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Minecraft - Die Insel

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Du wirst nie glauben, was ich erlebt habe. Aber wenn du das liest, steckst du längst mittendrin. Vielleicht stolperst du schon seit einer Weile über diese verrückte Insel. Vielleicht bist du auch gerade erst hier gestrandet. Du bist verwirrt, fühlst dich total verloren und hast eine Scheißangst - das Gefühl kenne ich nur zu gut. Wenn du nicht aufpasst, wird dich die Insel verschlingen und in Einzelteilen wieder ausspucken. Für dich habe ich dieses Buch hier zurückgelassen. Lies es. Du wirst jede Hilfe brauchen, die du kriegen kannst …
Der erste offizielle Minecraft-Roman: Hochspannung von Bestsellerautor Max Brooks


  • Erscheinungstag: 01.03.2018
  • Aus der Serie: Minecraft Romane
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 320
  • Altersempfehlung: 12
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505140792

Leseprobe

Für Michelle und Henry, die dafür sorgen, dass ich keine Insel bin.

 

PROLOG

Du wirst nie glauben, was ich erlebt habe. Aber wenn du das liest, steckst du längst mittendrin. Vielleicht stolperst du schon seit einer Weile über diese verrückte Insel. Vielleicht bist du auch gerade erst hier gestrandet. Du bist verwirrt, fühlst dich total verloren und hast eine Scheißangst – das Gefühl kenne ich nur zu gut. Wenn du nicht aufpasst, wird dich die Insel verschlingen und in Einzelteilen wieder ausspucken.

Für dich habe ich dieses Buch hier zurückgelassen. Lies es. Du wirst jede Hilfe brauchen, die du kriegen kannst …

KAPITEL 1

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NIEMALS AUFGEBEN

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Ich ertrinke!

Ich wachte unter Wasser auf, tief unter Wasser, und das war mein erster bewusster Gedanke. Kalt. Dunkel. Wo war die Oberfläche? Ich trat in alle Richtungen, um den Weg nach oben zu finden. Ich drehte und wand mich, und dann sah ich es: ein Licht. Ganz schwach und sehr weit weg.

Instinktiv schoss ich darauf zu und bemerkte bald, wie das Wasser um mich herum immer heller wurde. Das musste die Oberfläche sein, die Sonne.

Aber wie konnte die Sonne … quadratisch sein? Das bildete ich mir bestimmt bloß ein.

Vielleicht eine merkwürdige Wasserspiegelung.

Ist doch egal! Wie viel Luft bleibt mir noch? Schwimm einfach darauf zu. Schwimm!

Meine Lungen schwollen an, kleine Luftbläschen entwichen meinen Lippen und lieferten sich ein Rennen mit mir, während ich auf das entfernte Licht zuschwamm. Mit Zähnen und Klauen kämpfte ich gegen das Wasser wie ein gefangenes Tier. Auf einmal konnte ich sie sehen, die Decke aus Wellen, die mit jedem verzweifelten Zug näher kam. Ich war fast da, aber immer noch so weit weg. Meine Muskeln schmerzten, meine Lungen brannten.

Schwimm! SCHWIMM!

Argh!

Mein Körper krümmte sich, als mich plötzlich ein Schmerz von den Zehen bis zu den Augen durchfuhr. Mein Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Ich streckte die Hand zum Licht, zur Luft, zum Leben.

Ich explodierte förmlich in die kühle, saubere Luft hinein.

Ich hustete. Ich würgte. Ich keuchte. Ich lachte.

Ich atmete.

Für den Moment genoss ich es einfach nur, schloss meine Augen und ließ die Sonne mein Gesicht wärmen. Aber als ich meine Augen wieder öffnete, konnte ich es nicht glauben. Die Sonne war quadratisch! Ich blinzelte heftig. Die Wolken auch?

Anstelle von runden, fluffigen Wattebällchen schwebten da diese dünnen rechteckigen Objekte lustlos über mir.

Du bildest dir das alles nur ein, dachte ich. Du hast dir den Kopf gestoßen, als du aus dem Boot gefallen bist.

Aber war ich wirklich aus einem Boot gefallen? Ich konnte mich nicht erinnern. Eigentlich konnte ich mich an überhaupt nichts erinnern – wie ich hergekommen war oder wo „hier“ überhaupt war.

„Hilfe!“, schrie ich, während ich am Horizont nach einem Schiff oder einem Flugzeug oder einem Fleckchen Land Ausschau hielt.

„Bitte! Ist denn hier niemand? Irgendjemand! HILFE!“ Die Antwort war nur Stille. Alles, was ich sehen konnte, war Wasser und Himmel.

Ich war allein.

Fast.

Irgendetwas planschte Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, und für den Bruchteil einer Sekunde sah ich einige Tentakel und einen dicken, schwarzgrauen Kopf.

Ich schrie, während ich nach hinten trat. Es sah aus wie ein Tintenfisch, war aber viereckig wie alles andere an diesem seltsamen Ort. Die Tentakel richteten sich auf mich und öffneten sich weit. Ich blickte geradewegs in ein klaffendes rotes Maul, umsäumt von weißen, messerscharfen Zähnen.

„Weg hier!“, keuchte ich. Mit trockenem Mund und rasendem Herzen paddelte ich unbeholfen von der Kreatur weg. Aber das musste ich gar nicht. Im gleichen Moment schlossen sich die Tentakel wieder und katapultierten den Tintenfisch in die entgegengesetzte Richtung.

Ich trieb noch für eine Weile an der Stelle, bis die Kreatur in der Tiefe verschwand. Mir war schrecklich kalt. Das war der Augenblick, in dem ich einen tiefen, heiseren und doch erlösenden Atemzug nahm.

Ich holte noch einmal tief Luft, dann noch einmal, und danach noch etliche Male mehr. Endlich beruhigte sich mein Puls, meine Gliedmaßen hörten auf zu zittern, und zum ersten Mal, seit ich wach geworden war, schaltete sich mein Gehirn ein.

„Okay“, sagte ich laut. „Du bist mitten in einem See oder Ozean oder was auch immer. Niemand kommt, um dich zu retten, und du kannst nicht ewig hier herumpaddeln.“

Ich drehte mich langsam um dreihundertsechzig Grad und hoffte, eine Küste zu erspähen, die mir vorhin entgangen war. Nichts. Verzweifelt blickte ich noch einmal zum Himmel hoch. Keine Flugzeuge, nicht mal ein dünner weißer Streifen.

