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Mein Lieblingslied in unseren Worten

hier erhältlich:

»Nur wenn ich sang, begrüßte ich den bittersüßen Schmerz der Erinnerungen wie einen Freund.«

Vor vier Jahren verließ die Sängerin Florence mitten in der Nacht alles, was ihr je etwas bedeutet hat: ihre Band, ihre Heimat, ihre Familie und schließlich auch ihre Identität. Alles, um ihm zu entkommen. Inspiriert von der Schildkröten-Auffangstation ihrer besten Freundin, keimt in ihr der Gedanke, eine Umweltschutz-Organisation in Shore Mana zu gründen. Ausgerechnet Radiomoderator Deacon ist einer der ersten, der von ihrem heimlichen Wunsch Wind bekommt und Florence weiß nicht, was sie davon halten soll. Sie ist nicht gern allein und hüpft von einem unverbindlichen Date zum nächsten, niemand kann ihr widerstehen. Niemand, bis auf Deacon, der genauso wie Florence der festen Überzeugung ist, sich niemals wieder zu verlieben. Dennoch entsteht mit der Zeit eine zarte Freundschaft, die beiden vor Augen führt, was ihnen bisher gefehlt hat. Schon bald gehen ihre Gefühle immer tiefer, doch Florence‘ Vergangenheit ist nicht die einzige, die droht, die beiden einzuholen...


  • Erscheinungstag: 28.01.2025
  • Aus der Serie: Shore Mana
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704280
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liebe Leserinnen und Leser,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.

Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen der Geschichte.

Eure Natalie und euer Team von reverie

sad birds still sing.

– faraway

Für all die Blumenmädchen mit einer Seele aus Rock’n’Roll.

Für alle, die glauben, sie wären zu laut, zu bunt, zu viel, zu viel, zu viel.

Für alle, die nichts weiter brauchen als die Sterne, den Mond und diese eine Melodie.

Du bist genau richtig.

Du verdienst alles.

Prolog

Florence – Chicago

Wenn ich sang, hörte ich meine Sorgen nicht. Wenn ich sang, übertönte meine eigene Stimme mein lautes Selbst, das mir in den Ohren klingelte. Wenn ich sang, begrüßte ich den bittersüßen Schmerz der Erinnerungen wie einen Freund. Nur wenn ich sang, ließ ich Gefühle meinen Körper fluten, bis ich Gefahr lief, in ihnen zu ertrinken. Nur wenn ich sang, kitzelte der Mut in meinen Nervenenden.

Heute schubste mich dieser Mut in die einzig richtige Richtung. Weg von hier. Weg von der Hitze des Scheinwerferlichts über mir, das sich heiß in meine Haut brannte. Weg von ihm. Gerade rechtzeitig.

Ich trat einen Schritt zurück, der Atem verließ stoßweise meinen Körper, und ich löste die eiskalten Finger vom Mikrofon, wartete auf den Applaus in dem Wissen, dass dies mein letzter Auftritt gewesen war. Meine Verbeugung war ein Abschied, von dem niemand in dieser feucht stickigen Halle ahnte.

Ich blickte ihn nicht an, als ich an ihm vorbeilief, das Herz wild in meiner Brust pochend, als könnte es die Flucht nicht erwarten, die ich innerhalb der letzten zwei Wochen immer und immer wieder im Kopf durchgegangen war. Schritt für Schritt verließ ich die Bühne, die Rufe der Meute und meine Bandkollegen, die diese noch auskosten wollten, ließ ich hinter mir. Mit jeder Harmonie, die meinen Mund verlassen hatte, war die surreale Vorfreude darauf, einen Schlussstrich unter mein bisheriges Leben zu setzen, gestiegen. Ein Leben, in dem andere Menschen mir diktierten, wer ich zu sein hatte, bis ich fast vergessen hatte, wer ich eigentlich war. Zoe Palms, Leadsängerin der Shadows Brew bei Nacht und Anwaltsgehilfin bei Tag, würde heute von der Bildfläche verschwinden.

Er sollte nicht merken, dass der heutige Abend anders war, dass ich im Begriff war zu gehen, denn dann konnte er mich auch nicht zurückhalten.

Im Backstage empfingen mich eine Eiseskälte und der Geruch von erdigem, altem Gemäuer, als befänden wir uns unter Tage. Ich folgte dem schummrigen Flur, der so schmal war, dass ich mir an der Betonwand die Haut an meinem Handrücken aufschürfte, als ich hastig um die letzte Ecke vor unserer Garderobe bog und sie schließlich betrat. Das Deckenlicht flackerte und sprang begleitet von einem Surren an. Mir blieben keine fünf Minuten, ehe der Rest der Band keine Lust mehr hatte, sich im tosenden Applaus und den Zugaberufen zu suhlen, und die Bühne verließ. In weiser Voraussicht hatte ich meine Handtasche so deponiert, dass ich sie nur zu greifen brauchte, nachdem ich mich umgezogen hatte. Ich drückte die Tür mit einem Klicken ins Schloss und wirbelte herum, riss mir in Windeseile das weiße Crop Top über den Kopf und pellte mich aus der knallengen Hose aus Lederimitat. Dann schlüpfte ich schnell in meine Jeans mit weitem Bein.

Mir blieb nicht viel Zeit, und es war, als hörte ich das Ticken einer Uhr wie Peter Pan, wenn das Krokodil in seiner Nähe war. Der Puls schlug mir bis zum Hals, als ich den dicken dunkelroten Kapuzenpullover überzog und mit zittrigen Fingern nach der Tasche griff, wobei ich beinahe das halb volle Wasserglas vom Tisch fegte. Für den Bruchteil einer Sekunde senkte ich die Lider und atmete tief durch, ehe ich die Türklinke herunterdrückte und einen letzten flüchtigen Blick in die Garderobe warf. Ich tat es. Mein Ohr an den Türspalt haltend lauschte ich, und als ich keine Schritte vernahm, trat ich hinaus, klebte meine vorbereitete Nachricht, die mir hoffentlich einen Vorsprung verschaffen würde, gut sichtbar an die Tür.

Babe, ich bin müde und fahre nach Hause. Feiert schön. XOXO Zoe.

Ich rannte zum Hinterausgang und rang keuchend nach Atem, als die kühle Nachtluft mir ins Gesicht schlug, nachdem ich die schwere Eisentür aufgestemmt hatte. Es war kurz vor Mitternacht, doch von einsamer Stille war in diesem Partyviertel Chicagos nichts zu spüren. Ohne eine weitere Sekunde verstreichen zu lassen, fügte ich mich in den Strudel Passanten ein. Obwohl niemand von mir Notiz nahm, zog ich mir die Kapuze ins Gesicht, senkte den Blick, umklammerte meine Handtasche und lief so schnell ich konnte los. Vom bunten Viertel Lake View, wo wir heute Nacht wiederholt aufgetreten waren, bis zur Chicago Union Station war es ein strammer Fußmarsch von anderthalb Stunden. Ich passierte River North, wo ich meine Stagekleidung schließlich in einer Mülltonne verschwinden ließ. Ich ignorierte das fiese Stechen in der Seite. Um mich zu beruhigen, berührte ich mit bebenden Fingern den Schlüssel für das Schließfach im Bahnhof, in das ich vor zwei Wochen einen nigelnagelneuen Koffer verfrachtet hatte. Jeden Tag war ich vorbeigekommen, um etwas in ihm zu deponieren. Stück für Stück, damit es ihm nicht auffiel. Mein Lieblingsbuch, meine Notizbücher und Notenhefte und nur meine allerliebsten Kleidungsstücke. Den Schmuck von Mom und ihr altes Adressbuch, in das ich altmodisch auch meine eigenen Kontakte eingepflegt hatte.

Sobald ich angekommen war, würde ich Dad und Flynn anrufen, um es ihnen zu erklären. Doch erst einmal würde ich ein neues Zuhause finden müssen. Einen Ort ohne ihn. Einen Ort, an dem ich sicher war und vielleicht sogar glücklich. Sicher vor ihm, vor der Trauer meiner Vergangenheit und vor einem einsamen Leben, das ich so nicht gewollt hatte.

Kapitel 1

Deacon – Shore Mana

Drei Jahre später

Atemlos schob ich zwei der Regler am Mischpult vor mir in entgegengesetzte Richtungen, damit ein Kanal den anderen sanft ablöste. Ich liebte meinen Job. Jedes Mal, wenn ich eine meiner Playlists einfadete, schlug mir das Herz im Hals. Ich liebte es, Musik mit anderen Menschen zu teilen. Für andere war es nur Radio, nur Musik. Für mich war es so viel mehr.

