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Im Fadenkreuz des Jägers

hier erhältlich:

Die Familie nebenan hat ein düsteres Geheimnis …

Die Idylle in der amerikanischen Kleinstadt wird jäh gestört. Mitten in der Nacht ziehen neben Ex-Cop Ronald Temple neue Nachbarn ein. Warum verlassen sie tagsüber nie das Haus? Wer ist der dunkel gekleidete Fremde, der bei ihnen ein und aus geht? Ronalds Ermittlerinstinkte sind geschärft. Wird im Haus nebenan ein Terroranschlag geplant? Niemand nimmt die Warnungen des Rentners ernst, bis es zur Katastrophe kommt …


  • Erscheinungstag: 04.05.2017
  • Aus der Serie: James Patterson Bookshots
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 120
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676984
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

In einer vollkommenen Welt würde Ronald Temple nicht in seinem Haus in Levittown, New York, in seinem Barcalounger-Sessel sitzen, das Fenster geöffnet, eine Decke über den Beinen, und sich wünschen, er hätte ein halbautomatisches Gewehr auf dem Schoß, einen Colt AR-15, um im Fall eines Falles mit den Terroristen nebenan kurzen Prozess zu machen.

Genau, denkt er, und lässt sein Zeiss-7×50-Fernglas sinken, in einer vollkommenen Welt würden die Twin Towers noch stehen, all seine Freunde wären noch am Leben, und er selbst würde nicht hier in diesem Vorort qualvoll an dem ganzen Mist verrecken, den er in den Wochen nach dem 11. September in den Schuttresten eingeatmet hat.

Das hellblaue Haus nebenan ist vollkommen normal, so wie all die anderen Häuser der Siedlung, die nach 1947 hier auf Long Island auf einem Kartoffelacker hochgezogen wurden, als nach dem Krieg die große Stadtflucht in die Vororte begann. Heute ist Levittown mit seinen Schulen ein wunderbarer Ort, um Kinder aufzuziehen oder sich wie Ronald und seine Frau Helen zur Ruhe zu setzen.

Aber was ist mit ihren neuen Nachbarn?

Absolut nicht normal.

Ronald setzt sein Fernglas wieder an.

Gerade einmal drei Tage ist es her, dass sie eingezogen sind, an einem trüben Tag mit regenverhangenem Himmel. Ein schwarzer Chevrolet Yukon ist in die schmale Auffahrt gebogen und eine vierköpfige Familie hinausgeklettert. Alle hatten dunkle Haut und trugen westliche Kleidung, in der sie sich nicht besonders wohlzufühlen schienen. Ein männliches und ein weibliches Individuum, vermutlich die Eltern, mit einem Jungen und einem Mädchen. Ronald saß im selben Sessel wie immer, sein Sauerstoffgerät gluckerte leise vor sich hin, und die Schläuche scheuerten an seinen wunden Nasenlöchern, während er beobachtete, wie sie eilig im Haus verschwanden.

Die Frau und das Mädchen, beide mit Kopftüchern.

Das Ganze ist ihm gleich verdächtig vorgekommen, daher hat Ronald in jeder freien Minute beobachtet, was nebenan vor sich geht. Mit jeder Stunde ist sein Misstrauen gewachsen. Kein Umzugswagen ist seit jenem ersten Tag vorgefahren, nur aus dem Yukon sind hastig ein paar Koffer und Reisetaschen ins Haus gebracht worden. Und keiner von den neuen Nachbarn ist zu ihnen herübergekommen, um sich bei ihm und seiner Frau vorzustellen.

Er schwenkt das Fernglas langsam von einer Seite zur anderen.

Da.

Ein groß gewachsener Mann taucht hinterm Küchenfenster auf und verschwindet wieder.

Noch etwas, was ihm vor drei Tagen verdächtig vorgekommen ist.

Ihr Chauffeur.

Schon klar, ihr Chauffeur …

Der Mann war als Erstes aus dem Yukon ausgestiegen, und Ronald war gleich klar, dass es sich um einen Profi handelte: Er trug ein Sakko, um seine Waffe darunter zu verbergen, und musterte aufmerksam Vorgarten und Auffahrt auf der Suche nach möglichen Gefahren. Während er im Haus verschwand und sich vergewisserte, dass alles in Ordnung war, mussten seine Schützlinge im Yukon warten.