Welcher Himmel hat denn bitte nicht solche Streifen? Einer mit einer quadratischen Sonne und rechteckigen Wolken.

Die Wolken.

Mir fiel auf, dass sie sich stetig in eine Richtung bewegten, weg von der aufgehenden Sonne. Richtung Westen.

„Soll mir recht sein“, sagte ich, atmete noch einmal tief durch und begann, langsam Richtung Westen zu schwimmen.

Nicht dass ich ein Ziel gehabt hätte, aber ich dachte mir, so könnte der Wind mir helfen. Oder mich zumindest nicht ausbremsen. Richtung Norden oder Süden könnte er mich dagegen langsam auf eine bogenförmige Bahn treiben, und am Ende würde ich im Kreis schwimmen. Keine Ahnung. Ich meine, hey, ich war gerade erst aufgewacht, vermutlich mit einer schweren Kopfverletzung, am Grund eines Ozeans – und ich gab mir alle Mühe, nicht wieder genau dort zu landen.

Schwimm einfach weiter, sagte ich zu mir. Konzentriere dich auf das, was vor dir liegt. Dabei fiel auf, wie merkwürdig ich schwamm. Nicht der eigentliche Ablauf der Bewegungen – Zug, Pause, Zug –, sondern das Gefühl, mit angelegten Gliedern durchs Wasser zu gleiten.

Kopfwunde, dachte ich nur. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, wie ernsthaft die Verletzung war.

Eine Sache allerdings fiel mir positiv auf: Ich schien nicht müde zu werden. War Schwimmen normalerweise nicht anstrengend? Brennen nach einer Weile nicht alle Muskeln und versagen schließlich? Adrenalin, überlegte ich und schob gleichzeitig den Gedanken beiseite, dass dieser Reservetank leerlaufen könnte.

Aber das würde er. Früher oder später würde mich die Kraft verlassen. Ich bekäme Krämpfe, könnte nicht mehr schwimmen, höchstens noch Wasser treten. Irgendwann würde ich nur noch auf dem Wasser treiben. Natürlich konnte ich versuchen, mich auszuruhen und Kraft zu sparen, indem ich unter- und wieder auftauchte. Aber wie lange? Wie lange, bis die Kälte mich schließlich bezwungen hätte? Wie lange, bevor ich zähneklappernd und am ganzen Körper zitternd zurück in die Dunkelheit sank?

„Noch ist es nicht so weit!“, stieß ich hervor. „So schnell gebe ich nicht auf!“

Der Aufschrei genügte, meine Lebensgeister wiederzuerwecken. „Konzentrier dich! Mach weiter!“

Und das tat ich. Ich schwamm mit aller Kraft. Dabei beobachtete ich mit Argusaugen die Umgebung. Vielleicht würde ich den Mast eines Schiffs oder den Schatten eines Helikopters erspähen – auf jeden Fall musste ich so nicht mehr ständig an meine missliche Lage denken.

Mir fiel auf, dass das Meer ganz ruhig war. Ein kleiner Lichtblick. Keine Wellen, kein Widerstand. Was wiederum hieß, dass ich weiterschwimmen konnte, oder? Ich bemerkte auch, dass das Wasser süß statt salzig war. Ich befand mich also in einem See und nicht in einem Ozean. Seen sind kleiner als Ozeane. Okay, ein großer See ist genauso gefährlich wie ein Ozean, aber hey, ich versuchte, die Dinge positiv zu sehen!

Außerdem konnte ich nun den Grund des Sees erkennen. Nicht falsch verstehen, das Wasser war tief – sicher so tief, dass man darin ohne Weiteres ein ganzes Bürogebäude bis zum Dach versenken konnte –, aber nicht unendlich tief, wie man es von Ozeanen sagt. Ich sah auch, dass der Grund nicht flach, sondern voller kleiner Täler und Hügel war.

In diesem Augenblick bemerkte ich, dass sich rechts von mir einer der Hügel so weit erhob, dass seine Spitze am Horizont verschwand. Ragte sie durch die Wasseroberfläche? Ich drehte mich nach Norden, wahrscheinlich Nordwesten, und schwamm auf den Hügel zu.

Ehe ich michs versah, war er zu einem stattlichen Unterwasserberg herangewachsen. Sekunden später war mir, als würde ich seinen Gipfel aus dem Wasser ragen sehen.

Das muss Land sein, dachte ich, versuchte jedoch, mir nicht zu große Hoffnungen zu machen. Es könnte auch ein Trugbild sein, eine Lichtreflexion oder ein Nebel oder sonst etwas …

Und dann sah ich den Baum. Zumindest glaubte ich, dass es ein Baum war. Aus der Ferne konnte ich nur eine grüne, winkelförmige Masse auf einer dunkelbraunen Linie ausmachen.

Vor Aufregung schoss ich wie ein Torpedo vorwärts. Bald sah ich weitere Bäume, verteilt auf sandfarbenem Strand. Und dann plötzlich den grünbraunen Hang eines Hügels.

„Land!“, schrie ich. „LAAAND!“

Ich hatte es geschafft! Warmer, fester Boden! Nur noch ein paar Züge, und ich wäre da. Ich spürte, wie eine Welle der Erleichterung mich durchflutete … Doch wie echte Wellen war dieses Gefühl schon im nächsten Augenblick verebbt.

Mir blieb kaum eine Sekunde Zeit, mich zu freuen, bevor ich die Insel genauer in Augenschein nahm. Und als ich den Strand erreichte, war ich ebenso verwirrt wie in dem Augenblick, in dem ich unter Wasser erwacht war.

Die Insel war viereckig. Genauer gesagt bestand sie aus Quadraten, und zwar alles auf ihr: Sand, Erde, Steine. Auch diese Dinger, die ich für Bäume gehalten hatte. Alles war eine Anordnung aus Würfeln. „Okay“, sagte ich, obwohl ich nicht glauben konnte, was ich sah. „Nur eine Minute, dann steig ich dahinter. Nur eine Minute ausruhen.“ Ich stand keuchend im hüfthohen Wasser, blinzelte mehrmals und wartete darauf, dass meine Augen wieder klar sehen würden.

