×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Moosgrab«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Moosgrab« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Moosgrab

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Suchtrupps durchkämmen die Wälder am Fuße des gigantischen Wasserfalls von Trollhättan nach der kleinen Mira. Plötzlich blitzt ihre rote Jacke durch die Bäume. Doch statt Mira finden sie eine fast verrottete Kinderleiche, eingehüllt in das Kleidungsstück.

Fünfundzwanzig Jahre zuvor ist an dieser Stelle schon mal ein Kind verschwunden. Die zwölfjährige Anna sei in den Fluss gestürzt und ertrunken, so berichteten ihre Schulfreunde. Nun erweist sich diese Aussage als Lüge. Und aus den Kindern von damals sind Verdächtige geworden, die sich immer unerbittlicher gegenseitig die Schuld zuschieben.


  • Erscheinungstag: 24.01.2023
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365001219

Leseprobe

ERSTE SEITE

Eine Suchkette hat etwas Ästhetisches.

Blaues Licht greller LED-, Stirn- und Taschenlampen das durch Nebel dringt. Waldesstille, die von Aktivität erfüllt wird. Silhouetten von Menschen, die sich zwischen Bäumen bewegen. Ein Name, der durch die Luft hallt.

Mira!

Gebell von Spürhunden. Knackende Zweige, schwere Stiefel, die über moosbewachsene Steine und glitschige Wurzeln steigen. Geruch von feuchter Erde, nassem Moos und feuchten Wollmützen. Hunderte Freiwillige in signalgelben Westen, vereint im selben Ziel. Im Dunkeln gewechselte Blicke. Geraunte Kommunikation zwischen Menschen, die die gleichen Gefühle hegen. Die Hoffnung, ein Mädchen lebend zu finden. Die Furcht, es nicht zu finden. Oder, noch schlimmer, seine Leiche.

Nebelschwaden wabern umher, zerren wie eine namenlose Angst an den erschöpften Nerven der Teilnehmer und rauben ihren Gliedern die Wärme, während sie unermüdlich weitersuchen.

Mira!

Am Waldrand flackert Blaulicht auf. Die freiwilligen Helfer legen eine kurze Pause ein. Rentnerinnen und Rentner, die sich nicht in den dunklen Wald hineinwagen, schenken Kaffee aus. Über dampfenden Plastikbechern, Thermoskannenschraubdeckeln und mitgebrachten Tassen werden leise Gespräche geführt. Der eine oder andere verzehrt ein Butterbrot. Als der Abend in Nacht übergeht und der Nebel von anhaltendem Eisregen abgelöst wird, rechnen immer mehr Teilnehmer mit dem Schlimmsten. Trotzdem gibt niemand auf.

Ein Stück abseits steht eine Reporterin im gleißenden Schein einer Fernsehkamera. Ihre gelbe Regenjacke wirft das Licht zurück, während sie mit besorgter Miene berichtet, dass die Suche nach der zwölfjährigen Mira Stare bisher ergebnislos verlaufen ist. Sollte das Mädchen so nah am Wasserfall in den Fluss gestürzt sein, könnte die starke Strömung es kilometerweit fortgezogen haben. Nach dem regnerischen Herbst ist der Pegelstand des Vänern ungewöhnlich hoch, und der Wasserfall, Trollhättans größte Touristenattraktion, tost mit der Wucht früherer Zeiten. Um die Wassermassen am Kraftwerk Olidan zu entlasten, wird ein großer Teil des Wassers derzeit in das alte Flussbett des Göta älv geleitet, wo gefährliche Unterströmungen herrschen.

In diesem Moment, im Wald unterhalb des Wasserkraftwerks, macht jemand die entscheidende Entdeckung. Zwischen den Bäumen, am Fuß eines steilen Felshangs, leuchtet eine rote Mädchenjacke, wie Mira sie getragen hat.

Mira! Mira!

Aufgeregte Stimmen erklingen. Immer mehr Leute eilen herbei. Eine Frau presst ihr Handy ans Ohr und keucht: »Sie haben sie gefunden«, während sie durch tropfnasses Unterholz zur Fundstelle hastet.

Da sitzt jemand, zwischen knorrigen Baumwurzeln, den Rücken an einen Stamm gelehnt, umhüllt von rotem, erdverkrustetem Stoff. Aber es ist nicht Mira. Sie kann es nicht sein. Denn das, was Miras rote Jacke trägt, ist ein Skelett.

SONNTAG

Mira seit 2 Tagen vermisst

1

Die im Wohnzimmer laufenden Fernsehnachrichten drangen als störendes Stimmengemurmel in Kristina Stares unruhige Gedanken. Sie blickte durch die verregnete Scheibe auf Trollhättan, das sich am gegenüberliegenden Ufer des Göta älv erstreckte. Aus den Häusern an der Promenade fiel Licht und glitzerte im gekräuselten Wasser des Flusses.

Sie selbst stand im Dunkeln. Hier benötigte sie kein Licht, sie kannte dieses Zimmer in- und auswendig, kannte den Duft, die gräulichen Umrisse der Kissen, Puppen und Bücher und der Gitarre, die in einem Ständer an der Wand lehnte.

Alles war wie immer. Alles war an seinem Platz. Das Einzige, was fehlte, war Mira.

Ihre Tochter war seit einer gefühlten Ewigkeit verschwunden. Seit zwei Tagen. Kein Lebenszeichen seit zwei Tagen. Kristinas Wangen waren trocken, aber ihr Gesicht fühlte sich von den vielen Tränen verquollen und aufgedunsen an. Dies war der erste ruhige Moment, seit sie die Polizei informiert und ihre Tochter als vermisst gemeldet hatte.

Die Polizei. Kristina konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Bisher hatten sie nicht viel zuwege gebracht. Gut, sie hatten den Suchtrupp koordiniert und Johan und sie von dem Fund im Wald in Kenntnis gesetzt, bevor die Medien die Nachricht in die Welt hinausposaunten. Doch trotz der zahlreichen Einsatzkräfte, die das örtliche Revier für die Suche abstellte, war das Skelett, das Miras Jacke trug, von freiwilligen Helfern entdeckt worden. Der Großteil dieser Helfer war verschwiegen, doch es gab immer jemanden, den die Sensationslust ins mediale Rampenlicht trieb.

Und in gewisser Weise konnte sie die Leute verstehen. Ihre eigene Karriere lebte davon, dass Menschen mehr ausplauderten, als sie sollten.

Kristina Stare war Schriftstellerin, die unangefochtene Königin des True Crime, Kriminalgeschichten, die auf wahren Begebenheiten beruhten. Aber ihre Bücher besaßen ein Alleinstellungsmerkmal: Sie begnügte sich nicht damit, die Wahrheit zu dramatisieren, sondern verwob sie mit Geschehnissen, die nicht stattgefunden hatten, füllte Leerstellen und Lücken mit reiner Fiktion. Ihre Bücher waren begehrt, bevor sie überhaupt den Weg aufs Papier gefunden hatten, und gingen wie geschnitten Brot über die Ladentheken der Buchhandlungen.