Seine Haut ist dunkel wie die der anderen, und er ist fast kahl. Der Mann ist zwar nicht übermäßig muskulös – kein mit Stereoiden aufgepumpter Football-Schrank –, aber auch nicht gerade ein Hänfling. Er erinnert Ronald an die Typen vom Einsatzkommando, denen er in seinen einundzwanzig Jahren beim NYPD begegnet ist.

Also ein Bodyguard?

Oder vielleicht der Anführer einer Terrorzelle?

Ronald lässt seinen Blick abermals über das Haus schweifen, von rechts nach links und von links nach rechts. Aus Zeitungen, Fernsehen und Internet weiß er nur zu gut, wie Terroristen heute vorgehen: Sie nehmen sich eine Wohnung in einer ruhigen Gegend und verhalten sich vollkommen unauffällig, bis sie eines Tages zuschlagen.

Die Kinder?

Nichts als Tarnung.

Und das Ehepaar?

Nun, hat nicht erst vor einem Jahr im kalifornischen San Bernardino ein Paar bei einer Weihnachtsfeier ein Massaker angerichtet?

Das sich bis dahin vollkommen unauffällig verhalten hatte.

Und der kräftige Typ … Vielleicht der Ausbilder oder Anführer.

Bestimmt bereitet er sie darauf vor, loszuziehen und zu morden.

Ronald lässt das Fernglas sinken und rückt die Befestigung des Sauerstoffschlauchs an seinem Kopf wieder zurecht. Das alles ist einfach nur merkwürdig und nicht, wie man es erwarten würde: Kein Umzugswagen, kein Besuch von Freunden, und keiner der beiden Eheleute – falls sie überhaupt verheiratet sind – verlässt morgens zur Arbeit das Haus. Keine Pakete, kein Rasenmähen, gar nichts.

Ganz klar, sie verstecken sich hier.

Ronald wünscht sich abermals das beruhigende Gewicht einer AR-15 in seinem Schoß. Um es mit einer Terrorzelle wie dieser aufzunehmen, benötigt man die geeigneten Waffen und ausreichend Munition. Mit einem 20er-Rundmagazin und offener Visierung – bei dieser Entfernung braucht Ronald bestimmt kein Zielfernrohr – würde er die beiden Männer und die Frau problemlos ausschalten können. Würden sie etwa, nur zum Beispiel, zu ihrem Yukon wollen, in weite Mäntel gehüllt, unter denen sie ihre Waffen oder einen Sprengstoffgürtel verbergen, würde er sie mit einer AK-15 niederstrecken, noch ehe sie bei ihrem SUV sein würden.

Krämpfe durchzucken seine dürren Beine. Vor Schmerz verzieht Ronald das Gesicht. Und was ist mit den Kindern? Die würde er davonkommen lassen. Es sei denn, sie würden sich eine Waffe schnappen und bei ihm an der Haustür auftauchen, um sich zu rächen. Und gibt es nicht in der Tat auf der ganzen Welt haufenweise Kinder in dem Alter, die Handgranaten werfen, mit einer AK-47 um sich ballern oder Sprengfallen einrichten?

Abermals setzt er das Fernglas an.

In seinen einundzwanzig Jahren bei der New Yorker Polizei hat Ronald nur drei Mal seine Dienstwaffe gezogen, zwei Mal bei Verkehrskontrollen und ein Mal, als er zu einem Bodega-Überfall gerufen wurde. Und doch: Im Zweifelsfall würde er tun, was getan werden muss, auch wenn er inzwischen nur noch ein Krüppel ist.

Er löst die eine Hand vom Fernglas und tastet nach dem unförmigen Ding auf seinem Schoß, seiner Zweitwaffe aus der Zeit, als er noch im Dienst war. Eine .38er Smith & Wesson Police Special.

Ronald nickt befriedigt. Am 11. September hätte er zum Helden werden können. Doch damals hat er es vermasselt.

Noch einmal würde er sich eine solche Gelegenheit nicht entgehen lassen.