Ich war mir sicher, dass sich die ganzen rechten Winkel jeden Moment in normale, weich geschwungene Formen verwandeln würden.

Aber das taten sie nicht.

„Muss die Kopfwunde sein“, sagte ich und watete an Land. „Kein Problem. Sorg einfach nur dafür, dass du nicht zu stark blutest, dann …“

Instinktiv reckte ich meine Hand nach oben, um die vermeintliche Verletzung zu ertasten. Doch als die Hand vor meinem Gesicht erschien, schnappte ich nach Luft.

„Was …?“ Am Ende meines rechteckigen Arms befand sich ein fleischiger Würfel. Ein Würfel, der sich nicht öffnen wollte, so sehr ich mich auch anstrengte.

„Wo ist meine Hand?!“, schrie ich panisch.

Mir wurde schwindelig, und meine Kehle schnürte sich zu, als ich an mir hinunterblickte.

Ziegelsteinförmige Füße, rechteckige Beine, ein Rumpf wie ein Schuhkarton, alles gehüllt in aufgemalte Kleidung.

„Was ist mit mir passiert?“, brüllte ich über den leeren Strand.

„Das ist nicht real!“, rief ich und lief auf und ab, während ich versuchte, mir die aufgemalte Kleidung vom Körper zu reißen.

Hyperventilierend rannte ich zum Meer zurück, um wenigstens die vertraute Spiegelung meines Gesichts zu sehen. Doch mich empfing – nichts. „Wo bin ich?“, rief ich der schimmernden Wasseroberfläche zu. „Was ist das für ein Ort?“

Ich dachte an das tiefe Wasser, daran, wie ich darin aufgewacht war … Aber war ich das überhaupt?

„Das ist ein Traum“, sagte ich mit hörbarer Erleichterung in meiner panischen Stimme. Das war die einzige Erklärung, die mir noch einfiel. „Natürlich!“ Und für einen Moment hatte ich mich wieder unter Kontrolle. „Das ist nur ein verrückter Traum, bald wachst du auf und …“

Und was? Ich versuchte, mir vorzustellen, wie ich bei mir zu Hause aufwachte, in meinem normalen Leben. Aber alles war weg. Ich konnte mich schon an die Welt erinnern, die echte Welt mit ihren weichen, runden Formen, mit Menschen und Häusern und Autos und Leben. Ich konnte mich nur nicht mehr an mich in dieser Welt erinnern.

Meine Sicht verengte sich, während eine unsichtbare Hand meine Lungen packte und sich zur Faust schloss. „Wer bin ich?“

Ich merkte, wie sich meine Nackenmuskeln verkrampften. Ich konnte die Haut über meinem Gesicht spüren, die Wurzeln meiner Zähne. Benommen und verwirrt stolperte ich zurück zum Fuß des Hügels. Wie lautete mein Name? Wie sah ich aus? War ich alt? Jung?

Ich sah an meinem kastenförmigen Körper herab, konnte aber keinerlei Rückschlüsse ziehen. War ich ein Mann oder eine Frau? War ich überhaupt ein Mensch?

„Was bin ich?“

Und dann war es so weit: Ich bekam einen Nervenzusammenbruch.

Wo? Wer? Was? Und dann die entscheidende Frage: „Warum?!“, kreischte ich die grelle, quadratische Sonne über mir an. „Warum kann ich mich nicht erinnern? Warum bin ich anders? Warum bin ich hier? Warum passiert mir das? WARUUUM?!“

Die einzige Antwort war Schweigen. Keine Vögel, keine Wellen, nicht einmal das Rascheln der Blätter im Wind in diesen eckigen Pseudobäumen. Nichts als pure, strafende Stille.

Und dann …

GRRRP.

Das Geräusch war so leise, dass ich mir nicht sicher war, es überhaupt gehört zu haben.

GRRRP.

Diesmal hatte ich es deutlich gehört und auch gespürt. Es kam aus meinem Inneren. Mein Magen knurrte.

Ich bin hungrig.

Mehr brauchte es nicht. Eine Aufgabe, etwas Einfaches, worauf ich mich konzentrieren konnte. Neben Atmen gibt es nichts Einfacheres als Essen.

GRRRRRP, knurrte mein Magen, als wollte er sagen: „Ich warte.“

Ich schüttelte heftig den Kopf, um wieder etwas Farbe im Gesicht zu bekommen, und blickte an mir hinab. Hatte ich etwas zu essen dabei? Als ich mich das erste Mal betrachtet hatte, war ich so geschockt gewesen, dass mir womöglich etwas entgangen war. Vielleicht hatte ich ja ein wasserdichtes Handy in meiner Hosentasche oder sogar eine Geldbörse mit einem Ausweis darin.

Doch ich hatte weder das eine noch das andere, noch nicht einmal Hosentaschen. Ich entdeckte lediglich einen dünnen Gürtel, der in derselben Farbe wie meine Hose aufgemalt war – darum hatte ich ihn wohl beim ersten Mal übersehen. An dem Gürtel hingen an jeder Seite vier flache Taschen.

Die Taschen waren allesamt leer, aber während ich sie durchsuchte, spürte ich plötzlich das leichte Gewicht von etwas, das gegen meinen Rücken drückte.

Ich nannte das Ding „Rucksack“, dabei hatte es weder Riemen noch irgendwelche Haken, die es in Position gehalten hätten. Es war einfach da, und genau wie den Gürtel und die aufgemalten Kleider konnte ich es nicht abnehmen. Ich konnte nur nach hinten greifen und es nach vorn ziehen.

„Verrückter Traum“, sagte ich zu mir und kehrte damit zur einzigen Erklärung zurück, die mein Verstand zuließ. Das Innere des Rucksacks war in siebenundzwanzig kleine Taschen unterteilt, genau solche wie die am Gürtel. Sie waren ebenfalls leer.

So viel zur Bestandsaufnahme, dachte ich nur, während mein Hungergefühl immer größer wurde. Ich musste also nach Nahrung suchen. Angestrengt hielt ich Ausschau nach etwas, das annähernd essbar aussah.

Alles, was ich zunächst fand, waren rechteckige, einen Block hohe Grashalme. Sie wuchsen vereinzelt oder paarweise auf der grünen Ebene hinter dem Strand. Ich streckte meine Hand nach einem Halm zu meinen Füßen aus, konnte ihn aber aus irgendeinem Grund nicht herausziehen. Stattdessen wischte ich einfach nur immer wieder unbeholfen darüber hinweg.