Das grüne Signallämpchen des Studiomikrofons erlosch. Aus. Schluss für heute. Wie jeden Abend ließ ich mich nach hinten gegen die harte Lehne des Drehstuhls fallen und konzentrierte mich darauf, mein Herz zu beruhigen, das wild in der Brust schlug. Mein Brustkorb hob und senkte sich, und ich kam nicht umhin, zu lächeln. Heute war ein guter Tag gewesen, wenn auch anstrengend, da meine Kollegin Kayla sich krankgemeldet und ich für sie hatte einspringen müssen. So grundverschieden wir beide waren, so sprachen wir doch die gleiche Sprache: die der Musik.

Räuspernd streckte ich mich zur Seite und langte nach meinem Smartphone, das ich vor der letzten Session neben dem Mischpult abgelegt hatte. Erleichtert stellte ich fest, dass mir eine rote Eins am Icon meiner Dating-App eine neue Nachricht anzeigte. Wenn ich Glück hatte, würde mein Abend einen guten Ausklang finden. Bevor ich die App anwählte, sah ich noch einmal ruhig atmend aus dem Studiofenster. Von hier hatte man die beste Aussicht, weil sich der Sender im höchsten Gebäude unserer kleinen Stadt Shore Mana befand.

Ich betrachtete sie entspannt von oben. Ich mochte, dass die neumodische Hektik hier nie angekommen war. Vielleicht war ich aus diesem Grund nicht zum Studieren fortgegangen wie mein bester Freund Malio. Sogar die University of Honolulu war mir zu weit gewesen. Die University of Shore Mana war eine Provinzuni, doch für mich genau die richtige Wahl gewesen.

Wie in Zeitlupe zogen weiche Schleierwolken am Himmel entlang, der in die charakteristischen Farben der Golden Hour getaucht wurde. Hellblau, das in sanftes Pink, Orange und Violett überging. Der nahezu wolkenlose Himmel versprach eine sternenklare, verhältnismäßig kühle Nacht. Ich löste den Blick vom Fenster, richtete ihn aufs Handy, öffnete die App und biss mir zufrieden auf die Unterlippe. Eine Frau namens Shawna hatte mir geschrieben und gefragt, ob ich morgen Abend Lust auf ein Treffen hätte. Ich schielte in die obere rechte Ecke, um das Datum zu checken. Sogleich flogen meine Fingerspitzen über das Display, um eine Antwort zu tippen.

Ich: Hey, Shawna, klar gern. Wo und wann?

Auf ihren Fotos sah sie nett aus, und ihr Profil war sympathisch. Da ich sowieso nicht vorhatte, eine Beziehung einzugehen, reichte mir das. Nur ab und zu verabredete ich mich ein zweites oder gar drittes Mal mit derselben Frau. Da ich direkt beim ersten Zusammentreffen klarstellte, dass ich auf keinen Fall auf etwas Festes aus war, erübrigten sich die Folgedates meist von selbst, und das war okay für mich. Ich wollte niemandes kostbare Zeit stehlen. Weder heute noch morgen noch in zehn oder zwanzig Jahren. Ich würde niemals eine Beziehung wollen. Und dafür hatte ich einen sehr guten Grund …

Ein durchdringendes Gegen-den-Rahmen-Hämmern lenkte meine Aufmerksamkeit zur Tür, in die ein Fenster eingefasst war, sodass man vom Flur aus ins Studio sehen konnte. Binnen einer Zehntelsekunde gefror mein Lächeln, und ich musste mich anstrengen, nicht genervt die Augen zu verdrehen.

Was wollte mein Vorgesetzter bitte hier? Er hatte sich den ganzen Tag nicht sehen lassen, und ausgerechnet so kurz vor meinem Feierabend traf mich sein verurteilender, überheblicher Blick, den ich so hasste. Ich deutete mit einem Nicken zum On-Air-Signal, das nicht rot leuchtete und somit verriet, dass ich nicht live war. Darauf hätte er aber auch selbst kommen können.

Robert schob die Tür auf und trat ein. Wie immer trug er ein enges kurzärmeliges Karohemd. Sein Gesicht glänzte vom Schweiß, vermutlich hatte er gerade erst das klimatisierte Gebäude betreten. Durch die roten Flecken in seinem Gesicht wirkte er älter, als er mit seinen knapp vierzig Jahren eigentlich war.

»Was gibt es, Rob?« Ich atmete tief durch und zwang mich dazu, mich ein Stück aufrechter hinzusetzen. Obwohl ich ihn nicht leiden konnte, war er schließlich noch mein Vorgesetzter. Leider.

»Es ist Monatsbeginn.« Danke für die Info.

»Ja? Und?« Ich hob fragend eine Augenbraue und hoffte, dass er sich dadurch nicht angegriffen fühlte. Was schwer war, da Rob alles persönlich nahm.

»Entweder bin ich blind, oder das Konzept liegt nicht wie vereinbart auf meinem Schreibtisch.« Er tippte mit seinem Finger auf meinen Tisch.

Ruhig bleiben, Deac. »Das liegt daran, dass es wie vereinbart«, ich äffte seine Tonlage nach, weil ich nicht anders konnte, »in deinem Mail-Postfach schlummert. Seit letztem Mittwoch.«

»Das kann nicht sein«, erwiderte er und schüttelte den Kopf. »Dort ist nichts. Wenn ich morgen ins Studio komme, liegt es auf meinem Schreibtisch.«

Robert glaubte, der mächtigste Senderleiter Amerikas zu sein, dabei leitete er lediglich ein paar nischige Inselkanäle wie Shore Mana FM, die ihm nicht einmal selbst gehörten. Doch da der echte Big Boss so selten im Sender vorbeischaute, glaubte Robert wohl, er würde die ganze Welt regieren.

Das Traurige war, dass er sich weder für Musik, Journalismus noch für die Technik interessierte. Er hatte gelernt, wie man Autos verkaufte, und war irgendwie beim Radio gelandet, woran ja nichts verkehrt war. Nicht selten waren Quereinsteigende wie Kayla wahre Diamanten. Doch Rob war ein beschissenes Stück Kohle, das sich für einen Diamanten hielt.

Ich seufzte und setzte ein falsches Lächeln auf, denn mein Arbeitstag war eindeutig lang genug, und ich wollte ihn einfach so schnell wie möglich loswerden. »Na sicher, Boss. Ich drucke es gleich aus.«

»Geht doch«, murrte er, klopfte auf den Tisch und wandte sich zum Gehen, ohne ein Wort des Abschieds. Arschloch.

Ich stemmte mich aus dem Stuhl hoch, sperrte das Mischpult, kontrollierte, ob alles einwandfrei lief, und griff nach meinem Rucksack. Im Gehen zog ich den Laptop heraus, schulterte die Tasche und klappte den Laptop auf, um das zehnseitige Dokument zu suchen, damit ich es an den Studiodrucker senden konnte.

Es war still im Büro. Seltsam, denn um diese Uhrzeit waren normalerweise nicht alle ausgeflogen. Wir teilten uns die Räumlichkeiten mit der Redaktion des Shore Mana Bulleton, der hiesigen Zeitung, und der Shore Manarketing, der Werbeagentur, die sich eindeutig einen neuen Namen zulegen sollte, wenn sie mehr als zwei Aufträge pro Monat an Land ziehen wollte.

Das einzige Geräusch, das an meine Ohren drang, war das Rattern des Druckers und, wenn ich mich darauf konzentrierte, das Meeresrauschen, das entfernt durch eines der geöffneten Fenster hineinwehte. Ich liebte, dass die Luft zu jeder Jahreszeit nach Salz und Sonnencreme duftete und dass ich den Strandsand in sämtlichen Wohnungen, Büros, Restaurants und Cafés fand, als wollte er uns daran erinnern, ihm einen Besuch abzustatten.

Das Handy vibrierte in meiner Hosentasche, und ich zog es heraus, entsperrte das Display via Gesichtserkennung.

Ich grinste.

Ich: Das SMBG ist eine gute Wahl, ich reserviere uns um acht einen Tisch auf der Außenterrasse.

Ich sah, dass Shawna online war, also wartete ich ihre Antwort ab.

Ich wechselte zu meinen Nachrichten, scrollte, bis ich Clarissa fand, die zufällig auch online war, und tippte.

