigungen, ihr unbewusstes Verhalten. In mancherlei Hinsicht sind Sie ihre wichtigste Bezugsperson. Die Willis’ sind beruflich sehr eingespannt – besonders Mr Willis. Das heißt nicht, dass sie keine liebevollen Eltern sind, aber seit Krissys Geburt verbringen Sie die meiste Zeit mit ihr. Es gibt möglicherweise Zwischentöne und Nuancen in ihrem Verhalten, an die Sie sich besser erinnern können als die beiden.“

Ashley lächelte schwach. „Krissy ist immer schon etwas Besonderes gewesen. Sie ist zufrieden, sie ist klug und so weit für ihr Alter, dass ich mir manchmal Mühe geben muss, mit ihr Schritt zu halten.“

Ashley zeichnete das Bild eines munteren, begeisterungsfähigen Kindes, das Bücher und Malen und Disneys Pinguin-Club liebte und Stammgast in einem Internetportal eigens für Kinder war. Ein Mädchen, das viele Spielkameraden und Freunde hatte – inklusive einem kleinen Jungen namens Scotty – und das zu den Jüngsten in ihrem Pfadfinderverein gehörte. Sie wollte Tuba lernen, wenn sie in die dritte Klasse kam, und lieber rothaarig statt blond sein, so wie ihre Freundin Erin. Ashley beschrieb ein Kind, dessen Haare lang über den Rücken wuchsen, ohne auch nur im Geringsten auszudünnen oder splissig zu werden.

„Krissy würde Ihr Haar lieben“, fuhr Ashley fort. Sie klang so aufrichtig und liebevoll, dass es unmöglich vorgetäuscht sein konnte. „Sie würde Sie mit Fragen löchern – wer in Ihrer Familie rote Haare hat und wie es Ihnen gelungen ist, auch rothaarig zu sein.“ Erneut lächelte sie. „Sie würde auch von Ihnen wissen wollen, ob Sie einen Freund haben und ob ihm rotes Haar gefällt. Dann würde sie Ihnen alles über Scotty erzählen und dass sie viel länger kopfüber am Klettergerüst hängen kann als er. Sie ist alles andere als schüchtern oder zurückhaltend.“

Casey legte den Block auf ihren Schoß. „Hört sich nach einem außergewöhnlichen Kind an.“

„Das ist sie auch. Jeder mag sie.“

„Was ist mit ihren Eltern? Werden sie auch von allen gemocht?“

Ashley schaute unbehaglich drein. An ihrem Hals breiteten sich rote Flecken aus. „Die Frage ist für mich schwer zu beantworten. Zu mir sind sie sehr nett – immer schon gewesen. Sie haben unzählige Freunde. Aber sie haben auch beide diesen Beruf, mit dem sie sich viele Feinde machen. Deshalb kann ich nicht sagen …“

„Ich habe auch keine Einzelheiten über ihr Berufsleben von Ihnen erwartet. Es geht mir mehr um Auseinandersetzungen in ihrem Privatleben – mit anderen Leuten und miteinander.“

„Nicht dass ich wüsste.“ Ashleys Antwort kam schnell, beinahe abwehrend. Casey bemerkte, dass ihre Halsschlagader ein wenig schneller pochte. Die Nerven? Vielleicht.

Casey bemühte sich um einen gelassenen, beschwichtigenden Tonfall. „Ashley, meine Fragen zielen nicht darauf ab, den Willis’ zu nahe zu treten. Sie scheinen sehr nett zu sein. Ich möchte nur Krissy finden. An Leichen im Keller der Familie bin ich nicht interessiert. Die gehen mich auch nichts an. Aber Familienstreit kann dazu führen, dass man sich Außenstehenden anvertraut. Das wiederum kann Missverständnisse, vielleicht sogar böses Blut nach sich ziehen. Freunde sind gekränkt oder verbittert. Sie leben praktisch in diesem Haushalt. Deshalb frage ich Sie, ob es irgendwelche inneren oder äußeren Konflikte gibt, von denen Sie etwas wissen.“

Ashleys Nervosität legte sich. „Nein, überhaupt nicht.“

„Gut.“ Casey wechselte das Thema. „Wie man mir gesagt hat, waren Sie heute den ganzen Tag hier, und es sind keine Besucher gekommen?“

Der Themenwechsel überraschte Ashley. „Das stimmt.“ „Lassen Sie den Einbruchsalarm eingeschaltet?“

„Nicht tagsüber. Aber ich achte darauf, dass die Türen verschlossen sind. Ich hätte es gemerkt, wenn jemand eingebrochen wäre. Außerdem hätte ich es bestimmt auch gehört.“

„Stimmt“, gab Casey zu. Sie spitzte die Lippen. „Was ist mit der Post?“

„Was soll damit sein?“

„Ich habe gesehen, dass der Briefkasten am Anfang der Einfahrt steht, die ja sehr lang und kurvenreich ist. Haben Sie die Post heute hereingeholt?“

„Ja“, gab Ashley zu. „Das habe ich der Polizei aber schon gesagt. Und die Tür war verschlossen, während ich draußen war. Ich war auch höchstens zwei oder drei Minuten unterwegs. Wenn Sie glauben, dass in dieser Zeit jemand ins Haus eingedrungen ist … dann bezweifle ich das. Ob es möglich ist? Schon. Aber ich glaube, ich hätte die Person gesehen. Abgesehen davon ist es äußerst unwahrscheinlich, dass sie Zeit gehabt hätte, nach oben zu gehen, Oreo zu nehmen und wieder zu verschwinden. Außerdem hätte sie sich ganz genau im Haus auskennen und wissen müssen, wo Krissys Zimmer liegt …“

„Es sei denn, jemand hätte dieser Person einen Lageplan gegeben“, sagte Casey gelassen.