Erneut stieg Angst in mir hoch. Es war schlimm genug, einen so komischen Körper zu haben. Jetzt gesellte sich die schreckliche Erkenntnis hinzu, dass dieser Körper mir nicht gehorchte! Ich versuchte es noch einmal, verfehlte das Gras aber erneut. Ich probierte es wieder, und als ich endlich traf, zerschmetterte meine Faust das Ziel. Das meine ich wortwörtlich. Die langen grünen Halme kippten oder knickten nicht um, sie verschwanden. Ein kurzes Krachen und „Puff!“, weg.

„Komm schon!“ Ratlos betrachtete ich meine eckige Pranke. „Tu einfach, was du tun sollst, okay?“ Aber meine Hand anzuflehen war auch keine Lösung.

Genauso wenig wie der Versuch, dieselbe Bewegung an einem anderen Grasbüschel auszuprobieren.

Irgendwo hatte ich mal gehört, die Definition von Wahnsinn sei, immer wieder das Gleiche zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten. Ich weiß nicht, ob das stimmt, falls ja, war ich verdammt nah dran.

„Tu, was du tun sollst!“, schimpfte ich und prügelte auf das Gras ein, als hätte es zuerst zugeschlagen. „Mach schon. Mach schon. MACH SCHON!“ Und schon war ich dabei, wieder mental abzurutschen. Mein Verstand balancierte gerade auf einem sehr dünnen Drahtseil, und ich brauchte unbedingt ein Erfolgserlebnis.

Das blieb mir zwar verwehrt, aber wenigstens durchbrach ich die Wiederholungsschleife, indem ich versehentlich – und wieder wortwörtlich – den Boden durchbrach. Bei meinem vierten Versuch schlug ich so fest und so lange zu, dass ich nicht nur die grünen Halme zerstörte, sondern auch einen ganzen Block Erde darunter wegschlug.

„Boah …“, stammelte ich, und Frustration wich Neugier. Zuerst sah ich den Block nicht, nur den blockförmigen Hohlraum, in dem er verschwunden war. Ich starrte auf das Loch und erspähte einen Würfel, der über dem Boden schwebte – ja, tatsächlich ein Stückchen über dem Boden – und viel kleiner war als zuvor. Ich angelte danach, um ihn aufzuheben, doch auf halber Strecke flog er mir plötzlich entgegen.

Ich stieß ein verwundertes „Wow!“ aus und stolperte zurück, während ich den Würfel in meiner Hand betrachtete. Er fühlte sich an wie Erde, grobkörnig und trocken mit ein paar Kieseln darin. Ein Versuch, meine Hand zuzudrücken, blieb ohne Wirkung. Ich hielt den Würfel vor mein Gesicht und schnüffelte. Er roch nach Erde.

Ich schnüffelte noch einmal daran und spürte plötzlich Erleichterung. Bis jetzt war alles fremd gewesen. Alles um mich herum, einschließlich mir. Aber das hier war nicht fremd. Dieser Geruch war mir vertraut. Ich spürte, wie sich meine Nackenmuskulatur entspannte und mein Kiefer sich lockerte. Hey, ich schäme mich nicht, zuzugeben, dass ich noch vier oder fünf weitere Züge des Erdblockdufts inhalierte. Und ich schäme mich ebenso wenig dafür, dass ich dabei die ganze Zeit verstohlen über meine Schulter blickte, ob mir auch niemand zusah.

Die ganze Sache verbesserte meine Lage nicht unbedingt, aber sie gab mir wieder Selbstvertrauen. Ich versuchte, meine Hand zu öffnen und den Block auf den Boden fallen zu lassen. Was auch gelang. Da fühlte ich mich gleich noch besser.

„Okay, gut.“ Ich atmete aus. „Ich kann also Dinge fallen lassen.“ Kein großes Erfolgserlebnis, ich weiß, aber wenigstens etwas. Ein kleines Stückchen Kontrolle.

Ich sah kurz zu, wie der Erdwürfel neben meinen Füßen schwebte, bevor ich die Hand ausstreckte, um ihn wieder aufzuheben. Als er mir das zweite Mal entgegensprang, zuckte ich nicht mehr zusammen.

„Okay“, murmelte ich und holte zögerlich Luft. „Wenn ich dich fallen lassen kann, kann ich dich vielleicht auch …“ Ich bewegte den Würfel hinunter zu einer der Taschen an meinem Gürtel – und seufzte erleichtert, als er tatsächlich in diese hineinfiel.

„Aha!“, rief ich grinsend zum Gürtel hinunter. „Die Dinge – na ja, zumindest Erde – schrumpfen auf eine Größe zusammen, die du tragen kannst. Merkwürdig, aber vielleicht ist das ja nützlich in dieser We… in diesem Traum.“ Ich war noch nicht so weit, „Welt“ zu sagen. Dafür war ich noch viel zu fertig.

GRRRP, grummelte mein Magen und erinnerte mich daran, dass er noch da war. „Ach ja“, sagte ich und zog den Würfel wieder aus meinem Gürtel. „Da ich dich nicht essen kann und auch sonst keinen Grund wüsste, warum ich dich mit mir herumschleppen sollte …“

Ich lief mit dem geschrumpften Würfel zu der Stelle zurück, an der ich ihn ausgegraben hatte. Als ich noch einen oder zwei Schritte davon entfernt war, sprang er mir förmlich aus der Hand, wuchs wieder zu seiner ursprünglichen Größe und rastete in dem Loch im Boden ein, als wäre nichts gewesen. Na ja, fast nichts: Das Ausgraben hatte die obere grüne Grasschicht entfernt.

„Hmmm“, summte ich vor mich hin und machte mich daran, ihn erneut auszugraben. Ein paar Schläge später befand er sich wieder in meiner Hand. Diesmal legte ich ihn neben das Loch. Prompt bekam er seine ursprüngliche Größe zurück und saß fest auf dem Boden.

Ich summte selbstsicher weiter, während sich die Zahnräder in meinem Kopf in Bewegung setzten. Als ich den Block auf dem Boden abgelegt hatte, war eine Erinnerung in mir wach geworden. Diese Erinnerung war nicht speziell meine eigene, sondern bezog sich allgemein auf die Nicht-Traumwelt. Es ging darin um kleine Kinder, die mit Blöcken spielten und etwas damit bauten.