Ich: Hey, Clarissa, reservierst du mir für morgen einen Tisch draußen zu acht? Danke!

Ich verdrehte schmunzelnd die Augen, verstaute das Handy wieder in meiner Hosentasche und schnappte mir den Papierstapel, um ihn in Roberts Büro zu bringen.

Kurz überlegte ich, ein Beweisfoto zu schießen, denn ich wurde das Gefühl nicht los, dass er nur nach Gründen suchte, mich loszuwerden. Ich war die einzige Person im ganzen Gebäudekomplex, die nicht vor ihm kuschte, als wäre er so etwas wie ein König. Und das hasste er. Vermutlich hätte er mir schon längst gekündigt, aber ohne Vorwand konnte er das nicht tun, denn das Schlusswort sprach Mr. Tamayo, unser Big Boss.

Ein Beweisfoto zu machen, kam mir albern vor, also entschied ich mich dagegen und war einfach froh, dass ich den restlichen Abend meine Ruhe vor Rob hatte.

Kapitel 2

Florence

Ich liebte das Coconight. Und noch mehr liebte ich, hier zu arbeiten. Vielleicht, weil es mich an den Part meiner Vergangenheit erinnerte, den ich nur widerwillig hinter mir gelassen hatte. Die ausgelassene Atmosphäre in Bars, die tiefsinnigen Gespräche mit völlig Fremden, die man vermutlich niemals wiedersah. Das Durchatmen, wenn alle anderen schon schliefen, und die sanfte Nachtbrise, die einem um die Nase wehte, wenn man im kühlen Morgengrauen den Heimweg antrat.

Doch all das aufzugeben, hatte sich gelohnt, denn hier in Shore Mana war ich sicher. Ich stand nicht mehr mit Bauchschmerzen vor meiner eigenen Wohnungstür, Zweifel im Nacken, ob ich nicht einfach umdrehen und verschwinden könnte. Ich brauchte keine Angst mehr vor dem zu haben, was mich hinter der Tür erwartete. Fraser war unberechenbar gewesen. Auch wenn er mir gegenüber nie handgreiflich geworden war, hatte er tiefe Narben in mir hinterlassen. Auf meiner Seele, in meinem Herzen und wofür ich ihn wirklich verachtete: in meinen eigenen Erinnerungen. Vermeintlich großartige Momente, die ich mit der Band gehabt hatte, verschwammen unter einem Grauschleier aus Wut darüber, wie er mich behandelt hatte. Und Wut auf mich selbst, nicht früher gegangen zu sein. Worüber ich wohl nie hinwegkommen würde, war, dass er mir den Spitznamen verdorben hatte, den mir Mom einst gegeben hatte: Vögelchen.

»Flo?« Kalea wedelte mit der Serviette ihres Cocktails vor meiner Nase herum. Ich schreckte ertappt zusammen. »Alles okay?« Kalea legte grinsend den Kopf schief und hob eine Augenbraue an, als würde sie mich durchschauen. Eigentlich hatte ich mich gefreut, dass sie mir während meiner Schicht Gesellschaft leisten wollte, nun wollte ich ihrem bohrenden Blick entkommen.

Ich sammelte mich schnell und tarnte den Schrecken mit einem lächelnden Kopfschütteln. »Sorry, ich habe an gar nichts gedacht«, log ich. »Ich bin echt müde. Wie spät ist es?«

»Sicher.« Kalea fuhr mit dem Zeigefinger den Glasrand des Gin Martini entlang, den ihr bester Freund, der zeitgleich ihr Ex-Mann war, für sie bestellt hatte. Shit. Sie glaubte mir kein Wort. Trotzdem drehte sie ihr Handydisplay zu mir herum, um meine Frage zu beantworten. Es war bald Mitternacht und das Coconight noch immer voll, was mich nicht wunderte, denn neben dem Oasis waren wir der einzige Ort, an dem zu dieser Uhrzeit noch was los war. Heute war ich an der Bar eingeteilt und mixte Cocktail nach Cocktail. Eine willkommene Abwechslung, denn meistens kellnerte ich und spürte am Ende der Schicht meine Füße nicht mehr.

Ich schnappte mir ein feuchtes Geschirrtuch vom Tresen und peitschte es in ihre Richtung. »Wirklich, ich bin müde!« Ich ignorierte das Zwicken in meiner Magengegend, das mich tadelte, meine beste Freundin nicht anzulügen. Doch was sollte ich tun? Ich konnte Kalea wohl kaum erzählen, wohin meine Gedanken abdrifteten. In letzter Zeit immer öfter. Ich hätte nicht gedacht, dass es mich so belasten würde, nicht zum fünfzehnten Geburtstag meines Bruders Flynn nach Chicago geflogen zu sein. Die Gewissensbisse wurden jeden Tag stärker. Ich vermisste ihn und meinen Dad so sehr.

Und diese Unruhe brachte mich dazu, ständig online zu checken, wo sich Fraser und die Band aktuell aufhielten. Wo sie spielten und ob es noch weit genug von Hawaii entfernt war, sodass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte, ihm plötzlich wieder gegenüberzustehen. Es war ein Zwang, den ich nicht ausstellen konnte.

»Wann hast du Feierabend?« Kalea wischte sich erschöpft über das Gesicht. »Diese Frau muss wirklich ins Bett.« Sie wies mit dem Zeigefinger auf ihre Brust.

»Ihr müsst nicht auf mich warten«, erklärte ich ihr schmunzelnd und wandte ihr den Rücken zu, um das Glas zurück auf das Regalbrett hinter mir zu stellen, von dem eine Lichterkette mit winzigen Glühlampen herunterbaumelte. Als ich mich wieder zu ihr herumdrehte, hatte Basilton, der kurz in den Waschräumen verschwunden gewesen war, wieder neben ihr auf dem Barhocker Platz genommen. »Wie machst du das, bist du ein Geist?«

Er zuckte mit den Schultern, doch konnte er mich nicht täuschen. An seinem Mundwinkel zog ein Grinsen. »Vielleicht bist du eine lahme Ente.«

Ich verdrehte die Augen und war wütend auf mich selbst, weil mir keine passende Erwiderung einfiel. Zwischen Basilton und mir herrschte etwas, das man als einvernehmlichen Waffenstillstand mit dem Hang zu Mini-Kriegen bezeichnen konnte. »Wann reist du noch mal ab? Ohne dich ist’s hier viel schöner.«

»Nächste Woche. Sorry, Florence. Aber keine Sorge, ich werde oft mit Deac und Malio Zeit verbringen, er reist die Tage auch kurz an.«

»Wunderbar.« Ich wandte mich an meine beste Freundin. »Sei froh, dass ich den für dich freiwillig ertrage«, murrte ich und deutete in Basiltons Richtung. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie ein Gast nach mir winkte, und ich nickte ihm zu, um ihm zu suggerieren, dass ich mich gleich um seine Bestellung kümmern würde.

»Freiwillig, ja?« Kalea lächelte. »Ich werde nicht aufgeben, bis ihr euch leiden könnt«, erklärte sie mit erhobenem Zeigefinger, wobei mir nicht entging, dass sie leicht lallte.

Ich warf einen Blick auf ihr Glas, auf dessen Grund eine kümmerliche Perlzwiebel lag. Kalea trank fast nie, und dementsprechend schnell hatte sie einen gewissen Pegel erreicht. Ehe ich mich dem blonden und eindeutig sehr gut aussehenden Typen zuwandte, der gerade an die Bar getreten war, angelte ich nach einem Glas neben der Spüle, füllte es mit Leitungswasser und tauschte es gegen das Martiniglas. »Trink«, forderte ich sie auf, dann schlenderte ich die paar Schritte zum anderen Ende der Bar, wo der Typ geduldig auf mich wartete. »Hey, was kann ich dir bringen? Bier? Cocktail? Chili-Käse-Pommes? Burger? Soda? Tequila?«

»Deine Handynummer?« Er grinste mich siegessicher an, als wäre es ihm egal, ob ich ihm einen Korb gab oder nicht. Ich hoffte, dass ich ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde perplex anschaute, und schaltete schnell, griff nach dem Kugelschreiber, den ich an meine schwarze Schürze gesteckt hatte, und schnappte mir sein Handgelenk. Seine Unterarme waren kräftig, und die Haare hatten die gleiche blonde Färbung wie die auf seinem Kopf. Ich drehte den Arm herum und kritzelte ihm auf die Haut, nachdem ich einen flüchtigen Blick nach unten auf den Dienstplan geworfen hatte, der uneinsehbar für die Gäste an der Bar hing.