„Wer sollte das …“ Ashley unterbrach sich. Ihre Augen wurden groß, als ihr klar wurde, worauf Casey hinauswollte. „Meinen Sie etwa mich? Glauben Sie, ich bin an dieser Entführung beteiligt?“

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe gesehen, wie sehr Sie um Krissy besorgt sind und wie Ihnen das alles zu schaffen macht. Aber Sie waren die Einzige, die den ganzen Tag hier war. Sie könnten lügen oder irgendwie an der Sache beteiligt sein – vielleicht als Komplizin.“

Der Schock in Ashleys Gesicht war unverkennbar. „Komplizin von wem? Mein Gott, ich würde Krissy niemals etwas antun. Ich würde sie niemals aus ihrer Familie reißen. So etwas würde ich ihr nicht antun.“

„Nach allem, was Sie gesagt haben, glaube ich Ihnen.“ Caseys Miene und Stimme wurden freundlicher. „Aber ich musste das fragen. Vor allem wegen Frank.“

„Frank?“ Erneut ging Ashley in die Defensive. „Was ist mit ihm?“

„Die Willis’ haben mir erzählt, dass Ihr Freund … ein wenig unbeständig ist und alles andere als gut verdient. Und Sie gehen aufs College. Sie brauchen Geld für den Unterricht und Bücher. Die Willis’ sind wohlhabend. Ich habe mir überlegt, ob Frank Sie möglicherweise zu etwas gedrängt hat, was Sie von sich aus niemals tun würden und von dem er behauptet hat, es sei ganz harmlos. Er würde dafür sorgen, dass Krissy niemals erführe, wer sie gekidnappt hat. Sie würden darauf bestehen, dass er ihr niemals wehtun würde. Er würde sie nur so lange in seinem Gewahrsam behalten, bis die Willis’ ein ordentliches Lösegeld zahlen; dann würden sie ihr Kind ja zurückbekommen. Sie beide wären reich. Und niemand würde etwas merken.“

„Und Krissy hätte ein lebenslanges Trauma.“ Ashley zitterte. „Bei so etwas Krankem würde ich niemals mitmachen. Nicht für eine Million Dollar.“

„Wie steht’s mit Frank?“

„Ganz sicher nicht. Frank ist nicht gerade ein zielstrebiger Mensch, aber ein Dieb ist er nicht. Und ein Kind würde er erst recht nicht entführen.“

„Es ist in der Tat nicht gerade eine überzeugende Theorie“, murmelte Casey. „In Anbetracht der Tatsache, dass es – noch – keine Lösegeldforderung gegeben hat. Aber ich musste das fragen. Weniger Ihretwegen als vielmehr wegen Frank. Er war es, mit dem Sie sich am Telefon gerade gestritten haben, stimmt’s?“

„Ja.“

„Ging es um Krissy?“

„Ja … nein … ich meine, wir haben über Krissy gesprochen, aber nicht so, wie Sie denken.“ Eine unbehagliche Pause entstand. „Er ist sauer, weil ich hier so viel Zeit verbringe. Ich weiß, das klingt schrecklich. Aber er ist ein Mann. Es tut ihm leid wegen Krissy, aber es reicht ihm auch allmählich. Er ist von der Polizei verhört worden. Er hat sich den ganzen Nachmittag mein Gejammer anhören müssen. Und jetzt muss er damit klarkommen, dass ich ihm gesagt habe, ich verlasse das Haus erst, wenn Krissy wohlbehalten zurück ist. Er ist kein schlechter Kerl. Er ist einfach nur ungeduldig und sauer.“

„Klingt wie bei den meisten Männern“, sagte Casey lächelnd.

„Ich weiß.“ Ashley war erleichtert über Caseys Reaktion.

„Sie und Frank sind also fest befreundet?“

„Ziemlich. Wir sind seit einem Jahr zusammen.“ Ashley öffnete ihre Wasserflasche und trank einen Schluck. „Ich sehe uns zwar noch nicht vor dem Altar. Aber wie ich schon gesagt habe, er ist ein feiner Kerl.“

„Er möchte nur, dass Sie mehr Zeit mit ihm verbringen?“

„Ja.“ Sie nahm einen weiteren Schluck. „Und ich hätte gern, dass er sich ein bisschen mehr anstrengt. Etwas mehr erreichen will. Aber ich bezweifle, dass er der Typ dafür ist.“

Casey sah sie verständnisvoll an. „Ambition gehört zu den Eigenschaften, die man von Geburt an hat oder eben nicht.“

„Genau.“ Ashley rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. „Wenn das alles ist, würde ich gern wieder reingehen. Vielleicht haben die FBI-Leute schon was gehört …“

Die Sorge, die Ängste, der panische Blick in Ashleys Augen – das alles war echt.

„Sie lieben Krissy wirklich sehr“, stellte Casey fest.

„Das kann man wohl sagen.“ Ashley rollte die Flasche zwischen den Handflächen. „Es mag abgedroschen klingen, aber ich fühle mich wie eine zweite Mutter. Wie Sie richtig sagten, habe ich Mrs Willis von Anfang an geholfen, mich um Krissy zu kümmern. Und weil die Willis’ immer so viel arbeiten, habe ich eine Menge Zeit mit ihr verbracht. Sie ist wirklich das netteste Kind auf der ganzen Welt. Fröhlich. Klug. Sie ist zwar noch im Kindergarten, aber lesen kann sie schon, als wäre sie im zweiten Schuljahr. Addieren und subtrahieren kann sie schneller als ich. Und Sie sollten sie mal am Computer erleben! Stunden verbringt sie im Pinguin-Club. Sie chattet. Sie malt Bilder bunt an. Sie ist beeindruckend. Und ihr Pinguin-Avatar ist echt cool.“

„Davon bin ich überzeugt.“ Casey erhob sich. „Ich glaube, wir haben alles besprochen. Gehen wir rein und schauen mal, wie weit die anderen inzwischen sind. Ach ja, und noch etwas, Ashley“, fügte sie hinzu, als die junge Frau aufstand. „Krissy kann sich glücklich schätzen, Sie zu haben. Sie sind eine wunderbare Kinderfrau.“

„Danke.“ Ashley lächelte flüchtig. „Wenn ich sie doch bloß nach Hause holen könnte.“

Die Einsatzbesprechung ging gerade zu Ende, als Casey ins Haus kam. Als Erstes hielt sie nach Special Agent Peg Harrington Ausschau.