„Wenn alles hier aus Blöcken besteht und diese Blöcke ihre Form bewahren“, sagte ich zu dem Würfel, den ich vor mir abgelegt hatte, „kann ich sie dann vielleicht aufeinanderstapeln, um etwas daraus zu bauen?“

GRRRP, melde sich mein Magen unmissverständlich zurück. „Recht hast du“, antwortete ich ihm und wandte mich wieder dem Block zu. „Später vielleicht. Erst muss ich was essen.“

Ich wollte es noch ein letztes Mal mit dem Gras versuchen, bevor ich mich auf den Weg machte. Gut, dass ich das getan habe. Beim fünften Versuch hinterließen die verschwundenen Halme eine Handvoll Samen. Na endlich, dachte ich und versuchte, sie aufzunehmen. Der kleine Haken dabei war, dass ich nur alle sechs auf einmal halten konnte, nicht jedoch ein einzelnes Korn. Der noch größere und viel beängstigendere Haken aber war, dass ich sie nicht essen konnte. Meine Hand erstarrte einfach wenige Zentimeter vor meinem Mund.

„Echt jetzt?“ Diesmal versuchte ich, mein Gesicht zu meiner Hand zu bewegen. Auch das brachte keinen Erfolg. Es schien, als gäbe es ein unsichtbares Kraftfeld zwischen uns.

„Echt jetzt“, grummelte ich. Frustration und Ärger stiegen wieder in mir hoch. „Na schön!“ Ich holte aus und machte mich bereit, die Samen wegzuschleudern.

Ich hielt inne, als mein Blick auf den Erdblock fiel, mit dem ich herumexperimentiert hatte. Als ich ihn vor ein paar Minuten abgelegt hatte, war die obere grüne Schicht verschwunden gewesen. Jetzt war sie wieder da. Das Gras war nachgewachsen.

So schnell? Ich blickte auf die Samen in meiner Hand. Wachsen hier alle Pflanzen so schnell? Ich könnte ja mal versuchen, die Samen einzupflanzen.

Also versuchte ich es, und zwar auf jede erdenkliche Art und Weise! Ich ließ die Samen auf den Boden fallen, über dem sie nur schwebten. Ich schlug sie in den Boden, brach damit aber nur einen weiteren Block heraus. Als ich diesen Block an anderer Stelle wieder absetzte, versuchte ich sogar, die Samen seitlich hineinzudrücken. Nichts funktionierte.

„Warum …?“, knirschte ich durch zusammengebissene Zähne, zügelte mich aber sofort. Dieser Frage auch nur eine Sekunde lang nachzugehen würde wieder zu einem Nervenzusammenbruch führen.

„Weitergehen“, munterte ich mich selbst auf. „Gib nicht auf!“

Ich ließ die Samen in eine der Gürteltaschen fallen und sah mich verzweifelt nach weiteren Möglichkeiten um, nach anderen Nahrungsquellen, irgendeiner Form der Ablenkung …

Die Bäume!

Ich lief zum nächststehenden Baum und versuchte, Teile seiner Rinde abzulösen. Essen Menschen Rinde? Zumindest ich konnte es nicht. Meine Hände ließen mich nicht nach der hell-dunkel gestreiften Borke greifen. Sie ließen mich auch nicht den hüftdicken Baumstamm erklimmen, an dessen oberem Ende etliche Zweige voller kleiner, würfeliger Blätter warteten.

Ich gab nicht auf – das konnte ich mir schlicht nicht leisten. „Wenn das hier ein Traum ist, dann muss ich doch einfach nur hochfliegen und mir welche holen!“, überlegte ich laut.

Also sprang ich in die Luft, die Faust gen Himmel gestreckt, Kopf und Blick nach oben gerichtet … und landete ebenso schnell wieder auf dem Boden der Tatsachen.

Aber in dem entscheidenden Moment, in dem ich mich tatsächlich in der Luft befand, geschah etwas Magisches. Ich hatte nach dem Laub über mir geschlagen, und obwohl es einen oder zwei Blöcke weit entfernt war, hatte ich etwas an meiner Faust gespürt.

Zögerlich begann ich, über meinen Kopf zu schlagen. „Komme ich da ran?“

Und obwohl sich mein Arm nicht dehnte, konnte ich die gescheckten Laubwürfel selbst in einer Entfernung von vier Blöcken noch treffen. „Ich komme da ran!“, schrie ich und begann, wild gegen die Zweige zu schlagen. Der schleichende Wahnsinn in mir schwand mit jedem Hieb. Jeder einzelne baute mich Stück für Stück wieder auf. „Ja!“, schmetterte ich, als der erste Würfel verschwand und stattdessen eine rote, glänzende und mehr oder weniger runde Frucht in meine Hand fiel. „DAS ist schon viel besser!“

Und diesmal ließ mein Körper mich essen. Vielleicht ist das der Schlüssel, dachte ich, während ich auf der knackigen, süßen Frucht herumkaute und ihr Saft meine Kehle hinunterrann. Vielleicht lässt meine Hand mich nur das essen, was essbar ist.

Die Frucht sah zwar nicht genau wie ein Apfel aus, aber sie schmeckte wie einer. Der Geruch von Erde war schon beruhigend gewesen, aber das hier war regelrecht überwältigend. Ich spürte tatsächlich eine Träne in meinem Augenwinkel.

„Weitermachen“, sagte ich zu mir, als der Apfel in meinem gierigen Magen verschwunden war. „Gib niemals auf.“

Ohne mir dessen bewusst zu sein, hatte ich gerade etwas Wichtiges gelernt. Nenn es ein Mantra oder eine Lektion, die einem das Leben erteilt – nach diesen Worten lohnt es sich zu leben, und ich würde sie auf dieser seltsamen und wunderbaren Reise noch des Öfteren aussprechen: Niemals aufgeben.

KAPITEL 2

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PANIK MACHT OHNMÄCHTIG

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Ich setzte meine neue „Kraft“ dazu ein, die Laubblöcke an den restlichen Bäumen wegzuschlagen. Dafür wurde ich nicht nur mit zwei weiteren Äpfeln belohnt, sondern ich fand auch noch etwas sehr Wichtiges über meinen Gürtel und meinen Rucksack heraus.

