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Glückskekse

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Das Glück hat eine neue Nummer

Statt »Happy Birthday!« sagt Janas Freund an ihrem Geburtstag »Ich mach Schluss!« – irgendwie läuft ihr Leben seit Jahren nicht so richtig rund. Und Jana weiß einfach nicht, warum das so ist. Da schlagen ihre Freundinnen vor, einfach mal das Universum zu befragen: Jana soll an eine ausgedachte Handynummer schreiben. Kurzerhand schickt sie die Nachricht »Was kann ich tun, um endlich glücklich zu werden? SIE« ab – und erhält eine Antwort von einem fremden ER. Aus einer Nachricht werden zwei, dann drei, und bald schreiben die beiden sich täglich. Aber wer ist dieser Mann, der sie so versteht wie kein anderer? Könnte er der Richtige sein, mit dem sie das gesuchte Glück findet?


  • Erscheinungstag: 21.07.2022
  • Seitenanzahl: 336
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365000038

Leseprobe

Für alle,
die das Glück suchen

1. Kapitel

Blaetter

Sie

Frage: Was ist ein beschissener Tag? Wenn dein Freund mit dir Schluss macht. Nächste Frage: Und was ist noch beschissener? Wenn er es völlig unerwartet tut, total aus dem Off. Letzte Frage: Und was ist das Allerbeschissenste? Wenn er sich dafür ausgerechnet deinen 35. Geburtstag aussucht. Ich mache Scherze, glauben jetzt vielleicht einige. So was gibt’s doch gar nicht, dass jemand an seinem eigenen Geburtstag abserviert wird. Doch. Gibt es. Aber keine Sorge – solche Dinge passieren nur mir. Nur in meinem Leben kommt so etwas vor. Und in drittklassigen Heftchenromanen natürlich. Also kann sich jetzt jeder beruhigt zurücklehnen und die kleinen, wohligen Schauer genießen, die einem den Rücken runterjagen, wenn man von anderen Horrorstorys zu hören bekommt, die einen selbst glücklicherweise nicht betreffen.

So sitze ich also zu Hause, frisch verlassen, frisch geburtstagt, frisch in die Kategorie der Spätgebärenden beziehungsweise der Wenn-überhaupt-noch-Gebärenden aufgestiegen. Und ich heule. Ich finde, ich habe ein Recht dazu. Ich darf jetzt ruhigen Gewissens eine Woche lang mit ungewaschenen Haaren durch die Gegend laufen, darf mich betrinken, dazu Musik hören und vor mich hinweinen. Und damit fange ich jetzt sofort an. Mit einem energischen Fußtritt bringe ich meine überalterte Stereoanlage ans Laufen.

The stupid jerk that I’m obsessed with. Der Song von Maggie Estep läuft zwei Stunden lang in der Endlosschleife. So wie mein Leben. Das hängt offensichtlich auch in einer Endlosschleife. In einer Endlosschleife von unglücklichen Liebesgeschichten. Die letzte hat sich, wie bereits erwähnt, gerade mit einem nicht zu überhörenden The End von mir verabschiedet. Markus hieß er. Hipper Artdirector in einer noch viel hipperen Werbeagentur. Schöngeist, sensibler Zyniker, belesen und bewandert und gern ein bisschen an der Welt verzweifelnd – also genau die ideale Projektionsfläche für ein romantisches Mädchen wie mich. Vier Monate lang waren wir Mr. und Mrs. Unglaublich-Happy. Dann drei Wochen lang nicht mehr ganz so happy. Und heute Morgen mutierte Markus zu »Es liegt nicht an dir, aber ich glaube, ich empfinde nicht so viel für dich wie du für mich« und ich zu »Aber du hast doch gesagt, du liebst mich«.

Was soll’s? Langsam, aber sicher bekomme ich Übung im Verlassenwerden. Oder wie Robbie Williams sagt: Before I fall in love, I’m preparing to leave her. Nur, dass ich auf der anderen, deutlich unschöneren Seite des Songs stehe.

Und dann auch noch mein Geburtstag. Eigentlich nichts Besonderes. Die Zeiten, in denen man sich darauf freute und ganz aufgeregt war, sind seit schätzungsweise zwanzig Jahren vorbei. Markus sah das ähnlich. »Weißt du, ich will kein Heuchler sein und nur, weil du heute Geburtstag hast, mit meiner Entscheidung bis morgen warten. Es wäre nicht richtig, dir etwas vorzumachen.« Wie edelmütig! Wie aufrecht! Mir kommen vor Rührung die Tränen. Nein, stimmt gar nicht. Mir kommen die Tränen, weil ich allein und verlassen und traurig bin. Vor mir eine Flasche Wein, in meinem Herzen eine große klaffende Wunde. Klingt pathetisch, ich weiß. Aber wenn man nicht mal mehr pathetisch sein darf, wenn man am eigenen Geburtstag abgeschossen wird, weiß ich es auch nicht.

Dabei fällt mir ein, dass ich ein pikantes Detail ja noch gar nicht erwähnt habe: Nämlich die Art und Weise, wie Markus sich von dannen gemacht hat. Denn nicht nur, dass er sich für seinen Abgang einen ganz besonderen Tag ausgesucht hat. Nein, weit gefehlt, er hat dem Anlass entsprechend auch noch einen ganz besonderen Moment abgepasst. Nämlich den, in dem er quasi noch in mir steckte. Ja, genau so war es! Nach unserem morgendlichen Quickie (die lange Nummer haben wir schon seit etwa zwei Monaten nicht mehr gemacht) ließ er sich von mir runter zur Seite rollen, angelte nach den Kippen auf dem Nachttisch, steckte sich eine an und ließ den Rauch anschließend laut seufzend aus seinem Mund entweichen. Ich wollte daraufhin wissen, was los ist – und der Rest ist ja bekannt. Wirklich filmreif, das Ganze. Vögelt mich erst durch und stellt dann fest, dass er irgendwie nicht so viel für mich empfindet wie ich für ihn. Vom Geschlechtsakt mal abgesehen, da hatte ich schon das Gefühl, dass mit dem Empfindungsvermögen meines Freundes – Verzeihung, Ex-Freundes – noch alles in bester Ordnung ist. Jedenfalls, was bestimmte Regionen seines Körpers betrifft. Aber ich bin schon zu alt, um nicht zu wissen, dass das Eine mit dem Anderen leider rein gar nichts zu tun hat.

Genau genommen hätte ich Markus nach dieser Nummer (Nummer, haha!) die Schnauze polieren müssen. Aber was tat ich? Ich saß einfach nur völlig geschockt da, starrte an die Decke und fragte mich, wann mein Vermieter endlich mal die Wasserschäden oben rechts in der Ecke beseitigen würde. Als ich wieder einigermaßen zu mir kam, hatte Markus sich bereits angezogen und verabschiedete sich mit einem eiligen: »Ich muss jetzt auch los in die Agentur. Nehme mir mal kurz zehn Euro aus deinem Portemonnaie, ich hab kein Geld mehr fürs Taxi, ja?« Eine Sekunde später hörte ich die Wohnungstür zuschlagen, zwei Minuten später fiel mein Herz mit einem lauten Klatsch in sich zusammen.

Tja, und jetzt feiere ich also meinen Geburtstag. In trauter Einsamkeit. Wenn das ganze Jahr so wird wie der heutige Tag, möchte ich es lieber überspringen. Und wenn ich gerade schon mal dabei bin, vielleicht auch gleich die nächsten zehn oder zwanzig.

Wieso bin ich ihm nicht nachgelaufen, habe ihm die zehn Euro abgeknöpft und ihm dann ordentlich in die Eier getreten? Ei, genau das ist das Stichwort. Weil ich ein Weichei bin. Jana-Ich-lasse-alles-mit-mir-machen-Kruse: Happy Birthday!

Es klingelt an der Tür. Ich denke nicht mal darüber nach, ob es Markus sein könnte, der reumütig zurückkommt und mir erklärt, dass er heute früh kurzfristig nicht ganz zurechnungsfähig war. Ein Vorteil, wenn man über 30 ist: Man weiß, dass so etwas nur im großen Sat.1-Film passiert.

»Happy Birthday to you!« Miriam und Steffie stehen vor mir und sehen aus, als gäbe es den Rücktritt von George Bush zu feiern. Am liebsten würde ich mir die beiden Flaschen Sekt schnappen, die sie mitgebracht haben, und ihnen die Tür vor der Nase zuknallen. Mir ist jetzt nicht nach Gesellschaft! Und vor allem ist mir nicht danach, meinen Freundinnen zu erklären, dass es mal wieder nicht geklappt hat. Dass ich mal wieder vor den Trümmern einer Beziehung stehe. Dass aus meinem anfänglichen »Ich bin ja sooo verliebt, diesmal ist es der Richtige« ein »Vergesst es, ich hatte Halluzinationen« geworden ist. Das wird bei mir allmählich zum Running-Gag.