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Ich schnipste ihm gegen den Arm, damit er ihn vom Tresen nahm. »Das ist keine Handynummer.« Lachend fuhr er sich durchs Haar, und ich konnte ihm ansehen, dass er versuchte, den Sinn meiner Nachricht zu entschlüsseln. Ich konnte fies sein.

»Ach was, Sherlock«, grinste ich, warf mir meine blonden Haare, die ich heute in offenen Beach Waves trug, auf den Rücken, zwinkerte ihm zu und machte Anstalten, auf dem Absatz umzukehren.

»Ich hab’s«, triumphierte er und tippte auf seinen Arm. »Morgen um sieben vor dem Coconight?« Er folgte mir auf der anderen Seite des Bartresens, bis er neben Bas hielt, der seltsam amüsiert zwischen mir und ihm hin und her sah.

»Bis morgen«, verabschiedete ich ihn und tat, als müsste ich dringend eins der Gläser polieren.

»Ich bin Noah, verrätst du mir noch deinen Namen?« Er grinste vergnügt.

Ich nickte. »Ja. Morgen vielleicht.«

Lachend schüttelte er den Kopf und klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Tresen. »Ich mag dich jetzt schon«, rief er mir im Gehen zu und verschwand im Getümmel.

»Jeder mag sie«, mischte sich Kalea ein, als stünde Noah noch neben uns. »Außer mein Ex-Mann. Der will sie einfach nicht mögen, und niemand weiß, wieso. Er ist ein Griesgram, guck!« Sie pikste Bas in die Wange, der daraufhin passenderweise eine Grimasse zog, als stünde er unter seiner persönlichen Gewitterwolke.

»Süße, geh schlafen«, prustete ich. »Dein Tag war lang.«

»So lang wie Spaghetti?« Sie legte ihre Stirn auf ihren Unterarmen ab.

»Basilton, was hast du getan?« Ich deutete auf meine beste Freundin.

Er grinste wissend. »Die Magie des Gin«, erklärte er, ohne wirklich etwas zu erklären.

Kalea regte sich nicht. »Kali? Was tust du da?« Ich stupste sie mit dem Zeigefinger an.

Sie antwortete mir, ohne den Kopf zu heben, und ihre Worte drangen gedämpft nuschelnd zu mir. Ich hatte Schwierigkeiten, sie über die Musik hinweg zu verstehen. »Schlafen? Du hast doch gesagt, ich soll schlafen.«

»BASILTON«, donnerte ich, sodass er zusammenzuckte. »Bring sie sofort nach Hause, du bist unverbesserlich.«

»Ich?« Er schnaubte lachend. »Ich bin unverbesserlich? Du hast ihr den Drink gemixt. Außerdem, fass dir lieber an deine eigene Nase.«

»Was soll das denn heißen?«

»Schaffst du es einen einzigen Tag oder Abend allein zu überstehen?« Er rutschte vom Barhocker und schulterte Kaleas Rucksack. »Ohne Arbeit, ohne Kalea, ohne Date?«

»Das geht dich überhaupt nichts an, Basilton«, zischte ich ihm zu und konnte ihn augenblicklich noch weniger leiden als vorher. Was bildete er sich ein? Nur weil er seit Kalea anscheinend kein Interesse mehr an Dates hatte, musste ich nicht leben wie eine Nonne. Was bitte sprach dagegen, meine Abende nicht allein zu verbringen?

»Ich meine ja nur.« Er zuckte mit den Schultern, und in seinem Blick blitzte eine Ernsthaftigkeit auf, die mir die Kehle zuschnürte. »Man muss auch gern mit sich selbst allein sein können, weißt du?«

»Danke für die Therapiestunde, um die ich nicht gebeten habe, Mister Conteville.« Ich presste jedes Wort hervor, da ich mich beherrschen musste, ihm nicht die wüstesten Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Er konnte froh sein, dass ich hier auf der Arbeit war und nicht so frei und aufbrausend sein durfte, wie ich nun einmal war. Keine Ahnung, was Basiltons Problem war. Gott, was hatte Kalea nur jemals an ihm gefunden? »Es geht dich nun wirklich gar nichts an, wie und mit wem ich …«

»Vergiss es, Florence. Ich hab nichts gesagt, okay?« Er hob die Hände über seinen Kopf. »Du hast recht, es geht mich nichts an, und eigentlich interessiert es mich auch nicht, wenn ich genauer darüber nachdenke. Sorry.«

Sorry? Was? Ich starrte ihn verwirrt an. »Gut.« Ich schluckte und verengte die Augen zu Schlitzen. »Bring jetzt bitte meine beste Freundin heim«, bat ich ihn erneut, einfach, um irgendetwas zu erwidern.

»Du musst immer das letzte Wort haben, oder?« Er stieß Kalea mit seiner Hüfte an, die ein tiefes Brummen von sich gab und sich ansonsten nicht rührte. »Komm schon, Lea, der Gin tut mir leid.«

Ich fasste nach Kaleas Ellenbogen, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Bas bot ihr seine Hand an und sie schmiegte sich müde an ihn.

»Bis dann, Florence.« Er hielt sich salutierend zwei Finger an die Stirn und wartete gar nicht erst ab, ob ich etwas erwiderte. Was ich nicht tat. Ich war nur froh, dass er das Coconight verließ, damit ich das Gefühl hatte, atmen zu können. Man muss auch gern mit sich allein sein können. Seine Worte hallten in mir wider, und ich schnaubte. Was wusste der denn schon?

Kapitel 3

Deacon

Ich war froh, mit Shawna ausgegangen zu sein. Wir hatten sehr viel Spaß. Doch auch ein so großartiges Date konnte meine Meinung über Beziehungen nicht ändern. Denn ich war mir sicher, dass ich auch ohne diese große Liebe, von der alle sprachen, ein erfülltes Leben führen konnte. Ohne Frau, ohne Kinder – vielleicht mit einem Hund. Ich wollte keine Beziehung, wollte mich nicht an eine Frau binden, deren Herz ich früher oder später brechen könnte, weil sie sich ihr Leben auf eine Art und Weise vorstellte, die ich ihr nicht erfüllen konnte. Ich blieb lieber allein, datete, hatte Spaß.

Das Glas absetzend ließ ich den Blick über den Strand schweifen, der vor einer Stunde in der Nacht verschwunden war. Vom Shore Mana Bay Grill führte ein von Fackeln gesäumter Weg aus Holzbrettern bis zum Ufer hinab. Je nach Wellengang platzierten Clarissa und ihr Team dort unten ein paar Liegestühle für die Gäste, doch heute zeigte sich die See eher von ihrer rauen Seite. Das Rauschen war so laut, dass ich fast nicht bemerkt hätte, wie Shawna von der Toilette zurückkam.

Sie war super, ehrlich. Ich hatte die letzten zwei Stunden in ihrer Gesellschaft sehr genossen, denn sie war redegewandt, machte einen sicheren Eindruck und sah dazu schön aus. Sie trug einen lässigen dunkelgrünen Jumpsuit, die breiten Hosenbeine endeten auf der Mitte ihrer Waden, und die Füße steckten in weißen Sneakers mit Klettverschluss. Ihre dunkelbraune Mähne hatte sie in zwei Dutts gezähmt, die mich an Minnie Mouse erinnerten, ihr aber trotzdem kein kindliches Aussehen verliehen. Sie war die Eleganz in Person, was vielleicht an den goldenen Creolen und dem Ring lag, der ihr rechtes Nasenloch zierte. Shawna wäre eine tolle Partnerin. Nur eben nicht für mich. Und das musste ich ihr irgendwie verklickern, denn ihre Augen strahlten mich hoffnungsvoll an, als sie ihren Stuhl zurückzog, um sich zu setzen.

Mein Blick fiel hinter ihr auf Kaleas beste Freundin Florence, die just in diesem Augenblick lachend den Kopf in den Nacken warf. Sie war mit einem blonden Typen da, bestimmt ein Tourist. Ich mochte ihr Lachen und schmunzelte in mich hinein, denn es war nicht das erste Mal, dass wir uns mit unseren jeweiligen Dates zufällig in derselben Bar oder im selben Restaurant befanden. Und doch hatten wir in diesen Situationen nie ein Wort miteinander gewechselt.