„Hallo, Peg.“

„Casey“, begrüßte sie die gepflegte zweiundvierzigjährige Frau mit den kurzen dunklen Haaren und dem wachen Gesichtsausdruck. „Don hat mir erzählt, dass die Willis’ Sie beauftragt haben. Ich muss Ihnen die Spielregeln ja nicht erklären.“

„Nein. Das ist Ihr Fall. Mein Team und ich sind hier, um meinen Auftraggebern zu helfen und Sie in jeder erdenklichen Weise zu unterstützen. Ich muss nur die Kleiderordnung kennen.“

Peg räusperte sich. „Mr Willis hätte gern, dass die Kollegen aus dem New Yorker Büro das Kommando übernehmen. Die Leitung liegt also bei mir – und Ken Barkley als Stellvertreter. Aber in der Filiale von White Plains und im Polizeirevier in North Castle gibt es natürlich auch ausgezeichnete Leute. Die Ankunft des Spezialistenteams haben Sie ja mitbekommen. Außerdem müssten zwei Kollegen von BAU-3 in etwa einer Stunde eintreffen.“ Hinter der Abkürzung verbarg sich die Behavioral Analysis Unit, die Verhaltensanalyse-Einheit, die auf die Aufklärung von Verbrechen an Kindern spezialisiert war. „Wir werden jeden Stein umdrehen.“

Casey nickte. „Irgendwelche Neuigkeiten vom Tatort?“

„Nein. Das gesamte Schulpersonal ist befragt worden – vor allem jene, die den Vorfall bezeugen können. Natürlich auch die Mutter, die heute mit Abholen an der Reihe war. Bis jetzt haben wir nichts herausbekommen. Die Willis’ werden nachher eine Mitteilung an die Zeitungen herausgeben und im Fernsehen um Unterstützung bitten. Wir richten eine Hotline ein. Jeder, der etwas beobachtet hat, kann sich unter der Nummer melden. Vielleicht ist jemandem ein silberner GMC Acadia aufgefallen. Mit einem Kind auf dem Rücksitz und einem X oder M im Kennzeichen.“

„Ein Stadtwagen in städtischer Umgebung“, überlegte Casey. „Erregt nicht gerade Aufmerksamkeit.“

„Da haben Sie leider recht. Dazu haben wir noch ein Elternpaar, mit dem mehr Zeitgenossen als gewöhnlich ein Hühnchen zu rupfen haben. Und was kann eine Mutter und einen Vater mehr treffen, als wenn man ihrem Kind etwas antut?“

Casey schnitt eine Grimasse. „Gar nichts.“ Sie sah sich um. Die FBI-Agenten stimmten gerade ihre Vorgehensweise untereinander ab. „Hören Sie, Peg, unsere Befragungen von Verdächtigen werden sich vermutlich überschneiden. Wenn Sie irgendjemanden auf Ihrer Agenda haben, von dem Sie möchten, dass wir uns näher mit ihm oder ihr unterhalten sollten, um möglicherweise noch mehr herauszubekommen, sagen Sie einfach Bescheid. Die Liste der Verdächtigen ist wie gesagt ellenlang. Schließlich wollen wir alle dasselbe – dass Krissy heil nach Hause kommt. Wir stehen zu Ihrer Verfügung. Bedienen Sie sich.“

„Das werde ich.“ Peg hatte oft genug mit Casey zusammengearbeitet, um zu wissen, dass sie keinen Wert darauf legte, die Lorbeeren für sich zu beanspruchen. Andererseits gab sie nichts auf die Regeln der Bürokratie. Das sorgte bei manchen ihrer Kollegen für Unmut. „Momentan teilen wir die Liste unter uns auf. Danach werde ich nicht zögern, auf Ihr Angebot zurückzukommen. Verlassen Sie sich drauf.“

Peg kehrte zu ihrem rastlosen Team zurück, und Casey hielt Ausschau nach ihren eigenen Leuten. In der Eingangshalle unterhielt sich Marc mit einigen der Agenten aus New York. Ryan war nirgendwo zu sehen. Casey vermutete, dass er oben in Krissys Zimmer war und mit einem der Spezialisten Krissys Computer auf Hinweise durchsuchte.

Hope und Edward wurden auf die Fernsehsendung vorbereitet, in der sie die Bevölkerung um Mithilfe bitten wollten. Sie sollte innerhalb der nächsten Stunde ausgestrahlt werden. Ashley war bei ihnen und hörte aufmerksam zu. Die Art, wie das Kindermädchen neben ihnen stand, seine Körpersprache, wenn es mit Hope oder Edward redete, waren sehr aufschlussreich. Casey prägte sich das Bild genau ein.

Dann drehte sie sich um und begab sich auf einen Erkundungsgang durch das Erdgeschoss des Hauses. Bevor sie das Haus verließ, wollte sie noch einmal mit Hope und Edward reden. Wenn sie und ihre Kollegen genügend Informationen gesammelt hätten, um loslegen zu können, würde sie zu Krissys Kindergarten fahren und dort einige Leute ausführlich befragen.

Auf ihrem Weg von Raum zu Raum gelangte sie auch in das unwirklich stille Kinderzimmer. Zu ihrer Überraschung saß Claire Hedgleigh im Schneidersitz mitten auf dem Teppich und rollte einen Buntstift zwischen den Fingern hin und her. Die andere Hand lag auf einem halb fertigen Bild in einem aufgeklappten Malbuch.

Tränen liefen ihr über die Wangen.

5. KAPITEL

Mommy?

Wo bist du? Ich habe Angst. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin.

Das Bild, das ich für dich in der Schule mit Fingerfarben gemalt habe, trocknet. Der Reißverschluss an meinem Schulranzen ist hängen geblieben. Deshalb hatte die Glocke schon zum zweiten Mal geläutet, ehe ich hinausgegangen bin. Ich war überrascht, als ich dein Hupen gehört habe. Überrascht, aber glücklich. Du bist früher von der Arbeit gekommen. Du bist von der Bank aufgestanden, auf der du sonst immer sitzt, um mit mir zu spielen. Du hattest noch den schwarzen Hosenanzug an, den wir heute Morgen zusammen für dich ausgesucht haben. Du hast dich nicht umgezogen, damit du früher in der Schule warst als Olivias Mommy, die mich nach Hause fahren sollte.

Jetzt erinnere ich mich auch an das stinkende Halstuch. Ich wollte dir sagen, dass es nicht gut riecht, aber du hast gesprochen. Nicht mit mir. Mit jemand anderem. Das Auto ist weitergefahren. Ich bin ein bisschen wach geworden. Du hast mir etwas zu trinken gegeben, damit der eklige Geschmack in meinem Mund weggeht.