2. KAPITEL

Lance Pope kommt in die Küche des kleinen Hauses, um sich noch einen Kaffee zu holen. Er krault flüchtig den Nacken seiner Frau Teresa, die mit ihrem Laptop am runden Holztisch sitzt und arbeitet. Umgeben von Stapeln von Notizheften, losen Blättern und Büchern, tippt sie bedächtig vor sich hin.

Lance schenkt sich Kaffee ein. „Möchtest du auch noch einen?“

„Im Augenblick nicht, Liebster. Vielleicht später.“

Er stellt sich neben sie und nimmt einen Schluck. Die sengende nordafrikanische Sonne der letzten Wochen hat ihren Teint dunkel werden lassen, was sie noch exotischer und schöner erscheinen lässt. Helle Strähnen durchziehen ihr dunkelblondes Haar, das in Wellen auf ihre Schultern hinabfließt, und ihre Beine und Arme sind tiefbraun. Auch nach zwei Schwangerschaften ist Teresa noch immer schlank und attraktiv mit ihren langen Beinen und ihrem süßen runden Po. Sein Herz geht auf, als er daran denkt, wie sie sich auf der Graduiertenschule das erste Mal geliebt haben und sie ihm zugeflüstert hat: „Meine Brüste sind vielleicht nicht die größten, aber sie sind perfekt für Babys. Der ganze Rest gehört ganz allein dir. Ich will einen richtigen Mann.“

Lance krault ihr abermals den Nacken, und sie seufzt leise wie ein zufriedenes Kätzchen. „Was gibt es Neues?“, fragt er.

Sie nimmt ihren Blick nicht von der Tastatur, während sie weitertippt. „Nichts. Der perverse Alte mit dem Fernglas von nebenan glotzt nach wie vor zu uns rüber.“

„Hab ich dir nicht gesagt, dass du ihm nicht immer deinen nackten Hintern präsentieren sollst. Was erwartest du?“

„Har-har-har!“, sagt sie, und Lance ist erleichtert. Schön, dass sie nach der letzten Woche wieder guter Laune ist. „Da würde er nur den Wüstensand sehen, den ich immer noch zwischen meinen Backen rauskratze.“ Sie hebt den Blick von der Tastatur auf und schaut sich in der Küche um. „Ich sehne mich nach unserem Zuhause. Ich sehne mich nach dem Meer, den Obstbäumen, unserem Garten.“

„Ich auch.“

Sie nickt zum avocadofarbenen Kühlschrank und der hellgelben Arbeitsplatte. „Was für eine Bruchbude. Das letzte Mal wurde hier vermutlich renoviert, als wir noch einen Erdnussfarmer zum Präsidenten hatten.“

„Oder einen Schauspieler“, sagt er. „Wie kommst du mit deinem Reiseführer voran?“

„Na ja“, erwidert sie und streicht über ihre Notizen und die verstreut herumliegenden Bücher. „Ich kann mir was Schöneres vorstellen, als heutzutage ohne Internet zu recherchieren.“

Lance trinkt einen Schluck von seinem Kaffee. „Versteh ich. Mir geht’s ja nicht anders mit der Beschreibung meiner karthagischen Tonscherben. Keine Ahnung, ob ich das Ganze nicht schon mal irgendwo geschrieben habe. Oder ein Kollege.“

Plötzlich wird ihm kalt, als wäre ein Fenster aufgerissen worden oder von einem Moment auf den anderen eine Sonnenfinsternis eingetreten.

Nun, ganz so schlimm ist es nicht.