»Willst du noch etwas trinken?« Ich nickte lächelnd zu Shawnas geleertem Weißweinglas.

»Wiederholen wir das hier?« Sie umging meine Frage und kam auf den Punkt. Verdammt, sie mochte mich. Und ich sie ja auch. Nur eben nicht so. Shit.

Ich seufzte, brach unseren Blickkontakt ab und schüttelte lächelnd den Kopf. »Hör mal«, begann ich, doch sie unterbrach mich.

»Dein Ernst, Deacon?« Sie schnaubte ungläubig, und ich richtete den Blick wieder zu ihr. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf schief gelegt und lächelte offen. »Das verwirrt mich. Ich erkenne doch, dass du mich magst. Oder willst du mir erzählen, wir sind die letzten zwei Stunden nicht auf einer Wellenlänge gewesen? Mit tut sogar der Bauch vom Lachen weh! Vielleicht auch von den pikanten Nachos, aber doch eher vom Lachen.«

Verdammt, Shawna war großartig und hatte ein ausgereiftes empathisches Gespür. »Doch, sind wir. Absolut.« Ich grinste und legte den Kopf ebenfalls schief, sah sie unverwandt an. »Du bist echt eine tolle Frau, und wenn ich auf der Suche nach einer Beziehung wäre, würde ich nicht lange fackeln.«

»Oh bitte«, schnaubte sie und fuhr sich mit einer Hand über die Haare. »Wollen wir das nicht alle?«

Unsicher, was sie damit meinte, zuckte ich die Schultern. »Wollen wir was nicht alle?«

»Einen Partner, eine Familie, jemanden, mit dem man sein Zuhause teilt? Jemand, der das Zuhause wird? Jemand, der dafür sorgt, dass man nicht Abend für Abend in eine verlassene Wohnung zurückkehrt?«

Ihre ungefilterten Worte verschlugen mir die Sprache, und mit einem Mal erkannte ich den Schmerz in ihrem Blick. Plötzlich war es, als hätte Shawna einen Vorhang fallen lassen, hinter dem sich etwas verbarg, das zerbrechlicher war als Glas. »Nein«, entgegnete ich mit fester Stimme und meinte es auch so. »Ich nicht.«

Shawnas Augen verengten sich, und ich wagte es nicht wegzusehen. Zu gern hätte ich ihre Gedanken in diesem Moment gelesen. »Du weißt es nur noch nicht«, erklärte sie mir und wiegte sanft ihren Kopf von einer Seite zur anderen. »Glaub mir, auch du willst es.«

Ich spürte, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. »Shawna. Wirklich nicht«, beharrte ich. »Ich verbringe meine Abende gern genau so.« Ich deutete mit den Fingern zwischen uns hin und her. »Ich lerne neue Leute kennen, und manchmal sind so tolle dabei wie du. Aber am Ende möchte ich allein sein, nur für mich, eben ein bisschen egoistisch. Diese Freiheit gebe ich nicht auf, weißt du?«

Shawna atmete tief durch, und ohne Vorwarnung traf mich die Spitze ihres Schuhs am Schienbein. »Du bist ein ehrlicher Arsch, ich hoffe, das ist dir bewusst. Aber ich danke dir, dass du es direkt geklärt hast. Ich nehme noch ein Glas Weißwein, aber du zahlst es.«

»In Ordnung.« Ich rieb mir grinsend über das Bein und winkte mit der anderen Hand Clarissa zu, die sich ein Lachen verkniff. Garantiert hatte sie gesehen, wie ich getreten worden war. Für sie war ich ein unverbesserlicher Junggeselle, der eine Frau nach der nächsten abschleppte, doch sie ahnte nicht, mit wie wenigen ich tatsächlich ins Bett stieg. Denn das tat ich ausschließlich, wenn ich die Fronten geklärt hatte und das Angebot von der Frau ausging. Ich war kein Casanova, aber auch kein Mönch.

Shawna räusperte sich, nachdem Clarissa mit unseren Getränkewünschen verschwunden war. »Ich will, dass du weißt, dass ich deine Meinung akzeptiere. Aber ich glaube dir das nicht. Du wirst irgendwann unglücklich sein, wenn du nicht irgendjemanden auch nur ansatzweise an dich heranlässt.« Sie schnappte sich den letzten Nacho-Chip aus dem Korb und steckte ihn sich in den Mund. »Aber keine Sorge, ich versuche es nicht noch mal«, sagte sie grinsend, und ich erwiderte es. Ich war mir mehr als sicher, dass ihre Worte nicht stimmten. Warum sollte ich irgendwann unglücklich sein, wenn ich es jetzt nicht war? Mir gefiel mein Leben, meine Freiheit. Klar, mein Job war eine Baustelle, doch nichts, das ich nicht angehen konnte. Ansonsten war alles genau so, wie ich es mir wünschte.

Eine leise Stimme in meinem Hinterkopf meldete sich, und sie klang nicht ganz so unbekümmert. Was hatte ich denn schon für eine Wahl?

Kapitel 4

Florence

»Ich bin spät dran, ich bin spät dran, ich bin spät dran. Mist, Mist, Mist..« Die henkellose Supermarkt-Papiertüte mit einer Hand vor der Brust balancierend, fummelte ich den Schlüsselbund aus der Hosentasche meiner Jeansshorts. »Bitte, hab noch nicht angerufen«, flehte ich und brauchte drei Anläufe, bis der Schlüssel in das Haustürschloss rutschte. Eiskalte, muffige Luft, die dem Alter des Hauses geschuldet war, wehte mir entgegen, und ich genoss das kurze Prickeln der Kühle auf meinen nackten Schultern.

Meine Wohnung befand sich mitten in der Einkaufsmeile Shore Manas, wenn man diese überhaupt so nennen durfte, eingepfercht zwischen dem Liquor-Store und einem Süßwarengeschäft. Je nach Tagesform fand ich mich an den Weinregalen oder inmitten bunter Kariesbomben wieder. Ab und zu klapperte ich die beiden Geschäfte auch nacheinander ab, doch meistens hielt ich nur ein Pläuschchen mit Paopao und Seda, denen die Läden gehörten. Ich konnte nicht behaupten, dass ich besonders sparsam war, denn wofür sollte ich es sein? Seit Jahren lebte ich sowieso von einem zum nächsten Tag. Ich hatte Rücklagen aus der Zeit, in der ich sowohl in der Anwaltskanzlei als auch als Sängerin gearbeitet hatte, die ich niemals antastete. Das gab mir ein ausreichendes Gefühl von Sicherheit. Es war mein Sicherheitsnetz, das mich davor bewahrte, mir sämtliche Knochen zu brechen.

Ich stieg die Holztreppe in den ersten Stock hoch, deren Stufen unter jedem Schritt ächzten und quietschten. Wenn ich Glück hatte, würde meine Nachbarin Mrs. Menali, uralt, mittlerweile länger verwitwet als verheiratet gewesen, Katzenlady bei vollstem Verstand, mich nicht wieder abfangen, um mir von den neusten Entwicklungen ihrer liebsten Seifenoper zu berichten. Ich verbrachte gern Zeit mit ihr, sie erzählte die besten Geschichten. Doch heute war ich mit meinem kleinen Bruder zu einem Online-Videocall verabredet. Und diese waren selten.

Kurz nachdem ich untergetaucht war, hatte ich mich nicht getraut, mich zu melden. Was ich bereute, denn wie ich erfuhr, hatten Dad und Flynn Todesangst um mich gehabt. Gerade weil die wildesten Spekulationen und Gerüchte durch die Szene gewabert waren, auch von einer angeblichen Überdosis war die Rede gewesen, dabei hatte ich nicht einmal in meinem Leben Drogen genommen.

Ich lehnte mich mit dem Oberkörper gegen meine mintgrün lackierte Haustür, die Papiertüte dazwischen, was ich bereute, als ein unheilvolles Krachen mir verriet, dass ich den Joghurt zerquetschte. »Ach verdammt«, fluchte ich, während ich weiterhin versuchte, das Schlüsselloch zu treffen. »Dass ich immer so faul sein muss«, tadelte ich mich selbst und beäugte meine Einkäufe finster. Hätte ich sie einfach kurz abgestellt, würde ich heute Abend nicht den Mango-Haferjoghurt aus dem Beutel kratzen müssen.