Ich fühle mich seltsam. Bin ich krank? Das ist nicht mein Bett. Und das ist nicht mein Schlafanzug. Ich mag keine Schlafanzüge. Wenn ich schwitze, kleben sie an mir fest. Ich mag Nachthemden. Wo ist mein Nachthemd?

Mir gefällt es hier nicht. War das eben Daddys Stimme? Ist er noch hier? Bist du noch hier?

Was, wenn ihr beide geht?

Was, wenn keiner mehr hier ist außer mir und Oreo?

Ich rufe dich andauernd, aber du kommst nicht. Ich habe auch Ashley gerufen. Sie hat nicht geantwortet. Ich will sie sowieso nicht. Ich will auch Daddy nicht. Ich möchte nur dich.

Wo bist du, Mommy?

Bitte komm!

Claire presste die Augen zusammen und fuhr unwillkürlich zurück, als der Schmerz und die Verwirrung des kleinen Mädchens durch sie hindurchflossen.

Das Kind wurde sich seiner Situation immer mehr bewusst. Die Spinnweben in seinem Kopf lösten sich auf. Auch die in Claires Kopf. Angst. Fürchterliche Angst.

Krissy weinte. Große Tropfen hingen an ihren Wimpern, auf ihren Wangen und an ihrem Kinn. Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen fort. Oreos Kopf war ganz nass von denen, die sie nicht rechtzeitig hatte abputzen können.

Panik. Sie geriet in Panik. Schrie nach ihrer Mommy. Schluchzte … flehte.

„Claire?“

Zuerst drang die Stimme nicht zu ihr durch. Dann hörte Claire sie, spürte, dass sie jemand rief, und sie zuckte zurück in die reale Umgebung. Blinzelnd schaute sie sich um und entdeckte Casey.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Casey.

„Nein.“ Langsam rappelte Claire sich auf, ohne die Feuchtigkeit in ihrem Gesicht zu bemerken. „Krissy hat schreckliche Angst. Sie weiß nicht, wo sie ist. Und sie ruft ständig nach ihrer Mommy.“

Casey zuckte nicht mit der Wimper. „Sie konnten spüren, was sie fühlt? Hat sie irgendetwas, das geschehen ist, noch einmal erlebt? Irgendetwas, das Ihnen einen Anhaltspunkt gibt?“

Ein leichtes Nicken. „Wer immer sie entführt hat, trug einen klassischen schwarzen Hosenanzug – ähnlich wie die Modelle, die ihre Mutter bei der Arbeit bevorzugt. Ihr Haar war blond und hatte einen Seitenscheitel – genau wie bei Mrs Willis.“

„War es echt? Oder eine Perücke?“

„Ich weiß es nicht. Krissy hat kein Gespür dafür …“ Ratlos breitete Claire die Arme aus. „Die Frau trug eine dunkle Sonnenbrille. Eindeutig, um ihre Identität zu verschleiern. Aber was viel wichtiger ist: Sie hat sich alle Mühe gegeben, um wie Krissys Mutter auszusehen. Ihr Wagen, ihre Frisur. Ein breites Lächeln. Ein Winken zur Begrüßung.“

„Und eine Entführung.“ Die Gedanken in Caseys Kopf überstürzten sich. „Hat Krissy sich daran erinnert, was im Wagen passiert ist? War die Entführerin allein? Hat sie das Kind verletzt?“

„Ich glaube, sie hat sie mit Chloroform betäubt und ihr später noch mehr Tabletten gegeben. Und Krissy hat sie reden hören. Ich habe keine weitere Person im Wagen gespürt, also wird sie wohl telefoniert haben.“

„Vermutlich hat sie mit demjenigen gesprochen, mit dem sie zusammenarbeitet – oder für den sie arbeitet. Was haben Sie noch gespürt?“, drängte Casey. „Wo ist Krissy jetzt? Konnten Sie die Umgebung wahrnehmen? Wer war bei ihr? Gibt es irgendeinen Hinweis, der uns helfen könnte, sie zu finden?“

Jetzt zögerte Claire. „Casey, ich sollte besser zuerst mit der Polizei sprechen.“

„Sicher. Aber im Moment ist es noch ganz frisch in Ihrem Kopf. Die Beamten sind in einer Besprechung und erhalten ihre Anweisungen, damit sie mit den Vernehmungen anfangen können. Ich bin hier. Alles, was Sie sagen, behalte ich im Gedächtnis. Ich kann mit Ihnen kommen, wenn Sie mit den Ermittlern reden, und Ihnen helfen, sich zu erinnern, falls Ihnen das eine oder andere Detail nicht mehr so deutlich vor Augen ist, damit Sie ihnen ein Bild geben, das so klar und vollständig wie möglich ist.“ Eine Pause entstand. „Claire, Sie haben doch schon mit mir zusammengearbeitet. Ich möchte nur, dass das kleine Mädchen gefunden wird, ehe es zu spät ist. Bitte erzählen Sie mir, woran Sie sich erinnern.“

„Sie möchte ihr Nachthemd“, antwortete Claire leise. „Sie mag keine Schlafanzüge. Sie trägt einen Flanellpyjama. Sie befindet sich in einem Schlafzimmer im Erdgeschoss. Die Tür zum Zimmer hat ein Schloss auf der Außenseite und eines innen, damit der Entführer es abschließen kann, wenn er bei ihr ist. Im Moment ist allerdings niemand bei ihr. Zuvor hat sie Stimmen gehört, aber jetzt ist es ganz still, und sie sehnt sich nach ihrer Mommy.“

„Das Zimmer – haben Sie es gesehen?“

„Teilweise, ja. Es ist ziemlich leer. Ruhig. Es gibt ein Bett mit Baldachin, eine weiße Tagesdecke mit kleinen goldenen Kronen darauf und rosafarbenen Rüschen an der Kante. Das Licht im Zimmer kommt von einer Nachttischlampe. Kein Tageslicht. Und kein Fenster. Nur vier rosafarbene Wände und ein schlichter rosafarbener Teppich. Wie ein Anstaltsraum, allerdings mit ein paar persönlichen Dingen.“