Aber ich muss gar nichts sagen. Ein Blick genügt, schon setzt Miriam ihre mitfühlende Miene auf, nimmt mich in den Arm und sagt: »Jana, was ist denn los? Hat Markus etwa Schluss gemacht?«

»Ja«, erwidere ich knapp, »was sonst?« Dabei muss ich kurz zynisch auflachen, weil es ja eigentlich fast absurd ist, dass meine Freundinnen nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde auf die Idee kommen, dass ich aus einem anderen Grund so erbärmlich aussehe. Omi gestorben? Zwangsräumung der Wohnung? Im Lotto gewonnen und immer noch total fassungslos? Nein, auf so eine Idee kommt keine von den beiden, sie kennen mich und mein katastrophales Liebesleben einfach zu gut.

Nach dem Eingeständnis meiner jüngsten »Niederlage« wird das übliche Programm abgespielt: Wir sitzen auf meinem Sofa, trinken sämtlichen Alkohol, der in meiner Wohnung zu finden ist, und schimpfen auf den Dreckskerl, Idioten und Penner.

»Und du hast ihm noch zehn Euro in den Rachen geworfen?«, will Miri fassungslos wissen.

»Na ja«, setze ich zu einer Verteidigung an, »in den Rachen geworfen ist nicht ganz richtig. Er hat sie sich einfach genommen.«

»Hat er dir denn wenigstens etwas zum Geburtstag geschenkt?«

Wie kommt Miriam denn auf so eine Idee? Ist die irre? Obwohl … so falsch liegt sie gar nicht. »Ja«, stelle ich fest und kann beinahe schon wieder grinsen, »er hat mir an meinem Ehrentag edelmütig die Wahrheit überreicht. Mit einem kleinen Schleifchen drum.«

»Wie kann er dir das heute antun?«, regt Steffie sich auf.

»Der Mann hatte sowieso keinen Stil«, erklärt Miriam und lässt den Korken der nächsten Proseccoflasche knallen. »Viel zu schade warst du für den!«

»Ja, ja, ich weiß«, seufze ich und halte Miriam mein leeres Glas hin. Dann muss ich plötzlich kichern. Ich kann gar nicht mehr aufhören damit, es verselbstständigt sich. Miriam und Steffie werfen sich besorgte Blicke zu.

»Was hast du denn?«, will Steffie wissen.

»Fällt euch das nicht auf?«, bringe ich prustend hervor. »Es ist immer wieder das Gleiche, ich komme mir vor wie am Murmeltiertag!«

Meine Freundinnen mustern mich ratlos.

»Ich meine«, füge ich hinzu, »wie oft habe ich hier schon gesessen und mit euch zusammen irgendeinen Kerl betrauert? Das ist doch nicht normal!«

Betretenes Schweigen.

»Du hast halt ein bisschen Pech gehabt«, meint Miriam dann.

»Ein bisschen Pech?«

»Eben kein glückliches Händchen in der Liebe«, fügt Steffie hinzu. »Aber das heißt doch nichts!«

»Klar heißt das was!«, stelle ich bockig fest. »Ich traue mich ja schon bald gar nicht mehr, euch überhaupt noch zu erzählen, wenn ich jemanden kennengelernt habe. Weil es sich sowieso nicht lohnt, sich die Namen zu merken. Spätestens nach einem halben Jahr verlässt mich doch jeder! Langsam frage ich mich, ob es vielleicht an mir liegt! Dass ich …«

»So ein Quatsch!«, fallen Steffie und Miriam mir gleichzeitig ins Wort. Aber so richtig überzeugend klingen sie nicht.

»Ich hab doch immer alles getan, um Markus zu gefallen!« Jetzt ist es so weit, mein Lachen schlägt ins Weinerliche um. »Immer habe ich das. Und bei den zwanzig Typen davor auch. Ich habe mir die Haare mal wachsen lassen, dann wieder abgeschnitten, mal blondiert, mal mit einer Dauerwelle gequält. Habe mich für Independent Rock und Moderne Kunst interessiert, mit dem Joggen angefangen, hab abgenommen, zugenommen, wieder abgenommen, bin in den Ruderclub eingetreten, habe meinen Kleidungsstil öfter gewechselt als andere Leute ihre Zahnbürste …« Ein Redeschwall bricht aus mir heraus, all die Wut und Enttäuschung der letzten Jahre entlädt sich explosionsartig. Wieso nur? Wieso kriege ich einfach keine Beziehung hin? Ich bin doch auch nicht dümmer oder hässlicher als andere! Steffie ist seit elf Jahren mit Hans verheiratet, und Miriam kann sich vor lauter Typen, die ihr die Bude einrennen, gar nicht retten. Nur ich bin der Ladenhüter, der Restposten, den keiner haben will, nicht mal nachgeschmissen.

»Ich kannte mal einen Kerl«, unterbricht Miriam meine trüben Gedanken und grinst dabei neckisch, »der hat drei Jahre lang die gleiche Zahnbürste benutzt.«

Ich starre sie ungläubig an.

»Ehrlich wahr!«, fügt sie schnell hinzu. Das ist typisch für sie. Sie ist eben unser kleiner Sonnenschein, der zu jeder noch so misslichen Lage noch eine heitere Geschichte beisteuern kann. Nur hilft mir das im Moment leider eher weniger.

»Darum geht es doch gar nicht«, stelle ich seufzend fest. »Es geht darum, dass ich endlich wissen will, wo ich hingehöre. Ich will eine Beziehung, auf die man etwas aufbauen kann, jemanden, der mit mir gemeinsame Pläne schmiedet. Den ich anrufen kann, wenn ich nachts um drei irgendwo in der Pampa sitze und nicht weiter weiß, der immer für mich da ist, der ...«

»Wir sind doch für dich da!«, wirft Steffie ein. Natürlich stimmt das. Vor allem Steffie, die ich schon seit gefühlten hundert Jahren kenne, ist so etwas wie mein persönlicher Fels in der Brandung. Aber, mein Gott: Mit ihr kann ich schlecht Kinder bekommen.

»Das ist nicht das Gleiche! Natürlich bin ich froh, dass ihr meine Freundinnen seid. Aber versteht ihr denn nicht, was ich meine, wenn ich sage, dass ich endlich jemanden will, der zu mir gehört? So ganz, meine ich. Der wie meine andere Hälfte ist. Dessen Namen ich vielleicht irgendwann mal annehmen werde. Ich meine, wenn er nicht gerade Schulzendorff heißt. Versteht ihr das denn nicht?«

»Nö«, antwortet Miriam erwartungsgemäß.

»Du bist ja auch nicht normal«, erwidere ich. Im nächsten Moment tut mir das allerdings schon leid, Miri sieht ziemlich getroffen aus, obwohl sie da doch sonst nicht so zimperlich ist.

»Halt, stopp, so meine ich das nicht. Aber du bist eben … anders. Du kennst diese Sehnsucht nicht, endlich deinen Platz gefunden zu haben.«

»Sei dir da mal nicht so sicher«, orakelt Miriam. »Ich war auch schon mal verliebt.« Dabei setzt sie einen bedeutungsschwangeren Blick auf.

»Ja, ich weiß«, räume ich ein. »The Unspeakable.«

The Unspeakable ist laut Miriam der einzige Mann, in den sie jemals wirklich verliebt war. Da war sie gerade mal 18 Jahre alt, und Miriams Beschreibungen zufolge muss der Kerl eine Mischung aus Colin Farrell, Albert Einstein, Keanu Reeves und noch etwa 20 anderen Supertypen gewesen sein. Steffie und ich haben The Unspeakable nie kennengelernt, das war lange Zeit, bevor uns Miriam bei einer Party in Steffies und Hans’ Segelclub vor gut fünf Jahren volltrunken über die Füße gestolpert ist. Und ehrlich gesagt sind wir uns auch nicht sicher, ob es The Unspeakable überhaupt wirklich gibt. Manchmal habe ich Miriam im Verdacht, dass sie ihn sich nur ausgedacht hat, um eine gute Ausrede für ihre zahlreichen oberflächlichen Männergeschichten zu haben. Sie behauptet immer, dass sie sich erst dann wieder festlegt, wenn sie jemanden trifft, der so ist wie The Unspeakable. Was aber nach der bereits erwähnten Beschreibung mehr als schwierig sein dürfte. Solche Männer gibt es schlicht und ergreifend nicht. Und wenn es sie gibt, dann sind sie schwul. Oder haben ein Topmodel zur Ehefrau. Übrigens der einzige Makel, den Miriam tatsächlich einmal in einer schwachen Stunde zugegeben hat: The Unspeakable war schon verheiratet. Zwar nur ein kleiner Schönheitsfehler – aber ein überaus wirkungsvoller. Andererseits passt das irgendwie auch zu meiner Theorie, die ich insgeheim über Miriam habe: Der einzige Mann, den sie angeblich wirklich lieben konnte, war natürlich nicht zu haben. Und damit auch keine Gefahr mehr für sie. Aber gut, ich sollte das mit meiner Hausfrauenpsychologie vielleicht lassen. Sieht man ja, wohin ich mich selbst damit gebracht habe. Zu gar nichts.