Die Tür schwang auf, und ich fiel hinterher, als hätte ich es nicht kommen sehen können, und hielt mich gerade so mit beiden Händen am Türrahmen fest. Glücklicherweise war keine meiner drei Nachbarinnen Zeugin meiner akrobatischen Künste geworden. Meine Einkäufe fielen mir dabei natürlich herunter und meiner Kehle entkam ein freudloses Japsen, als sich der Inhalt des Beutels auf dem uralten Dielenboden verteilte. Die einzelne Orange, die ich gekauft hatte, zog eine Joghurtspur hinter sich her, was etwas von einem Tatort hatte, und ich kniff für einen Augenblick die Augen fest zu. Vielleicht hatte ich mir das nur eingebildet und ich war gar kein so hoffnungsloser Fall. Zögerlich blinzelte ich und legte stöhnend den Kopf in den Nacken. Doch, war ich. Manchmal fragte ich mich, wie ich überhaupt durch den Alltag kam. Im Job war ich souverän. Gewesen. Damals. Als Anwaltsgehilfin. Niemand wäre jemals auf die Idee gekommen, dass die Frau unter dem sexy Kostüm – ich hatte es mir nie nehmen lassen, mich sexy zu kleiden – eine Unterhose mit Snoopy trug, weil sie seit drei Wochen vergessen hatte, die Waschmaschine anzuwerfen.

Seit ich in Shore Mana war, war es schlimmer geworden. Ständig gingen mir Müllbeutel aus, in meinem Kühlschrank lagerten Tomatenmark, Zwiebeln und Nudeln, weil im Vorratsschrank kein Platz war. Aber es gab wohl kaum ein Gesetz, das besagte, dass man ungekochte Spaghetti nicht im Kühlschrank aufbewahren durfte, oder?

Ich fischte das Handy aus meiner Umhängetasche mit bunten Fransen und Federn, über die Malio sich lustig machte, indem er behauptete, sie sähe aus wie ein Punker-Hippie-Huhn. »Oh nein, nein, nein. Flynn!« Wenig elegant sprang ich im hohen Bogen über die Einkäufe, schob sie in den Flur, sodass ich die Tür schließen konnte, und hechtete in mein Schlafzimmer, wo mein Laptop auf dem Kissen thronte. Ich klappte ihn auf und fuhr flink mit dem Finger über das Touchpad, um in der Leiste das Skype-Symbol anzuwählen. Die Seitenleiste zeigte an, dass mein Bruder online war. Ohne eine weitere Sekunde zu verlieren, wählte ich seinen Namen an und klingelte durch.

»Hey, Sis«, grüßte er mich. »Hallo?«

»Hey, Moment, Flynni, ich muss nur kurz …« Ich warf mich bäuchlings aufs Bett und zog den Laptop zu mir heran, richtete die Kamera auf mein Gesicht und strahlte. »Hi, kleiner Bruder«, startete ich neu. »Sorry, ich hatte einen Unfall mit Joghurt und einer Tatort-Orange.«

Mein Bruder verdrehte grinsend die Augen. »Ich frage besser nicht nach Einzelheiten.«

»Wie geht es dir?« Mein Lächeln ließ meine Wangen verkrampfen. Es war nicht echt. Diese Videocalls mit Flynn waren schwer für mich, weil sie mir vor Augen führten, dass ich meinen kleinen Bruder im Stich gelassen hatte. Dabei war es völlig egal, dass ich keine andere Wahl gehabt hatte. Ich vermisste ihn und Dad. Am liebsten würde ich jeden Tag mit ihnen sprechen, doch gleichzeitig tat es weh.

»Hier ist alles beim Alten. Schule, Dad, du weißt schon.« Er winkte ab und fuhr sich durch seine blonden Locken, die ihm in die Augen fielen.

»Hübsche Frise«, neckte ich ihn.

»Ebenso«, grinste er zurück, und ich erkannte im Videobild von mir selbst, dass mir Joghurt in den Haaren klebte. »Ist das …«

»JOGHURT«, betonte ich mit Nachdruck und spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. »Das ist Mango-Haferjoghurt, falls du es genau wissen willst.«

Flynn hob amüsiert eine Augenbraue an. »Wollte ich nicht, aber danke für die Info.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, und mein Blick fiel auf sein schwarzes Shirt, auf dem ein roter Bulle mit dem Schriftzug Windy City Bulls, seiner liebsten Basketballmannschaft der NBA G-League, prangte.

»Spielst du noch im Schulteam?« Ich versuchte mich an SmallTalk.

Er nickte. »Klar.«

»Wie geht es Dad?«

»Gut.« Mein Bruder hatte plötzlich etwas sehr Wichtiges auf seinem Schreibtisch liegen, denn er sah zur Seite.

»Flynn?«, hakte ich nach und hoffte, meine Stimme klang nicht nach strenger Mathelehrerin.

Er biss sich von innen auf die Wange, und die folgenden Worte drangen aufgrund meiner lausigen Internetverbindung nur abgehackt zu mir. »Dad … neue … Freundin … peinlich.«

Dad hatte eine neue Freundin? Hatte ich das richtig verstanden? Wow. »Das, wow, das ist, wow, also«, stammelte ich, unsicher, wie ich reagieren sollte. Dad hatte seit Moms Tod vor fünfzehn Jahren andere Frauen nicht mal angesehen, denn er war der festen Überzeugung gewesen, sich kein zweites Mal so verlieben zu können wie in meine Mom, und deswegen hatte er es nie in Erwägung gezogen. Das hatte er mir, uns, immer wieder versichert. »Ist sie nett zu dir?«

Flynns Mundwinkel hüpfte nach oben, und er nickte. »Sehr sogar. Und Carol kocht gern. Ich hätte ja nicht gedacht, dass es in diesem Haus mal etwas anderes gibt als Fertiggerichte oder Dads …«

»Dads Ofengemüse?«, beendete ich seinen Satz und schluckte den Kloß herunter, der mir schmerzhaft in der Kehle hockte. Carol. Warum machten Namen alles so viel realer? »Es tut mir leid«, murmelte ich, ohne genauer darauf einzugehen, was mir überhaupt leidtat, weil es so viel war, und fuhr mir mit den Fingern über die Augen. Schwarze Spuren an meinen Fingerspitzen erinnerten mich daran, dass ich geschminkt war, und ich rieb sie aneinander, bis die Flecken sich in Luft aufgelöst hatten.

»Zoe«, seufzte er, und ich zuckte beim Klang dieses Namens zusammen, versuchte mir aber nichts anmerken zu lassen. Er löste eine Flut an Emotionen und Erinnerungen aus. Erinnerungen an Chicago, an Mom, Dad, Flynn. An Fraser und die Karriere, an deren Startlinie ich gestanden hatte, nur um mich direkt ins Aus zu katapultieren.

Diesen, meinen, Namen zu hören war so schwer zu ertragen, weil es sich wie Verrat anfühlte, den Namen abgelegt zu haben, den meine Familie mir gegeben hatte. Ich hatte ihn von mir geschüttelt wie ein ungeliebtes Kleidungsstück. Außerdem hingen Träume und Wünsche an diesem Namen, die sich ein für alle Mal ausgeträumt hatten. »Es ist echt okay, ja?« Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, doch ich wusste, dass es fake war. »Außerdem kannst du nicht kochen, und deine Anwesenheit hätte in puncto Ernährung nichts geändert.«

»Seit wann bist du so frech?« Ich schüttelte lachend den Kopf und fasste mir mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Ach ja. Seit immer, stimmt ja«, alberte ich herum und stieß das schlechte Gewissen in mir zurück. So gut es ging.

»Und wie läuft es bei dir? Jobbst du noch in dieser Bar?« Er legte den Kopf schief, und irgendetwas an seinem Blick war so erwachsen, dass ich es ihm am liebsten aus dem Gesicht gewischt hätte. Er sah ein bisschen so aus, als würde er meine Jobwahl nicht gutheißen. Als wäre er ein enttäuschtes Elternteil, das der Meinung war, ich würde mein Leben wegwerfen.

»Mittlerweile arbeite ich dort fest, kein Teilzeitjob mehr, und ja, ich mag es.« Tat ich. Wirklich. Ich liebte meinen Job, denn wenn ich selbst nicht mehr diejenige sein konnte, die für Musik, Gesang, Atmosphäre sorgte, konnte ich im Coconight zumindest inmitten von alldem arbeiten. »Die Karaokeabende sind die besten«, erklärte ich und biss mir lächelnd auf die Unterlippe.