Als im Netz das Foto eines bräunlichen Schädels zu kursieren begann, eingehüllt in die Kapuze der roten Jacke ihrer Tochter, hatte die Polizei den Medien Fakten liefern müssen. Wäre die moderne Daunenjacke nicht gewesen, hätte das Skelett ausgesehen wie ein prähistorischer Fund. Das Bild verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den sozialen Medien. Kurz vor den Achtzehn-Uhr-Nachrichten hatte die leitende Ermittlerin Josefin Jansson angerufen und ihr Verständnis für Kristinas Situation ausgedrückt, die durch die Veröffentlichung des Fotos nicht leichter wurde. Seitdem waren mehr als zwei lange qualvolle Stunden vergangen. Zeit, die Kristina in Miras Zimmer verbracht hatte, allein in der Stille und mit ihren Gedanken.

Im ersten Moment hatte sie wie im Schock reagiert. Sie war mechanisch in Miras Zimmer gegangen und hatte sich, am ganzen Körper zitternd, vor Miras Bett auf den Fußboden sacken lassen, den Rücken an die Bettkante gelehnt, die Beine ausgestreckt. Die Suche nach ihrer vermissten Tochter hatte durch den makabren Skelettfund eine völlig neue Wendung genommen. Während die Nachricht landesweit über die Fernsehkanäle flimmerte, brach in Miras dunklem Zimmer Kristinas gesamte Existenz zusammen.

Irgendwann hatte sie sich aufgerappelt und sich ans Fenster gestellt. Aber sie hatte nicht geweint. Auch jetzt tat sie es nicht. Der Regen floss in langen Schlieren die Scheibe hinunter, das waren Tränen genug für sie.

»Liebling?«, erklang eine gedämpfte Stimme hinter ihr. Johan. Sie antwortete nicht, blickte weiter reglos aus dem Fenster. »Liebling, wie geht es dir?«, fragte ihr Mann und trat ein paar Schritte ins Zimmer. Zögernd, als hätte er Angst, sie zu stören.

»Was glaubst du?«, flüsterte sie und spürte, wie Johan hinter ihr stehen blieb. Sein Spiegelbild zeichnete sich geisterhaft in der Fensterscheibe ab.

»Kann ich irgendetwas tun?«, fragte er.

Kristina schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf und heftete ihren Blick auf den Fußboden.

»Darf ich dich in den Arm nehmen?« Johans Stimme versagte.

Kristina drehte sich zu ihm um. Johan war immer schmal und schlaksig gewesen. Doch jetzt sah er ausgezehrt und hohläugig aus. Er war unrasiert, und auf seinen Wangen sprossen dunkle Bartstoppeln. Ihm setzte die Situation noch härter zu als ihr.

»Wofür sollte das gut sein?«, antwortete sie. Trotzdem ließ sie seine Umarmung zu. Sie spürte Johans Atem im Nacken, spürte, wie er vergeblich gegen die Tränen ankämpfte. Er zitterte und rang immer wieder nach Luft.

»Wer tut so etwas?«, fragte er nach einer Weile. »Wer will unserem kleinen Mädchen Böses?«

»Ich weiß es nicht.« Kristina spürte, wie das Loch in ihrem Inneren wuchs und sich mit bohrender Angst füllte. Wie lange würde es dauern, bis jemand sich zu fragen begann, warum das Skelett Miras Jacke trug? Wie viele menschliche Skelette gab es in den Wäldern, die den Göta älv säumten?

Kristina erschauderte vor Unbehagen. Wie lange würde es dauern, bis die Polizei herausfand, dass es sich um die Überreste von Anna Fridhemsson handelte?

Ihre Muskeln verkrampften sich. Vergeblich versuchte sie, sich zu entspannen, und strich Johan über den Rücken. Sie würde keine Ruhe finden, bevor alles vorbei und Mira wohlbehalten wieder zu Hause wäre. Aber sie wusste, dass dies erst der Anfang war.

»Haben sie in den Nachrichten irgendwas Neues gesagt?«, fragte sie leise.

Johan wand sich seufzend aus ihren Armen. »Nein. Die Suche geht weiter. Aber …« Seine Stimme versagte erneut, und er verbarg das Gesicht in den Händen. Schluchzend fuhr er fort: »Sie sind inzwischen überzeugt, dass Mira entführt wurde.«

»Aber eine Spur haben sie nicht?«

»Nein.«

Kristina legte den Kopf in den Nacken und blickte an die dunkelgraue Decke. »Diese Warterei ist entsetzlich.«

Denn Warten war das Einzige, was sie tun konnten. Kristina schloss die Augen und redete sich ein, dass es ab jetzt schneller gehen würde. Das musste es. Ihre Kraft reichte nicht ewig, aber sie würde aushalten müssen. Sie hatte keine andere Wahl.

2

Behutsam führte Kristina ihren Mann zurück ins Wohnzimmer, wo er wie ein Sack Kartoffeln aufs Sofa fiel. Im Raum brannte kein Licht, nur der Schein des Fernsehbildschirms traf auf sein Gesicht und vertiefte die dunklen Ringe unter seinen Augen.

Kristina blickte zum Fernseher. Die Nachrichten waren von seichter Sonntagabendunterhaltung abgelöst worden. Noch hatten die Medien keinen Wind davon bekommen, dass es sich bei dem vermissten Mädchen um die Tochter der berühmten schwedischen Kriminalschriftstellerin handelte. Doch das war nur eine Frage der Zeit. Früher oder später würden sie versuchen, ein Statement von ihr zu ergattern, aber einstweilen war der Sturm noch nicht ausgebrochen. Nicht einmal ihre Literaturagentin oder ihre PR-Agentur wusste Bescheid.

»Schalt das aus«, sagte sie und setzte sich neben Johan aufs Sofa, während sie versuchte, das fröhliche Gedudel der Musikshow auszublenden. »Ich habe keine Nerven für diesen Mist.«

Johan streckte sich nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Dann stützte er die Ellbogen auf die Knie, vergrub das Gesicht in den Händen und atmete tief ein, bemüht, nicht in Tränen auszubrechen. Eine Weile hatte keiner von ihnen die Kraft, etwas zu sagen. Kristinas Blick wanderte zum Bücherregal. Auf dem obersten Bord reihten sich Ausgaben ihrer eigenen Titel aneinander, viele davon in Sprachen, die sie nicht beherrschte, übersetzt von Menschen, denen sie nie begegnet war. Sie schüttelte den Kopf. Was sollte sie sagen, wenn die Presse vor ihrer Tür erschien? Sie konnte ihnen schlecht die gleiche Story wie beim letzten Mal auftischen. Eine Homestory für irgendeine Frauenzeitschrift, welche, hatte sie vergessen. Sie erinnerte sich nur, dass Johan und sie das Haus im Vorfeld vom Keller bis zum Dach geputzt hatten, damit alles perfekt aussah. Einen ganz normalen chaotischen Wochentag im Leben von Schwedens True-Crime-Königin konnte sie ihren Fans nicht präsentieren. Sie musste den schönen Schein wahren.