Es geschah gleich nach dem ersten Apfel, während ich noch auf das Laub einschlug. Anstelle einer Frucht erhielt ich einen kleinen Setzling. „Streikst du schon wieder?“, fragte ich meine vorm Mund erstarrte Hand und ließ den Mini-Baum in meinen Gürtel fallen. Als ich Sekunden später noch einen weiteren erhielt, steckte ich ihn gedankenverloren in dieselbe Tasche.

Da wurde mir klar, dass sie nicht nur schrumpften, sondern auch ganz flach wurden und sich wie Spielkarten stapelten. „Sieh mal einer an“, sagte ich grinsend. „Das könnte ganz praktisch sein!“

Diese Feststellung sollte sich schon bald als maßlose Untertreibung herausstellen. Als ich alle drei Bäume von ihren Laubkronen befreit hatte, befanden sich zwölf zu einem Stapel zusammengepresste Setzlinge in nur einer Tasche. Noch dazu wog das Ganze nahezu nichts!

Ich sah mir die anderen Fächer in meinem Rucksack an, und sofort schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Darin kann ich ein ganzes Warenhaus voller Gegenstände herumtragen! Und das bedeutet …

„Das bedeutet …“, wiederholte ich laut und blickte böse auf den Gürtel hinab. Meine Stimmung war am Boden, und ich fühlte mich wie einer der zusammengepressten Setzlinge. „Bevor ich nicht etwas finde, was sich mitzunehmen lohnt, bist du genauso nützlich wie ein windbetriebener Ventilator.“

Es muss doch noch mehr Apfelbäume geben, dachte ich und blickte die felsige Wand hoch. In meiner anfänglichen Panik hatte sie wie eine unüberwindbare Barriere gewirkt. Doch jetzt, da ich ruhiger, selbstsicherer und satt war, erkannte ich, dass sie eher einem steilen Abhang als einer kerzengeraden Wand glich.

Wer weiß, was dahinter auf mich wartet, dachte ich und kletterte über die quadratischen Erdblöcke nach oben. Hätte ich vorhin erst mal nachgedacht, hätte ich sicher nicht dieses abgelegene Ende der Insel angesteuert, an dem ich jetzt festsaß.

Vielleicht war es ja gar keine Insel. Vielleicht war dieser Strand der Anfang eines ganzen Kontinents! Versteh mich nicht falsch, ich dachte noch immer, das sei alles nur ein Traum. Dennoch konnte ich es kaum abwarten, über den Hügel zu klettern, um dahinter eine Jägerhütte, eine Stadt oder eine riesige Metropole zu entdecken – oder was immer dort wartete …

Oder auch nicht.

Ich stand auf dem abgeflachten grünen Gipfel und starrte enttäuscht auf den Rest der offenbar unbewohnten Insel.

Vor mir erstreckte sich Land wie die Scheren einer Krabbe. Zwei bewaldete Hälften umschlossen fast vollständig eine runde, seichte Lagune. Ich konnte nicht einschätzen, wie groß die Insel war. Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht sonderlich geübt darin, Entfernungen in Blockgrößen abzuschätzen. Allzu ausgedehnt konnte sie allerdings nicht sein, denn im Licht der Nachmittagssonne erkannte ich ihre Grenzen. Und so wie das orangefarbene Viereck hinter dem Horizont versank, so schwand auch jegliche Hoffnung in mir.

Wie schon vorher im Meer beherrschte mich plötzlich wieder der Gedanke, dass ich allein war.

Und genau wie da sollte ich mich irren.

„Muh.“ Das Geräusch ließ mich aufschrecken.

„Was zum …?“, sagte ich und blickte mich nervös um. „Wer … Wer ist da?“

„Muh“, machte es erneut, worauf ich meinen Blick auf den Fuß des Hügels richtete. Da stand ein Tier, schwarz und weiß – mit einem Körper, der genauso viereckig wie alles andere in dieser Umgebung war.

Für den Abstieg wählte ich die westliche Seite des Hügels, die einfacher und weniger steil war als die schreckliche Ostseite. Unten angekommen ging ich ganz nah an die furchtlose Kreatur heran. Bei genauerer Betrachtung erkannte ich, dass sie nicht nur schwarz und weiß war. Graue Hörner, pink im Inneren der Ohren und ein rosafarbener, flacher Sack unter dem Magen …

„Du musst eine Kuh sein“, sagte ich, und das darauffolgende „Muh“ war das schönste Geräusch, das ich heute gehört hatte. „Du weißt ja gar nicht, wie ich mich freue, dich zu sehen“, seufzte ich. „Also, ich weiß ja, das ist alles nur ein Traum, aber es fühlt sich verdammt gut an, nicht …“ – das Wort blieb mir im Halse stecken, ich hatte auf einmal so ein beißendes Gefühl in der Nase und den Augen – „… allein zu sein.“

„Bääh“, antwortete die Kuh.

„Warte, was?“, fragte ich und ging einen Schritt näher heran. „Bist du irgendwie zweisprachig unterwegs oder so?“

„Bääh“, machte das Tier, jedoch nicht das vor mir. Ich sah hoch, über die Kuh hinweg, wo sich der wahre Erzeuger dieses Geräuschs befand. Er war viereckig – welch Überraschung –, aber ein wenig kleiner und fast komplett schwarz. Im dämmrigen Abendlicht hatte ich ihn übersehen. Als ich mich jetzt dem dunklen Waldstück näherte, trat ein weiteres Tier, so weiß wie die Wolken am Himmel, aus dem Schatten seines schwarzen Zwillings hervor. Trotz der flachen, geraden Umrisse konnte ich vage Details ihres Wollkleids ausmachen.

„Ihr seid Schafe“, sagte ich grinsend und streckte meine Hand aus, um eines zu streicheln. Ich hatte nicht nachgedacht. Ich wollte es nicht schlagen.