„Klingt plausibel“, meinte Casey. „Der Haupttäter ist höchstwahrscheinlich ein Mann. Er hält Krissy in einer Umgebung fest, in der sie sich absolut verletzlich fühlt. Trotzdem ist er in Ansätzen um eine persönliche Note bemüht, um sie gefügig zu machen und ihr zu verstehen zu geben, dass er sich um sie kümmert. Was diese Kleinmädchenausstattung angeht – die hat sicher seine Komplizin beigesteuert, da bin ich mir ziemlich sicher. Sie tut es für ihn, aber ich hoffe inständig, dass sie es auch für Krissy tut. Das heißt, die Frau empfindet wenigstens ein kleines bisschen Mitleid oder Barmherzigkeit – bis zu dem Punkt, wo sie eine Grenze überschreiten und sich selbst in Gefahr bringen würde. Falls das stimmt, können wir ihre Gefühle in unserem Sinne instrumentalisieren.“

Claire nickte und durchquerte den Raum, um das Malbuch und die Stifte aufzusammeln. „Ich mach mich mal auf die Suche nach den Detectives von North Castle.“

„Falls sie noch hier sind“, erinnerte Casey sie. „Gut möglich, dass sie alle schon ihre Arbeit machen und nur noch die Beamten hier sind, die laut Anordnung von Peg bei den Willis’ und in der Nähe der Telefone bleiben sollen.“

„Dann rede ich mit denen.“

„Möchten Sie, dass ich mit Ihnen komme?“

„Nein.“ Ein verlegenes Schweigen. „In diesem Fall funktioniert meine Erinnerung hundertprozentig – leider.“

„Verstehe.“ Casey beneidete Claire nicht um ihre Fähigkeit. In Zeiten wie diesen musste sie eine solche Gabe als ausgesprochen bedrückend empfinden. „Egal, mit wem Sie reden – tun Sie’s nicht vor den Willis’. Sie werden gleich eine Erklärung im Fernsehen abgeben, und die Psychologen sind noch nicht eingetroffen, um sie zu betreuen. Sie sollten jetzt auf keinen Fall erfahren, dass Krissy Angst hat und eingesperrt ist – zu welchem Zweck auch immer. Wir können später mit ihnen reden. Und wir werden ausdrücklich betonen, dass Krissy am Leben ist.“

Auf dem Weg zur Tür blieb Claire noch einmal stehen und betrachtete Casey so, als sähe sie die selbstbewusste Frau zum ersten Mal. „Sie sind sehr einfühlsam.“

„Genau wie meine Kollegen“, entgegnete Casey. „Darüber sollten wir beide uns mal unterhalten – zu gegebener Zeit.“

Verwundert zog Claire die Augenbrauen hoch. „Schön. Das können wir gern tun.“

Kaum hatte Claire den Raum verlassen, klingelte Caseys BlackBerry. Die Nummer des Anrufers auf dem Display überraschte sie nicht.

Sie drückte auf eine Taste. „Hallo.“

„Selber hallo“, echote eine sonore männliche Stimme. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich in deiner Nähe bin. Ich habe einen Fall in Westchester County. Ich weiß noch nicht, wann ich mich loseisen kann, aber wenn es so weit ist, können wir uns dann sehen? Vielleicht später am Abend?“

„Bestimmt schon früher“, versicherte ihm Casey. „Im Moment bin ich im Haus der Willis’. Ich nehme an, dass du dorthin unterwegs bist?“

Sie hörte einen scharfen Atemzug. „Sie haben dich schon engagiert?“

„Was soll ich dazu sagen? Sie haben einen guten Geschmack. Genau wie du.“ Casey wurde wieder ernst. „Ich bin froh, dass du kommst. Wir müssen Krissy finden, bevor sie umgebracht wird – oder ihr sonst etwas Schlimmes geschieht. Beeil dich.“

Casey erwischte Hope und Edward Willis allein, ehe die Psychologen eintrafen, um sie auf die Sendung vorzubereiten.

„Nachdem Sie Ihr Statement im Fernsehen abgegeben haben, werden meine Leute und ich zu Krissys Kindergarten fahren“, erklärte Casey ihnen. „Wir wollen ein paar von den Mitarbeitern befragen.“

„Warum nur ein paar?“, unterbrach Hope. Sie beugte sich vor und senkte die Stimme. „Bitte, Miss Woods, lassen Sie sich nicht von Ihren Nachforschungen abhalten, nur weil die Behörden Sie unter Druck setzen. Ich habe Sie wegen Ihrer Erfahrung und Ihrer zahlreichen Erfolge engagiert und nicht zuletzt deswegen, weil Sie bei Ihren Ermittlungen etwas unkonventioneller vorgehen können. Edward und ich sind Anwälte. Wir kennen die Sachzwänge. Die Ermittlungsbehörden müssen zurückhaltend vorgehen. Sie hingegen müssen sich an keine Grenzen halten. Also umgehen Sie bitte diese Hindernisse. Tun Sie, was immer Sie tun müssen. Tun Sie es gründlich. Und tun Sie es schnell.“

„Genau das habe ich vor.“ Casey sprach genauso leise wie ihre Auftraggeberin. „Aber verwechseln Sie Gründlichkeit nicht mit Zurückhaltung. Ich denke, wenn ich auf Ihrer Liste jemanden von besonderem Interesse entdecke, werde ich Erkundigungen über die betreffende Person einholen, selbst wenn sie sich mit den Nachforschungen des FBI überschneiden. Aber wenn mein Gefühl mir sagt, dass ich auf dem Holzweg bin, wäre es reine Zeitverschwendung, an den Menschen dranzubleiben, die mir nicht weiterhelfen können. Ich möchte vor allem mit Liza Bock sprechen, die heute für die Fahrgemeinschaft eingeteilt war und die gesehen hat, wie Krissy in das Auto des Entführers gestiegen ist. Außerdem möchte ich mich mit Olivia, ihrer Tochter, unterhalten, sowie allen anderen Freundinnen von Krissy. Kinder wissen oft mehr, als man denkt. Das FBI wird dagegen die ganze Liste abarbeiten.“ Vor allem die Triebtäter, dachte sie grimmig. „Wir beschränken uns auf die wahrscheinlicheren Kandidaten.“

Hope nickte. „In Ordnung.“ Sie reichte Casey einen Stapel Papiere – den gleichen, den sie auch Peg Harrington gegeben hatte. Es handelte sich um eine komplette Namensliste mit Vermerken, in welcher Beziehung die Genannten zu Krissy standen, sowie seitenweise die Namen von Menschen, mit denen Hope und Edward beruflich zu tun hatten und die einen Groll gegen sie hegten. Potenzielle Feinde, verärgerte Kläger oder Beschuldigte; Eltern, denen das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen worden war, und all die anderen, die glaubten, eine Rechnung mit den Willis’ offen zu haben.