Die Zeitschrift hatte ihr kein Honorar gezahlt. Zunächst hatte sie darauf bestanden, die Kondition dann jedoch zähneknirschend akzeptiert und gehofft, es würde bei den Tantiemen zu Buche schlagen. Sie hatte die Reporter mit einem strahlenden Lächeln in ihrem Zuhause willkommen geheißen und auf alle Fragen bereitwillig geantwortet. Jetzt trocknete ihre Mundhöhle allein beim Gedanken daran aus, mit jemandem über das Geschehen zu sprechen.

Schon damals kursierte das Gerücht, bei Kristina Stare sei nicht alles Gold, was glänzte. Ihr auf Hochglanz poliertes Heim versteckte die Unordnung hinter den Türen, die der Fotograf nicht öffnen durfte, das Chaos war hinter Schranktüren gezwängt und unter Teppiche gekehrt, auf dieselbe Weise, wie sie ihre Probleme hinter einer Fassade aus Glamour und Opulenz verbarg, die jeden Moment bröckeln konnte. Ihre Bücher verkauften sich gut. True Crime war zurzeit das angesagteste Genre. Und ihre Geschichten trafen bei Verlagen und Lesern weltweit einen Nerv, die Einnahmen waren nicht das Problem. Sondern die Ausgaben. Sie pflegte einen aufwändigen Lebensstil. Nonstop neue Kleider und neuer Schmuck, Gesichtsbehandlungen und Botox. Sie konnte es sich noch nicht leisten zu altern. Eigentlich sollte sie von ihren Mitgliedschaften in diversen Fitnessstudios Gebrauch machen, zog aber lange Spaziergänge schweißtreibenden Trainingseinheiten mit Personal Trainern vor, und bisher blieb sie damit fit.

Hinzu kamen kostspielige Restaurantbesuche, wenn sie sich unter die schwedische Schriftstellerelite mischte. Ruhm war teuer, und wenn der Druck sie zu ersticken drohte, kaufte sie Möbel oder irgendwelchen Dekokram fürs Haus, um Johan zu zeigen, dass sie nicht alles für Feste und Partys aus dem Fenster warf.

Doch jedes Übel brachte auch etwas Gutes mit sich. Miras Verschwinden würde, nicht zuletzt seit dem makabren Skelettfund, die Verkaufszahlen ihrer Bücher in die Höhe schnellen lassen. Das hieß, sobald die Nachricht von Miras Entführung an die Presse drang. Oder … Wie konnte sie so etwas überhaupt nur denken? Kristina schüttelte unwillig den Kopf und legte Johan die Hand auf die Schulter.

»Du bist seit fast zwei Tagen wach«, sagte sie sanft. »Vielleicht sollten wir versuchen zu schlafen.«

»Ich kann nicht.« Johans Stimme klang heiser. Er hob den Kopf und sah sie an. »Welcher kranke Mensch tut so etwas?«

»Ich wünschte, ich wüsste es.«

»Und dabei schreibst du über solche Menschen.«

Kristina blickte an die Zimmerdecke und atmete tief ein. Johan hatte recht. Die Menschen, über die sie schrieb, hatten weit schlimmere Dinge getan. Hatte das ihre Empathiefähigkeit abstumpfen lassen? Immerhin war sie diejenige, die einigermaßen die Nerven behielt, während Johan vor Sorge um Mira keinen einzigen klaren Gedanken fassen konnte.

Liebt er Mira mehr als ich?

Vielleicht. Vermutlich. Kristina schob den Gedanken beiseite und strich Johan erneut über die Schulter. Es fühlte sich verlogen an.

»Ich kann nicht untätig herumsitzen«, sagte sie. »Ich muss etwas tun. Frische Luft schnappen, schreiben. Was auch immer, aber ich kann nicht einfach im Dunkeln sitzen und vor mich hin starren.« Wie Mira es tat.

Johan betrachtete den ausgeschalteten Fernseher. Der schwarze Bildschirm schimmerte in der Dunkelheit. »Tu, was du willst. Ich bleibe hier.«

»Möchtest du eine Decke haben?«

Er nickte stumm. Kristina nahm eine Wolldecke von der Sofalehne und legte sie Johan um die Schultern. Dann ging sie vor ihm in die Hocke.

»Sie werden Mira finden«, sagte sie mit so viel Zuversicht in der Stimme, wie sie aufbringen konnte. »Auch wenn es gerade schwerfällt, daran zu glauben, aber die Polizei wird sie finden. Okay?«

Johan kämpfte gegen die Tränen an. Kristina nahm seine Hände in ihre und drückte sie.

Gebe Gott, dass dies alles bald ein Ende hätte.

3

Kristina ließ Johan allein und ging in ihr Arbeitszimmer. Sie setzte sich an den Computer und öffnete das Word-Programm. Das Manuskript ihres neusten Romanprojekts Pechvögel leuchtete ihr entgegen. Ihre Hand wanderte zum Griff der Schreibtischschublade, und einen Augenblick später standen ein verschmiertes Glas und eine halb leere Flasche Wodka neben der Tastatur.

Kristina goss das Glas voll und trank ein paar große Schlucke. Der Wodka brannte in ihrer Kehle, und sie spülte das Brennen mit einem weiteren Schluck hinunter. Der Schein des Monitors brach sich in der Flüssigkeit, die ihr verführerisch zuzwinkerte. Hustend streckte sie die Hand nach der Flasche aus. Doch dieses Mal gelang es ihr, die Finger zur Faust zu ballen und ihre Hand zurückzuziehen. Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Diesmal durfte der Alkohol nicht gewinnen. Dann würde alles den Bach runtergehen.

Die Flasche und sie lebten in einem toxischen Verhältnis. Hin und wieder schaffte sie es, das Verhältnis lange genug zu beenden, um etwas zu Papier zu bringen. Doch die Flasche war ein hartnäckiger Liebhaber, und es dauerte nicht lange, bis sie wieder miteinander im Bett landeten. Nach außen hin gelang es ihr meist, den Anschein zu erwecken, Johan sei ihre einzige Liebe. Die Flasche wusste es besser.

Kristina legte die Finger auf die Tastatur und begann zu tippen. Es war nicht ihr bestes Werk, aber das spielte keine Rolle. Sie musste jetzt schreiben, mehr denn je. Sie musste ihren Körper verlassen, der unerträglichen Realität entfliehen und sich im Text unsichtbar machen. Wenn sie im Schreibfluss war, konnte sie in den Lücken zwischen den Worten Zuflucht suchen. Verlor sie den Halt, war es die Flasche, die sie zu neuen Abenteuern verführte, Drama forderte und Aufmerksamkeit.

Sie lebte mit einem Fuß in der realen und mit dem anderen in einer völlig anderen Welt. Ihr Quäntchen Glück bestand darin, dass fremde Menschen dafür zahlten, an ihren Fantasien teilzuhaben und sie in Form von Büchern, Hörbüchern und Verfilmungen konsumierten.