»Trotzdem«, komme ich auf das Anfangsthema zurück, »ich habe die Schnauze einfach voll von Liebesgeschichten, die man rückblickend höchstens noch als drittklassige Affären bezeichnen kann. Ich will endlich den Mann meines Lebens finden! Ich will raus aus der Warteschleife!«

»Das stellst du dir romantischer vor, als es ist«, behauptet Steffie, die genau genommen bei diesem Thema überhaupt nicht mitreden kann. Wer schon so lange in einer Beziehung steckt, hat doch keine Ahnung, wie es sich anfühlt, morgens allein aufzuwachen und abends genauso allein wieder ins Bett zu krabbeln. Das würde ich ihr am liebsten sagen, aber ich lasse es. Sie ist meine Freundin und kann ja nichts dafür, dass die MS Jana in puncto Liebe wieder und wieder Schiffbruch erleidet. »Die Sache mit Hans und mir ist einfach Glück, mehr nicht.« Sie macht eine nachdenkliche Pause, und ein zufriedener Ausdruck tritt auf ihr Gesicht. »Obwohl ich schon ganz froh bin, dass ich bereits mit Anfang zwanzig den Richtigen gefunden habe.«

Danke, genau das wollte ich jetzt hören! »Na ja, nicht jeder begnügt sich mit dem Ersten, der auftaucht.« Ich weiß, das war gemein, aber es ist einfach so aus mir herausgebrochen.

Steffie guckt mich entsetzt an.

»Tut mir leid«, meine ich zerknirscht, »das hab ich nicht so gemeint.«

»Doch, das hast du«, erwidert sie schnippisch. »Und soll ich dir was sagen: Vielleicht hast du sogar recht. Vielleicht ist es besser, mit dem Spatz in der Hand eine solide Partnerschaft aufzubauen, als sich immer wieder die Tauben vom Dach zu holen, die dir dann als Dank auf den Kopf kacken.«

Für einen Moment ist es totenstill. Steffie sieht kampflustig aus, Miri etwas geschockt, ich vermutlich perplex. Dann brechen wir alle in Gelächter aus. Wenigstens habe ich meine beiden besten Freundinnen, ohne die wäre ich ganz schön aufgeschmissen!

»Also, was machen wir jetzt?«, will Miriam wissen, nachdem wir uns von unserem Lachflash erholt haben. »Um die Häuser ziehen, schicke Kerle aufgabeln und uns benehmen wie unreife Teenager?« Ich kann die Begeisterung in ihrer Stimme hören; unter so einer Aktion stellt Miriam sich einen perfekten Abend vor. Werd du auch erst einmal dreißig und älter, denke ich, dann hast du von so etwas auch die Nase voll.

»Nein, danke«, lehne ich ab, »ich kann mich noch zu gut daran erinnern, wie das letzte Mal endete, als du uns auf den Kiez geschleppt hast.«

»Wieso?«, fragt Miriam. »Da hatten wir doch einen Heidenspaß!«

»Oh ja«, mischt Steffie sich ein, »war wirklich total lustig, als du uns gezwungen hast, mit dir durch die Herbertstraße zu laufen, um mal zu gucken, wie es da aussieht. Fand ich wirklich toll, als ich den Eimer Wasser auf den Kopf bekommen habe!«

»Oder später«, füge ich hinzu, »als du dir dann volltrunken mein Handy geschnappt und … äh, wie heißt noch mein damaliger Freund?«

»Sebastian«, erinnert Miriam mich kichernd.

»Ja, richtig. Als du Sebastian angerufen hast, um ihm ins Ohr zu lallen, dass er ein impotenter Schlipsträger ist.«

»Aber er war ein impotenter Schlipsträger!«, verteidigt Miriam sich.

»Mag sein«, gebe ich zu, »aber ich glaube nicht, dass mir heute nach einer derartigen Kamikaze-Aktion zumute ist.«

»Und was dann?«

»Wir schnappen uns einen Baseballschläger, fahren zu Markus und hauen ihm damit ordentlich ein paar aufs Maul«, mache ich einen fröhlichen Gegenvorschlag und leere mein Glas mit einem zu allem entschlossenen Schluck.

»Das ist ja wohl auch Kamikaze«, wirft Steffie ein und schenkt schnell nach.

»Ach, das machst du doch eh nicht«, behauptet Miriam hingegen, »dabei hätte der Herr Artdirector es wirklich so was von verdient! Oder besser noch: Du solltest ihn kastrieren, das wäre die passende Antwort auf seinen Auftritt heute früh!«

»Ich hab noch eine bessere Idee«, meint Steffie, ohne Miriams Vorschlag auch nur eine Sekunde lang zu würdigen, und wühlt in ihrer Handtasche herum. Eine Minute später zieht sie ein Päckchen Spielkarten hervor. »Wir legen Jana ihre Tarotkarten. Um zu sehen, was ihr das nächste Lebensjahr bringt.«

»Tarot?« Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ausgerechnet die vernünftige, im Leben stehende Stefanie auf so einen Eso-Krempel abfährt! Offensichtlich können mich meine Freundinnen noch überraschen.

»Klar«, meint sie. »Ist doch lustig.« Dann senkt sie verschwörerisch ihre Stimme. »Dass ich einmal Hans kennenlernen würde, hat mir damals auch schon eine Kartenlegerin vorausgesagt.«

»Ach?«, entfährt es mir. »Sie hat zu dir gesagt: Beim nächsten Weihnachtsmarkt wird dir ein Typ namens Hans Pfeiffer einen Glühwein über deine neue Jacke kippen? Is ja ’n Ding!«

»Nein, so natürlich nicht!« Steffie runzelt missbilligend die Stirn. »Aber sie hat mir prophezeit, dass ich schon sehr bald jemanden treffen werde, der in meinem Leben eine bedeutende Rolle spielen wird.«

»Den treffe ich täglich«, stelle ich lapidar fest, »wenn der Briefträger mir jede Menge Rechnungen und Mahnungen ins Reisebüro bringt.« Zusammen mit Miriam habe ich mich vor zwei Jahren mit einer eigenen kleinen Firma selbstständig gemacht, weil ich mir das ständige Gezeter meines Chefs bei Quick-Travel nicht mehr anhören wollte und Miriam keine Lust mehr hatte, Theaterwissenschaft zu studieren. Unser Laden läuft mehr schlecht als recht, wir schrammen ehrlich gesagt immer haarscharf an der Insolvenz vorbei.

»Jetzt seid doch nicht so langweilig! Es ist doch nur Spaß.« Damit fängt Steffie bereits an, die Karten zu mischen.

»In Ordnung«, meine ich schicksalsergeben, »lasst uns nachsehen, was die Karten für mich voraussagen.« Vorsichtshalber schenke ich mir noch ein Glas Prosecco nach und zünde mir eine Kippe an. Je nachdem, was beim Zukunftsorakel herauskommt, brauche ich vielleicht etwas, an dem ich mich festhalten kann. Und legale Drogen sind da immer gut.

»Okay … Du musst jetzt ganz fest an das denken, was du gern wissen willst«, erklärt Steffie.

»Du meinst so was wie: Wann ist dieses blöde Spiel endlich vorbei?«, frage ich.

Steffie gibt einen vorwurfsvollen Laut von sich. »Du musst das hier schon einigermaßen ernst nehmen, sonst klappt es nicht!«

Also mache ich einen auf ernst. Und bin es auf einmal tatsächlich. Vielleicht ist es Aberglauben, aber mit einem Mal bekomme ich regelrecht Gänsehaut bei dem Gedanken, dass wir in den nächsten Minuten möglicherweise wirklich etwas über mein zukünftiges Leben erfahren. Ich konzentriere mich. Wann werde ich endlich den Mann treffen, der zu mir passt? Was kann ich tun, damit ich nicht mehr allein bin? Wo steckt er denn bloß, der Kerl, der mich glücklich macht? Glücklich.