„Ich werde die Liste genau durchgehen, bevor ich anfange“, versprach Casey. Sie blätterte durch die Seiten. „Als Erstes kommen die verärgerten Eltern dran. Auge um Auge – das ist ein starkes Motiv. Mein Job ist es, die aussichtsreichsten Kandidaten auszuwählen und mit ihnen zu reden. Ryan soll sich die Namen ansehen und diejenigen herauspicken, die seiner Meinung nach am konstruktivsten und logischsten handeln. Wer immer das geplant hat, ist intelligent, zielstrebig und geht konzentriert zu Werke. Marc wird sich um diejenigen kümmern, die am ehesten Zugang zu Ihnen, dem Anwesen und Ihrem täglichen Leben haben. Und um diejenigen mit einem Vorstrafenregister. Sie werden sich wundern, wie schnell und effizient wir arbeiten. Vertrauen Sie uns.“

„Ich versuche es.“ Tränen liefen Hope über die Wangen. „Aber sie ist mein Baby.“

„Ich weiß“, erwiderte Casey sanft. „Und die Besten der Besten arbeiten da draußen für Sie, um sie zurückzuholen.“

„Hey.“ Marc tauchte hinter ihr auf. „Da du gerade davon sprichst: Die Psychologen sind eingetroffen. Hutch ist auch dabei.“

Casey drehte sich halb zu ihm um. „Ich weiß. Er hat eben angerufen.“ Sie sah die vertraute, Respekt einflößende Gestalt von Kyle Hutchinson, dem leitenden Special Agent, den Raum betreten. Für einen Mann, der wie kein Zweiter den Begriff „distanziert“ verkörperte, schaffte Hutch es spielend, alle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ohne sich im Geringsten darum zu bemühen. Er verfügte über eine ebenso natürliche wie unwiderstehliche Eigenschaft, die ihn zum Anführer prädestinierte. Seine imposante Gestalt, die angeborene Zuversicht, die er ausstrahlte, sogar die gezackte Narbe an seiner linken Schläfe, eine Erinnerung an seine Zeit als Detective in Washington, D. C. – der Mann zog stets alle Blicke und alle Aufmerksamkeit auf sich und machte seiner Umwelt unmissverständlich klar, dass er jemand von eminenter Wichtigkeit war.

Freilich war ihm der Eindruck, den andere von ihm hatten, ziemlich gleichgültig. Ihm ging es wie immer nur um eines: Er wollte seine Arbeit ordentlich erledigen.

Mit energischen Schritten näherte er sich Hope und Edward Willis. Unmittelbar hinter Hutch folgte seine Partnerin, Senior Special Agent Grace Masters, die in jeder Beziehung ebenso beeindruckend war wie er. Nur Dummköpfe ließen sich von ihrem zierlichen Körperbau oder dem in sanften Wellen fallenden braunen Haar täuschen. Sie verfügte über einen messerscharfen Verstand, eine gehörige Portion Mumm, viel Durchsetzungsvermögen und ein unerschütterliches Selbstvertrauen. Während Hutchs Gesichtsausdruck unergründlich war, verriet Graces Mienenspiel stets, was sie dachte und vorhatte. Die beiden Profis arbeiteten schon seit Jahren zusammen, waren vorzüglich aufeinander eingespielt und funktionierten mit der Präzision eines Uhrwerks.

„Marc. Casey.“ Hutch begrüßte sie mit einem Kopfnicken, ehe er sich den Willis’ zuwandte. „Ich bin leitender Special Agent Kyle Hutchinson, und dies ist meine Kollegin, Senior Special Agent Grace Masters. Wir sind von der Verhaltensanalyse-Einheit des FBI.“ Er und Grace schüttelten den Willis’ die Hand.

„Sie sind also hier, um ein Profil des Mistkerls zu erstellen, der meine Tochter entführt hat“, stellte Edward fest.

„Wir sind hier, um die Umstände des Verbrechens zu analysieren und den Ermittlern bei ihrer Arbeit zu helfen“, präzisierte Grace. „Aber Sie haben recht: Wir konzentrieren uns auf das Motiv, den Persönlichkeitstyp und die Zahl der möglichen Täter – alles, was uns zu dem oder den Kidnappern Ihrer Tochter führt.“

„Vergessen wir die Details fürs Erste.“ Damit erstickte Hutch Edwards Frage im Keim. „Zunächst müssen wir uns mit dem Naheliegenden beschäftigen. In zehn Minuten gehen Sie auf Sendung. Dann wollen wir Sie mal darauf vorbereiten.“

6. KAPITEL

Claudia Mitchell schaute beim Bügeln die Wiederholung einer ihrer Lieblingskomödien im Fernsehen, als eine Sondersendung angekündigt wurde. Die neuesten Breaking News. Sämtliche Medien waren informiert worden. Krissy Willis, die fünfjährige Tochter der Familienrichterin Hope Willis und des prominenten Strafverteidigers Edward Willis, war entführt worden.

Auf dem Bildschirm waren die Eltern zu sehen, die sich mit einer Ansprache an die Öffentlichkeit wendeten.

Rasch schaltete Claudia ihr Bügeleisen aus, stellte es in die Ablage auf dem Bügelbrett, ging zum Fernseher und drehte am Lautstärkeregler. Die Willis’ gaben ihre Erklärung ab und baten um die sichere Rückkehr ihres Kindes. Claudia starrte Richterin Willis an, für die sie jahrelang als Gerichtssekretärin gearbeitet hatte. Während dieser Zeit hatte sie ihre Chefin nicht ein Mal in diesem Zustand erlebt. Kein Makeup. Panisch. Ein hilfloser Blick, der sich in ihren Augen widerspiegelte. Unterdrücktes Schluchzen in der Stimme. Normalerweise war sie eine Frau, die stets die Fassung bewahrte und nie die Selbstkontrolle verlor. Jetzt bot sie einen erschreckenden Anblick.

Doch es war schließlich kein Wunder, dass sie so erbärmlich aussah. Ihr kleines Mädchen wurde vermisst. Der wichtigste Mensch in ihrem Leben war ihr weggenommen worden – und möglicherweise für immer verloren.