Die Worte nahmen auf der weißen Seite Gestalt an und bildeten den Anfang einer vollkommen abwegigen Geschichte. Abwegiger als die unvorstellbarsten wahren Verbrechen, die sie zu Fiktion wandelte, aber was machte das schon? Diesmal hatte sie ihre üblichen Recherchen durch etwas ersetzt, das ihr am Herzen lag. Tränen stiegen ihr in die Augen. Schon auf der ersten Seite hatte sie klargestellt, dass das Opfer ein kleines wehrloses Mädchen war. Dass die Person, die es in der Gewalt hatte, ein kranker Perversling sein musste. Abgedroschener ging es kaum. Trotzdem lächelte sie. Sie würde das ausgelutschte Klischee als Ausgangspunkt verwenden, um die Neugier ihrer Leser mit etwas weitaus Finstererem zu konfrontieren.

Kristina griff nach ihrer Kladde und notierte einige lose Ideen. Der Schlüssel, den sie als Lesezeichen zwischen die Seiten gelegt hatte, fiel klirrend zu Boden. Sie hob ihn auf, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und ließ ihn gedankenverloren vor dem Gesicht baumeln. Als sie vor einigen Jahren einmal für ein Buch spezielle Recherchen hatte anstellen müssen, hatte die Gemeinde ihr den Schlüssel ausgehändigt, ihn aber nie zurückgefordert. Seufzend beugte sie sich zum Bildschirm und las, was sie geschrieben hatte. Der Text starrte zurück wie ein Spiegelbild. Sie verabscheute sich wegen ihrer makabren Gedanken, und einen Moment lang wünschte sie, sie besäße nicht die Fähigkeit, sie in Worte zu kleiden.

Menschen wie sie verdienten es nicht zu leben. Kristina schluckte krampfhaft. Ihr Blick verharrte abermals auf der Flasche. Die destruktiven Gedanken kehrten stets zurück, weder Schreiben noch Alkohol vertrieben sie. Ihr Herzschlag pumpte den Alkohol in ihre Blutbahn und erfüllte sie mit Scham, Schuld und Angst. Sie war da gewesen, als es passierte. Die Lüge war ihre Idee gewesen. Kristina schlug die Hände vors Gesicht und ließ ihren Tränen freien Lauf. Es musste aufhören.

Das Wort sterben leuchtete ihr vom Bildschirm entgegen, brannte sich auf ihrer Netzhaut ein und kitzelte ihr Reptilienhirn. Die Schuldigen würden sterben. Dafür würde sie sorgen. Doch zuerst mussten sämtliche Charaktere auf die Bühne.

4

»Ich bin jedenfalls heilfroh, dass ich nicht deinen Nachnamen angenommen habe.«

Robert Silver blickte von den Papieren auf, die vor ihm auf dem Küchentisch lagen. Jessikas eisblaue Augen waren wie üblich von einer dicken Schicht Make-up bedeckt. Er konnte sich kaum an eine Gelegenheit erinnern, an der sie ihr Gesicht nicht mit zig Beautyprodukten zugekleistert hatte, die sämtliche Makel verbergen und ihre Schönheit vervollkommnen sollten. Wenn er darüber nachdachte, glich ihr Gesicht diesen Schminkpuppen, mit denen die Mädchen in seiner Grundschulklasse gespielt hatten. Rot verschmierte Plastikwangen glitten an seinem inneren Auge vorüber.

Jessika holte ihn in die Gegenwart zurück.

»Wer will schon heißen wie ein alberner Pirat«, sagte sie abfällig und verschränkte die Arme unter den Brüsten. »Oder wie billige Kippen.«

Mit einem Seufzer rief Robert sich in Erinnerung, dass Jessika bald seine Ex-Frau sein würde. Sobald die Scheidung durch war. Wenn sie eine Laune an den Tag legte wie in diesem Moment, fühlte es sich nicht wie ein Verlust an.

»Was spielt das für eine Rolle?« Er legte den Stift aus der Hand. Zwischen ihnen auf dem Tisch lagen Kontoaufstellungen, Wertgutachten für das Haus und der Entwurf einer Gütertrennungsvereinbarung, den er aufgesetzt hatte, anhand einer Mustervorlage aus dem Internet.

»Keine.« Jessika blickte aus dem Fenster, vor dem das Meer schimmerte. Vom Garten ihres Hauses hatten sie freie Sicht auf den Göteborger Schärengarten.

Es war ein schönes Haus in der besten Lage von Långedrag. Ein teures Haus. Jetzt würde es verkauft werden. Robert schluckte die aufsteigende Bitterkeit herunter.

»Sollen wir das hier jetzt erledigen?«, fragte er. Nicht weil er es wollte. Jessika hatte die Scheidung eingereicht, nicht er. Er war derjenige, der ausgetauscht worden war. Gerüchtehalber hatte er gehört, dass Jessika längst einen neuen Mann gefunden hatte. Einen Mann, der mehr Geld auf dem Bankkonto hatte als er. Natürlich. Ein armer Schlucker wäre für Jessika Lööf niemals gut genug gewesen.

»Meine Eltern haben mir eine Anwältin besorgt«, sagte sie jetzt. »Eine, die ihren Beruf versteht, im Gegensatz zu anderen Vertretern ihrer Sparte.« Der verächtliche Blick, mit dem Jessika ihn bedachte, schnitt ihm ins Herz.

Er wusste selbst, dass er kein guter Anwalt war. Er konnte es sogar laut aussprechen. Mein Name ist Robert Silver, und ich bin ein schlechter Anwalt. Trotzdem verletzten ihn Jessikas Worte. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er sich etwas anderes erträumt hatte. Doch inzwischen hieß es für ihn: mitgehangen, mitgefangen. Seine Mandanten hatten keine andere Wahl. Er war der Anwalt, den sie zugewiesen bekamen. Sie hatten irgendeine krumme Tour gedreht, im Suff eine Schlägerei angezettelt oder einen Einbruch begangen, um an Geld für Drogen zu kommen. Das Gericht teilte ihm seine Mandanten zu. Ihn wählte niemand freiwillig. Er war kein erfolgreicher Anwalt mit Privatmandanten, von Verteidigungen in Wirtschaftsrechtsfällen, wo Kollegen astronomische Stundensätze einstrichen, ganz zu schweigen. Seine Mandanten saßen mit gesenktem Kopf im Gerichtssaal, während Robert Silver, bekennender hundsmiserabler Anwalt, das tat, was er am schlechtesten konnte. Der größte Fehler ihres Lebens wurde vor Gericht verhandelt, und er notierte die Zeit, die er dem Staat in Rechnung stellen konnte. Aber es spielte auch keine Rolle, was er tat, es war ohnehin nicht sein geniales juristisches Talent, das seine Mandanten alle Jubeljahre einmal freiboxte. Manchmal fand selbst ein blindes Huhn ein Korn. So war es ihm auch bei Jessika ergangen, der Frau, die ihn jetzt abservierte. Ihm hätte von Anfang an klar sein müssen, dass es nicht für die Ewigkeit war. Er hatte sich von ihrer Schönheit blenden lassen, ihrem perlenden Lachen, ihrem strahlenden Lächeln, ihrem platinblonden Haar, das ihr perfekt über die Schultern fiel. Der Fassade aus exklusiven Make-up-Produkten.