Glücklich, glücklich, glücklich. Immer wieder pocht dieses Wort durch meinen Kopf. Oh ja, ich wäre so gern endlich richtig glücklich. Angekommen. Zufrieden im Hier und Jetzt. Eben raus aus der Warteschleife und rein ins wirkliche, ins echte Leben!

»So«, unterbricht Steffie meine Gedanken und beginnt, die Karten vor mir auszubreiten. Dabei gibt sie immer wieder bedeutungsvolle Laute wie »hmmmm« und »oh« von sich. »Sieh mal einer an.«

Ich beuge mich über die Karten und verstehe nur Bahnhof. Keine Ahnung, was das alles bedeuten soll. »Wo hast du das eigentlich gelernt?«, will ich wissen, weil es mir immer noch ein komplettes Rätsel ist, dass ausgerechnet Stefanie auf einmal mit Tarot ankommt.

»Ich hab da mal ein Buch drüber gelesen«, erwidert sie lapidar.

»Und das geht so einfach?«

Sie nickt. »Wenn man sich ein bisschen reinliest, kapiert man schnell, worum es geht. Das Wichtigste ist die richtige Interpretation der Karten.«

»Aha.« Was soll ich auch sonst schon groß sagen? Dann warte ich eben mal, was Steffie so interpretiert.

»Das hier, das bist du«, erklärt sie und zeigt auf eine Karte, auf der eine Königin oder so etwas in der Art abgebildet ist.

»Verstehe.«

»Und wer ist ihr Traumtyp?«, will Miriam aufgeregt wissen.

»Moment, so schnell geht das nicht.« Konzentriert lässt Steffie ihren Blick von einer Karte zur nächsten gleiten, und ich muss zugeben, dass ich die ganze Angelegenheit mittlerweile tatsächlich ganz schön spannend finde. Oder zumindest unterhaltsam. Das ist doch schon mal was.

»Also«, beginnt Steffie erneut. »Ich sehe, dass es im Job immer weiter aufwärts geht.«

»Abwärts ist auch kaum möglich«, stelle ich fest. Miriam kichert zustimmend. Dabei weiß ich gar nicht, was daran so lustig ist.

»Psst! Jetzt haltet doch mal die Klappe!«, fährt Steffie uns an. Gut, halte ich die Klappe.

»Gesundheitlich hast du auch nichts zu befürchten.«

Schön. Aber wen interessiert das schon? Ich will jetzt endlich wissen, wo mein Traummann auf mich wartet. Gespannt lasse ich ebenfalls meinen Blick von Karte zu Karte wandern, aber leider sagen mir die kryptischen Bildchen rein gar nichts … bis ich auf einmal auf der Karte direkt neben meiner Königin einen Sensenmann entdecke. »Was ist das?«, schreie ich erschrocken auf, lasse meine Kippe fallen und deute auf den Tod.

»Keine Sorge«, beruhigt Steffie mich, schnappt sich die Zigarette und drückt sie im Aschenbecher aus. »Die Karten sind rein symbolisch zu verstehen.«

»Aber was gibt’s denn bei einem Skelett mit Sense in der Hand schon symbolisch zu verstehen? Das kann doch wohl nur mein baldiges Ableben bedeuten!« Tatsächlich habe ich richtig Herzklopfen, hätte nicht gedacht, dass mich dieses kleine Spielchen so aus der Fassung bringen könnte. Mit einem großen Schluck leere ich mein Glas.

»Vielleicht bist ja gar nicht du gemeint«, mutmaßt Miriam.

»Wer denn sonst? Die Karte liegt doch direkt neben mir!«

»Können wir jetzt weitermachen?« Steffie wirft uns beiden einen strengen Blick zu. »Der Tod bedeutet lediglich, dass etwas abgeschlossen, also beendet ist.«

»Meine Beziehung zu Markus«, entfährt es mir, obwohl ich ja eigentlich die Klappe halten wollte. »Das heißt also, er kommt nicht zurück.« Nicht, dass es bisher unbedingt danach ausgesehen hätte. Trotzdem muss ich kurz aufschluchzen.

»Schon möglich. Oder aber ein bestimmter Lebensabschnitt liegt hinter dir«, erläutert Steffie weiter.

»Du meinst den Jana-ist-allein-und-wird-es-auch-immer-bleiben-Abschnitt?«, frage ich hoffnungsvoll.

»Lass mich weitersehen.« Steffie nimmt ein paar von den Karten in die Hand, mischt sie neu und legt sie dann verdeckt auf die anderen zurück. Sehr geheimnisvoll das alles.

»Ich sehe eine Reise«, stellt sie nach einer Weile fest. »Eine lange, lange Reise.« Sie mustert mich abwartend.

Jetzt endlich fällt bei mir der Groschen. »Das gibt’s doch nicht!«, rege ich mich auf. »Du veranstaltest die Tarot-Nummer doch nicht zufällig!« Ich werfe Miriam einen Blick zu und kann ihr ansehen, dass sie sich nur schwer ein Kichern verkneifen kann. »O nein, so blöde bin ich nicht! Das ist ein abgekartetes Spiel! Für wie bescheuert haltet ihr beide mich eigentlich?«

»Unsinn«, widerspricht Steffie, »hier ist überhaupt nichts abgekartet. Es liegt eben so in deinem Schicksal.«

»Mach mir doch nichts vor. Das kam mir doch gleich komisch vor – du und Tarot! Das ist doch eine Lachnummer! Ihr zwei wolltet mich nur an meine Weltreise erinnern.«

»Gar nicht wahr!«, entfährt es Steffie und Miriam wie aus einem Mund, wobei beide versuchen, ungeheuer unschuldig auszusehen.

»Ich glaube euch kein Wort! Wahrscheinlich liegt der absolute Traummann direkt neben mir, und ihr sagt es mir nicht, weil ihr auf dieser bescheuerten Reise rumreiten wollt.« Aufgeregt springe ich auf, hole noch eine Flasche Prosecco aus dem Kühlschrank und entkorke sie geräuschvoll. Dann setze ich mich mit meinem frisch gefüllten Glas wieder zu den beiden und schlage einen etwas versöhnlicheren Ton an. »Ich weiß ja, dass ihr es nur gut mit mir meint – aber ich muss schon selbst entscheiden, was richtig für mich ist.« Jawohl, dazu habe ich mit 35 Jahren ein Recht.

»Jana«, fängt Steffie an und legt wie zur Beruhigung ihre Hand

auf meine, »seit wie vielen Jahren träumst du jetzt schon davon, einmal ein ganzes Jahr lang um die Welt zu reisen und dir endlich alles anzusehen, was du täglich deinen Kunden verkaufst?«

»Und wie lange sparst du schon auf diese Reise?«, fügt Miriam hinzu.

»Ne Weile«, gebe ich zu.

»Eine Weile?«, erwidert Steffie. »Es sind jetzt genau fünfzehn Jahre! Seit du zwanzig geworden bist, erzählst du mir, dass es dein größter Traum ist, eine Weltreise zu machen! Du hast doch damals sogar das Studium geschmissen, um diese Reise antreten zu können.«

»Immerhin habe ich danach im Reisebüro angefangen«, verteidige ich mich. »Das war doch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung.«

»Süße, das ist doch genau so, als würdest du dir jeden Tag Bilder in Kochbüchern ansehen«, meint Steffie. »Aber du musst die Sachen auch mal essen, um sie wirklich zu erleben. Also, warum fährst du nicht endlich?«

»Weil ich dazu noch nicht den richtigen Mann gefunden habe und allein nicht fahren will. Meine Eltern …«

»Deine Eltern haben das riesengroße Glück, dass sie beide genau die gleichen Wünsche und Sehnsüchte haben«, geht Steffie wieder dazwischen. »So etwas passiert eben nicht alle Tage, dass man jemanden trifft, der sein Leben genauso führen will wie man selbst.« Und wieder breitet sich ein seelenvoller Ausdruck auf ihrem Gesicht aus. »Bei Hans und mir ist es auch nur Zufall, dass wir beide unseren Job als Lehrer lieben und ich dann auch noch eine Stelle an seiner Schule bekommen habe.«

»Jetzt hör mal auf mit deinem Hans-und-ich-Krempel«, wird sie von Miriam unterbrochen. »Wir wissen ja, dass ihr zwei das größte Traumpaar seit Harry und Sally seid.« Sie schnaubt wütend. »Aber das hilft Jana im Moment auch nicht weiter!«

Genau, das tut es nicht. Und ich weiß selbst, dass meine Eltern nicht mit normalen Maßstäben zu messen sind. Aber irgendwie habe ich mir diese Maßstäbe schon in meiner frühesten Jugend zu eigen gemacht. Meine Mutter war gerade mal siebzehn, als sie meinem Vater – einem strammen Offizier bei der Marine – begegnete und sich rettungslos in ihn verliebte. Ein Jahr später wurde geheiratet, ein weiteres darauf kam ich zur Welt. Bis zu meinem zwölften Geburtstag lebten wir als Familie in einem Hamburger Vorort, aber dann packte meinen Vater wieder das Fernweh. Für mich wurde ein gutes Internat ausgesucht, das ich meiner Meinung nach auch halbwegs unneurotisch überstanden habe, meine Eltern verkauften ihr Hab und Gut und machten sich auf den Weg zu einer Reise, die bis heute nicht zu Ende ist. Zehn Monate im Jahr touren sie um die Welt, zwei Monate lang sind sie dann in Deutschland, um die Fotos von ihren Trips an Zeitschriften und Reiseveranstalter zu verkaufen, bis sie sich wieder auf den Weg machen. Ein richtiges Nomadendasein, das die beiden führen. Aber immer, wenn ich sie während der zwei Monate in Deutschland sehe, kommt es mir vor, als hätten sie sich gerade eben erst kennengelernt: Da wird geturtelt und geflirtet und geküsst, dass es für Außenstehende, die älter sind als fünfzehn, beinahe nicht auszuhalten ist.