Das Tier schrie auf, leuchtete rosarot und zischte ab in den Wald. „Tut mir leid!“, rief ich ihm noch nach. „Tut mir echt leid, kleines Schaf!“ Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, dass ich mich seinem gefasst wirkenden Freund zuwandte und drauflosplapperte. „Das war wirklich keine Absicht. Ich kann mit diesem Körper immer noch nicht richtig umgehen, verstehst du?“

„Gack, gack, gack“, ertönte eine Antwort zu meiner Linken. Zwei kleine Vögel, jeder etwa einen Block hoch, pickten in meiner Nähe auf dem Boden herum. Sie hatten kurze Beine, plumpe eckige Körper in einem weißen Federkleid und kleine Köpfe, die in flachen, orangefarbenen Schnäbeln mündeten.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ihr Hühner seid“, sagte ich zu ihnen. „Ihr habt irgendwie auch was von Enten.“

Sie sahen für eine Sekunde zu mir auf und gluckten. „Aber ihr klingt wie Hühner“, fuhr ich fort. „Also ist es wohl besser, euch Hühner zu nennen statt … Hühnenten.“

Der Witz brachte mich zum Kichern, das bald zu schallendem Gelächter anschwoll. Es tat gut, zu lachen. Dabei fielen der ganze Wahnsinn und die Anspannung des Tages von mir ab.

In dem Moment hörte ich ein neues Geräusch.

„Gnaaah.“

Es war ein heiseres, sabberndes Gurgeln, das mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Ich blickte umher, um die Quelle zu bestimmen. Auf dieser Insel schienen die Geräusche aus allen Richtungen zu kommen. Ich stand da und lauschte, während ich mir wünschte, die Hühner würden Ruhe geben.

Dann roch ich es. Schimmel und Verwesung. Wie eine tote Ratte in einer alten Sportsocke. Ich sah die Gestalt erst, als sie sich etwa auf ein Dutzend Schritt genähert hatte. Zuerst dachte ich, es sei ein anderer Mensch, denn die Gestalt war angezogen wie ich, sodass ich automatisch einen Schritt auf sie zumachte.

Doch genauso instinktiv stoppte ich wieder und bewegte mich zügig rückwärts. Die Klamotten zerrissen und schmutzig, das Fleisch grün und fleckig. Ihre Augen – wenn man sie als solche bezeichnen wollte – nur leblose schwarze Punkte in einem flachen, starren Gesicht.

Erinnerungen schossen mir durch den Kopf, Bilder von Kreaturen, die ich zwar aus Geschichten kannte, aber noch nie in der Realität gesehen hatte. Doch hier war so eine, und sie kam mit ausgestreckten Armen auf mich zu.

Ein Zombie!

Ich wollte flüchten, doch dabei knallte ich gegen einen Baum. Der Zombie war fast da. Ich duckte mich. Verrottete Fäuste hämmerten auf mich ein, und ich wurde zurückgeschleudert. Schmerz schoss durch meinen Körper. Ich rang nach Luft. Er stürzte sich auf mich, ich stürzte davon.

Von Angst getrieben sprintete ich den Hügel hinauf. Meine Gedanken waren leer, ich hatte keinen Plan. Grauen bestimmte jetzt jeden meiner Schritte. Irgendetwas „klapperte“ in der Dunkelheit hinter mir, worauf ein leises Pfeifen die Luft durchschnitt. Etwas schlug im Baum vor mir ein. Ein zitternder Stock mit einer Feder am hinteren Ende. Ein Pfeil! War der Zombie bewaffnet? Mir war nichts aufgefallen. Ich rannte weiter.

Zu meiner Rechten blitzte etwas rot auf: eine Traube aus Augenpaaren, dazu ein kurzes Fauchen. Ich stürmte den Hügel hinauf und blickte mich erst wieder um, als ich auf dem Gipfel angekommen war. Im schalen Licht des aufgehenden quadratischen Monds sah ich, dass der Zombie mir noch immer folgte. Er war bereits unten am Hang angekommen und stieg mir jetzt nach.

Meine Kehle war vor Angst wie zugeschnürt, als ich die Ostseite des Hügels hinabschoss. Ich rutschte aus, stürzte und vernahm einen beunruhigenden Knacks.

„Argh“, zischte ich, als der Schmerz durch meinen Knöchel fuhr.

Wohin jetzt? Was tun? Sollte ich zurück ins Wasser springen und versuchen, davonzuschwimmen? Doch am Ufer der dunklen See erstarrte ich. Was, wenn der Tintenfisch noch da draußen war und jetzt Hunger hatte?

Ein weiteres Stöhnen hallte durch die sternenklare Nacht. Ich drehte mich um – der Kopf des Zombies tauchte am Gipfel des Hügels auf.

Panisch suchte ich nach einem Ausweg, einem Versteck.

Verzweifelt schoss mein Blick hin und her, bis er auf den Erdblock fiel, den ich heute ausgegraben hatte. Er brachte mich auf eine völlig verrückte Idee. Graben!

Als der Zombie sich daranmachte, den Hügel hinabzusteigen, rannte ich zum Kliff und hämmerte wild auf die Erde dort ein. Eins, zwei, drei, vier Schläge später, und der erste Block war aus dem Weg geräumt. Eins, zwei, drei, vier, und der Block dahinter war freigelegt.

Ich hörte den Zombie näher kommen, sein Stöhnen wurde immer lauter. Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier. Ich beseitigte vier Erdblöcke unmittelbar vor mir, zwei auf Augenhöhe und zwei darunter. Genug Platz, um mich gerade so hineinzuzwängen.

Tiefer, schrie ich in Gedanken. Tiefer rein!

Wenn das Schicksal reden könnte, hätte es jetzt hämisch gegrinst und gesagt: „Du gehst nirgends hin.“

Meine Fäuste prallten von etwas Kaltem und Hartem ab. Ich war auf Fels gestoßen. Einige sinnlose Schläge später wusste ich, dass ich in der Falle saß. Und das Monster war nur noch Sekunden entfernt.

Ich drehte mich um, sah den Zombie und platzierte panisch einen Erdblock zwischen uns. Der Zombie reichte darüber hinweg. Er verpasste mir einen Schlag gegen die Brust. Ich prallte gegen die steinerne Felswand. Meine Brust schmerzte, ich röchelte nach Luft. Aber ich schaffte es, noch einen zweiten Erdblock auf den ersten zu setzen.

Es wurde dunkel. Ich hatte mich lebendig eingegraben.

Mein Grab ließ zwar kein Licht hindurch, Geräusche aber konnte ich noch hören. Das Stöhnen des Zombies klang nach wie vor in meinen Ohren. Was, wenn er graben konnte? Was, wenn ich meinen Tod nur Sekunden hinausgezögert hatte?

