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Meinetwegen

hier erhältlich:

Die siebzehnjährige Katharina ist Anfang der 1970er Jahre in einer geschlossenen Einrichtung für Jugendliche untergebracht. Sie wurde straffällig. Mindestens einmal pro Woche muss sie mit einem Psychiater sprechen, um die Hintergründe ihres Deliktes zu ergründen. Erstaunlicherweise gelingt es ihr dabei, dem Arzt »ihre« Gesprächsregeln aufzuzwingen. Die »Delinquentin« wird zur »Regisseurin«. Er darf nichts fragen, sich nicht einmal räuspern. Das würde Katharina zu sehr von sich selbst »wegtreiben«.
Der Psychiater lässt sich darauf ein. Später erhält er die »Erlaubnis«, mit selbst beschrifteten Kärtchen in einen Dialog zu treten. Stück für Stück erfährt man, was Katharina erlebt hat. Heftige, wütende, aber auch sehr sensible Schilderungen über Erlebnisse, die zu ihrer Tat führten.


  • Erscheinungstag: 22.10.2024
  • Seitenanzahl: 112
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312014101
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Eins

Reden tue ich ja gern.

Aber versprechen Sie sich nicht zu viel davon. Einmal die Woche, hat man mir gesagt. Angeordnet, genau genommen, denn nirgends sonst ist man so unfrei wie hier. Mindestens einmal pro Woche, dazwischen mache ich mir Notizen. Ich möchte, dass Sie alles erfahren. Ob es die Wahrheit ist, müssen Sie selbst entscheiden. Es wäre nicht willentlich gelogen, wenn ich etwas erzählte, das ich gar nicht so erlebt habe oder mir jemand erzählt hat, dass es so gewesen sei. Ohrfeigen, wenn sie heftig genug sind, verletzen das Gehirn. Die, die ich gekriegt habe, waren heftig.

Darum bin ich mir unsicher, ob ich mich an alles korrekt erinnere. Obwohl ich möchte.

Eines aber müssen Sie wissen: Sie dürfen mich nie unterbrechen, niemals. Auch keine Fragen stellen, keine Töne, keinen Pieps von sich geben, wie etwa hm, oder sich räuspern. Das würde meine Gedanken durcheinanderbringen. Mich sofort dazu verleiten, mich auf Sie zu beziehen und alles für Sie zu formulieren. Also, damit vor allem Sie es verstehen. Es brächte mich weg von mir selbst und vielleicht auch von der Wahrheit, der ich jedoch unbedingt auf den Grund gehen will. Nicht etwa, weil ich hoffe, dass dadurch meine Strafe geringer ausfällt. Nein, ich bin bereit für alles. Gefasst auf alles.

Ich werde jedes Urteil akzeptieren.

Das Urteil würde Klarheit schaffen, wäre eine direkte Antwort auf das, was ich getan habe.

Machen musste.

Sie wissen bestimmt, dass der Mensch nicht wirklich über einen freien Willen verfügt. In der Schule habe ich gelernt, dass sogar manche Selbsttötungen nicht aus freiem Willen geschehen. Weil sich das Denken, hat die Lehrerin damals gesagt, immer mehr auf das verengt, was man sich vorgenommen hat. Bis schließlich jede Alternative verloren geht, wegdriftet, nicht einmal mehr denkbar ist, hat die Lehrerin erklärt. Trotz der Milliarden von Gehirnzellen, die jeder Mensch unter seiner Schädeldecke am Laufen hält und die auf ich weiß nicht wie viele Arten miteinander verbunden sind.

Jetzt haben Sie gehustet. Das sollten Sie nicht tun.

Ich muss deshalb eine kurze Pause machen. Sagen Sie nichts, warten Sie einfach.

So – Sie haben ein Recht darauf, es zu erfahren. Ich bin schließlich zur Beobachtung hier.

Eingesperrt.

Unfreiwillig.

Am Schluss meines – äh – Aufenthaltes müssen Sie und andere entscheiden, wie es mit mir weitergehen soll.

Und wo.

Die Notizen, die ich zwischen den Stunden bei Ihnen mache, nehme ich nicht mit hierher. Die lasse ich lieber in meinem Zimmer. Ich möchte ohne einen Zettel in der Hand erzählen, dabei ab und zu in Ihr Gesicht schauen,

vielleicht sogar in Ihre Augen.

Um herauszufinden, ob Sie mir glauben, was ich sage. Es kam bisher nur selten vor, dass mir jemand geglaubt hat.

Mein Vater nicht

meine Pflegetante nicht

ganz zu schweigen von den affigen Nonnen.

Die lügen selbst am meisten.

Zwei, drei Ausnahmen gab es allerdings. Davon erzähle ich Ihnen später.