Meiner Meinung nach sind meine Eltern jedenfalls das absolute Traumpaar, und genau so etwas möchte ich eben auch. Einen Mann, der mit mir durch dick und dünn geht. Der mit mir die Welt erobert. Oder sie zumindest mit mir erkundet. Wenn ich erst einmal den Richtigen gefunden habe, dann werden wir genauso glücklich wie meine Eltern. Da bin ich ganz sicher. Jedenfalls war ich mir immer ganz sicher, aber die zahllosen Beziehungs-Schiffbrüche, die ich bisher erlebt habe, würden wohl auch den größten Optimisten langsam ans Zweifeln bringen … Dabei stelle ich mir das so schön vor! In diversen Reiseführern habe ich mir schon die traumhaftesten Ziele ausgesucht, eine genaue Route ausgearbeitet, die nur darauf wartet, von mir und wie auch immer der Kerl dann heißen mag erkundet zu werden: Der Mann meines Lebens und ich gondeln in einem alten Fischerboot über den Mekong. Schnitt, nächste Szene: Wir laufen Hand in Hand über den weißen Sandstrand der Rendezvous Bay von Anguilla. Schnitt: Wir kommen kichernd aus einem Bollywood-Film in Bombay. Schnitt: Er verhandelt mutig und sicher mit dem Häuptling eines afrikanischen Stammes über die Freigabe unserer Videokamera. Abends nehmen wir an einem traditionellen Fest teil und werden ehrenvoll in den Stamm aufgenommen. Schnitt: Wir lassen uns bei einer Ayurveda-Behandlung in Thailand verwöhnen. Schnitt: Wir fahren mit Schlittenhunden durch die endlosen Weiten Alaskas. Schnitt: Mein Traummann spielt für mich ein Konzert auf einem Didgeridoo, derweil kraule ich einen Koalabären, der sich auf meinen Schoß kuschelt …

»Erde an Jana! Bist du noch da?« Miriam reißt mich aus meinen Tagträumen, als ich mir gerade vorstelle, mit meinem Traummann knutschend unter einem tropischen Wasserfall zu stehen.

»Ja, bin ich«, erwidere ich sauertöpfisch. »Und ich habe euch schon oft genug gesagt: Irgendwann mache ich diese Weltreise! Aber erst muss ich dazu den richtigen Mann finden, allein kommt das für mich nicht in Frage.« Es ist eben nur halb so schön, allein am weißen Sandstrand entlangzulaufen oder unter einem Wasserfall zu stehen. Das ist doch wohl logisch, oder?

»Aber wie lange willst du denn noch warten?«, fragt Steffie und klingt dabei, als würde sie es für gänzlich ausgeschlossen halten, dass der passende Kerl einen Tages noch auftaucht. »Am Ende«, fügt sie dann tatsächlich auch noch hinzu, »bist du alt und grau und hast alle deine Träume verpasst. Dann ist es zu spät.«

Danke, meine Freundin, du kannst mir echt Hoffnung machen!

»Ja, genau«, haut Miri in die gleiche Kerbe. »Bis jetzt haben dich die Typen doch eher von deinem großen Traum abgehalten, als dich ihm näher zu bringen.« Sie fängt an, an ihren Händen aufzuzählen: »Erst war da Stefan, der Flugangst hatte. Dann Peer, der Europa nicht verlassen wollte. Georg, der immer nur nach Holland zum Zelten fuhr. Phillip, der zwar fand, dass du die Reise gern allein machen kannst, sich in diesem Fall aber von dir trennen wollte. Christian mit seinen 1345 Allergien, der schon bei dem Wort Ausland einen Niesanfall bekam. Jan, der chronisch abgebrannte Student, dem du alles hättest finanzieren müssen. Und sind wir mal ehrlich, das hättest du sogar getan, wenn du ihn nicht eines Abends bei sich zu Hause mit einem Kerl im Bett erwischt hättest. Tja, und dann war da ja noch Lutz, der nach dem Motto Bring ich das Bier mit in die Kneipe? lieber mit seinen Kumpels als mit seiner Freundin verreisen wollte. Nicht zu vergessen Maximilian, der ...«

»Schon gut!«, falle ich ihr ins Wort. »Dafür, dass du sonst so eine Chaotin bist, hast du erstaunlich gut Buch geführt!«

»Und ich war noch gar nicht fertig!«

»Mir waren meine Beziehungen eben immer wichtiger als diese blöde Reise«, erkläre ich. »Was kann ich dafür, wenn ich bisher noch keinen gefunden habe, der mit mir kommen wollte?«

»Dafür kannst du nichts«, stellt Steffie fest. »Aber dafür, dass du nie einfach mal das machst, was du willst.«

»Das stimmt nicht!«, verteidige ich mich. »Ich wollte hier bleiben. Als ich vor einem halben Jahr fast allein gefahren wäre und dann Markus kennenlernte, war es meine eigene Entscheidung, die Reise abzusagen.«

Schweigen. Ich ahne, was die beiden jetzt denken.

Miriam spricht es schließlich aus. »Und was hat es dir gebracht? Rein gar nichts. Markus ist weg, und du bist immer noch hier.«

Das wird mir jetzt zu blöd. Ich muss mich doch wohl an meinem eigenen Geburtstag nicht vor meinen beiden besten Freundinnen verteidigen!

»Du weißt doch gar nicht, was es heißt, für einen Partner auch mal einen Kompromiss einzugehen«, schleudere ich Miriam entgegen. »Bei dir ist doch jede Woche ein anderer angesagt.«

»Ja, weil ich es so will. Ich bin damit zufrieden, also ist es gut so. Aber du bist eben nicht glücklich damit, dass du dich ständig für irgendwen verbiegst.«

Langsam werde ich richtig wütend. Was soll das denn hier alles?

Bevor ich Miriam eine gepfefferte Antwort geben kann, schreitet Steffie ein. »Wir meinen es doch nicht böse! Und Kompromisse in einer Beziehung sind richtig und gut, sonst würde es bei Hans und mir auch nicht klappen. Aber du gibst dich einfach immer viel zu sehr auf und vergisst, was du selbst eigentlich willst.« Bei diesen Worten streichelt sie mir wieder sanft über die Hand. Das reicht. Ich kann nicht mehr. Der Tag war einfach viel zu aufreibend für mich. Erst Markus, mein blöder Geburtstag und dann auch noch dieses bescheuerte Spiel! Ich breche wieder in Tränen aus.

»Ich will doch einfach endlich nur glücklich sein, verdammt!«, schluchze ich. »Mehr will ich doch gar nicht, das kann doch nicht so schwierig sein.«

»Ist es vielleicht auch nicht«, meint Steffie, »aber vielleicht ist es ein Denkfehler, dass ein Mann allein dich glücklich machen kann. Vielleicht liegt dein Glück ganz woanders, und du merkst es nur nicht.«

»Glaubst du?« Ich schnäuze geräuschvoll in ein Taschentuch und komme mir vor wie ein Teenager.

»Da bin ich mir sogar ganz sicher«, sagt Steffie im Brustton der Überzeugung.