»Du gewinnst bestimmt immer, oder?«

»Ich nehme selten teil. Ich singe dafür die Songs der DJs mit. Nur für mich, verstehst du?«

Er schüttelte den Kopf und atmete tief durch. »Du weißt, dass du auf eine Bühne gehörst. Vielleicht sogar auf die größten des Landes. Oder der Welt. Du bist die beste Sängerin mit der außergewöhnlichsten Stimme, die ich kenne.«

Ich seufzte, seine Worte schmerzten mehr, als ich vor mir selbst zugeben wollte. »Flynn. Das ist vorbei, okay? Das ist nicht mehr wichtig.«

»Das muss es aber nicht sein, vielleicht findest du eine neue Band und …«

»Flynn Palms, lass gut sein, ja?« Es fiel mir unheimlich schwer, die Wärme in der Stimme zu behalten. »Ich kann nicht mehr auf die gleiche Weise singen wie damals. Niemand hier weiß von meiner Bandgeschichte, ich habe mir ein neues Leben aufgebaut.« Ich biss mir auf die Zungenspitze, denn fast wäre mir herausgerutscht, was ich seit Jahren vor Flynn zurückhielt: Dass meine Angst, von ihm gefunden zu werden, zu groß war. Außerdem wusste ich selbst nicht einmal mehr, ob die Erfahrungen mit Shadows Brew, der Band, mir nicht sowieso die Freude genommen hatten. Die Freude am Singen. Daran, aufzutreten, meine Songs zu performen.

»Und dein altes einfach zurückgelassen wie einen schimmeligen Müllbeutel, schon klar, Zoe.« Mein Bruder war verletzt. Er war es seit Jahren, und immer wieder machte er mir Vorwürfe – was ich ihm nicht verübeln konnte. »Scheiße, es tut mir leid. Hör mal, ich muss Hausaufgaben machen.« Er würgte mich ab, und ich hasste diese Unehrlichkeit.

»Welches Fach?«

»Literatur.«

»Was lest ihr?« Ich setzte mich auf und nahm den Laptop auf meinen Schoß, ehe ich vom Bett aufstand und barfuß in die Küche tapste, wo ich Flynn auf dem Stehtresen abstellte.

Er schluckte und schielte ertappt zur Seite. »Okay, ist ja gut, keine Hausaufgaben.«

»Flynni.« Ich schenkte ihm ein resigniertes Zungenschnalzen. Seinem Augenverdreher nach zu urteilen fürchtete er, welche Ansprache ich ihm jetzt hielt. »Du brauchst keine Ausreden zu erfinden, ja? Niemals, bei niemandem. Erst recht nicht bei mir. Wenn du auflegen möchtest, weil du dich nicht wohlfühlst, dann sag mir das. Sag, dass du das Gespräch beenden willst. Setze …«

»Setze Grenzen, ich weiß, ich weiß, bla bla bla.« Er winkte ab, und ich stemmte empört die Hände in die Hüften.

»Bla bla bla?«

»Du bist meine Schwester, dieses Grenzensetzen fühlt sich da nicht richtig an«, gab er zu.

»Familie oder nicht«, ich schüttelte vehement den Kopf, »das tut nichts zur Sache, ja?«

»Zoe?«

Ich atmete tief ein. »Ja?«

»Ich möchte auflegen, okay?« Er brachte ein müdes Lächeln zustande.

»Flynni?« Ich erwiderte es und wischte mir eine Haarsträhne hinter das Ohr. Die Strähne mit dem Joghurt dran, wie ich direkt darauf feststellen musste, als das feuchte Zeug an meiner Fingerkuppe klebte.

»Ja?«

»Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch.« Er hob die Hand an, um mir zu winken.

»Grüß Dad, ja? Und«, ich schluckte, »und Carol.«

Er schluckte auch und nickte. »Klar, mach ich.«

Weg war er. Und schon übermannte mich diese Leere, die ich so hasste. Diese Ruhe, diese Stille, dieses Alleinsein. Die Frage, was ich hier tat, ob es richtig war. All diese Gefühle übermannten mich, und das nur, weil ich mit meinem Bruder gesprochen hatte, als wäre er nicht Tausende Meilen entfernt. Ich stand dort, gefangen in einer Schockstarre, als könnte ich es nicht fassen, wieder allein zu sein. Ich konzentrierte mich auf die Umgebungsgeräusche. Auf das Stimmengewirr, das durch meine alten Fenster drang, auf das Rauschen von Wasser in den Rohren. Vermutlich kochte sich eine meiner Nachbarinnen einen Kaffee. Vielleicht sollte ich eine von ihnen besuchen gehen. Einfach, um nicht mutterseelenallein in der Küche zu stehen, in der ich mich nie wohlgefühlt hatte. Meine ganze Wohnung war für mich nichts weiter als ein Ort, an dem ich schlief, duschte, ab und zu aß und … Songs schrieb. Songs für mich, Songs, die für niemandes Ohr mehr bestimmt waren.

Ich lauschte weiter, wartete auf ein ganz bestimmtes Geräusch. Manchmal, ganz selten, wehte in den frühen Nachtstunden eine Melodie aus Gitarrenklängen durch meine Fenster zu mir heran. Ich wusste nicht, woher sie kam oder wer sie spielte. Als wären wir zwei Kometen, die um die gleichen Harmonien kreisten, ohne uns jemals berühren zu können. Ich wusste nur, dass sie mich immer wieder rettete. An manchen Abenden versuchte ich, einen Song für sie zu schreiben. Einen Song für die Melodie, die mehr als einmal für mich da gewesen war, doch vermutlich würde meinen Songtext sowieso niemand hören wollen, so deprimierend war er.

Heute erklang die Melodie nicht. Ich wollte nicht zugeben, wie sehr mich das gerade enttäuschte.

»Komm schon, reiß dich zusammen«, flüsterte ich mir selbst zu und entspannte die Hände, die ich unbemerkt zu Fäusten geballt hatte. Ich überlegte, Netflix oder Spotify zu öffnen, um mich berieseln zu lassen, doch dann klappte ich den Laptop zu und lief stattdessen in den Flur, wo ich mein Smartphone gelassen hatte. Heute war ein guter Tag für ein unverfängliches Date, oder? Blitzschnell öffnete ich die Datingapp, in der Anfragen darauf warteten, von mir beantwortet zu werden. »Nein, nö, nein, nope«, wischte ich weiter und hielt bei einem Kerl an, der lächelte und keinen zu ernsten Gesichtsausdruck an den Tag legte, weil er sich anstrengte, ein Sixpack in Szene zu setzen. Nicht, dass ich etwas gegen Sixpacks hätte, hell no. Aber ich hatte etwas dagegen, wenn ein Kerl sich so präsentierte. Heute war mir das allerdings egal.

Ich: Hey, heute schon was vor?

Ich erwartete nicht sofort eine Antwort und räumte meine Einkäufe weg. Das Handy vibrierte nur wenige Minuten später, und ich entsperrte das Display.

Ich: Richtige Antwort

Grinsend lehnte ich mich gegen den Küchentresen und machte mit diesem George eine Zeit und einen Ort für heute Abend aus.

Kapitel 5

Deacon

Es gab zwei Abende in der Woche, die früher fest verplant gewesen waren. Einmal der Donnerstagabend, den ich immer mit Malio im Nalu verbrachte, und der Sonntagabend bei meinen Eltern. Seit Malio wieder zurück nach New York City gegangen war, um sein Studium zu beenden, war mir nur der Sonntag geblieben, an dem ich mir keine Gedanken machen musste, wie ich den Abend rumkriegte. Ich schlenderte die Shore Main Street entlang, die untergehende Sonne im Nacken. Ich war direkt von zu Hause ausgezogen, als ich mein Studium an der University of Shore Mana begonnen hatte. Finanziell war das vielleicht nicht meine beste Idee gewesen. Für uns Einheimische wurde es immer enger, das pure Überleben für so viele zu einem tagtäglichen Kampf. Die Schattenseiten Hawaiis weiteten sich stetig aus, doch Touristen konnten easy die Augen vor ihnen verschließen.