»Was soll das heißen?«, fragte er.

»Dass ich deine Vereinbarung nicht unterschreiben werde.«

»Ich dachte, wir wären uns einig.« Robert seufzte erneut.

»Du irrst dich, wie immer.« Jessika sah sich in der Küche um, die Lippen zu einem harten Strich zusammengepresst.

Er ließ sie nicht aus den Augen, als sie ans Fenster trat und ihm den Rücken zukehrte.

»Meine Anwältin wird sich bei dir melden«, sagte sie. »Mach dich darauf gefasst, dass du aus unserer Scheidung kein so großes Kapital schlagen wirst, wie du es dir vielleicht vorgestellt hast. Gott sei Dank hat sie mich an unseren Ehevertrag erinnert.«

»Tu nicht so, als hätte ich versucht, dich über den Tisch zu ziehen. Die Bestimmungen des Ehevertrags habe ich in meinem Entwurf berücksichtigt.«

Jessika antwortete nicht, drehte sich nicht einmal um. Ihre Kälte verursachte in Roberts Ohren ein nervöses Fiepen. Jessika war immer ein bisschen reicher, ein bisschen smarter als er gewesen. Vor allem hatte ihre Familie ihr immer den Rücken gestärkt und ihn nie akzeptiert. In ihren Augen war er nur ein Emporkömmling. Jessikas Familie hatte verständnislos den Kopf geschüttelt, als er Green, eine der renommiertesten Wirtschaftsrechtskanzleien in Schweden, verlassen hatte, um sich als Strafverteidiger selbstständig zu machen. Sie wussten genauso gut wie er, dass Strafrecht nicht dieselben Summen einbrachte wie Wirtschaftsrecht. Seine Erklärung, dass er auf eigenen Füßen stehen, nicht mehr die Gaben eines gedeckten Tischs genießen wollte, kauften sie ihm keine Sekunde lang ab. Trotzdem hielt er hartnäckig an dieser Lüge fest, wie um sich selbst davon zu überzeugen.

»Ich muss jetzt los«, sagte Jessika.

»Du kannst jetzt nicht gehen«, erwiderte er. »Wir müssen eine Lösung finden.«

Jessika zuckte die Achseln und verließ den Raum. Robert blieb am Tisch zurück.

Als er hörte, wie die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Aufgebracht fegte er die Papiere vom Tisch. »Scheiße«, fluchte er und verbarg das Gesicht in den Händen. Er zitterte, hatte keine Ahnung, was er fühlte. Es konnte Zorn, es konnte Trauer sein. Im Grunde machte es keinen Unterschied. Bis vor wenigen Wochen hatte er wenigstens Jessika gehabt, die Frau, die er liebte, und das Haus, von dem er seit seiner Kindheit träumte. Jetzt hatte er nichts mehr, nicht einmal ein Zufluchtsort war ihm geblieben.

Er saß inmitten eines Wusts von Scheidungspapieren und versuchte auszurechnen, wie lange es dauern würde, bis er in sein Büro würde ziehen müssen, um finanziell über die Runden zu kommen.

Resigniert verließ er das Chaos in der Küche, ließ sich im Wohnzimmer wie ein Sack aufs Sofa fallen, schaltete aus purer Gewohnheit den großen Flatscreen an und zappte zu den Nachrichten.

Der Beitrag handelte von dem vermissten Mädchen aus Trollhättan. Nach zwei Tagen vergeblicher Suche hatten freiwillige Helfer ein Skelett gefunden, das ihre Jacke trug.

Roberts Mund war mit einem Mal wie ausgedörrt, er musste kämpfen, um zu schlucken.

5

Robert wälzte sich unruhig und hin und her und wachte im Lauf der Nacht mehrmals mit dem Gefühl auf, nicht allein im Schlafzimmer zu sein, obwohl er ganz genau wusste, dass er es war. Er fror, als bekäme er Fieber, und zog die Bettdecke fester um sich. Sein Herz hämmerte, und seine Gedanken pendelten zwischen der Scheidung und der Nachricht von dem Skelettfund in Trollhättan hin und her. Die Konsequenzen des Funds mahlten hinter seinen Schläfen, bis er glaubte, den Verstand zu verlieren. Die feuchtkalte Luft, die durch das geöffnete Fenster hereinwehte, brachte einen leichten Seetanggeruch vom knapp hundert Meter entfernten Meer mit sich. Der Luftzug ließ ihn lächeln, automatisch drehte er sich zu Jessikas Betthälfte. Eine Sekunde lang glaubte er, sie würde neben ihm liegen, wie immer. Doch seine ausgestreckte Hand tastete ins Leere. Er lag allein im Bett. Wie jede Nacht, seit sie ihn verlassen hatte.

Die Einsicht, dass sie nie wieder an seiner Seite liegen würde, traf ihn mit voller Wucht. Er holte tief Luft und kämpfte gegen die Tränen an, die ihm in die Augen stiegen. Es war nicht fair, wie es gekommen war. Er sollte hier nicht allein liegen und frieren müssen. Jessika hatte bei geöffnetem Fenster schlafen wollen, das ganze Jahr, ganz gleich, wie kalt es war. Obwohl er es hasste, nachts zu frieren, hatte er sich daran gewöhnt – Jessika zuliebe. Sie hatten sich kennengelernt, als er noch als vielversprechendes Nachwuchstalent der Anwaltskanzlei Green gehandelt worden war, eine Zeit, die ihm inzwischen genauso viele Lichtjahre entfernt zu sein schien wie seine Kindheit. Damals war er Everybody’s Darling und die Tätigkeit bei Green ihm auf den Leib geschneidert gewesen. Er war morgens aufgestanden, in einen seiner teuren Designeranzüge geschlüpft und zu Fuß von seiner Wohnung im Göteborger Stadtteil Linnéstaden ins Büro gegangen, mit einem Zwischenstopp in der angesagten Bar Centro, wo er sich einen doppelten Espresso gekauft hatte. Im Büro lief er wie eine gut geölte Maschine. Er war fast ausschließlich mit M & A, wie sie es nannten, befasst gewesen, Mergers and Acquisitions, Veräußerungen und Joint Ventures, die Sparte des Wirtschaftsrechts, in der mit Abstand das meiste Geld verdient wurde.