Langsam beruhige ich mich. »Könntest du denn trotzdem bitte, bitte noch einmal gucken, ob nicht irgendwo in den Karten ein ganz wunderbarer Kerl für mich liegt?«

Steffie lächelt und dreht noch ein paar Karten um. Dann sieht sie mich bedauernd an. »Im Moment sehe ich keinen, Süße. Aber das Schicksal kann sich von Augenblick zu Augenblick ändern.«

»Scheiß auf das Schicksal«, gebe ich trotzig zurück, »ich hab einfach nur ein schlechtes Karma, das ist alles. Ich werde nie glücklich werden!«

»Ich habe eine Idee«, geht Miriam auf einmal aufgeregt dazwischen. »Wo ist dein Handy?«

»Was hat denn mein Handy damit zu tun?«

»Wir spielen Schicksals-Roulette«, erklärt Miriam.

»Schicksals-Roulette? Was soll denn das bitte sein?«

»Ich hab das neulich mal von einer Freundin erzählt bekommen: Wenn du eine Frage hast, mit der du nicht weiter kommst, stellst du sie einfach dem Universum.«

»Aha, ich rufe also das Universum an. Wie ist die Nummer?« Dieser Geburtstag nimmt langsam, aber sicher etwas sehr absurde Züge an.

»Na ja, man fragt nicht wirklich das Universum. Aber irgendwie doch. Du tippst deine Frage als SMS und schickst sie dann an irgendeine ausgedachte Mobilfunknummer und wartest, ob dir jemand antwortet.«

»Das ist doch eine total schwachsinnige Idee«, mischt Steffie sich ein und zeigt Miriam einen Vogel.

»Auch nicht schwachsinniger als Tarot.«

»Also, Tarot ist immerhin ...«

»Hört auf!«, unterbreche ich die beiden, bevor sie sich über Sinn und Unsinn verschiedener Wahrsagerei-Methoden in die Haare kriegen. »Ich probier’s einfach mal aus. Kann ja nicht schaden.«

»Eben«, meint Miriam und wirft Steffie einen triumphierenden Blick zu.

»Und was frage ich?«

»Na das, was du wirklich wissen willst.«

Hm. Wie formuliere ich es genau? Ich tippe auf meinem Handy herum. Wo lerne ich den perfekten Mann kennen? Jana, schreibe ich und halte es dann Steffie und Miriam unter die Nase. »So?«

»Nein«, meint Steffie, »da geht’s ja wieder nur um einen bestimmten Mann. Du musst die Frage offener formulieren.«

»Außerdem«, fügt Miriam hinzu, »würde ich nicht meinen Namen schreiben. Du weißt ja nicht, wer die SMS bekommt, halt es lieber anonymer.«

»Anonymer? Ich verschicke meine Handynummer!«

»Ohne das geht’s eben nicht. Aber lass doch den Namen weg«, schlägt Miri vor, »schreib einfach nur Sie. Das klingt dann auch schön geheimnisvoll.«

Ich weiß nicht, warum ich diesen Unsinn mitmache. Aber ich mache es trotzdem. Schnell lösche ich die erste Frage und tippe eine neue. Muss ich mein Leben lang allein bleiben? Auch Quatsch, da geht’s ja wieder nur um Beziehungen. Außerdem ist es mir selbst einem Fremden gegenüber peinlich, so verzweifelt zu klingen. Werde ich je mit einem Partner auf Weltreise gehen? Zu unkonkret. Das kann ja schließlich auch im Jahre 2056 sein, wenn ich mit einem rüstigen Rentner und Rollstuhl-Tours auf große Fahrt gehe. Gar nicht so einfach, sich eine einzige Frage auszudenken, mit der man alles beantwortet bekommt, was man wissen will.

Dann habe ich auf einmal eine geniale Idee und tippe los.

Er

»Commander Gerion, der Meteorit wird in genau sechzig Sekunden unser Schiff erreicht haben!« In Panik starre ich auf die rot blinkende Kontrollleuchte auf meinem Radar. 59, 58, 57 … Die Gedanken wirbeln durch meinen Kopf. Was kann ich tun? Ich muss die Mannschaft retten, zweihundertfünfzig Männer und Frauen zählen nur auf mich! 46, 45, 44. Unser Schutzschild wurde durch die intergalaktischen Angreifer bereits vor Stunden außer Kraft gesetzt, die Galaxia steht unter schwerem Beschuss, alle Sicherheitssysteme sind außer Kontrolle. Und dann der Meteorit, der auf unser Raumschiff zurast! 33, 32, 31. Das Adrenalin schießt durch meine Blutbahnen, ich kann mich nur schwer konzentrieren. Denk nach, Gerion, denk nach! Für ein Ausweichmanöver ist es jetzt zu spät, wir befinden uns direkt auf Kollisionskurs. Und selbst wenn wir den Meteoriten abwehren könnten – eine laute Explosion am Bug unseres Schiffes sagt mir, dass die feindlichen Tolerianer soeben die meterdicke Stahlschleuse durchschlagen haben. Sie sind dabei, die Galaxia zu entern! 20, 19, 18.

»Kassiopeia«, wende ich mich verzweifelt an meine erste Offizierin. »Du musst mir helfen! Ich weiß nicht, wie ich das Schiff retten kann.«

Kassiopeia mustert mich durchdringend aus ihren violetten, kalten Augen. 9, 8, 7. Ein zynisches Lächeln tritt auf ihr Gesicht, ihre silberne Haut schimmert rötlich unter den blinkenden Warnlampen, reflektiert von den feinen Fischschuppen, die ihren gesamten schlanken Körper überziehen.

»Gerion«, sagt sie und legt ihre rechte Hand auf meine. Mich durchzuckt es wie ein Stromstoß, so eisig fühlt sie sich an. 6, 5, 4.

»Es gibt nichts, was du noch tun kannst.« Wieder ein kalter Blick.

»Du bringst rein gar nichts zustande.«

3, 2, 1 – kawumm!

Du bringst rein gar nichts zustande. Das hat sie zu mir gesagt. Und dann ist sie gegangen. Einfach so. Und ich saß da. Unfähig, auch nur ein Wort zu sagen, ihr zu widersprechen, sie vielleicht sogar aufzuhalten. Ich glaube, im Grunde war ich fast erleichtert. Erleichtert, dass sie es endlich ausgesprochen hat. Denn dass sie es dachte, ahnte ich schon lange vorher. Na ja, zumindest befürchtete ich es. Gefragt habe ich sie natürlich nicht. Vor einer ehrlichen Antwort hatte ich nämlich eine Scheißangst. Aber jetzt hat sie es endlich ausgesprochen.

Also Erleichterung bei mir. Allerdings hielt die nicht besonders lange an. Schätzungsweise nicht mehr als fünfundvierzig Sekunden. Das reichte ihr aber, um die Tür hinter sich zu schließen und mich zu einem einsamen Idioten zu machen, der sie nicht gebeten hat, zu bleiben. Roland, jetzt ist es also amtlich: Du bist nicht einmal in der Lage, die Frau, die du liebst, anzuflehen, nicht zu gehen. Du schaust einfach zu, wie sie ihre Sachen packt, und rufst ihr sogar noch ein Taxi. Wie nennt man also Typen wie dich? Genau. Verlierer. V E R L I E R E R.

In meinem speziellen Fall ist es auch erlaubt, von DAUER- VERLIERER zu sprechen. Denn diese Szene hat sich zugegebenermaßen in meiner Wohnung nicht erst einmal abgespielt. Eher vier- bis fünfmal in den letzten zehn Jahren. Und zwar mit erstaunlich identischen Dialogen (wobei sich mein Teil ja eher aufs Schweigen beschränkt, wir sollten also ehrlicherweise von identischen Monologen sprechen). Und das bringt mich zu dem Punkt, der bei dieser Katastrophe eindeutig anders ist als die letzten Male. Diesmal weiß ich: Sie hat recht. Sie hatten alle recht. Ich bin antriebsarm, ich bin feige, ich bescheiße mich seit Jahren selbst, wenn ich mir vormache, kurz vor dem großen Durchbruch als Schriftsteller zu stehen.

Was mir nämlich zu diesem Durchbruch noch eindeutig fehlt, ist ein Buch. Oder ein Manuskript. Oder wenigstens schon ein erstes Kapitel. Aber nichts von alledem ist bisher über das Stadium reiner Einbildung hinausgegangen. Man kann den großen Verlagen also bisher keinen Vorwurf machen, dass sie noch nicht in eine erbarmungslose Bieterschlacht um die Rechte an meinem Werk eingestiegen sind. Von meinem Leben als Schriftsteller existieren genau genommen nur Versatzstücke. Hoffnungsvolle Anfänge aus allen möglichen Genres – nur zu mehr als zwei oder drei zusammenhängenden Seiten habe ich es bisher nicht gebracht. Vielleicht sollte ich mich auf Kurzgeschichten verlegen? Oder auf Romantitel. Darin bin ich nämlich richtig gut, in origineller Titelfindung. Ein Beispiel gefällig? Das große Grau. Ist das ein toller Titel, oder was? Nur weiß ich noch nicht so recht, was in diesem Roman passieren soll, von Liebegeschichte über Fantasy bis hin zum Mystery-Thriller ist alles möglich. Aber wenn mir erst einmal der richtige Roman zum Titel einfällt, werde ich damit meinen großen Durchbruch haben. Ingeborg-Bachmann-Preis. Euphorische Kritiker. Ich weiß es genau.