„Geh weg!“, schrie ich hilflos. „Lass mich bitte einfach in Ruhe!“

Nur Würge- und Grunzlaute.

„Bitte!“ Ich flehte um mein Leben.

Emotionsloses, unaufhaltsames Stöhnen war die Antwort.

„Wach auf“, flüsterte ich. „Ich muss aufwachen, aufwachen, AUFWACHEN!“

Aus lauter Verzweiflung begann ich, auf und ab zu springen, wobei ich mit dem Kopf gegen die Decke stieß. So hoffte ich, wach zu werden.

„WACHAUFWACHAUFWACHAUF!“

Ich stolperte rückwärts und knallte wieder gegen die Steinwand. Mein Kopf pochte, meine Augen brannten, und meine Brust hob und senkte sich im Takt mit meinem Schluchzen und Keuchen.

„Warum?“, wimmerte ich. „Warum kann ich nicht endlich aufwachen?“

Genau in dem Moment stieß der Zombie ein tiefes, grausames Grunzen aus. „Weil es kein Traum ist.“

Nein, die Kreatur sprach nicht zu mir. Ich legte ihr die Worte in den verrotteten Mund, Worte, von denen ich wusste, dass ich sie einfach hören musste.

„Das ist kein Traum“, meinte ich die wandelnde Leiche sagen zu hören. „Es liegt auch an keiner Verletzung und ist keine Halluzination. Dieser Ort ist real, diese Welt ist real. Das wirst du akzeptieren müssen, wenn du hier überleben willst.“

„Du hast recht“, sagte ich zu dem Ghul. Ich wusste, dass ich nur mit mir selbst sprach, doch mit dem toten Typen zu reden kam mir irgendwie weniger irre vor. „Das passiert nicht nur in meinem Kopf. Das passiert wirklich.“

Der Fetzen eines Lieds, an das ich mich nur teilweise erinnern konnte, schwebte durch den Nebel meiner Amnesie. Es ging darum, sich an einem fremden Ort wiederzufinden. Ich konnte mich nicht an den ganzen Text erinnern, aber eine Zeile war hängen geblieben:

You may ask yourself, well, how did I get here?

„Ich weiß es nicht“, gab ich zu. „Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin, geschweige denn, wo ‚hier‘ überhaupt ist. Ein anderer Planet? Oder eine andere Dimension? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es keinen Sinn hat, es noch länger zu leugnen.“

In dem Augenblick, in dem ich mich mit der Situation abfand, erfasste mich eine Welle der Erleichterung. Und mit der Ruhe kam mir ein neues Mantra in den Sinn.

„Panik macht ohnmächtig“, sagte ich zu dem Zombie. „Also ist es an der Zeit, keine Panik mehr zu schieben und lieber herauszufinden, wie man hier überlebt.“

KAPITEL 3

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KEINE VERMUTUNGEN OHNE BEWEISE

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„Und was jetzt?“, fragte ich in die Dunkelheit. Da ich in der Falle saß, buchstäblich mit dem Rücken zur Wand und einem zähnefletschenden Leichnam nur zwei Handvoll Erde weit von mir entfernt, hatte ich nicht gerade viele Möglichkeiten.

Für eine Weile konzentrierte ich mich auf meine Atmung und versuchte, meinen Kopf freizumachen, damit die Ideen nur so sprudelten. Als ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, war der erste leider, dass mein tiefes Atmen die Luft hier drin aufbrauchen könnte.

Wie viel hatte ich noch? War ich vielleicht schon am Ersticken? Wie fühlte es sich an, zu ersticken? Ich spürte ängstlich nach körperlichen Veränderungen, nach Empfindungen, die zuvor nicht dagewesen waren.

Dabei bemerkte ich, dass die Schmerzen verschwunden waren. Sowohl mein Kopf als auch mein Knöchel fühlten sich prima an. Mein Magen hingegen war wieder völlig leer. Ich verschlang noch einen Apfel und versuchte, das Geschehene zu begreifen.

Bekommt mein Gehirn nicht mehr genug Sauerstoff?, fragte ich mich. Oder sind die Wunden einfach wahnsinnig schnell verheilt? Im Ernst jetzt, bin ich ein Superheld? Der Gedanke ließ mich einen kurzen, aber intensiven Moment der Hoffnung erleben.

Der Zombie stöhnte.

„Ist es das?“, fragte ich den Zombie. „Beschert mir diese Welt Superheilung? Haben die Äpfel oder Nahrung an sich etwas damit zu tun?“

Noch ein nichtssagendes Stöhnen.

„Du musst mir nicht antworten“, sagte ich. „Ich finde es schon allein heraus. So wie es aussieht, muss ich das wohl auch, wenn ich hier überleben will. Das ist eine ganz neue Welt mit eigenen Regeln und Gesetzen – wie das Schlagen aus der Entfernung oder dieser kleine Rucksack, in den eine Menge Zeug reinpasst.“

Ich atmete weiter tief ein und aus. Das brachte mehr Ruhe, und mehr Ruhe führte zu klareren Gedanken. „Ich muss nur herausfinden, wie hier was läuft“, fuhr ich fort. „Und zwar, sobald ich hier raus bin!“

Wie auf ein Zeichen stöhnte der Zombie zurück.

„Wenn ich hier rauskomme, wirst du schon auf mich warten. Ich werde also eine Art Waffe brauchen, um mich zu verteidigen. Einen Knüppel, einen Speer oder …“

Der Zombie stieß einen hohen, kehligen Laut aus, den ich bis jetzt noch nicht von ihm gehört hatte.

„Hey“, sagte ich und presste mein Ohr an die Erde. „Was ist los?“

Hatte er mich verstanden? Führten wir tatsächliche eine Art Unterhaltung? Das scharfe, heftige Knurren hielt an. Es schien, als würde die Kreatur auf etwas reagieren, als hätte sie plötzlich Schmerzen.

„Geht’s dir gut?“, fragte ich reflexartig. „Hör mal, es tut mir leid, wenn mein Gerede über Waffen deine Gefühle verletzt hat. Aber fairerweise muss man ja wohl sagen, dass du es bist, der mich umbringen möchte …“ Während meiner sinnlosen Ansprache bemerkte ich, dass die Geräusche verstummt waren.

„Hallo?“, rief ich in die Stille hinein.

Mir fiel ein Geruch auf, der langsam durch die Erde sickerte.

Rauch?

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