Sie waren es ja auch nicht, deren Häuser auf Land gebaut waren, das nach und nach von Investoren aufgekauft wurde, um darauf Luxus-Resorts oder noble Restaurants, die hier niemand en masse benötigte, zu errichten. O’ahu lebte vom Tourismus, doch bald würden es nur noch Touris oder zugezogene Reiche sein, die sich ein Leben oder einen Urlaub hier überhaupt leisten konnten. Ich jedenfalls konnte mich für meine Wohnung so glücklich schätzen. Damals hatte ich einen Studienkredit aufnehmen müssen, den ich vor Kurzem zurückgezahlt hatte, allerdings nur mithilfe meiner Eltern. Als Student hatte ich unabhängig sein wollen. Sosehr ich meine Eltern liebte: Sie gehörten zu der Sorte Mensch, die sich zu leidenschaftlich in meine Angelegenheiten einmischten, und ich war sicher, dass es unserem Verhältnis geschadet hätte, wäre ich geblieben.

Meine winzige Wohnung lag an einem Ende der Einkaufsmeile Shore Manas, und ich liebte sie. Sie hatte mir nicht nur die Unabhängigkeit geschenkt, sondern besaß den schönsten Ausblick. Garantiert hatten die Vermieter überhaupt nicht auf dem Schirm gehabt, dass der schmale Balkon, auf dem gerade so zwei Klappstühle und ein Tisch Platz fanden, den besten Blick über die Dächer der Stadt und entfernt sogar über das Meer hatte. Sonst könnten sie die Wohnung als mit Meerblick anbieten, wofür nicht einmal mein Gehalt, das für hawaiianische Verhältnisse okay war, im Ansatz ausreichen würde.

Den Tisch auf dem Balkon hatte ich dort mit Malios Hilfe angebracht. Ich gab es ja nicht gern zu, denn irgendwie galt das als unmännlich, doch an mir war wirklich kein Handwerker verloren gegangen. Ich war froh, dass ich es hinbekommen hatte, die Gitarrenhalterungen an meine Wand über dem Sofa zu bohren.

Ich hob den Arm an, um die Uhrzeit zu checken, da ich von hinten den Bus heranrollen hörte, und verdrehte die Augen. Wieder zu früh. Eigentlich war es egal, wann ich mich zur Bushaltestelle aufmachte, ich konnte eine Münze werfen, ob er kam oder nicht, und falls ja, ob er pünktlich war. Seufzend beschleunigte ich den Schritt und fischte zeitgleich das Portemonnaie aus der hinteren Hosentasche, in der sich meine Fahrkarte befand. Busse waren die einzigen öffentlichen Verkehrsmittel in Shore Mana, denn unsere kleine Inselstadt war genau das: klein. Im Grunde hätte ich auch einen dreißigminütigen Fußmarsch zu meinem Elternhaus unternehmen können, doch ich war spät dran, und es war teuflisch warm.

Ich streckte den Arm aus, um dem Busfahrer zu signalisieren, dass er mich mitnehmen sollte, und prompt stoppte er mit quietschenden Reifen. Ich hielt meine Fahrkarte unter den Scanner, der daraufhin piepste und rot blinkte wie ein wütender Weihnachtsbaum. »Nichtsnutziges Ding«, wetterte Kahekili, der alte Busfahrer, den ich seit Schultagen kannte, und winkte mich durch. Wieder eine kostenlose Fahrt für mich, lachte ich mir ins Fäustchen.

»Hey, Kahe«, grüßte ich ihn und schenkte ihm ein breites, minimal schadenfrohes Grinsen. »Guter Tag?«

Er schnaubte verächtlich, und doch blitzte da ein Lächeln durch seinen mittlerweile grau melierten Bart. »Dieses System ist Mist«, erklärte er mir zum hundertsten Mal. »Ständig fällt es aus. Ich wünsche mir die gute alte Münzzeit zurück.«

»Ich weiß, ich weiß.« Ich nickte ihm zu und ließ mich nahe der Mitteltür auf einem der abgerockten Sitze nieder. An meinem fehlte Stoff, sodass das Plastik darunter hervorlugte. In knapp zehn Minuten würde ich in der Palms Shadows Ave aussteigen, um zur Daydreams Road zu laufen, wo mein Elternhaus stand. Tief einatmend schloss ich die Augen und döste vor Müdigkeit fast weg. Ein Räuspern holte mich zurück, und ich blinzelte.

»Willst du nicht zu deinen Eltern, Junge?« Kahekili trommelte aufs Lenkrad, und ich sah erschrocken aus dem Fenster.

»Schon da? Oh!« Ich sprang auf und hechtete aus der Tür, wobei ich Kahekili zuwinkte. Meine Güte, war ich wirklich auf dieser kurzen Strecke eingepennt? Ich musste meine nächtlichen Schlafprobleme endlich in den Griff kriegen. Nur selten machte ich mir Gedanken über die Zukunft, aber wenn ich es mal tat, dann lag ich stundenlang wach.

Ich fuhr mir mit der Hand über das Gesicht und holte tief Luft, was ich direkt bereute, denn es war so heiß, dass es sich anfühlte, als atmete ich pure Heizungsluft ein. Am Ende der Straße sah ich etwas Graues über die Wege flitzen und schmunzelte. Fred, der Waschbär, der hier länger sein Unwesen trieb, als ich mich erinnern konnte. Er zog eine Spur Müll hinter sich her, und ich checkte kurz die Zeit. Wenn ich mich beeilte, würde ich es schaffen, seinen Unrat aufzusammeln und trotzdem rechtzeitig bei Mom und Dad zu sein. Insbesondere Mom konnte Unpünktlichkeit überhaupt nicht leiden.

Ohne länger zu überlegen, sprintete ich zum anderen Ende der Palms Shadows Ave, vorbei an Malios Elternhaus, wo Noelani, Malios kleine Schwester, aus der Tür trat. Ich winkte ihr grinsend zu, und sie hob ebenfalls den Arm zu einem Gruß an. Flink sammelte ich so viel ein, wie ich ohne Beutel oder Eimer tragen konnte, entledigte mich des Mülls in unsere Tonne und fummelte meine Schlüssel aus der Hosentasche. Zum Aufschließen kam ich jedoch gar nicht, denn die Tür wurde aufgezogen.

»Du bist spät!« Mom hatte die Arme in die Hüften gestemmt, allerdings zupfte ein zartes Grinsen an ihrem Mundwinkel.

»Hi, Mom«, begrüßte ich sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, als ich mich an ihr vorbei durch die Tür drängte. »Mach zu, ist heiß draußen.«

»Ja ja«, brummte sie, und keine Sekunde später hörte ich, wie sie hinter uns die Tür ins Schloss drückte. »Dad hat schon gedeckt.« Sie deutete in Richtung des Esstischs und dann aufs Badezimmer. »Ho’omākaukau«, bat sie mich mit mütterlicher Strenge, als wäre ich noch immer einer ihrer Hulaschüler in ihrer Schule. Ich warf ihr ein amüsiertes Grinsen zu. Ho’omākaukau hieß, dass man sich beim Hula bereitmachen sollte, dass die Performance unmittelbar begann. Mom verwendete das Wort gern universell, wenn Dad und ich uns beeilen sollten.

»Ae«, antwortete ich, was hieß, dass die Schüler und Schülerinnen mit Ja antworteten, um den Lehrenden zu zeigen, dass sie fertig waren. Meine Schuhe zog ich direkt am Eingang aus. »Ich habe mal wieder die Straße von einer Fred-Party befreit und muss mir sowieso kurz die Hände waschen.« Ich verschwand im Badezimmer und ließ die Tür offen stehen, was für Mom eine Einladung zum Quatschen war. Das war schon immer so gewesen. Geschlossene Tür? Mom akzeptierte es. Angelehnte oder gar komplett geöffnete Tür? Mom plapperte drauflos.

»Wusstest du, dass Fred eine Freundin hat?« Sie fuhr sich lachend durch ihre dunkelbraunen Haare, in die sie heute ein pinkes Band mit Palmenblättern geflochten hatte. Passend zu ihrer pinken Bluse, die sie zu einer weißen Wide Leg Hose trug. Sogar ihre Zehennägel waren pink lackiert. Ich konnte es an einer Hand abzählen, wie oft ich Mom in Schlabberklamotten gesehen hatte. Sie liebte es, sich für sich selbst herauszuputzen. Ich schüttelte die tropfnassen Finger über dem Waschbecken aus, was mir einen tadelnden Blick von Mom einbrachte, und griff nach dem flauschigen Gästehandtuch.

»Sorry«, nuschelte ich, wischte über die Armatur, die ich besprenkelt hatte, und zwinkerte Mom durch den Spiegel hinweg zu. »Und was? Fred hat eine Freundin? Ernstha...

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