Aber ich schweife ab. Das Thema war ja Verlierer. Dazu passt schon eher, dass ich in den letzten Jahren zwar fast jeden Tag mit dem Gedanken an meinen Roman aufgewacht bin – dann aber führte mich der Weg nach dem Zähneputzen nicht geradewegs an die Schreibmaschine, sondern zum Zustellstützpunkt der Post, Filiale Hamburg 20. Selbst mir ist nämlich irgendwann klar geworden, dass ich von der bloßen Überzeugung, Schriftsteller zu sein, meine Miete nicht zahlen kann. Meine Eltern haben es nach achtzehn Semestern Neuere Deutsche Literaturwissenschaft (Hauptfach) und sechzehn Semestern Theaterwissenschaft (Nebenfach) vorgezogen, den Geldhahn zuzudrehen. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich nur als Aushilfe bei der Post gejobbt, doch seitdem klingelt an grausamen sechs Tagen in der Woche der Wecker um fünf Uhr morgens, damit ich es noch rechtzeitig zum Dienstbeginn schaffe. Trotzdem fühle ich mich nicht wie ein Postbote – bisher jedenfalls nicht. Eher wie eine Art Undercoveragent. Roland Siems, der aufstrebende Literat, macht sich in einem Doppelleben mit dem Alltag der arbeitenden Klasse vertraut. Recherche also. Ich bin in Wirklichkeit nicht Teil der Belegschaft. Ich beobachte sie nur.

Aber nachdem heute ja mein persönlicher Sein-wir-doch-mal-ehrlich-Tag zu sein scheint, kann ich mir jetzt endlich mal eingestehen, dass ich Briefträger bin und nicht Schriftsteller. Und zwar seit elf Jahren. Ich meine, hey, wer kann schon elf Weihnachtsfeiern inklusive Wichteln, elf Betriebsversammlungen inklusive feuriger Reden des Verdi-Vertreters und elf Betriebsausflüge inklusive Verbrüderungssaufen aushalten, ohne sich als Kollege, als Teil des großen Ganzen zu fühlen? Eben. Nur Menschen mit einem Herz aus Stein.

Eine Welle von Selbstmitleid überspült mich. Was hat eigentlich bisher geklappt in meinem Leben? Wenn’s nach dem Volksmund geht, sollte ich doch bis zu meinem dreißigsten Geburtstag ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt und einen Sohn gezeugt haben. Meine Bilanz mit dreiunddreißig: kein Haus, kein Baum, von einem Sohn bin ich nach meiner letzten Liebespleite auch wieder meilenweit entfernt. Scheiße, Scheiße, Scheiße.

Außerdem wird mir gerade kalt. Nasskalt, denn der typische Hamburger Nieselregen fängt langsam an, meinen Pullover komplett zu durchfeuchten, während ich ziemlich ziellos durch die Gegend radele. Radfahren ist eigentlich bei diesem Wetter und um diese Uhrzeit eine völlig beknackte Idee, aber zu Hause habe ich es schlicht und ergreifend nicht mehr ausgehalten. Einen kurzen Moment überlege ich, ob ich doch wieder umdrehe und meinen kleinen Ausflug beende, aber allein bei dem Gedanken an meine leere Wohnung wird mir kotzschlecht. Also weiter.

Ich beschließe, Richtung Hafen zu fahren. Wasser hat für mich meistens etwas Tröstliches. Schiffe gucken auch. Als Wegzehrung besorge ich mir an der nächsten Tanke noch eine Flasche Wodka. Jetzt dürfte einem versöhnlichen Ausklang dieses echt beschissenen Tages nichts mehr im Wege stehen.

An den Landungsbrücken angekommen fällt mir allerdings auf, dass die Kombi aus dunkelregengrauem Abendhimmel und dunkelgrauer Elbe erst recht deprimierend aussieht. Kein Schiff weit und breit, nicht einmal die kleinen Shuttleboote, die sonst die Touris zum König der Löwen auf die andere Elbseite hinüberschaffen. Das Einzige, was in der Ferne leuchtet, sind die Lichter der Köhlbrandbrücke, die einen riesigen strahlenden Bogen über einen der Elbarme zu schlagen scheint. Wahrscheinlich hat man von dort oben einen fantastischen Blick auf die Stadt, fast wie aus einem Flugzeug. Hmm.

Zwanzig Minuten später bin ich am Fuß der Brücke angekommen. Von hier unten sieht sie noch gewaltiger aus als von der anderen Elbseite. Die Idee, dort mit dem Fahrrad hochzufahren, erscheint mir plötzlich unglaublich abwegig. Einerseits. Andererseits …

Ich klettere am Rand der Brüstung hoch und setze mich. Eigentlich kein schlechter Ort, um sich richtig zu betrinken. Gut, das Wetter für mein kleines Picknick könnte besser sein. Aber ich lasse mich davon nicht beirren. Und tatsächlich, nachdem das erste Drittel der Flasche getötet ist, überkommt mich eine große innere Wärme. Leider auch eine große innere Verzweiflung. Ob das am Wodka liegt? Wäre dann ja kein Wunder, dass die Russen alle depressiv sind. Ich jedenfalls muss wieder an Dorothee denken und die Verachtung, mit der sie mich anschaute, als ich – um irgendwie gefasst zu wirken – ein Taxi für sie bestellte.

Du bringst rein gar nichts zustande.

Ob sie das wirklich so gemeint hat? Oder wollte sie mich nur verletzen? Aber warum sollte sie das tun wollen? Doro ist überhaupt nicht der Typ Frau, der zur Bösartigkeit neigt. Eigentlich ist sie eher gutmütig. Warum konnte es diesmal nicht anders laufen?

Seufzend krame ich mein Notizbuch hervor und lese noch einmal den Anfang der Geschichte, zu der Doros Abgang mich inspiriert hat. Gerion und Kassiopeia, was für ein Schwachsinn! Energisch streiche ich die Seiten durch. Das ist so schlecht, dass sich nicht einmal das Abtippen lohnt. Regelrechter Trash, damit werde ich bestimmt keine Kritiker von den Stühlen reißen. So ein Scheiß! Nicht mal ein ordentlicher Liebeskummer hilft mir dabei, mal etwas zustande zu bringen. Womit wir wieder bei Doros Worten wären.

Seufzend stecke ich das Notizbuch weg und setze die Wodkaflasche erneut an. Noch ein großzügiger Schluck. Langsam wird mir schummrig. Ich blicke nach unten und stelle fest, dass es doch ziemlich tief runtergeht. Nur ein Stück weiter nach vorne rutschen, dann wäre ich schon im freien Fall … Eigentlich ein faszinierender Gedanke. Wahrscheinlich wäre von einem Moment zum anderen alles vorbei. Zack. Aus. Ich muss an einen Bericht denken, den ich mal über die Golden-Gate-Brücke und ihre Selbstmörder gelesen habe. Wenn die runterspringen, ertrinken sie nicht etwa, sondern werden erschlagen, weil das Wasser bei einem Aufprall aus dieser Höhe hart ist wie Beton. Ich lehne mich noch weiter vor. Von hier oben sieht der Fluss unter meinen Füßen ganz schwarz aus. Im Film würde jetzt jemand auf den Plan treten, der mich zurückreißen oder auf mich einreden würde, es nicht zu tun. Wahrscheinlich eine junge Schöne, die just in diesem Moment erkannt hat, wie sehr sie mich liebt. Aber hier ist niemand. Nicht mal eine alte Hässliche.