Für einen Anwalt war Zeit Geld. Buchstäblich. Jeder Handschlag wurde in Zeiteinheiten quantifiziert, die nie geringer waren als 0,1 Stunden. Eine kurze Antwort per E-Mail: 0,1 Stunden. Ein Telefonanruf, um einen Termin zu bestätigen: 0,1 Stunden. Eine Telefonkonferenz mit dem Anwalt der Gegenpartei in Singapur: 3,8 Stunden. Die Tage waren lang und arbeitsintensiv. Täglich verbrachte er mindestens zwölf Stunden im Büro, und online war er im Prinzip rund um die Uhr verfügbar. Unter der Woche arbeitete er täglich von morgens früh bis spät in die Nacht, und an den Wochenenden meistens vier Stunden pro Tag. Dazwischen standen Fitnessstudio und Nachtclubs auf dem Programm. Work hard, play hard!

Auf einer der vielen Partys war er Jessika begegnet. Sie waren zu ihm nach Hause gegangen. Berauscht von Alkohol und einander waren sie eng umschlungen in dem Bett eingeschlafen, in dem er jetzt lag, während die kalte Winternacht das Zimmer durch das Fenster auskühlte, das auf Jessikas Wunsch hin offen stand. Damals war das Bett neu gewesen und hatte in seiner Maisonettewohnung in Linnéstaden gestanden, jetzt war es ein Möbelstück voller Erinnerungen. Jessika war eingeschlafen, er hatte in der kalten Zugluft wach gelegen und hatte nicht aufhören können zu lächeln. Jessika hatte Gefühle in ihm geweckt wie keine Frau vor ihr. Gefühle, die ihn überzeugt sein ließen, dass sie mehr wert war als eine Nacht, als ein One-Night-Stand. Dass er von nun an jede Nacht mit Freuden frieren würde, nur um Jessikas Duft in der Nase zu haben.

Wenn er die Augen schloss, roch er ihn noch immer. Er hatte sich wie alter Tabakgeruch im Schlafzimmer festgesetzt, unmöglich zu entfernen. Noch vor ein paar Wochen hatte er ihn tief eingeatmet, jetzt fühlte er sich durch ihn erstickt. Wie war es so weit gekommen? Wie hatte ihre Liebe, die in diesem Bett begonnen hatte, derart toxisch werden können? Ausgerechnet das Bett war eines der wenigen Möbelstücke, die er vielleicht würde behalten dürfen.

Unwillig schüttelte Robert den Kopf. Er war es leid. Er wollte einschlafen und davon aufwachen, dass Jessika ihn aus einem Albtraum weckte. Er wünschte, er säße in einer Zeitschleife fest, wie in einer dieser Science-Fiction-Serien auf Netflix, wo die Hauptperson immer wieder denselben Tag durchlebte, auf der verzweifelten Suche nach einem Weg, dem Loop zu entkommen und zu ihren Freunden zurückzukehren. Aber er war keine Serienfigur. Und er hatte auch kaum noch Freunde, weil er Tag und Nacht gearbeitet hatte.

Sein Karrieretraum war zerplatzt. Jetzt hatte seine Ehe dasselbe Schicksal ereilt. Tief in seinem Inneren dachte er, dass es die gerechte Strafe war. Dass alles seine Schuld war und dies der Preis, den er dafür zahlte.

Das Bild des Skeletts in Mira Stares roter Jacke erinnerte ihn an die Wahrheit.

MONTAG

Mira seit 3 Tagen vermisst

6

Maria Andersson hob die Radarpistole, visierte das nächste Auto an und versuchte, das monotone Piepen auszublenden, während sie die Geschwindigkeit ablas.

Zweiundsechszig Stundenkilometer. Einwandfrei. Sogar langsamer als vorgeschrieben. Auf dieser Strecke waren siebzig erlaubt. Sie nickte zufrieden und ließ das Gerät sinken. Es war früher Morgen. Zu früh für die Rushhour. Der Sonnenaufgang färbte den Himmel über dem Industriegebiet Stallbacka pfirsichrot.

Sie gähnte. »Hast du nicht gerade was von Kaffee gesagt?«, fragte sie über die Schulter, an ihren Kollegen Anders gewandt, der ein paar Meter entfernt Protokoll führte. »Ich muss mir die Finger aufwärmen.«

Anders warf einen Blick auf seine Uhr. »Ja, Zeit für ein Päuschen«, sagte er. Er blickte die Straße hinunter und winkte ihren Kollegen am Minibus zu, der ein paar Hundert Meter entfernt am Kontrollplatz parkte und als mobile Einsatzzentrale diente, wenn sie Temposünder aus dem Verkehr winkten. »Deine Gebete scheinen erhört worden zu sein, unsere Ablösung kommt.«

Maria drehte sich um und nickte Janne und Håkan zu, die am Straßenrand auf sie zukamen. Sie streifte die Radarpistole ab und gab sie Håkan. »Übernimmst du für ein paar Minuten?«, fragte sie.

»Zu Befehl, Frau Inspektorin«, lachte er.

Maria schüttelte den Kopf und ging mit raschen Schritten zum Bus, ohne etwas zu erwidern.

Anders holte sie joggend ein. »Nimm das nicht so ernst, Maria«, sagte er.

»Wann hört ihr endlich damit auf?« Sie blickte ihn wütend an.

»Wir freuen uns für dich. Deine Beförderung ist längst überfällig. Sie kommt keinen Tag zu früh, und ich weiß, dass du das genauso siehst.«

Maria schwieg. Insgeheim gab sie Anders recht. Sie hielt schon viel zu lange an ihrem Dienstgrad fest, und etliche Kollegen hatten sie um mehrere Beförderungen überholt. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie einen besseren Posten verdiente. Trotzdem wollte sie nicht befördert werden. Warum konnten die Dinge nicht einfach bleiben, wie sie waren, warum musste sich ständig alles verändern?

Die Stelle bei der Verkehrspolizei in Trollhättan war nicht ihr Traumjob, aber er bezahlte ihre Rechnungen. Und sie fiel nicht großartig auf. Wenn sie bereit gewesen wäre, in eine andere Stadt zu ziehen, hätte sie vielleicht einen verantwortungsvolleren Posten bekommen, doch das war gar nicht ihre Ambition. Sie war in Trollhättan aufgewachsen, und sie wollte in Trollhättan bleiben. Ihre Mutter und ihr Vater waren mittlerweile beide verstorben, aber das alte Reihenhaus ihrer Eltern gab ihr ein Dach über dem Kopf, und ihre beiden Katzen konnten dort ein- und ausgehen, wie es ihnen beliebte. Das war alles, was sie wollte.

Anders schob die Seitentür des Busses auf, stützte ein Knie auf die Stufe und streckte sich nach der Thermoskanne. In diesem Moment knackte Marias Funkgerät. »Roter Volvo, sechsundsiebzig km/h. Winkt ihr ihn raus?«

Maria drückte bestätigend die Antworttaste.

»Holst du den Promilletester?«, bat sie Anders, dann trat sie einen Schritt auf die Fahrbahn und winkte den Volvo heran. Als der Wagen näher kam, sah sie, dass der Lack stumpf und glanzlos war. Die verblichene Farbe schien die feinen Regentröpfchen, die als feuchter Nebel in der Luft hingen, förmlich aufzusaugen. Die Stoßstange war verbeult, die Fahrertür zierte ein tiefer Kratzer. Sie bedeutete dem Fahrer, das Fenster herunterzukurbeln.