Es war eine schreckliche Tortur, und man konnte gar nicht anders, als Mitleid mit ihr zu empfinden. Claudia fragte sich, ob Hope Willis ihr gegenüber wohl nachsichtiger und mitfühlender gewesen wäre, hätte sie durch diese Hölle gehen müssen, die ihr Leben vollkommen verändern würde, bevor sie Claudia entlassen hatte. Damals hatte Claudia sich genauso gefühlt, wie die Richterin sich in diesen Stunden fühlen musste. Entsetzt und hilflos. Und so allein. Joe hatte gerade ihre Verlobung aufgehoben und war aus ihrem Leben verschwunden. Sie hatte geglaubt, seine Entscheidung sei endgültig.

Joe war ihr Ein und Alles gewesen. Natürlich war sie am Boden zerstört. Richterin Willis hatte einen Monat, vielleicht sogar zwei, Nachsicht mit ihr geübt. Dann hatte sie Claudia mit dem Argument gefeuert, ihre Arbeit sei nicht mehr zufriedenstellend, sie habe ihre Gefühle nicht unter Kontrolle, und ihre unzuverlässige Terminplanung würde die Arbeitsabläufe am Gericht gefährden.

Nun war Claudia nicht nur allein, sondern auch arbeitslos und angesichts ihres Zustandes nicht in der Lage, sich um eine neue Stelle zu kümmern. Ihr Leben lag in Trümmern.

Jetzt würde Mrs Willis sie vielleicht verstehen. Oder auch nicht. Krissy war für sie nicht der Mittelpunkt der Welt. Sie war nicht einmal ein großer Teil davon. Dafür arbeitete die Juristin viel zu viel. Statt von den Eltern wurde das heiß geliebte Kind von einer Nanny betreut.

Und Hope Willis würde auch niemals einsam und allein sein. Sie hatte einen Mann. Geld. Jetzt sprach sie davon, sich so lange freistellen zu lassen, bis ihre Tochter wieder gesund zurückgekehrt war. Freistellen? Ihre Stelle würde sie nicht verlieren. In ihrer Karriere gab es keinen Knick. Und man würde ihr die mütterliche Vorsorge hoch anrechnen und ihr nicht etwa vorwerfen, ihre Gefühle nicht unter Kontrolle zu haben.

Unvermittelt empfand Claudia ein Schuldgefühl, das jedoch schnell von einer überwältigenden Trauer verdrängt wurde. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie Krissy zum ersten Mal ihre Mutter im Gericht besucht hatte. Aufgeregt und mit großen Augen hatte sie auf dem Richterstuhl Platz nehmen und den Hammer in der Hand halten dürfen. Sie war ein entzückendes Kind. Es war schließlich nicht verantwortlich für das, was Claudia zugestoßen war. Das arme kleine Mädchen. Es brauchte Liebe, Sicherheit. Was sie nicht brauchte, war …

Die Haustür wurde aufgestoßen, und Joe betrat das Haus. Claudia lief aus der Küche, um ihn zu begrüßen. Noch immer konnte sie ihr Glück nicht fassen. Er war zu ihr zurückgekommen. Der Grund spielte keine Rolle. Hauptsache, er war wieder bei ihr.

„Joe.“ Sie legte die Hand auf seinen Arm und hielt ihn fest, ehe er an ihr vorbeigehen und im Untergeschoss verschwinden konnte.

Gereizt schaute er von der Beschreibung des Videospiels auf, das er sich gekauft hatte. „Was ist?“

„Richterin Willis ist im Fernsehen. Sie gibt gerade bekannt, dass ihre Tochter entführt wurde, und bittet darum, dass die Kidnapper sie gehen lassen.“

„Ich hab’s im Autoradio gehört“, antwortete er. „Dem Mädchen wird schon nichts passieren. Was machst du dir überhaupt einen Kopf wegen dieser Frau – nach allem, was sie dir angetan hat? Ich geh runter. Mach lieber das Abendessen.“

„Aber Joe …“

Sein Blick wurde hart. „Ich habe keine Lust zu reden, Claudia. Lass mich in Ruhe. Ich will mich nicht wiederholen. Hast du kapiert?“

„Ja.“ Rasch ließ sie ihn los und trat einen Schritt zurück. „Ich schäle die Kartoffeln.“

„Gut.“

„Wann kommst du zum Essen?“

„Weiß nicht. Ich will ein neues Spiel ausprobieren.“

Es war fast Mitternacht.

Das Team von Forensic Instincts hatte sich um den dunklen Konferenztisch versammelt und sprach über die Notizen, die bewältigten Aufgaben und die weitere Vorgehensweise. Der Fernsehauftritt von Hope und Edward Willis war reibungslos über die Bühne gegangen. Die Kollegen vom FBI hatten das Fernsehzimmer der Willis’ zur Kommandozentrale umfunktioniert. Die Geräte zum Aufzeichnen sämtlicher Telefonate waren ebenso installiert wie eine kostenfreie Hotline. Immer mehr besorgte Bürger meldeten sich, darunter auch die üblichen Verrückten. Die Vernehmungen hatten begonnen und würden rund um die Uhr andauern.

Casey hatte eine weitere Stunde in Gesellschaft der Willis’ – und eine halbe Stunde allein mit Hope – verbracht, um noch ein paar wesentliche weiße Flecken zu füllen.

Jetzt war es Zeit für die drei, alles, was sie in Erfahrung gebracht hatten, auszutauschen.

Ryan begann. Er berichtete, was er gemeinsam mit dem Spezialisten entdeckt hatte. Auf den ersten Blick war das Ergebnis wenig überraschend. Wie erwartet war Krissy eine normale, wenn auch etwas altkluge Fünfjährige, deren einzige Aktivitäten am Computer darin bestanden, zu spielen, zu malen und mithilfe ihres Avatars zu chatten.

Ob einer ihrer Chatfreunde möglicherweise ein Kinderschänder war, der sich im Internet an sie herangemacht hatte, das war noch ungewiss. Das würde erst nach einer ausführlichen Untersuchung im Labor geklärt werden können.