Es ist nur dieser Mann, den sie als Jason Tyler kennen, und der in die Küche gekommen ist. Lance bemüht sich, nicht verschüchtert zurückzuweichen. Auf den ersten Blick wirkt Jason nicht sonderlich groß oder bullig. Doch der erste Blick kann täuschen. Nach den paar gemeinsamen Tagen mit Jason weiß Lance, dass dieser am liebsten bequeme Sneaker, weite Hosen und kurzärmlige Hemden trägt, heute ein schwarzes Hemd, das an seinen schmalen Hüften aus der grauen Hose heraushängt. Schon in Marseille, nach dem ersten Abend in Jasons Gesellschaft, hatte Teresa im Hotel das Offensichtliche ausgesprochen: „Ich sage dir, Liebling, der zieht sich nur so an, damit man seine Muskeln und seine Waffe nicht sieht.“

Der Mann misst eins fünfundachtzig, ist dunkelhäutig und hat breite Schultern und auf dem Kopf spärliche schwarze Stoppel. Wenn das Licht in einem ganz bestimmten Winkel auf ihn fällt, könnte man ihn fast für einen Asiaten halten, doch aus einer anderen Perspektive gesehen, könnte er auch aus dem Nahen Osten stammen.

Ein Chamäleon, denkt Lance, ein Chamäleon, aber härter als Stahl.

Jason erkundigt sich: „Alles gut bei Ihnen?“

„So weit“, gibt Lance zurück.

Jasons Augen wandern unablässig umher, aufmerksam, taxierend. Er nickt kaum sichtbar. „Ich weiß, dass Sie gern hier in der Küche arbeiten, aber mir wäre es lieber, wenn Sie sich woanders hinsetzen. Durch das Fenster sind Sie angreifbar.“

„Mir gefällt das Licht“, sagt Teresa.

„Es macht Sie angreifbar.“

Lance bemerkt, wie seine Frau die Hände zusammenballt. „Wollen Sie mich herumkommandieren?“

Einen kurzen Moment lang schweigt Jason. „Nein.“ Erneute Stille. „Ich habe gerade bei Sandy reingeschaut. Und auch bei Sam. Sie schlagen sich tapfer. Ich werde mal kurz nach draußen gehen. Sie kennen ja die Vorschriften.“

Lance seufzt. „Ja. Im Haus bleiben. Komme, was wolle.“

Jason geht. Beinahe lautlos. Ein Mann von seiner Größe und mit seinen Muskeln … Lance hätte erwartet, dass er wie ein Ochse oder Bulle trampeln und überall anstoßen würde. Stattdessen gleichen die Bewegungen dieses Mannes denen eines schwarzen Panters auf der Pirsch, jederzeit bereit, seine Beute zu erlegen.

Die Temperatur in der Küche scheint sofort wieder um fünf Grad zu steigen.

Teresa wendet sich erneut ihrer Tastatur zu, tippt zwei, drei Wörter, dann hält sie inne.

„Lance.“

„Anwesend.“

„Glaubst du, was er sagt?“, fragt sie.

„Was meinst du?“

„Dass wir binnen vierundzwanzig Stunden tot wären, wenn wir ins Internet gingen?“

Lance massiert ihren Nacken und spürt, wie angespannt sie ist. Dieses Mal gibt sie kein wohliges Seufzen von sich. „Wir müssen ihm einfach glauben.“

Lance fühlt sich verloren in Raum und Zeit. Wie konnte es nur so weit kommen, dass sie nun hier eingesperrt sind?

„Wir stecken viel zu tief drinnen“, sagt er. „Uns bleibt keine Wahl.“

Teresa dreht sich zu ihm um und sieht ihn an. Seine Hand rutscht von ihrem Nacken. Ihre bezaubernden dunkelbraunen Augen füllen sich mit Tränen.

„Und was ist mit den Kindern?“, fragt sie. „Haben sie eine Wahl?“

Vom anderen Ende des Hauses erklingt die laute Stimme eines Jungen: „Dad! Ich brauche dich. Jetzt!“

Auch Lance schießen nun Tränen in die Augen, und wortlos eilt er aus der Küche.

3. KAPITEL

Ronald Temple wird durch ein Geräusch aufgeschreckt. Er muss kurz eingenickt sein. Seine Hand fährt automatisch unter die Decke zu seinem .38er Smith & Wesson-Revolver, als seine Frau Helen ins Zimmer kommt. Er löst seinen Griff, und ihm wird klar, dass nicht viel gefehlt hat und er hätte eine unverzeihliche Dummheit begangen. Im Dienst hat er von zwei Fällen gehört, wo Kollegen vor lauter Angst auf ihren Partner geschossen haben. Erleichtert zieht er seine leere Hand wieder hervor.