Ich möchte diese Stunden ausnützen, kann Ihnen aber nicht versprechen, dass es zwischendurch nicht zu längeren Pausen kommt. Dann sage ich einfach nichts und bitte Sie, mich in Ruhe zu lassen, weil es irgendwann schon wieder weitergeht.

Jetzt war gerade eine solche Situation. Sie haben mich nicht gezwungen, weiterzureden. Das ist gut.

Es gefällt mir nicht schlecht hier. Die Leute sind nett, tun zumindest so. Einmal hatte ich bei jemandem sogar das Gefühl, dass es ihm wichtig ist, dass es mir gut geht. Mir selbst ist es momentan nicht so wichtig. Wenigstens kann mir hier kein Unheil zustoßen. Von außen.

Keine Schläge.

Kein Essensentzug, wie das früher oft vorkam. Kinder damit zu bestrafen, dass sie nichts zu essen kriegen. Auf die Idee muss man erst mal kommen. Zu welcher Einsicht sollte da ein Kind gelangen, vor allem, wenn es davon überzeugt ist, nichts Schlechtes getan zu haben. Aus seiner eigenen Sicht. Aber die deckt sich ohnehin nur ausnahmsweise mit der der Erwachsenen.

Wenn sie einem nicht wohlgesinnt sind.

Vielleicht haben Sie schon bemerkt, dass ich gerne spezielle Wörter benutze, eben wie zum Beispiel wohlgesinnt. Das kommt daher, dass ich schon als kleines Kind viel gelesen habe und mir besonders schöne Wörter in einem kleinen Heft notierte. Das nur nebenbei.

Eine meiner Lehrerinnen war mir wohlgesinnt. Sie hat mit mir nicht geschimpft, wenn ich in der Schule schweigend dasaß, nichts sagte, nur aus dem Fenster schaute. Weil sie wahrscheinlich geahnt hatte, weshalb.

Der ständige Nebel da draußen vor den Fenstern deprimiert mich. November und Nebel, passt zusammen, aber nicht zu mir. Ich bräuchte Sonne oder wenigstens keinen Nebel. Obwohl sich das Wort Nebelschwaden schön anhört.

Schwaden.

Wüssten Sie etwas über die Herkunft des Wortes? Die Herkunft der Wörter hat mich schon immer interessiert.

Blauäugig, weshalb man jemanden als blauäugig bezeichnet, zum Beispiel. Sie haben braune Augen. Ist man damit gutgläubiger, bessergläubig? Aber ich frage Sie natürlich nicht, nicht wegen der Schwaden, aber auch nicht wegen blauäugig. Sie wissen schon, weshalb.

Schwaden kann, scheint’s, auch die giftige Luft in der Grube meinen, giftig wegen des hohen Gehalts an Kohlendioxid. Bei den Nonnen gab es ein Mädchen aus dem Ruhrgebiet, die hat das wegen der Schwaden gewusst. Ich könnte auch mal den Briefkastenonkel fragen. Der weiß auf jede Frage eine schlaue Antwort. Jeden Montagabend während des Wunschkonzerts am Radio.

Das hier ist kein Wunschkonzert, hat meine Pflegetante immer gesagt.

Immer.

Pflege und Tante,

keins von beiden hat gestimmt.

Wenn ich jetzt da wäre, wo wir als Kinder häufig in den Ferien waren, säße ich bestimmt im Sonnenschein. In den Bergen. An manchen Bergen kann man deutlich erkennen, wie sie zustande gekommen sind. Die Schichtung des Gesteins. Übereinandergeschobene Platten, nicht gefaltet, hat die Lehrerin gesagt, sondern aufgetürmt und übereinandergeschoben. Und manchmal entsteht später ein Loch.

Sie kennen das Martinsloch?

Zweimal im Jahr scheint die Sonne dort hindurch und trifft direkt auf das Zifferblatt der Elmer Kirche.

Das interessiert mich auch.

Wie etwas zustande kommt oder kam. Falls ich je wieder frei sein sollte, möchte ich in einem Bergdorf leben. Obwohl dort fast nichts passiert, gibt es immer einiges zu beobachten. Ein Eichhörnchen, das über die Straße hetzt, um noch rechtzeitig vor dem herannahenden Auto die rettende Lärche zu erreichen. Oder wenn sich kurz vor dem Sonnenuntergang die Bergspitzen rosa verfärben. Da muss man ganz schnell hinschauen, weil es grad wieder verschwindet. Oder das Geschelle einer Glocke, wenn die Kuh ihren Hals an einem Baumstamm reibt. Rauf und runter, rauf und runter, bis die Bäuerin endlich herbeieilt, um zu schauen, ob ihrem Tier vielleicht etwas Schlimmes zugestoßen ist.