Marc war als Nächster an der Reihe. Dank seiner Kontakte zum FBI hatte er erfahren, dass zahlreiche Namen von der Liste der Verdächtigen gestrichen werden konnten, obwohl ihm das Ehepaar Sal und Rita Diaz, der Gärtner und die Haushälterin der Willis’, noch Kopfzerbrechen bereitete. Sie hatten zwar ein hieb- und stichfestes Alibi, aber Marc gab zu bedenken, dass sie sämtliche Kreditkarten bis zum Anschlag belastet hatten und bis zum Hals in Schulden steckten. Rund um die Uhr mit dem Wohlstand seiner Arbeitgeber konfrontiert, war das Paar möglicherweise zu dem Schluss gekommen, dass es auch ein Stück vom Kuchen verdient hatte. Ein Ehemann, der sich in der Vergangenheit manche Kneipenschlägerei geliefert hatte, und eine Ehefrau, die sichtlich eingeschüchtert war.

Es war die klassische Ausgangsposition für eine Entführung – wäre da nicht der Umstand gewesen, dass ihre beiden Arbeitgeber bestätigen konnten, wo sie sich den ganzen Nachmittag über aufgehalten hatten. Außerdem war noch keine Lösegeldforderung eingegangen. Trotzdem wollte Marc sie noch nicht vom Haken lassen.

Casey hatte mit den Müttern gesprochen, die sich in der Fahrgemeinschaft abwechselten – und besonders intensiv mit Liza Bock. Sie hatte zwar keine aufregenden Neuigkeiten erfahren, aber die ausweichende Art, mit der man ihr überall begegnet war, hatten die Alarmglocken bei ihr schrillen lassen und sie in ihrer Überzeugung bestärkt, dass ihre ersten Vermutungen durchaus berechtigt waren.

„Ich glaube, Edward Willis schläft mit Ashley Lawrence“, verkündete sie.

„Der Kinderfrau?“ Marc zog eine Augenbraue hoch. Er wirkte eher amüsiert als überrascht. Nichts Menschliches konnte ihn noch in Erstaunen versetzen – am allerwenigsten eine Affäre.

„Ja.“ Casey beugte sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf den Tisch. „Alles deutet darauf hin – Ashleys Körpersprache und der Streit mit ihrem Freund. Edwards Feindseligkeit uns gegenüber und die übertrieben fürsorgliche Art, die er gegenüber seiner Frau an den Tag legt. Diese eigenartige Dynamik im ganzen Haus. Zuneigung gemischt mit Anspannung und ein Hauch von Verzweiflung, ganz zu schweigen von dem geradezu greifbaren Zorn und Misstrauen. Hope sorgt sich um ihren Mann, aber sie hat sich damit abgefunden, dass er wegen seiner Karriere kaum noch Zeit für sie und Krissy hat. Der Art nach zu urteilen, wie sie sich in sich selbst zurückzieht und von ihrem Mann entfernt, würde es mich schon sehr wundern, wenn sie ihn nicht verdächtigt, sie zu betrügen. Aber noch mehr würde es mich wundern, wenn sie Ashley dahinter vermutet. Was Ashley angeht: Sie vergöttert Krissy, aber sie fühlt sich wegen irgendetwas schuldig. Edward schließlich ist ein arroganter, egozentrischer Machtmensch, perfekt geeignet für seinen Job – und dazu, seine Familie zu zerstören.“

„Schließt das auch ein, sich sein Kind und seine scharfe junge Kinderfrau zu schnappen und mit ihnen irgendwohin zu verschwinden?“, wollte Ryan wissen.

„Hm, hm.“ Verneinend schüttelte Casey den Kopf. „Er liebt seine Tochter – soweit er überhaupt jemanden lieben kann. Aber er möchte auf keinen Fall die volle Verantwortung für sie übernehmen. Ebenso wenig, wie er ein Leben mit dieser heißen Nanny führen möchte. Was er will, ist exakt das, was er hat – das volle Programm. Eine vollkommene kleine Familie. Tollen Sex mit einer jungen Frau, die ihn anbetet. Und eine angesehene Anwaltskanzlei, die aufzugeben ihm nicht einmal im Traum einfiele. Sie füttert sein Bankkonto und das Mädchen sein Ego. Nein, Edward hat alles, was er sich wünschen kann. Er möchte nur nicht, dass wir es ihm kaputt machen, indem wir es Hope erzählen. Er weiß, dass er unter Beobachtung des FBI steht, da er Krissys Vater und daher einer der Hauptverdächtigen ist. Im Moment dürfte er also alles andere als glücklich und zufrieden sein.“

Marc klopfte sich mit dem Kugelschreiber gegen das Bein. Jetzt lehnte er sich nach vorn und zog einen Strich durch zwei Namen. „Also streichen wir die Kinderfrau und ihren erfolglosen Freund. Was ist mit den anderen Verwandten – Großeltern, Geschwistern, Tanten und Onkel?“

„Edward ist ein Einzelkind. Beide Elternteile sind gestorben“, erwiderte Casey. „Hope hat, wie ihr wisst, eine verzwicktere Vergangenheit. Nachdem ihre Zwillingsschwester Felicity entführt wurde und sämtliche Spuren ins Leere liefen, ist die Ehe ihrer Eltern zerbrochen. Ihr Vater wurde Alkoholiker. Er hat sich von seiner Frau scheiden lassen. Er tauchte ab, und man hat nie wieder etwas von ihm gehört. Vera, die Ehefrau, hatte fast einen Nervenzusammenbruch. Nur das sechsjährige Kind, das eine Mutter brauchte, hielt sie davon ab, vollkommen den Verstand zu verlieren. Sie lebt immer noch in demselben Haus, in dem die Zwillinge aufgewachsen sind. Laut Hope hofft ihre Mutter im Stillen bis heute, dass Felicity zurückkommt.“

„Wo befindet sich dieses Haus?“

„In New Rochelle. Eine gute halbe Stunde entfernt. Aber Vera Akerman ist zu sehr mit den Nerven fertig, um selbst zu fahren. Außerdem nimmt sie starke Medikamente. Natürlich erinnert Krissys Entführung sie an die schlimmste Zeit ihres Lebens. Aber sie will bei ihrer Tochter sein. Deshalb hat Hope ein Taxi organisiert, das sie nach Armonk bringt.“

„Hast du vor, mit ihr zu sprechen?“, wollte Ryan wissen. „Ja, aber sehr behutsam. Morgen Nachmittag. Sie soll erst ein wenig Zeit allein mit ihrer Tochter verbringen.“

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