In beiden Fällen wurden die Taten erfolgreich vertuscht, doch Ronald bezweifelt sehr, dass man ihm abnehmen würde, seine Frau sei im Wohnzimmer von einem Gangmitglied erschossen worden.

Helen ringt sich ein Lächeln ab. Obwohl es nicht besonders warm ist, trägt sie ein einfaches knielanges Kleid mit Blumenmuster und einen schmalen schwarzen Gürtel um ihre fülliger werdenden Hüften. Nach jahrzehntelanger Ehe zeigen sich inzwischen Falten auf ihrem Gesicht, mehr Pölsterchen als früher zieren ihren Körper, und ihr schwarzes Haar ist unauffällig gefärbt. Er weiß, was für ein Glück er mit dieser pensionierten Lehrerin hat, der es noch beinahe jedes Mal wieder gelingt, ihn zu besänftigen, wenn er sich aufregt.

Sie küsst ihn auf den Kopf und tätschelt seine mageren Schultern. „Wie steht’s mit der Überwachung?“

Er verkneift sich eine bissige Bemerkung, um nicht Zeuge werden zu müssen, wie sich ihre heitere Miene plötzlich verfinstert. Nach außen hin zeigt sich Helen meist gut gelaunt, doch hinter dieser Fassade können durchaus Ärger und Missmut lauern. Bekümmert denkt er an einen Streit vor einigen Jahren, als das Gespräch auf ihre beiden Söhne kam, Tucker und Spencer, von denen der eine Polizist beim LAPD, der andere bei der Polizei von Oregon ist. Damals hat sie gesagt: „Ich kann verstehen, dass unsere Jungs nach Westen gezogen sind. Oder glaubst du, dass sie sich noch länger dein Genörgel anhören wollten, was sie in ihrem Job falsch machen und dass du alles besser machen würdest?“

Daher lächelt Ronald jetzt nur und sagt: „Ich pass nur auf. Wenn das mehr Leute tun würden, wäre unser Land sicherer.“

Helen lässt ihre zierliche Hand auf seiner Schulter und massiert ihn einige Augenblicke. „Natürlich hast du recht, aber… jetzt mal ehrlich, Ronald: Glaubst du wirklich, dass die Leute nebenan gefährlich sind?“

Ronald atmet tief ein und unterdrückt den Husten von dem ganzen Mist vom 11. September, der seine Lungen zerfressen hat. Zu der Zeit war er Wachmann bei einer Investmentfirma im südlichen Turm, und weil er sich gerade an dem Tag krankgemeldet hat, hat er die folgenden Wochen in den Trümmern geschuftet, wie um Buße zu tun.

„Also, die Leute sind nicht von hier. Sie meiden jede Gesellschaft. Und der große Typ tut so, als wäre er ihr Bodyguard oder so was. Das ist doch alles ziemlich merkwürdig.“

Als seine Frau einen Blick zum Nachbarhaus wirft, sinkt seine Laune. Als Zivilistin sieht sie einfach nicht, was er sieht. Für sie ist das nicht mehr als ein gewöhnliches Haus mit gewöhnlichen Menschen darin. Was hinter der Fassade steckt, dafür fehlt ihr der Blick.

„Meinst du? Glaubst du wirklich, dass Terroristen sich ausgerechnet in Levittown verstecken würden? Außerdem … Sie haben Kinder.“

„Nicht das erste Mal, dass Terroristen Kinder als Tarnung benutzen würden“, erklärt Ronald unwirsch. „Und wieso nicht in Levittown? Ein historischer Ort, die erste richtige Vorstadtsiedlung des Landes, ein amerikanisches Symbol. Ein perfektes Versteck und ein perfektes Ziel. Wie du weißt, lieben Terroristen Ziele, die ihnen so viel Publicity wie möglich sichern. Also, warum nicht hier?“

Seine Frau dreht sich um und geht wieder Richtung Küche. „Dann ruf doch die Polizei, Ronald. Wenn du dir so sicher bist, dann sitz nicht einfach nur rum und brodle vor dich hin. Tu etwas.“

Ronald spürt das Gewicht des Revolvers in seinem Schoß. Aber ich tu doch schon etwas, denkt er, um dann zu erwidern: „Die Polizei heute ist politisch so korrekt, die wird nie etwas unternehmen. Verdammt, die würden mir vielleicht sogar noch Rassismus oder ich weiß nicht was vorwerfen.“

Helen antwortet ihm nicht, und er fragt sich, ob sie ihn nicht gehört hat oder ihn einfach ignoriert. Aber verflucht, was macht das schon für einen Unterschied?