Sommerferien in den Bergen, ohne Prügel und ohne Beschimpfungen. Bäche stauen, auf den Alpwiesen picknicken, Schwimmen im Bergsee, bis die Zähne klapperten, die Mutter mit dem Frotteetuch wartete, um mich warm zu rubbeln, und die feste Überzeugung, jetzt unbedingt ein Eis essen zu müssen. Ging natürlich nie, so hoch oben in den Bergen. Weit und breit kein Kiosk und keine Migros.

Gerade eben habe ich bemerkt, dass Sie verstohlen auf Ihre Armbanduhr geschaut haben.

Vielleicht langweile ich Sie.

Möglich, dass andere Mädchen hier eine interessantere Geschichte haben. Sylvie im Bett nebenan ritzt sich die Arme, jetzt nicht mehr, aber bevor sie hierherkam. Geritzt hat sie sich und die glühenden Zigarettenstummel auf ihrem Arm ausgedrückt.

Oder Karin.

Mitten in der Nacht schreit sie so lang und so laut, dass man es sogar durch die Zimmerwand hören kann und ich manchmal davon wach werde. Aber glauben Sie nur nicht, es herrsche zwischen uns ein Wettbewerb, wer das Furchtbarste erlebt oder verübt hat.

Verüben ist übrigens auch so ein Wort, über das man nachdenken müsste. ›Ver‹ am Wortanfang hat aber wahrscheinlich nicht dieselbe Bedeutung wie zum Beispiel bei ›verlernen.‹

Nein, über die Gründe, weshalb wir hier sind, redet keine. Jede ist damit mit sich allein. Mit seinen Taten sollte man nicht prahlen. Aber es gibt trotzdem eine Hierarchie. Allerdings nicht von uns errichtet, sondern von den Aufpasserinnen. Wir nennen sie so, sie selbst nennen sich anders. Die Aufpasserinnen also haben ihre liebsten Lieblinge, Lieblinge, Ignorierte und Abschaum. Das lassen sie uns täglich spüren. Ich gehöre eher zum oberen Bereich. Aber das interessiert mich nicht wirklich, ich möchte hier einfach keine zusätzlichen Probleme.

Ich weiß nicht, wie viel Sie und die anderen Erwachsenen über mich wissen. Wurde alles übertragen von einer Akte zur anderen, alles in toten Buchstaben, schwarz auf weiß, wo keine Gefühle durchschimmern. Gefühle –

Sie meinen vielleicht, ich hätte keine mehr. Wenn man etwas für sich behält, heißt das noch lange nicht, dass man es nicht hat. Im Gegenteil.

Ich kann nicht gleichzeitig reden und meine Spucke hinunterschlucken.

Noch etwas, das Sie beherzigen müssen, beherzigen hat man von mir auch immer gefordert. Wenn ich weinen muss, sollten Sie sich unbedingt abwenden. Sie dürfen meine Tränen nicht sehen. Ich sage Ihnen später, weshalb.

Bleibt noch ein wenig Zeit? Keine Ahnung, wie schnell oder langsam sie vergeht. Ich hatte mir doch noch etwas überlegt für heute. Was war es denn bloß? Hm. Vielleicht nehme ich nächstes Mal doch besser meine Notizen mit.

Ich möchte jetzt gern gehen. Es wird mir eng hier.

Auf Wiedersehen

Zwei

Ich setze mich wieder auf den gleichen Stuhl wie beim letzten Mal, beim ersten Mal. Recht bequem, muss ich sagen. Und trotzdem sackt man nicht ab.

Kaum war ich voriges Mal draußen, ist mir eingefallen, was ich Ihnen Schönes erzählen wollte. Dass ich nämlich in diesem Frühling mit meinem Opa in das neue Shoppingcenter in Spreitenbach durfte. Liegt direkt an der Autobahn. Für seinen Beruf braucht er ein Auto, er fährt jede Woche in die Ostschweiz. Als Vertreter für Koks. Koks zum Heizen natürlich. Ich durfte vorne sitzen. Leider hat mich niemand gesehen, wie ich so im hellblauen Mercedes mit meinem Opa davonfuhr. Er wusste zunächst gar nicht, wo parkieren, es sind über tausendsechshundert Parkplätze, und weil wir schon früh ankamen, waren die allermeisten noch frei. An diesem speziellen Tag, sagte mein Opa, dürfe ich mir etwas auswählen. Egal was, sofern es nicht gerade ein Vermögen koste. Schauen Sie auf meine Füße, dann sehen Sie, was ich bekam: Adidas Rom. Mein Herz hängt daran. Da, schauen Sie. Schon ziemlich abgenutzt, aber das macht sie umso wertvoller.

Wir schlenderten durch die Läden, mein Opa und ich. Irgendwo gab es auch einen Andachtsraum und eine Kunstgalerie. Dann sagte mein Opa: Weißt du, worauf ich jetzt am meisten Lust hätte?

Ich: Nein, was denn?

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