»Hallo«, sagte sie und sah ihn ernst an. »Das war ein bisschen schnell.«

Der Mann blickte erstaunt zurück. Er war unrasiert, Bartstoppeln scheuerten am Kragen einer verwaschenen Fleecejacke. »Das kann aber nicht viel gewesen sein«, antwortete er. »Ich hab gar nicht gemerkt, dass ich zu schnell war.«

»Sechs km/h über Maximalgeschwindigkeit«, sagte Maria. »Ihren Führerschein bitte.«

»Gibt es nicht einen Toleranzbereich?« Der Mann funkelte sie wütend an.

»Der ist bereits abgezogen. Ihren Führerschein, bitte.«

Maria seufzte und warf Anders einen müden Blick zu, während der Mann nach seiner Brieftasche kramte. Er wirkte auch auf seinem Führerscheinbild nicht gepflegter, aber der Schein galt für Motorräder und Pkw. Maria scannte den Code auf der Rückseite mit ihrem Diensthandy ein und lud die Daten in die App für Ordnungswidrigkeiten.

Anders kam zu ihr und gab ihr den Promillemesser. »Danke«, sagte sie und hielt dem Volvo-Fahrer das Gerät unter die Nase. »Dann dürfen Sie auch einmal pusten.«

»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, meinte der Mann säuerlich und blies in das Mundstück. Es klickte, als das Gerät genug Atemluft enthielt. Maria kontrollierte das Ergebnis und nickte zufrieden. Nüchtern war er jedenfalls.

»Sie haben Glück gehabt. Sie kommen mit einem Bußgeld wegen Geschwindigkeitsüberschreitung davon.«

»Das ist ein Witz, oder?«

»Leider nein. Tempolimits retten Leben.« Routiniert gab Maria die letzten Daten in die App ein. »Also halten Sie sich bitte in Zukunft daran, in Ordnung?«

Der Mann murmelte etwas, das wie eine Beleidigung klang.

»Entschuldigung, was haben Sie gesagt?« Maria musterte ihn durchdringend.

»Ich würde gerne wissen, ob Sie bald fertig sind. Ich komme zu spät zu einem Termin.«

»Wenn Sie den Bußgeldbescheid akzeptieren, müssen Sie nur noch unterschreiben.« Maria streckte dem Fahrer das Handydisplay entgegen.

Der Mann kritzelte mit dem Zeigefinger einen unleserlichen Namenszug. »Kann ich jetzt weiterfahren?«

Maria betrachtete den Volvo. Sie hätte Anders bitten können, das Fahrzeug zu kontrollieren, beschloss aber, es beim Bußgeld bewenden zu lassen. »Ja, fahren Sie vorsichtig.«

Der Mann kurbelte das Fenster hoch. Maria hörte, wie er im ersten Moment zu viel Gas gab, sich dann aber offensichtlich eines Besseren besann. Als der Volvo verschwunden war, kam Anders zu ihr.

»Du bist wirklich knallhart. Ich weiß nicht, ob ich ihm wegen dieser paar Stundenkilometer ein Bußgeld aufgedrückt hätte.«

»Er ist zu schnell gefahren, und für solche Fälle gibt es den Bußgeldkatalog«, sagte Maria.

»Du hast ja recht.« Anders reichte ihr einen Kaffee. Sie schob ihre freie Hand in die Hosentasche und nippte daran. Er war schon ein wenig abgekühlt. Der Verkehr wurde allmählich dichter. Die Leute fuhren zur Arbeit. Aber sie hielten sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung, und wenn schon nicht aus eigenem Antrieb, dann weil das hohe Verkehrsaufkommen Raserei von vornherein unterband.

»Hast du gestern Abend Nachrichten gesehen?«, fragte Anders nach einer Weile.

»Nein.« Maria guckte nie Nachrichten. Das ganze Elend auf der Welt stimmte sie nur traurig. Sie hatte ein Buch gelesen und Tarzan die Kletten aus dem Fell gekämmt, mit denen er von seinem Streifzug heimgekehrt war. Mehr Spannung brauchte sie nicht.

»Du hast es also noch nicht gehört?«

»Was denn? Will ich es überhaupt wissen?«, fragte Maria und streifte die Radarpistole über.

»Im Wald wurde ein Skelett gefunden.«

Marias Funkgerät knackte erneut. Sie schrak zusammen und starrte Anders an, während ein grauer Mercedes an ihnen vorbeiraste. Der Sogwind ließ sie frösteln. »Was hast du gesagt?« Maria umklammerte den Becher mit beiden Händen, damit Anders nicht merkte, wie sehr sie zitterten.

»Ja, ist das nicht krank? Das Skelett war in die Jacke des vermissten Mädchens gehüllt. Sie haben es in sämtlichen Nachrichten gebracht.«

Der Boden verschwand mit einem Mal unter Marias Füßen. Ihr wurde schwindelig, und sie machte einen linkischen Schritt zur Seite, um nicht zu fallen. Eine Pause entstand, während sie fieberhaft nach Worten suchte. »Wie furchtbar«, sagte sie schließlich.

»Ja, oder? Jetzt fragen sich natürlich alle, wer da gefunden wurde.«

Maria schüttelte den Kopf. »Kannst du kurz übernehmen?«, bat sie und hoffte inständig, dass Anders das Beben in ihrer Stimme nicht bemerkte. »Ich muss mich mal kurz im Bus aufwärmen, mir frieren sonst gleich die Finger ab.«

7

Ein paar Stunden später stand Maria in der Umkleide des Polizeireviers. Sorgfältig hängte sie die Uniformjacke in ihren Spind und knöpfte das Hemd auf. Im angrenzenden Duschraum drehte jemand das Wasser ab. Als ihre Kollegin Anneli Björk mit einem Handtuch um den Körper in die Umkleide kam, beugte sie sich tiefer in den Schrank.

»Hallo«, sagte Anneli lächelnd.

Verhalten lächelte Maria zurück. Sie strich ihr aschblondes Haar hinters Ohr, das jedoch gleich wieder nach vorn fiel. Wie immer. Sie trug ihr ganzes Leben lang den gleichen Pagenschnitt. Sie sah keinen Anlass, ihn zu ändern. Trotzdem kam sie nicht umhin, Anneli um ihre langen Locken zu beneiden. Beschämt schüttelte sie den Gedanken ab.

»Harte Woche?«, fragte sie.

Anneli nahm ihre Zivilkleidung aus dem Spind. »Du ahnst nicht, wie. Ich habe das ganze Wochenende Überstunden gemacht und im Wald nach dem vermissten Mädchen gesucht. Sei froh, dass dir das bisher erspart geblieben ist.«

»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns dafür einspannen«, erwiderte Maria.