Ronald greift wieder zum Fernglas und richtet es auf das Haus nebenan. Der Ehemann unterhält sich mit seiner Frau, die am Laptop zu arbeiten scheint.

Aber wo ist der große Kerl? Der Muskelmann? Der Anführer der Zelle?

Aufmerksam lässt er seinen Blick von einem Fenster zum anderen gleiten, von der Küche zum Schlafzimmer zum Wohnzimmer.

Nichts.

Wo zum Teufel ist der Mann?

Zu dem Haus gehört keine Garage, und da das Nachbarhaus ihrem eigenen mehr oder weniger haargenau gleicht, weiß Ronald auch, dass es weder einen Keller noch einen Dachboden hat, also …

An der Tür klopft es.

Er erstarrt vor Schreck. „Nicht öffnen.“

Doch abermals hört Helen ihn entweder nicht oder ignoriert ihn bewusst. Sie geht zur Tür und öffnet sie. Ronald lässt das Fernglas in seinen zugedeckten Schoß sinken.

Es ist der bedrohliche Kerl von nebenan.

Der Mann starrt Helen an.

Seine Frau weicht zurück.

Der Fremde stößt nur einen Satz aus, und der klingt wie eine Drohung:

„Das muss aufhören!“

4. KAPITEL

Lance eilt durchs Haus und vernimmt erneut Sams klagende Stimme, mit der er nach ihm ruft. „Dad!“ Er stürmt in das Zimmer seines Sohns. Obwohl sie erst seit ein paar Tagen hier sind, herrscht in der Bude des Zehnjährigen bereits ein einziges Chaos. Das Bett ist nicht gemacht, die selbstgebauten Regale quellen vor Büchern und Steinen über, und überall auf dem Boden liegen Kleider verstreut, als wäre gerade ein Wirbelsturm hindurchgefegt. Die rissigen gelb verputzten Wände sind mit Postern der San Francisco Giants gepflastert.

Sam hat rote Wangen, und er sitzt auf einem alten Schulstuhl an einem kleinen Schreibtisch, der mit winzigen weißen Plastikknochen übersät ist. Auf dem Boden liegt ein Karton mit dem knallbunten Bild eines Dinosauriers, womöglich eines Tyrannosaurus Rex. Sam trägt Blue Jeans, ein schwarzes T-Shirt und abgewetzte weiße Turnschuhe.

„Was ist los, Kumpel?“, fragt Lance und tritt zu seinem Sohn.

Sam deutet mit dem Kopf nach links. „Sandy. Sie ist einfach reingekommen und hat sich mein Buch über den Triceratops genommen. Ohne mich zu fragen!“

Lance verwuschelt Sams hellbraune Haare. Wie ähnlich der Junge seiner Mutter sieht. „Gut. Noch etwas?“

„Ja, kannst du es mir zurückholen? Und wie lange bleiben wir noch hier? Mir ist langweilig.“

„Mir auch. Ich hol dir jetzt dein Buch.“

Lance geht aus Sams Zimmer in das kleine Zimmer nebenan. Was für ein Unterschied. Das Bett ist gemacht. Im offenen kleinen Schrank stehen die Schuhe akkurat aufgereiht, und die Kleider hängen ordentlich auf Bügeln. Es gibt einen Tisch und einen Stuhl, dieselben wie bei Sam, doch auf dem Tisch liegt nichts herum. Auch hier im Zimmer befinden sich selbstgebaute Regale an der Wand, doch die Bücher stehen nach Autorennamen sortiert in Reih und Glied. Sandy ist zwei Jahre älter als ihr Bruder. Sie liegt mit zwei Kissen unter Rücken und Schultern auf dem Bett und liest.

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