Roland, sei ehrlich mit dir. Du hättest doch gar nicht genug Mumm, um zu springen. Oder doch? Was hält mich jetzt eigentlich davon ab? Ich meine, ich blicke auf eine beschissene, sinnlose erste Lebenshälfte zurück. Warum sollte ich davon ausgehen, dass die zweite in irgendeiner Weise weniger beschissen und sinnlos wird? Und warum sollte ich sie dann unbedingt erleben wollen? Wäre doch keine große Sache: Ein kleines Stückchen vor, und dann ist es einfach vorbei. Kein Selbstmitleid mehr. Keine Träume, die ich mir ja doch nicht erfüllen kann. Keine Frauen, die mich verächtlich mustern und feststellen, dass ich nichts tauge, bevor sie die Tür ins Schloss ziehen. Und wer weiß: Vielleicht würde es Dorothee ja sogar leidtun. Ob sie weinen würde? Bestimmt! Ha, dann hätte ich ihr gezeigt, dass ich eben doch was zustande bringe, und sei es nur ein fulminanter Abgang, der mindestens eine kleine Meldung in der Hamburger Morgenpost nach sich ziehen würde. Wahrscheinlich von einem Praktikanten geschrieben, der sich darüber ärgert, dass er nie an die richtig großen Geschichten kommt. Ja, ja, klingt ziemlich zynisch. Aber wer in meinem Alter noch kein Zyniker ist, muss eben glücklich sein. Oder stumpfsinnig.

Ich rutsche noch ein Stückchen vor, so weit, dass ich fast den Halt verliere und mich mit einer Hand an der Brüstung festhalten muss. Wenn ich doch nur ein fertiges Manuskript im Schreibtisch liegen hätte. Dann wüsste ich wenigstens, dass mein Werk postum ein absoluter Bestseller werden würde. Roland Siems: Erst nach seinem tragischen Tod fand man sein Erstlingswerk, das auf Anhieb in zweiundzwanzig Ländern auf Platz 1 der Bestsellerlisten stand.

Etwas umständlich, nämlich mit einer Hand, zünde ich mir eine Zigarette an, berausche mich an dem Nikotin und diesem Gedanken. Kafka wurde auch erst nach seinem Tod bekannt. Er wollte noch nicht einmal, dass seine Werke veröffentlicht wurden, hatte es in seinem Testament ausdrücklich so festgelegt. Ja, ich wäre der neue Kafka. Die Idee gefällt mir. Aber nur so lange, bis mir wieder einfällt, dass ich im Gegensatz zu Kafka noch nicht einmal etwas habe, dessen Veröffentlichung ich per Testament untersagen könnte. Oder gibt es auch für Fragmente eine interessierte Leserschaft? Schubert hatte schließlich auch eine Unvollendete. Aber wer sollte sich bei dem Schwachsinn, den ich mir bisher ausgedacht habe, ernsthaft die Mühe machen, weiterzuschreiben? Da hat ja jede Gebrauchsanweisung einen höheren literarischen Gehalt, denke ich bitter.

Mit einem lauten Seufzer schnippe ich die Zigarette weg und sehe ihr nach, bis die Glut weit unten in der tiefen Dunkelheit erlischt. Okay. Was soll’s. Meine Träumereien führen am Ende ja doch zu nichts. Ich werde springen. Das ist das Beste, was ich tun kann. Ich hole mit meinen Beinen Schwung, bereit, die Brüstung nun ganz loszulassen. Und denke noch einmal an die Meldung in der Morgenpost. Irgendwo zwischen Hochwasserwarnung fürs Wochenende und Volksbegehren gegen die neue Kita-Card gequetscht würde es stehen: Postbote sprang von der Köhlbrandbrücke – Verzögerte Briefzustellung in Uni-Viertel.

Also los. Auf drei. Eins, zwei …

Piep, piep. Piep, piep.

Meine Jackentasche piept und vibriert. Ausgerechnet jetzt schickt mir jemand eine Kurzmitteilung. Dorothee? Sie liebt mich doch noch! Sie glaubt an mich und will mir beistehen! Es war alles nur ein riesiges Missverständnis! Aufgeregt nestele ich am Klettverschluss meiner Innentasche herum. Ist das meine Lebensrettung auf hundertsechzig Zeichen? Als ich das Handy in der Hand halte, bin ich so aufgeregt, dass ich beinahe doch noch von der Brücke falle. Ich umkralle die Brüstung fester und ziehe mich wieder ein Stück zurück. Nicht auszudenken, ich würde jetzt in die Tiefe stürzen, ohne zu erfahren, was in der Nachricht steht! Wahrscheinlich würde ich so lange als Geist im Diesseits herumirren, bis ich es endlich herausgefunden hätte.

Als ich auf Neue Meldung drücke, merke ich, wie sehr meine Hände zittern. Eine Sekunde später leuchtet die Nachricht auf. Sie … sie ist nicht von Dorothee. Es ist eine vollkommen fremde Mobilnummer. Ich lese die Mitteilung und verstehe kein Wort:

Was kann ich tun, um endlich glücklich zu werden? SIE

2. Kapitel

Blaetter

Sie

Ich versuche, die Karussellfahrt in meinem Kopf zu stoppen. Zwecklos, ich habe offensichtlich eine Dauerrunde gebucht. Es dreht sich und dreht sich und dreht sich – keine Ahnung, wann mir das letzte Mal so schlecht war. Mühsam schiebe ich ein Bein unter der Bettdecke hervor, lasse versuchsweise einen Fuß runterbaumeln und suche festen Halt auf dem Boden. Soll ja helfen, habe ich mal gehört. Es hilft. Aber anders als erwartet: Mir wird schlagartig so übel, dass ich es gerade noch schaffe, aufzuspringen, ins Bad zu rennen und mich in die Toilette zu übergeben.

Immerhin, danach geht es mir ein kleines bisschen besser. Erschöpft kauere ich mich auf dem Badezimmerboden vor der Schüssel zusammen und frage mich, ob ich momentan wohl einen sehr jammervollen Anblick biete. Tue ich wahrscheinlich. Aber es ist ja niemand hier, der es sehen könnte. Ha, ha, was für ein Glück, ich bin allein!

Miriam und Steffie haben sich gegen zwei Uhr nachts verzogen, Steffie heim zum Liebsten, Miriam wollte sich Richtung Kiez aufmachen, mal schauen, was noch so geht. Und ich zog es vor, mit mir selbst noch ein paar Mal auf diesen wunderbaren Tag anzustoßen, bevor ich völlig am Ende ins Bett getorkelt bin. Natürlich nicht, ohne einen letzten Blick auf mein Handy zu werfen. Keine neue Nachricht. Nicht mal das Universum kann mir eine Antwort geben. Es schweigt einfach. Toll! Für einen kurzen Moment war ich versucht, einfach mal die Nummer zu wählen, die ich mir für die SMS ausgedacht habe, und dem Universum, oder wer immer sich melden mochte, ordentlich die Meinung zu sagen. Man kann doch auf so eine SMS nicht einfach nicht antworten! Aber dann ließ ich es. Weil ich mir nicht sicher war, was mich mehr deprimieren würde: Die Möglichkeit, dass es unter der Nummer gar keinen Anschluss gab. Oder die, dass mich irgendwer fragen würde, ob ich eigentlich noch ganz dicht bin, erst seltsame Nachrichten zu verschicken und dann auch noch mitten in der Nacht lallend anzurufen.

Übrigens, die Frage kann ich beantworten: Nein. Ich bin nicht mehr ganz dicht. Eher ein offenes Schleusentor, wie ich feststellen muss, weil mir schon wieder dicke Tränen über die Wangen kullern. Morgen werde ich in einem völlig desolaten Zustand im Reisebüro auftauchen und mich fragen, ob die Kunden eigentlich meine unanständige Fahne riechen können. Aber Gott sei Dank ist morgen ja Freitag, danach kann ich mich am Wochenende erholen. Ja, an einem weiteren, wunderbaren Single-Wochenende, an dem man gar nicht so recht weiß, was man mit sich anfangen soll. Vielleicht tausche ich einfach den Samstagsdienst mit Miriam, da arbeiten wir normalerweise immer im Wechsel. Aber ich habe ja eh nichts Besseres zu tun, und Miriam dürfte, wie ich sie kenne, spätestens eine halbe Stunde nachdem sie hier abgerauscht ist, wieder irgendeinen Typen aufgegabelt haben, also sollte ich vielleicht für die nächsten fünf Jahre den Samstagsdienst übernehmen. Und können wir nicht auch sonntags das Büro öffnen?

Ich ziehe mich an der Toilette hoch und mache mich auf den Weg zurück in Richtung Schlafzimmer. Mein Blick fällt auf den Wecker neben meinem Bett. Immerhin, vier Stunden Schlaf habe ich noch, das reicht vielleicht einigermaßen zum Ausnüchtern. Mit einem lauten Seufzer lasse ich mich in die Kissen plumpsen – und merke auf einmal, was nicht stimmt: Ich habe das Bett noch gar nicht neu bezogen! Markus steckt noch in meinen Laken, plötzlich riecht alles nach ihm. Und nach unserem letzten Sex. Wir erinnern uns: Der Abschiedssex, den er sich noch einmal gegönnt hat, bevor er aus meiner Wohnung und meinem Leben geweht ist. Das geht natürlich gar nicht!

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