Es war Usus, dass Verkehrspolizei und Hundeführer bei Sucheinsätzen nach vermissten Personen halfen. Die meisten ihrer Kollegen sprangen bereitwillig ein, aber sie fand meistens einen Vorwand, um sich davor zu drücken. Selbst jetzt, wo fast die halbe Belegschaft bei der Suche nach Mira Stare half, nachdem ihre Jacke auf derart makabre Weise gefunden worden war. Maria senkte den Blick und schlüpfte in ihren Wollpullover. Heute musste sie nicht duschen. Nach der Frühschicht war sie nur müde, nicht verschwitzt.

»Vielleicht habt ihr Glück. Es hat bald keinen Sinn mehr, die Suche weiter fortzusetzen.« Anneli seufzte. »Nicht nach diesem Fund. Aber jetzt habe ich erst einmal frei. Hast du auch Feierabend?«

Maria nickte. »Für heute war’s das. Ich habe nur noch eine Unterredung mit unserem Chef, dann gehe ich nach Hause.«

Annelis Gesicht leuchtete auf. »Richtig«, sagte sie. »Die Beförderung steht dir schon lange zu. Du hast sie wirklich verdient!«

Maria schluckte. »Danke.«

»Wir wollen Freitag nach der Arbeit alle zusammen ein Feierabendbier oder ein Glas Wein trinken. Kommst du mit?«

Maria errötete. »Nein, aber nett, dass du fragst.«

»Bist du sicher?« Anneli legte den Kopf schief. »Es täte dir bestimmt gut, ein bisschen unter Leute zu kommen. Wann warst du das letzte Mal mit uns aus?«

»Keine Ahnung.« Maria holte Luft. »Irgendwann im Sommer?«

»Du meinst wohl, im Sommer letztes Jahr«, erwiderte Anneli und deutete mit der Wimpernbürste auf Maria. »Wann bist du überhaupt das letzte Mal ausgegangen? Und nein, die Weihnachtsfeier zählt nicht.«

Maria wand sich unbehaglich und begann, ihre Dienstkleidung zu ordnen, die längst ordentlich auf einem Bügel im Spind hing. Dann griff sie nach ihrer Handtasche und schwang sie über die Schulter. »Ich gehe einfach nicht gerne in Kneipen. Da sind mir zu viele betrunkene Leute.«

»Das stimmt«, pflichtete Anneli ihr bei. »Aber es sind auch sehr viele nette Leute da. Und du musst Menschen kennenlernen, dir einen Freund zulegen. Das würde dir guttun.«

»Mir gefällt mein Leben so, wie es ist«, sagte Maria.

Anneli sah sie an. »Es ist natürlich deine Entscheidung. Ich will nur dein Bestes.«

»Das weiß ich. Aber ich mag die Ruhe zu Hause. Das ist alles, was ich brauche.«

Maria verließ die Umkleide, stieg die Stufen ins Erdgeschoss hinauf, passierte Rezeption und Besprechungsräume und nahm die Treppe in den ersten Stock, wo sich eine offene Bürolandschaft und separate Dienstzimmer befanden. Sie spürte ein unbehagliches Kribbeln in der Magengrube, den Drang, umzudrehen und zu fliehen, bis sie vor dem Büro von Polizeiintendant Magnus Flink stand. Die Tür war offen.

Magnus blickte vom Computer auf und winkte sie herein. »Komm rein, setz dich«, sagte er lächelnd.

»Du wolltest mit mir reden?« Maria nahm vor seinem Schreibtisch Platz. Ihre Stimme kam ihr unnatürlich leise vor.

»Ja.« Magnus beugte sich ein Stück vor. Marias Blick wanderte über die akribische Ordnung auf seinem Schreibtisch. Alle Dokumente waren säuberlich in verschiedenfarbigen Mappen geheftet und schnurgerade nebeneinander aufgereiht. »Aber vor allem will ich dir gratulieren.« Magnus lächelte breit. »Ab heute bist du Polizeiinspektorin Andersson.«

Maria spürte, wie ihr die Luft aus den Lungen entwich. Sie sollte sich freuen. Sie würde mehr Gehalt bekommen, mehr Weisungsbefugnis erhalten, und die Kollegen würden ihr ein wenig mehr Respekt zollen. Trotzdem wurde ihr schwindelig, und sie schloss die Augen.

»Freust du dich nicht?« Magnus sah sie verblüfft an.

»Entschuldige«, sagte sie. »Aber ich würde die Beförderung lieber ausschlagen, wenn das möglich ist.«

Magnus lehnte sich langsam auf seinem Stuhl zurück. Er betrachtete sie forschend. »Du bist eine gute Polizistin und ein guter Mensch. Warum willst du nicht befördert werden?«

Maria wich dem Blick ihres Chefs aus und sah sich in seinem Büro um. Auf dem Regal hinter ihm stand ein Foto, auf dem seine Frau und seine Kinder zu sehen waren. Sie saßen am Rand eines Fußballfelds auf einer Picknickdecke. Magnus’ Söhne trugen gestreifte Vereinstrikots.

»Es ist nur …« Maria verstummte. Sie holte tief Luft und nahm sich zusammen. Sie wollte nicht nervöser wirken, als sie ohnehin war. »Mein Job gefällt mir. Ich will keine Beförderung, ich will nur meine Arbeit machen, wenn du verstehst, was ich meine.«

Magnus schüttelte den Kopf. »Nein, ich verstehe nicht, was du meinst. Du kannst nicht ewig Polizeiassistentin bleiben. Ich kenne niemanden, der diesen Rang länger ausgeübt hat als du.«

Maria schwieg. Magnus kratzte sich am Kopf. »Andere jubeln vor Glück, wenn sie befördert werden. Ich möchte, dass du die Position bekommst, die deiner Kompetenz entspricht, statt auf der untersten Stufe der Hierarchie zu versauern wie eine gescheiterte Anfängerin.«

»Das kann ich verstehen«, sagte Maria. »Aber meine Kompetenz wird nicht geringer, weil ich eine Beförderung ablehne.«

Magnus schüttelte wieder den Kopf. »Und was soll ich den anderen sagen, wenn ich deinem Wunsch entspreche? Sie werden glauben, dass ich dir die Aufstiegschancen verwehre.«

»Dann werde ich ihnen sagen, dass ich darum gebeten habe, nicht befördert zu werden«, sagte Maria. »Sie kennen mich, sie werden es verstehen.«

»Aber sogar deine Kollegen liegen mir in den Ohren, dass du eine Beförderung verdienst«, wandte Magnus ein. »Sie sind genau wie ich der Meinung, dass dein Rang nicht deinen Fähigkeiten entspricht. Die meisten finden, du müsstest längst Gruppenchefin oder sogar Kommissarin sein.«

»Aber das möchte ich nicht«, beharrte Maria. »Befördere jemand anderen, lass mich da bleiben, wo ich bin.«

Magnus zuckte seufzend mit den Achseln. »Na schön. Ich kann dich nicht zwingen, aber ich bitte dich, deine Entscheidung zu überdenken. Lass dir ein paar Tage Zeit, dann sprechen wir noch mal miteinander.«

Autor